Sanierungsfall Globalisierung?
Warum der Welthandel sich neu erfinden muss – bitte diesmal nachhaltig. Das neue UmweltDialog-Magazin macht sich auf eine spannende Spurensuche nach den Ursprüngen der Globalisierung, was schief lief und was sich ändern wird.
Warum der Welthandel sich neu erfinden muss – bitte diesmal nachhaltig. Das neue UmweltDialog-Magazin macht sich auf eine spannende Spurensuche nach den Ursprüngen der Globalisierung, was schief lief und was sich ändern wird.
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Ausgabe 17<br />
Mai 2022<br />
9,00 EUR<br />
<strong>Sanierungsfall</strong><br />
<strong>Globalisierung</strong>?<br />
Warum der Welthandel sich neu erfinden muss –<br />
bitte diesmal nachhaltig.<br />
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<strong>Globalisierung</strong><br />
Nicht lange schnacken, ...<br />
EDITORIAL<br />
... anpacken – diese norddeutsche Redensart beschreibt den Wunsch vieler Menschen,<br />
dass Politik vor allem Lösungen aufzeigen und nicht so sehr Lösungswege diskutieren<br />
soll. Bei der Finanzkrise, während Corona und jetzt im Krieg sind „Macher“ gefragt. Wer<br />
abwägt, gilt als Zauderer. In einer Welt, die in Echtzeit reagiert, wird Reflexion zum Makel.<br />
Der permanente Krisenmodus ist das neue Normal. Vor allem die eng verflochtene Weltwirtschaft<br />
und das, was wir gemeinhin <strong>Globalisierung</strong> nennen, muss sich neu ordnen<br />
und an vielen Stellen neu erfinden. Wir haben mit dem Weg in eine neue bipolare Struktur<br />
– transatlantischer Westen mit demokratischen Staaten auf der einen und China und<br />
Russland, die für Menschenrechtsverletzungen und Diktatur stehen, auf der anderen<br />
Seite – einen Rückschritt in der <strong>Globalisierung</strong> vor uns. Die EU hat begonnen, ihre Außenbeziehungen<br />
neu auszurichten. Aber relativ spät, wenn man sich China im Vergleich<br />
anschaut. Die Seidenstraße-Initiative zeigt, dass China eine langfristige Strategie verfolgt.<br />
In der aktuellen Ausgabe sprechen wir über Ursachen, aber vor allem mögliche künftige<br />
Entwicklungen der <strong>Globalisierung</strong>. Der Prozess der <strong>Globalisierung</strong> ist nicht naturwüchsig,<br />
sondern wird politisch gestaltet. Technische Möglichkeiten wie die Digitalisierung<br />
oder die Verbilligung der Verkehrsströme sind nur Voraussetzungen, aber letztlich sorgt<br />
der politische Gestaltungswille dafür, dass <strong>Globalisierung</strong> tatsächlich durch eine immer<br />
intensivere wirtschaftliche Verflechtung stattfindet. Diese kann – das zeigt der Krieg in<br />
der Ukraine – auch schnell gestoppt werden.<br />
Das hat nicht nur Folgen für Lieferketten, über die wir ausführlich sprechen, sondern<br />
auch für Nachhaltigkeit. Wird diese unterlassen, werden wir über ganz andere Fragen<br />
als bezahlbare Benzinpreise reden müssen, zum Beispiel auch über bezahlbares Wasser<br />
oder bezahlbare Nahrungsmittel.<br />
Wer hat im Zeitalter des Anthropozäns also am ehesten die Kompetenz zur Problemlösung?<br />
Demokratie oder Autokratie? Die Suche nach Antworten für die oben genannten<br />
Probleme hat für die gesamte Menschheit hohe Priorität, und es hat den Anschein, dass<br />
Autokratien besser in der Lage sind, diese Probleme einzudämmen. Über diese Verschiebung<br />
der Akzeptanz von Autokratien einerseits und ihren Mangel an Legitimität andererseits<br />
ist viel geschrieben worden, aber einer der Hauptgründe für diesen Hype um Autokratien<br />
ist die Tatsache, dass ihre Befürworter glauben, dass das System der Autokratie<br />
in der Lage ist, Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, globale Erwärmung, Ungleichheit,<br />
Korruption und Verlust der Artenvielfalt besser zu lösen als offene Gesellschaften.<br />
Deutlich wird, dass <strong>Globalisierung</strong> zwar in der Diskussion meist als Spiel um Profite und<br />
Ausbeutung begriffen wird. Aber tatsächlich greift das zu kurz: Am Ende geht es auch<br />
um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, mit welchen Spielregeln, mit welchen<br />
Werten und mit welchen Vorbildern.<br />
Viel Spaß beim Lesen wünscht im Namen der gesamten Redaktion Ihr<br />
Dr. Elmer Lenzen<br />
Chefredakteur<br />
Das nächste<br />
UmweltDialog-Magazin<br />
erscheint am 14.11.2022.
