Sorgt der Staat oder die Familie?
1947 ist das Jahr der Heiligsprechung von Bruder Klaus. Auch politisch bewegte sich vor 75 Jahren einiges in der Schweiz. Bei der AHV-Abstimmung scherte der Kanton Obwalden völlig aus.
1947 ist das Jahr der Heiligsprechung von Bruder Klaus. Auch politisch bewegte sich vor 75 Jahren einiges in der Schweiz. Bei der AHV-Abstimmung scherte der Kanton Obwalden völlig aus.
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Sorgt der Staat oder die Familie?
1947 ist das Jahr der Heiligsprechung von Bruder Klaus. Auch
politisch bewegte sich vor 75 Jahren einiges in der Schweiz.
Bei der AHV-Abstimmung scherte der Kanton Obwalden völlig aus.
Ein Gastbeitrag von Bruno Ming, Sarnen
Bald feiern weite Kreise in der Bevölkerung
und vor allem die Katholiken
das 75-Jahr-Jubiläum der Heiligsprechung
von Niklaus von Flüe (1417–1487).
Am 15. Mai 1947 wurde der als Bruder Klaus
seit langem verehrte Einsiedler heiliggesprochen.
Erste Anstrengungen dazu hatte es
schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts gegeben.
Zur Heiligsprechung war allerdings
auch das Zutun von Bischöfen und Päpsten
förderlich oder sogar notwendig. Lange hatte
indes der Nachweis von Wundern gefehlt.
Diese ereigneten sich erst in den 1930er-
Jahren. Danach stand einer Heiligsprechung
nichts mehr im Weg.
Auch fast ein Wunder war die Annahme
der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung
(AHV), zumindest in den
Augen der Mehrheit der Obwaldner Stimmberechtigten,
hatten doch die meisten von
ihnen dagegen gestimmt. Am 6. Juli 1947
waren lediglich 35,6 Prozent Ja-Stimmen zu
verzeichnen. Am meisten gab es in Lungern
mit 42 Prozent. Die übrige Schweiz staunte
etwas verwundert über Obwalden, den
einzigen ablehnenden Kanton. Eine Einsendung
im «Unterwaldner» vom 12. Juli 1947
fragte: «Was würde wohl Bruder Klaus zur
Haltung der Mehrheit seiner Landsleute
sagen, die ein so schönes und vom christlichen
Geiste getragenes Werk ablehnten?»
Gesamtschweizerisch legten 80 Prozent
der Stimmberechtigten ein Ja in die Urne.
Päpstliche Rückendeckung
Zur Verwirklichung der AHV hat es nicht 460
Jahre gedauert wie bei der Heiligsprechung
von Bruder Klaus. Aber auch hier waren Bischöfe
und Päpste involviert, diesmal eher
auf der Seite der Kritiker. In der Enzyklika
«Rerum Novarum» führte Papst Leo XIII.
1891 aus, dass die Familie als Gemeinwesen
älter sei als der Staat und deshalb auch
nicht vom ihm abhängig sein dürfe. In der
Enzyklika «Quadragesimo Anno» wiederholte
Papst Pius XI. 1931 die Eigenständigkeit
der Familie gegenüber dem Staat. Durch Arbeit
und Sparsamkeit des Arbeiters könnten
«die Familienlasten bestritten und die beruhigende
Gewissheit erreicht werden, dass
die Hinterbliebenen nicht ganz unversorgt
blieben». Dem Staat stand es gemäss dem
Papst also nicht zu, für Alte oder Hinterbliebene
verantwortlich zu sein; das war Sache
der Familie, und als Voraussetzung galten
gerechte Löhne und harte Arbeit. Das hiess
aber auch: Die Familie und besonders deren
Oberhaupt, der Familienvater, konnte diese
Verpflichtung nicht delegieren.
Die Schweizerische Konservative Volkspartei,
wie sich die CVP/Mitte damals nannte,
zählte zusammen mit den welschen Libe-
Früher direkt an der Haustür: Auszahlung der AHV im Jahr 1981. (Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich, Christian Lanz)
ralen zu den bedeutendsten Kritikern einer
obligatorischen staatlichen Altersvorsorge
und unterstützte die Vorlage nur halbherzig.
Die Konservativen hatten über viele Jahre ihr
Augenmerk auf die (traditionelle) Familienpolitik
gelegt und dies in Schriften wie «Die Familie,
Grundlage von Staat und Gesellschaft»
bekräftigt. Sowohl die schweizerische wie
auch die kantonale Partei wollten zunächst
Stimmfreigabe beschliessen, fassten dann
aber «mehrheitlich» die Ja-Parole.
Staatsschulden und Bürokratie
Die Gegner des Bundesgesetzes zur AHV
bemängelten vor allem die zu erwartenden
Kosten und befürchteten das Entstehen
einer ausufernden Bürokratie. Zudem stellte
man die Frage, ob nicht Bedarfsrenten, wie
man sie in der Übergangsphase ausgerichtet
hatte, angemessener wären als «garantierte»
Renten.
Da sich die Bundesschulden während
der Kriegsjahre massiv erhöht hatten –
zwischen 1939 und 1945 von 2,6 auf 8,8
Milliarden Franken –, wurden während der
Kriegsjahre neue Steuern eingeführt und
bestehende zum Teil noch erhöht: Kriegsgewinnsteuer,
Wehropfer, Wehrsteuer,
Auswandererbeitrag, Warenumsatzsteuer,
zweites Wehropfer, Luxussteuer und Verrechnungssteuer.
Doch selbst mit diesen
neuen Belastungen der Bevölkerung
konnte der Anstieg
der Schulden auf Bundesebene
nicht gebremst
werden. Die daher bestehende
Skepsis gegenüber
neuen Verpflichtungen ist
nachvollziehbar. Unser damaliger Nationalrat
Gotthard Odermatt (1902–1970, Bild)
setzte sich in der Parlamentsdebatte in
Bern vehement dafür ein, die Selbstständigen
nicht stärker zu belasten als die Angestellten.
Die Vorlage an die Räte sah einen
Arbeitnehmerbeitrag von 2 Prozent und
einen ebenso hohen Arbeitgeberbeitrag
vor. Selbstständige sollten 4 Prozent des
Einkommens bis 7500 Franken bezahlen.
Odermatt meinte, «es könnte bestimmt nie
verstanden werden, wenn ein (angestellter)
Bankdirektor oder ein höherer Bundesbeamter
nur 2 Prozent zahlt, während ein
Handwerker, ein Schuhmacher 4 Prozent
seines Einkommens zahlen würde». Auch
die Kosten für die AHV, welche der Kanton
Obwalden zu leisten hätte, gaben zu
denken. Trotz der sehr gut laufenden Konjunktur
– man sprach vermehrt von einem
«Arbeitermangel» in vielen Branchen – und
positiven Rechnungsabschlüssen ab 1945
auch in Obwalden würden die zu leistenden
80 000 bis 90 000 Franken pro Jahr
eine «massive Steuererhöhung» zur Folge
haben, wie im «Volksfreund» zu lesen war.
Viele befürchteten, dass die zu entrichtenden
Beiträge an die AHV viel höher sein würden
als die ausbezahlten Renten. Jost Dillier
meinte 50 Jahre später, dass die Nein-Mehrheit
«unbegreiflich» erscheine, wenn man
bedenke, wieviel Geld seit 1948 durch die
AHV ins «Ländchen» kam. Für die Jahre
1992 bis 1994 seien es zwischen 70 und 80
Millionen Franken pro Jahr gewesen (nachzulesen
in: Jost Dillier, «50 Jahre Entwicklung
eines kleinen Bergkantons», Obwaldner
Geschichtsblätter Heft 21).
Regierungsrat Leo Spichtig hatte bereits
im Juni 1947 kurz vor der Abstimmung gesagt,
es käme der dreifache Betrag, als was
man zu bezahlen habe, in Form von Renten
in den Kanton zurück. Offenbar verfing das
Argument nicht.
Befürworter hielten sich im Hintergrund
Sowohl Nationalrat Odermatt wie auch Ständerat
von Moos (1910–1990), der spätere
Bundesrat, enthielten sich in der parlamentarischen
Schlussabstimmung vom 20. Dezember
1946 der Stimme. Die für Obwalden
wichtige katholische Parteipresse («Vaterland»
und «Obwaldner Volksfreund») äusserte
sich meist kritisch zur AHV. Gotthard
Odermatt liess im «Obwaldner Volksfreund»
einen Tag vor dem Abstimmungssonntag
einen sehr ausführlichen Artikel unter dem
Titel «Warum lehne ich das Altersversicherungsgesetz
ab» erscheinen. Am gleichen
Tag wurde ein weiterer, moderat kritischer
Artikel unter dem Titel «Zur Altersversicherung»
abgedruckt. Als Autor ist das Kürzel
In eher katholisch-konservativen Kantonen
erschienen Inserate wie dieses gegen die AHV.