<strong>Globalisierung</strong><br />
Inhalt<br />
GEOPOLITIK STATT GLOBALISIERUNG?<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> löst sich nicht auf,<br />
sie verändert sich ......................................................................8<br />
Dunkle Wolken für den Welthandel ...................................16<br />
Alle drängen, sich von kritischen Geschäftspartnern unabhängig<br />
zu machen. Wer seine Wirtschaft als erster von<br />
nicht-erneuerbaren Rohstoffen frei bekommt, hat die Nase<br />
vorn.<br />
8<br />
Die Zukunft ist VUCA – volatil, unsicher,<br />
komplex und mehrdeutig. Im Fokus steht<br />
dabei die <strong>Globalisierung</strong>. Schon lange in<br />
der Kritik, wollen sie einige beerdigen,<br />
andere instrumentalisieren. Richtig wäre<br />
es, sie angesichts der neuen Realitäten<br />
neu zu denken. Von diesem globalen<br />
Netz hängen nämlich nicht nur Jobs und<br />
Lieferketten ab, sondern auch Nachhaltigkeit<br />
und Klimaschutz.<br />
Mit Welthandel auch Weltanschauungen<br />
exportieren ................................................................................20<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> macht eine Pause, sagt der Weltwirtschaftsexperte<br />
Lukas Menkhoff und mahnt: „Ob multipolar<br />
und multilateral gut miteinander harmonieren, haben wir<br />
noch nicht wirklich ausprobiert.“<br />
DEMOKRATIEN VS. AUTOKRATIEN?<br />
Offene Gesellschaften versus digitale<br />
autokratische Experimente ..................................................26<br />
„Club of Rome“-Mitglied Stefan Brunnhuber erläutert, warum<br />
letztere parasitär, kannibalisch und selbstbeschränkend<br />
sind.<br />
Navigieren durch Chinas Menschenrechtsbilanz .........36<br />
Menschenrechtsverletzungen durch Sportswashing? Die<br />
olympischen Spiele in Peking zeigen, wie schmal der Grad<br />
ist zwischen gutem Gewissen und guten Geschäften.<br />
Keine Angst vor China ...........................................................40<br />
Wir brauchen die chinesische Wirtschaftsentwicklung nicht<br />
überbewerten, aber Entwicklungsländern droht eine<br />
Schuldenabhängigkeit gegenüber China. Mit Konsequenzen.<br />
SCHWACHSTELLE LIEFERKETTE?<br />
„Kaum ein Betrieb hat mit einem<br />
weltweiten Lockdown gerechnet“ ......................................46<br />
Gründe für Geschäftsunterbrechungen gibt es viele. Um<br />
diese zu bewältigen, brauchen Unternehmen ein effektives<br />
Business Continuity Management.<br />
Advertorial | Symrise<br />
Weit verzweigt und nachhaltig integriert –<br />
die globale Lieferkette von Symrise .................................50
<strong>Globalisierung</strong><br />
Was kann ein kleines Unternehmen<br />
schon bewirken? Viel! ............................................................52<br />
In China erfolgt der Abbau Seltener Erden oft unter eher<br />
schlechten Arbeitsbedingungen. Der Mittelständler Haas &<br />
Co. Magnettechnik findet dafür pragmatische Lösungen.<br />
Am Lieferkettengesetz führt kein Weg vorbei ...............54<br />
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt erst nächstes<br />
Jahr in Kraft, wird aber bereits intensiv diskutiert. Wenig<br />
beachtet wird, dass auch in Deutschland intensiver auf<br />
ESG-Risiken geachtet wird.<br />
20<br />
Nachhaltigkeit ist aufgrund des Klimawandels<br />
zwingend. Da muss noch mehr passieren, völlig egal,<br />
was sonst in der Welt los ist.<br />
Der existenzsichernde Lohn:<br />
Mehr als der Mindestlohn .....................................................58<br />
Wie viel Lohn ist genug Lohn? Eine brennende Frage seit<br />
den Tagen der industriellen Revolution um 1700, als Arbeit<br />
zu einer Ware wurde.<br />
WO BLEIBT DIE NACHHALTIGKEIT?<br />
Was wird aus der Agenda 2030? ........................................64<br />
Nach COVID-19 und nun dem Krieg in der Ukraine ist klar,<br />
dass daraus nichts mehr wird. Besteht die Zukunft jetzt<br />
nur noch aus lauter schlechten Optionen? Und müssen wir<br />
vielleicht den Blick schon auf die Zeit nach der Agenda<br />
2030 werfen?<br />
Ist Klimapolitik ohne Sicherheitspolitik denkbar? ........68<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> ist erschöpft, sagt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler<br />
Michael Hüther im Gespräch mit<br />
uns. Weiter gehe es nur, wenn wir künftig Nachhaltigkeit<br />
nicht nur empathisch, sondern auch militärisch denken.<br />
Folgen unterlassener Nachhaltigkeit ................................72<br />
In Kriegszeiten rutschen Themen wie der Klimawandel unweigerlich<br />
in den Hintergrund. Das wird sich rächen, warnt<br />
Werner Widuckel. Für einen Kurswechsel fehlen uns aber<br />
leistungsfähige Institutionen.<br />
GESCHICHTE DER GLOBALISIERUNG<br />
Kleine Geschichte der <strong>Globalisierung</strong><br />
und ihrer Kritik .........................................................................75<br />
Der Begriff der <strong>Globalisierung</strong> meint keine aktuelle Periode<br />
der Weltgeschichte, sondern einen Prozess, der wellenförmig<br />
verläuft und von tiefen Einbrüchen unterbrochen wird.<br />
Freihandel versus Protektionismus ..................................78<br />
Die Idee am Anfang war simpel: Ohne Einfuhrhindernisse<br />
kommt mehr Kundschaft aus dem Ausland. Es gibt mehr<br />
Aufträge für Händler und Handwerker – das führt zu mehr<br />
Wohlstand und mehr Steuern für die Staatskasse.<br />
26<br />
Die Illusion der Kontrolle: Autokratische Regime<br />
sind davon überzeugt, dass sie nicht nur<br />
menschliches Verhalten in großem Maßstab<br />
kontrollieren können, sondern auch den Verlauf<br />
einer Gesellschaft als Ganzes.<br />
52<br />
Es ist zwar nicht immer möglich, eine komplett<br />
saubere Lieferkette zu haben, aber man kann viele Dinge<br />
umsetzen, um die Bedingungen zu verbessern.