«vm» genannt. Dass der Verfasser Ludwig
von Moos war, kann nur vermutet werden.
Die beiden Artikel erschienen derart kurz vor
dem Abstimmungstermin, dass keine Replik
möglich war. Es gaben sich nur wenige
Politiker oder Exponenten als Befürworter
der AHV zu erkennen. Zu ihnen gehörten
Kantonsrichter Theodor Imfeld (Lungern),
Landammann Alois Abächerli (Giswil), alt
Landammann Eduard Infanger (Engelberg),
Kantonsrat Walter Wirz (Sarnen), Gewerbeverbandspräsident
Burch, (Lungern) und
Schreiner Hans Burch (Sarnen). Sie alle
setzten ihren Namen am 4. Juli 1947 unter
einen Appell im «Lungerer Boten» zu einem
Ja für die beiden Vorlagen «Wirtschaftsartikel»
und «AHV». Von einer eigentlichen
Kampagne der Befürworter kann aber nicht
gesprochen werden.
An der «Volkstagung» am 22. Juni 1947
(siehe Inserat unten), zu der alle Parteien
und massgeblichen Verbände aufgerufen
hatten, sprach sich Nationalrat Gotthard
Odermatt, der wie Ständerat von Moos damals
auch dem Regierungsrat angehörte,
gegen die AHV-Vorlage aus. Gemäss Bericht
des «Volksfreund» empfahl an der
Tagung von den bekannten Politikern nur
Regierungsrat Leo Spichtig die Annahme
der Altersversicherung. Die Gegner äusserten
sich in der Presse kaum persönlich;
das war Sache der Redaktoren und
(unbekannt bleibenden) Einsendern. Auch
von Kantonsrichter Josef Berchtold-Halter,
Gemeindepräsident von Giswil, der dem
schweizerischen Referendumskomitee
gegen die AHV angehört hatte, war kaum
etwas zu vernehmen. An der Bauernversammlung
im Mai 1947 vertrat er die Meinung,
die AHV würde unterstützt, wenn
die Abstimmung über die Wirtschaftsartikel
nicht für den gleichen Tag angesetzt
worden wäre. Über die «Volkstagung» berichtete
auch «Der Unterwaldner», sprach
aber im Gegensatz zum «Obwaldner Volksfreund»
von einer mehrheitlich zustimmenden
Meinung und erwähnte namentlich
mehrere Redner, die sich für die AHV eingesetzt
oder zumindest nach Argumenten
für deren Annahme gesucht hatten.
Es gibt auch von wichtigen kantonalen Abstimmungen
des Jahres 1947 zu berichten.
Das Stimmvolk, damals nur Männer, befürwortete
eine Totalrevision der Kantonsverfassung
und die Bestellung eines Verfassungsrates.
Der Vorlage war dann ein Jahr
später kein Glück beschieden, die Kantonsverfassung
wurde im Mai 1948 abgelehnt.
Verworfen wurden 1947 auch die beiden
Initiativen betreffend mögliche geheime Abstimmungen
auf Gemeindeebene, zu den
Kantonssteuern und auch dem Beamtengesetz
war kein Erfolg beschieden. Die vom
Kantonsrat vorgelegte Fassung hatte unter
anderem Grundzüge zur Schaffung einer
Versicherungskasse des Staatspersonals
enthalten. Übrigens: Die Alters-, Invalidenund
Sterbekasse des Obwaldner Priesterkapitels
bestand zu diesem Zeitpunkt bereits
mehr als 10 Jahre. Angenommen wurde
hingegen das Schulgesetz, das neu das obligatorische
7. Schuljahr vorsah.
Das zweite Nachkriegsjahr verzeichnete
einen ausserordentlich heissen und trockenen
Sommer. Einige Vorschriften zur Kriegswirtschaft
mussten immer noch eingehalten
werden – bis zum 30. Juni 1948. Es gab
1947 aber auch Lockerungen. Beispiele dafür:
Halbweissbrot durfte ab 24. März wieder
hergestellt und verkauft werden. Pneus
und Luftschläuche waren ab dem 10. Mai
ohne Bezugsschein zu kaufen. Aber Heuverkäufe
waren aufgrund des Hitzesommers
melde- und später teilweise bewilligungspflichtig,
ebenso der Zukauf von Tieren in
der Landwirtschaft.
Einladung zur grossen Volkstagung im «Volksfreund» vom 21. Juni 1947.