<strong>Globalisierung</strong><br />
Geopolitik statt <strong>Globalisierung</strong>?<br />
Chinas Einflusssphäre wächst<br />
USA<br />
1980<br />
China<br />
Keine Daten<br />
2000<br />
2018<br />
Quelle: Lowy Institute<br />
6 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Russland expandiert dank Gruppe Wagner<br />
Quelle: dashochformat.org<br />
USA setzen auf Militärbasen<br />
Honduras<br />
Columbien<br />
Grönland<br />
Thule<br />
Bermudas<br />
Island<br />
Norwegen<br />
Großbrittannien<br />
Belgien<br />
Bosnien<br />
Portugal<br />
Spanien<br />
6. Flotte Mittelmeer<br />
Bahamas<br />
2. Flotte Atlantik<br />
Guantanamo<br />
Puerto Rico<br />
Mali<br />
Sao Tomé Principe<br />
(geplant)<br />
Deutschland Jordanien<br />
Polen<br />
Tschechien<br />
Ungarn<br />
Kosovo Georgien<br />
Türkei<br />
Irak<br />
Italien<br />
Zypern<br />
Israel<br />
Ägypten<br />
Saudi-Arabien<br />
Djibouli<br />
Turkmenistan<br />
Oman<br />
Kirgisistan<br />
Tadschikistan<br />
Afghanistan<br />
Pakistan<br />
5. Flotte<br />
Indischer Ozean<br />
Thailand<br />
Diego Garcia<br />
Singapur<br />
Japan<br />
Südkorea<br />
Midway Wake-Island<br />
Okinawa<br />
Guam<br />
Johnston-<br />
Atoll<br />
Marshall-<br />
Inseln<br />
Kwajalein-<br />
Atoll<br />
Hawaii<br />
7. Flotte West-Pazifik<br />
St. Helena<br />
Vereinigte<br />
Arabische Emirate<br />
Bahrein,<br />
Katar<br />
Kuweit<br />
Australien<br />
Amerikanisch<br />
Samoa<br />
Quelle: Atlas der <strong>Globalisierung</strong>, Base Structure Report<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
7
<strong>Globalisierung</strong><br />
Die <strong>Globalisierung</strong> löst sich nicht auf,<br />
sie verändert sich<br />
Die 2020er waren als Dekade<br />
des Wandels gedacht. Es sollte<br />
der große gesellschaftliche<br />
Umbruch Richtung Nachhaltigkeit<br />
und Klimaschutz<br />
werden. Einen Umbruch<br />
erleben wir jetzt tatsächlich,<br />
aber nicht wie geplant. Kriege<br />
und Krisen haben das weltweite<br />
Wir-Gefühl aufgebraucht.<br />
Die Zukunft ist<br />
VUCA – volatil, unsicher,<br />
komplex und mehrdeutig. Im<br />
Fokus steht dabei die<br />
<strong>Globalisierung</strong>. Schon lange<br />
in der Kritik, wollen sie einige<br />
beerdigen, andere instrumentalisieren.<br />
Richtig wäre<br />
es, sie angesichts der neuen<br />
Realitäten neu zu denken. Von<br />
diesem globalen Netz hängen<br />
nämlich nicht nur Jobs und<br />
Lieferketten ab, sondern auch<br />
Nachhaltigkeit und<br />
Klimaschutz.<br />
Von Dr. Elmer Lenzen<br />
8 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Klimawandel, COVID-19, Kriege, Lieferkettenprobleme,<br />
Hunger, Massenflucht<br />
aus Ost und Süd – die Welt, wie<br />
wir sie kennen, verändert sich rasant.<br />
Viel Optimismus ist dabei in den letzten<br />
Wochen und Monaten verbrannt. Die<br />
Vorstellung, die Zukunft als ein Weiterführen<br />
der Gegenwart zu gestalten, ist<br />
ins Wanken geraten. Und damit auch<br />
die politische und ökonomische Architektur<br />
einer Epoche, die mit dem Fall<br />
der Berliner Mauer 1989 einsetzte. Der<br />
sogenannte Washington Consensus legte<br />
seinerzeit eine globale Ordnung fest,<br />
welche den Westen, sein Demokratieverständnis<br />
und seine Wirtschaftsform als<br />
Sieger bis in alle Ewigkeit verstand.<br />
Vorbei. Schnee von gestern. Der permanente<br />
Krisenmodus ist das neue Normal.<br />
Vor allem die eng verflochtene Weltwirtschaft<br />
und das, was wir gemeinhin<br />
<strong>Globalisierung</strong> nennen, muss sich neu<br />
ordnen und an vielen Stellen neu erfinden.<br />
Es ist besser, die kriselnde <strong>Globalisierung</strong><br />
jetzt aktiv neu zu gestalten, als<br />
sie bei der nächsten Krise den Populisten<br />
und der Panik zu überlassen. In Bereichen,<br />
in denen sich die Außenpolitik<br />
mit „Megatrends“ wie Klimasicherheit,<br />
Cybersicherheit und Datenschutz vermischt,<br />
haben wir noch Zeit, einen überlegten<br />
Ansatz zu entwickeln.<br />
Der stille Abstieg der<br />
<strong>Globalisierung</strong>sidee<br />
Überraschen sollte uns die Entwicklung<br />
eigentlich nicht. Die Zeichen der Zeit<br />
standen schon länger auf Sturm. Der<br />
Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am<br />
DIW Berlin, Lukas Menkhoff, findet:<br />
„Die Vorstellung einer zunehmenden<br />
Verflechtung in der Weltwirtschaft ist<br />
schon seit gut zehn Jahren empirisch<br />
nicht mehr festzustellen“. Bisher wurden<br />
solche Fragen unter der Perspektive<br />
von Effizienz und Wirtschaftlichkeit<br />
diskutiert. Seit Corona und dem Krieg<br />
in der Ukraine geht es zunehmend auch<br />
um den Faktor Sicherheit – sei es Versorgungssicherheit,<br />
Gesundheitsschutz<br />
oder Landesverteidigung.<br />
Nachhaltigkeit ist angesichts der globalen<br />
Krisen wichtiger denn je. Es gibt<br />
globale Herausforderungen wie den<br />
Klimawandel, den demografischen Wandel,<br />
den Corona-Wiederaufbau und viele<br />
andere Entwicklungsziele, die entschiedenes<br />
Handeln erfordern. Der daraus resultierende<br />
soziale und wirtschaftliche<br />
Wandel ist epochal. Es geht um nichts<br />
weniger als den Übergang in ein neues<br />
Zeitalter (Abschied von Bretton Woods,<br />
Washington Consensus und Industriezeitalter<br />
zugleich). Zugleich rückt die<br />
Erreichbarkeit der SDGs in weite Ferne.<br />
Eigentlich sollten die 2020er-Jahre eine<br />
„Decade of action“, ein Aufbruch, werden.<br />
Stattdessen leben wir in einer Dekade<br />
der Krisen und Rückschläge.<br />
Heute lebt weniger als die Hälfte der<br />
Menschheit in Demokratien. Tendenz<br />
sinkend. <strong>Globalisierung</strong> und Kapitalismus<br />
sind umstrittener denn je. Es<br />
häufen sich Analysen vom Ende der<br />
<strong>Globalisierung</strong>, und selbst große Vermögensverwalter<br />
wie BlackRock und<br />
das Weltwirtschaftsforum in Davos empfehlen<br />
eine Abkehr vom reinen Profitdenken.<br />
BlackRock-Gründer Larry Fink<br />
sieht den von Russlands Präsidenten<br />
Putin angezettelten Krieg als radikalen<br />
Einschnitt. Nach der Corona-Pandemie<br />
gebe dies nun der <strong>Globalisierung</strong> den<br />
Rest. „Wir hatten bereits erlebt, wie die<br />
Verbindungen zwischen Nationen, Unternehmen<br />
und sogar Menschen durch<br />
die zwei Jahre andauernde Pandemie belastet<br />
wurden“, so der BlackRock-Chef.<br />
Unternehmen und Regierungen rund<br />
um den Globus seien gezwungen, ihre<br />
Abhängigkeit von Lieferketten für Fertigung<br />
und Montage zu überdenken. Diese<br />
seien bereits durch die Corona-Krise<br />
infrage gestellt worden. >><br />
Fotos: Reverzní vyhledávání fotografií / 123rf.com<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
9
<strong>Globalisierung</strong><br />
Die internationalen<br />
Konsequenzen<br />
werden vielfältig sein:<br />
Handelskonflikte,<br />
der Austritt aus<br />
internationalen<br />
Organisationen oder<br />
die Kündigung<br />
internationaler<br />
Abkommen und vor<br />
allem die Weigerung,<br />
gemeinsam an der<br />
Fortentwicklung einer<br />
neuen Weltordnung<br />
mitzuwirken.<br />
Was bedeutet eigentlich<br />
<strong>Globalisierung</strong>?<br />
<strong>Globalisierung</strong> verläuft nicht in einem<br />
linearen Prozess des Immer-mehr,<br />
Immer-weiter und Immer-schneller.<br />
Stattdessen verläuft <strong>Globalisierung</strong><br />
in Wellen. Immer wieder wird sie von<br />
Rückschlägen unterbrochen und kann<br />
sogar völlig zum Erliegen kommen. Die<br />
Vorteile der <strong>Globalisierung</strong> – durch den<br />
freieren Fluss von Geld, Menschen, Ideen<br />
und Handel – sind vielfältig. Doch<br />
statt einer flachen Welt ist eine Welt<br />
mit zerklüfteten Gipfeln und rauen, tiefen<br />
Tälern entstanden, die durch Wohlstandsgefälle,<br />
Verschuldung, politische<br />
Rezession und Ungleichgewichte in den<br />
Volkswirtschaften der Welt gekennzeichnet<br />
ist. „Es ist ein kompliziertes<br />
Thema, aber ich denke, dass die <strong>Globalisierung</strong><br />
insgesamt zurückgehen wird“,<br />
glaubt der britische Wirtschaftswissenschaftler<br />
Paul Donovan. Der Politikwissenschaftler<br />
Ulrich Menzel schreibt in<br />
einem exzellenten Essay zur gefesselten<br />
<strong>Globalisierung</strong>: „Es versteht sich dabei<br />
von selbst, dass Krisen der <strong>Globalisierung</strong><br />
nicht bereits beginnen, wenn sich<br />
<strong>Globalisierung</strong>skritiker – die es zu allen<br />
Zeiten gab – erstmals zu Wort melden,<br />
sondern dann, wenn die Kritik so stark<br />
wird, dass der globalisierungsbefürwortende<br />
Diskurs nicht mehr hegemonial<br />
ist.“<br />
Heute treffen zwei ganz unterschiedliche<br />
<strong>Globalisierung</strong>smodelle aufeinander:<br />
Auf der einen Seite der unternehmerische,<br />
um den Preisvorteil bedachte<br />
Ansatz von David Ricardo, und auf der<br />
anderen Seite der rentenbasierte Ansatz<br />
à la Hartmut Elsenhans. Menzel beschreibt<br />
letztere Gruppe so: „Viele <strong>Globalisierung</strong>sgewinner<br />
wie die Ölstaaten<br />
am Persischen Golf, aber auch die rohstoffreichen<br />
afrikanischen Staaten und<br />
selbst Russland sind rentenbasierte und<br />
nicht profitbasierte Ökonomien. Die hohen<br />
Einkommen der Herrschenden bzw.<br />
der Staatsklasse entstehen dort nicht<br />
aus unternehmerischer Tätigkeit, sondern<br />
aus der politischen Kontrolle über<br />
einkommensträchtige Ressourcen. Folglich<br />
wird ein Teil der Einkommen nicht<br />
investiert, um international wettbewerbsfähig<br />
zu bleiben, sondern für die<br />
Organe des Sicherheitsapparats (Armee,<br />
Polizei, Geheimdienste, Präsidentengarde<br />
usw.) verausgabt, um die Macht und<br />
damit den Zugriff auf die Rente zu behaupten.“<br />
Rückbau, Pause oder Fragmentierung –<br />
quo vadis <strong>Globalisierung</strong>? Sieben Trends<br />
werden in Zukunft besonders wichtig:<br />
1. Geopolitisierung statt<br />
Ökonomisierung<br />
Während der Corona-Pandemie hat sich<br />
die Weltordnung nahezu unbemerkt<br />
verschoben. Die zentralen geopolitischen<br />
Krisen unserer Zeit sind nicht<br />
verschwunden – und kehren nun mit<br />
Macht zurück. Der tiefe Schock des Westens<br />
über den Krieg in der Ukraine hat<br />
zu einer sehr viel stärkeren Geopolitisierung<br />
der Wirtschaftsbeziehungen geführt.<br />
Wir beobachten, dass immer mehr<br />
Länder versuchen, sogenannte kritische<br />
Abhängigkeiten in ihren Wirtschaftsbeziehungen<br />
zu reduzieren. Risiken der<br />
<strong>Globalisierung</strong> werden neu evaluiert,<br />
die Abhängigkeit von Rohstoffmärkten<br />
wo immer möglich drastisch reduziert.<br />
Lange Zeit hatten wir Angst davor, dass<br />
alle Lebensbereiche ökonomisiert werden.<br />
Seit der Finanzkrise 2008/2009 erleben<br />
wir stattdessen eher eine Politisierung<br />
aller Lebensbereiche. Der Staat soll sich<br />
kümmern. Der Staat soll für Sicherheit<br />
in einer zunehmend als unsicher erlebten<br />
Welt sorgen.<br />
10 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Der Westen nutzt immer gezielter die<br />
Finanzmärkte als Sanktionswaffe.<br />
So sprach man bezeichnenderweise<br />
beim Ausschluss Russlands aus dem<br />
SWIFT-System martialisch von der<br />
„nuklearen Option“. Statt Wandel durch<br />
Handel wird Handel also immer öfter<br />
als Disziplinierungsmittel gesehen. Ein<br />
Beispiel: Bei der ersten Russlandresolution<br />
der UN enthielt sich Bangladesch<br />
der Stimme. Litauen verweigerte im Anschluss<br />
Bangladesch eine bereits zugesagte<br />
Tranche von knapp einer halben<br />
Million Corona-Impfdosen. Der zweiten<br />
Resolution gegen Russland stimmte das<br />
südasiatische Land zu.<br />
Letztendlich schlägt sich das in höheren<br />
Kosten nieder. Das ist der Preis<br />
der Freiheit, glaubt die Sinologin Cora<br />
Jungbluth: „Es läuft darauf hinaus, dass<br />
die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />
künftig nicht mehr voll ausgeschöpft<br />
werden. Vor dem Hintergrund<br />
von drohenden hin zu realen Systemkonflikten<br />
ist das eben der politische<br />
Preis. Denn mit Abhängigkeiten geht<br />
immer eine potenzielle politische Erpressbarkeit<br />
einher.“<br />
2. Blockhandel statt Welthandel?<br />
Thieß Petersen von der Bertelsmann<br />
Stiftung sagt im Interview: „Immer<br />
mehr Länder schauen bei ihren außenwirtschaftlichen<br />
Beziehungen nicht<br />
mehr nur auf wirtschaftliche Aspekte,<br />
sondern auch auf geopolitische Erwägungen.<br />
Ein Beispiel dafür war unter<br />
Donald Trump der Handelskonflikt zwischen<br />
den USA und China. Da ging es<br />
vordergründig um Handelsbilanz und<br />
Ungleichgewichte. In Wirklichkeit ging<br />
es aber um die Frage: Wer übernimmt<br />
die weltweite Technologieführerschaft<br />
in wichtigen Bereichen? Technologieführerschaft<br />
ist nämlich die Basis für<br />
wirtschaftliche Stärke, und wirtschaftliche<br />
Stärke ist die Basis für politische<br />
und militärische Stärke. Strafzölle und<br />
Sanktionen werden deshalb an Bedeutung<br />
gewinnen.“ Die internationalen<br />
Konsequenzen werden vielfältig sein:<br />
Handelskonflikte, der Austritt aus internationalen<br />
Organisationen oder die Kündigung<br />
internationaler Abkommen und<br />
vor allem die Weigerung, gemeinsam an<br />
der Fortentwicklung einer neuen Weltordnung<br />
mitzuwirken.<br />
Beide Blöcke werden sich teilweise gegeneinander<br />
abschotten und um Randgebiete<br />
konkurrieren – aktuell in Osteuropa,<br />
künftig womöglich in Taiwan,<br />
davon ist auch der wirtschaftspolitische<br />
Journalist Henrik Müller überzeugt.<br />
Im SPIEGEL schreibt er: „Der Handel<br />
zwischen den Blöcken wird Schaden<br />
nehmen, auch weil immer mehr Güterund<br />
Dienstleistungstransaktionen Wissen<br />
und Informationen („Intangibles“)<br />
enthalten und Datenströme nach sich<br />
ziehen. Lieferanten aus Ländern, die<br />
nicht die gleichen Werte teilen, kein vergleichbares<br />
Rechtssystem haben und als<br />
Gegner angesehen werden müssen, sind<br />
in der neuen Blockrealität keine vertrauenswürdigen<br />
Handelspartner mehr.“<br />
Außerdem werden sich durch die neue<br />
geostrategische Lage sicher auch globale<br />
Wertschöpfungsketten massiv verändern.<br />
Darauf werden Unternehmen<br />
reagieren müssen, und Investoren werden<br />
sich die Frage stellen: Für welche<br />
Unternehmensteile können wir langfristig<br />
der beste Eigentümer sein? Henrik<br />
Müller glaubt, dass globale Konzerne<br />
mit feingliedrigen, weltumspannenden<br />
Wertschöpfungsketten nicht mehr in die<br />
kommende Zeit passen werden. „Westliche<br />
Konzerne werden sich entweder aus<br />
Teilen der Welt zurückziehen oder je<br />
eigenständige Einheiten bilden müssen,<br />
die weitgehend losgelöst von der Zentrale<br />
agieren – mit begrenztem Austausch >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
11
<strong>Globalisierung</strong><br />
an Vorleistungen, Kapital und Wissen.“<br />
Vor allem für kleine und mittelständische<br />
Unternehmen ist das problematisch.<br />
3. Verfügbarkeit statt Effizienz<br />
Bisher war die Wirtschaftsordnung an<br />
Effizienz orientiert. Henrik Müller sagt:<br />
„Unternehmen reagierten sensibel auf<br />
Preis- und Kostendifferenziale. Nun aber<br />
werden viele Güter so knapp, dass es vor<br />
allem um Mengen geht: um die reine<br />
Verfügbarkeit knapper Güter, fast egal<br />
zu welchem Preis – von Weizen über<br />
Erdgas bis zu Neon für die Chipproduktion.“<br />
Die zunehmende Hyper-Spezialisierung<br />
und der Handel über immer tiefere<br />
Wertschöpfungsketten bieten unbestritten<br />
Effizienzvorteile, sind aber sehr<br />
störungsanfällig. Darin unterscheidet<br />
sich im Grunde eine Monokultur in der<br />
Landwirtschaft wenig von einer graduierten<br />
Lieferkette. Schon seit einigen<br />
Jahren kann man beobachten, dass viele<br />
international agierende Unternehmen<br />
begonnen haben, ursprünglich komplett<br />
nach Asien ausgelagerte Produktionen<br />
zurückzuholen, umzuverteilen oder so<br />
umzustellen, dass sie nicht in Realzeit<br />
von der Lieferung abhängig sind. Thieß<br />
Petersen bemerkt, dass die „bisherige<br />
<strong>Globalisierung</strong>, die sich an der maximalen<br />
betriebswirtschaftlichen Effizienz<br />
orientiert hat, wie etwa Just-in-time-<br />
Produktionen mit nur einem weltweiten<br />
Anbieter, schon durch die Corona-Pandemie<br />
ins Wanken gekommen ist. Von<br />
diesem <strong>Globalisierung</strong>smodell werden<br />
wir uns verabschieden. In Zukunft werden<br />
die Unternehmen wieder verstärkt<br />
mit mehreren Zulieferern arbeiten.“<br />
Seitdem <strong>Globalisierung</strong> immer öfter<br />
auch unter geostrategischen Risiken<br />
betrachtet wird, beschäftigen sich Politiker:innen<br />
mit systematischen Kriterien,<br />
welche kritischen Abhängigkeiten reduziert<br />
werden müssen. Eine Richtgröße<br />
in der Diskussion scheint zu sein, dass<br />
die Versorgung nicht zu mehr als einem<br />
Drittel von einem Anbieter bzw. einer<br />
Anbieterin abhängen darf. Bei der Neuausrichtung<br />
der Verteilwege sollen die<br />
bisher ungeliebten Freihandelsabkommen<br />
eine Schlüsselrolle einnehmen.<br />
4. Demokratien vs. Autokratien?<br />
Immer drängender stellt sich heute die<br />
Frage: Sind unsere Strukturen in den<br />
westlichen Demokratien zu langsam,<br />
um die Krisen zu meistern? Machen<br />
das autoritäre Systeme nicht besser? –<br />
Da wird nicht lange debattiert, sondern<br />
durchregiert. Die Biden-Administration<br />
setzt gezielt auf das alte Schema des<br />
Kalten Krieges von Gut gegen Böse, um<br />
die Beziehungen zwischen den Großmächten<br />
zu definieren. Heute liest sich<br />
das als Demokratie gegen Autokratie –<br />
diese Biden-Formel ist verlockend, aber<br />
zu simpel. Es geht um Hegenomie, sagt<br />
Professor Werner Widuckel: „Hegemonie<br />
bedeutet Vorherrschaft. Es geht also<br />
um die Frage, wer letztendlich als Macht<br />
oder Machtblock geostrategisch bestimmt,<br />
wie eine Weltordnung aussieht<br />
bzw. welche Werteorientierung letztlich<br />
herrscht. Hier wird sichtbar, dass das<br />
Modell von westlicher Demokratie, Menschenrechten<br />
und Rechtsstaatlichkeit<br />
sich nicht automatisch durchsetzt, sondern<br />
auch alternative Ordnungen dem<br />
entgegenwirken – insbesondere seitens<br />
Chinas und Russlands.“<br />
Bisher hat der Westen mehr Partner, sei<br />
es in politisch-militärischen Bündnissen<br />
oder internationalen Institutionen.<br />
Aber diese westlich geprägte internationale<br />
Ordnung – sie zeigt sich gerade<br />
in multilateralen Abkommen zu Klimaschutz<br />
und Menschenrechten – erodiert<br />
schon seit Jahren. „China suchte bisher<br />
vor allem mit wirtschaftlichen Mitteln<br />
12 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
nach Einfluss. Das könnte sich ändern“,<br />
glaubt Henrik Müller. Und darin liegen<br />
Konfliktpotenziale. Phasen des hegemonialen<br />
Übergangs von der absteigenden<br />
zu einer aufsteigenden Macht sind nämlich<br />
immer Phasen der Fragmentierung<br />
der Welt und damit potenziell konfliktreich.<br />
Dabei wird uns seltener das Gut-gegen-Böse-Narrativ<br />
von Joe Biden begegnen.<br />
„Pessimistischerweise deutet vieles<br />
darauf hin, dass die postglobalisierte<br />
Weltordnung ein Wettstreit zwischen<br />
dem Modell der liberalen Demokratie<br />
und dem der gelenkten Demokratie (managed<br />
democracies) sein wird“, glaubt<br />
der <strong>Globalisierung</strong>sautor Michael O'Sullivan.<br />
„Gelenkte Demokratien“ sind in<br />
immer mehr Ländern im Aufwind. Die<br />
Zahl der freien Demokratien geht dagegen<br />
nachweislich zurück. Im globalen<br />
Süden wächst die Wahrnehmung, dass<br />
die Ideen einer liberalen Demokratie<br />
möglicherweise nur etwas für den Westen<br />
seien. Die tiefe Zerstrittenheit in einigen<br />
westlichen Gesellschaften, insbesondere<br />
die USA, wird hierfür als Beleg<br />
und abschreckendes Beispiel herangezogen.<br />
Vielleicht ist Bidens Narrativ daher<br />
eher eine Chiffre, um die inneren Konflikte<br />
in der US-Gesellschaft zuzuschütten?<br />
Äußere Feinde waren dafür schon<br />
immer gut.<br />
5. Multipolar statt multilateral<br />
Globale multilaterale Institutionen wie<br />
die Vereinten Nationen oder auch die<br />
Europäische Union haben in den letzten<br />
Jahren enorm an Bindekraft verloren.<br />
Erleben wir durch den Ukraine-Krieg<br />
jetzt eine Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten?<br />
Reicht das, um die Ursachen<br />
für den Attraktivitätsverlust wettzumachen?<br />
Die derzeitigen globalen Krisen werden<br />
voraussichtlich zu einer neuen Fragmentierung<br />
von noch nicht absehbarer<br />
Intensität und Dauer führen. Das hat<br />
strukturelle, institutionelle und ideologische<br />
Ursachen. In dieser Situation<br />
bräuchte es starke Institutionen. Dass<br />
nationale Zentralbanken oder auch die<br />
veralteten Instrumente wie Weltbank,<br />
Internationaler Währungsfonds oder<br />
Welthandelsorganisation diese Lücke<br />
schließen können, ist unwahrscheinlich.<br />
Lukas Menkhoff warnt: „Auch der Multilateralismus<br />
wird davon begünstigt,<br />
dass es stärkere Spieler gibt, die die Institutionen<br />
zusammenhalten. Das wird<br />
künftig schwieriger. Unsere Welt ist<br />
multipolar, und ob multipolar und multilateral<br />
gut miteinander harmonieren,<br />
haben wir noch nicht wirklich ausprobiert.“<br />
Diese Unterschiede kommen in den Verhandlungen<br />
zum Ausdruck, die auf verschiedenen<br />
Wegen geführt werden, erläutert<br />
Aditi Sara Verghese, Leiterin der<br />
Arbeitsgruppe Welthandel beim World<br />
Economic Forum (WEF) in Davos. Einige<br />
Verhandlungsansätze sind „multilateral“,<br />
d. h. alle Mitglieder sind beteiligt,<br />
und andere sind „plurilateral“, d. h. einige<br />
Länder kommen auf der Grundlage<br />
gemeinsamer Interessen voran.<br />
Die derzeitigen<br />
globalen Krisen<br />
werden voraussichtlich<br />
zu einer neuen<br />
Fragmentierung von<br />
noch nicht absehbarer<br />
Intensität und Dauer<br />
führen.<br />
„Ein schönes Beispiel sind die Entwicklungsbanken,<br />
die China initiiert, weil es<br />
unzufrieden ist mit seiner Rolle in den<br />
bestehenden Institutionen. In den klassischen<br />
Bretton-Woods-Institutionen wie<br />
Weltbank und Internationalem Währungsfonds<br />
dominieren die Amerikaner<br />
und Europäer“, erläutert Menkhoff. „Wir<br />
finden das normal, weil es immer so war<br />
und wir große Geldgeber sind. Aber andere<br />
Länder finden das natürlich überhaupt<br />
nicht normal und auch nicht gut.<br />
Deshalb gründet China konkurrierende<br />
Institutionen. Indien wird einen ähnlichen<br />
Weg wie China beschreiten. In gewisser<br />
Weise sind wir das selbst schuld,<br />
wenn es uns nicht gelingt, die neuen >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
13
<strong>Globalisierung</strong><br />
globalen Realitäten zur Kenntnis zu<br />
nehmen und in passende institutionelle<br />
Arrangements zu überführen.“<br />
6. Was ist Chinas Rolle?<br />
Schon seit der Obama-Administration<br />
ist die US-Politik damit beschäftigt, das<br />
Ende des amerikanischen Jahrhunderts<br />
und die Grundlagen einer multipolaren<br />
Welt voranzutreiben. Dazu gehört grundsätzlich<br />
auch eine Abkehr von der Rolle<br />
des „Weltpolizisten“. In der „American<br />
Decline“-Debatte steht China im Fokus.<br />
Seit der Öffnung des Landes im Jahre<br />
1978 hat China einen welthistorisch und<br />
vor allem ökonomisch einmaligen Aufstieg<br />
erlebt. Ulrich Menzel sagt: „Wenn<br />
China ein zehnprozentiges Wachstum<br />
erfährt, dann wachsen auch die Staatseinnahmen<br />
und die Militärausgaben um<br />
zehn Prozent jährlich. China stellt also<br />
nicht nur die Position der USA als wirtschaftliche<br />
Führungsmacht, sondern<br />
perspektivisch auch ihren Status als internationale<br />
Ordnungsmacht infrage.“<br />
Als potenzieller Nachfolger der USA als<br />
globaler Hegemon stellen sich für China<br />
weitreichende Fragen. Bisher konnte das<br />
Reich der Mitte als „Trittbrettfahrer“ von<br />
einer westlichen Handelsordnung nutznießen,<br />
ohne sich an den Kosten der Bereitstellung<br />
dieser internationalen Ordnung<br />
zu beteiligen. Menzel: „Gleichzeitig<br />
profitierte die chinesische Wirtschaft<br />
wie keine andere vom Liberalismus der<br />
USA: Ohne den riesigen und für sie wichtigsten<br />
amerikanischen Absatzmarkt<br />
wäre das chinesische Industrie- und<br />
Exportwunder nicht denkbar gewesen.“<br />
Wenn China jetzt die Führungsrolle der<br />
USA übernimmt, muss es künftig auch<br />
für die Kosten der internationalen Ordnung<br />
aufkommen, also insbesondere für<br />
Sicherheit und Stabilität.<br />
Chinas Ausweg aus diesem Dilemma besteht<br />
darin, dass es nicht plant, die USA<br />
aus ihrer kostspieligen Rolle als globale<br />
Führungsmacht zu entlassen. Vielmehr<br />
fokussiert sich China auf die Bereitstellung<br />
einer Ordnung innerhalb ihrer<br />
Einflusszone. Chinas Modell ist ein Club<br />
von Staaten, die sich den Regeln Pekings<br />
unterwerfen. Deutlich sieht man diese<br />
Strategie bei der Entwicklung der Neuen<br />
Seidenstraße, wo durch den Bau von Infrastrukturen<br />
wie Eisenbahnen, Straßen,<br />
Pipelines, Stromtrassen und großzügige<br />
Kreditvergaben entsprechende Loyalitäten<br />
aufgebaut werden. Ulrich Menzel<br />
weist in diesem Zusammenhang auf die<br />
historische Analogie zum Tributsystem<br />
der Ming-Periode Anfang des 15. Jahrhunderts<br />
hin.<br />
7. Sternstunde der Populisten?<br />
Das eigentliche Problem beim derzeitigen<br />
hegemonialen Übergang von einer<br />
US-geführten multilateralen Ordnung<br />
hin zu einer multipolaren Ordnung besteht<br />
darin, dass die Situation für die<br />
USA einerseits eine Entlastung und Befreiung<br />
ist. Man muss nicht mehr die „politische<br />
Drecksarbeit“ machen, während<br />
die eigenen Alliierten nur zuschauen.<br />
Andererseits bedeutet der Abschied vom<br />
Hegemonialen auch einen Statusverlust.<br />
Mindestens drei große geistige Strömungen<br />
beobachtet der Historiker Hans von<br />
Trotha im Deutschlandfunk-Essay seit<br />
Beginn des Jahrtausends: Da sind „ein<br />
vulgärer Nationalismus, die Aufwertung<br />
der Privatsphäre zum politischen<br />
Raum für politisch nicht repräsentierte<br />
Gruppen und schließlich ein politischer<br />
Irrationalismus, dessen offensichtlichster<br />
Vertreter Donald Trump ist.“<br />
Besonders in den USA machen sich die<br />
Folgen des Aufstiegs Chinas bemerkbar:<br />
Während sich im „Rostgürtel“ der USA<br />
und auf dem Land die Verlierer der <strong>Globalisierung</strong><br />
und Deindustrialisierung<br />
sammeln, erleben die Städter an den<br />
Küsten eine goldene Ära der Möglich-<br />
14 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
keiten. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum<br />
Berlin schreibt im Tagesanzeiger:<br />
„Der politische Wettbewerb<br />
ist in Europa wie Nordamerika zweidimensional<br />
geworden. Auf dem einen Pol<br />
der kulturellen Konfliktlinie befinden<br />
sich die mit hohem Human- und Sozialkapital<br />
ausgestatteten akademisierten<br />
neuen Mittelschichten. Sie leben urban,<br />
sind ökonomisch privilegiert, folgen<br />
einem kosmopolitischen Weltbild. Sie<br />
legen Wert auf gendergerechte Sprache<br />
und Klimapolitik. Ökonomisch zählen<br />
sie zu den Begünstigten. Am anderen<br />
Pol der Konfliktachse sammeln sich die<br />
Kommunitaristen. Sie verfügen über einen<br />
geringeren formalen Bildungsgrad,<br />
befürworten einen starken Nationalstaat,<br />
von dem sie strikte Migrationskontrolle,<br />
sozialen Schutz und finanzielle<br />
Förderung erwarten.“<br />
Ulrich Menzel sagt: „Mit griffigen Slogans<br />
wie ‚America first‘ und ‚Make<br />
America great again‘ bestimmen die<br />
Trumpisten seither den Anti-<strong>Globalisierung</strong>sdiskurs<br />
– und bezeugen damit die<br />
Dialektik einer <strong>Globalisierung</strong>spolitik,<br />
die sich nun gegen ihr altes Machtzentrum<br />
kehrt. Trotz der Abwahl Trumps<br />
dürften Hoffnungen auf ein Zurück zur<br />
Hegemonie des globalisierungsfreundlichen<br />
Paradigmas vergebens bleiben.<br />
Auch die jetzige Biden-Administration<br />
muss den strukturellen Faktoren Rechnung<br />
tragen und wird keineswegs alles,<br />
was in der Trump-Ära an Antiglobalisierungspolitik<br />
betrieben wurde, wieder<br />
rückgängig machen können.“ ■<br />
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Unternehmen in Deutschland ab 2023, auf<br />
die Einhaltung von Menschenrechten in ihren<br />
Lieferketten zu achten. Faire Arbeits- und<br />
Lebensbedingungen von Menschen weltweit<br />
zu fördern, ist Chance und Herausforderung<br />
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Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
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15
<strong>Globalisierung</strong><br />
DUNKLE WOLKEN FÜR<br />
DEN WELTHANDEL<br />
Grafiken: NicoElNino / aepsilon / stock.adobe.com<br />
<strong>Globalisierung</strong> bedeutete<br />
lange Zeit, dass die Welt<br />
zusammenwächst. Jetzt<br />
zerfällt sie wieder in Einflusssphären.<br />
Daher drängen alle<br />
darauf, sich von kritischen<br />
Geschäftspartnern unabhängig<br />
zu machen. Das eröffnet<br />
Chancen: Wer seine Wirtschaft<br />
als erster von nichterneuerbaren<br />
Rohstoffen frei<br />
bekommt, hat die Nase vorn.<br />
UmweltDialog: In den letzten Jahren haben wir beim Thema<br />
<strong>Globalisierung</strong>skritik häufig über eher funktionale Missstände<br />
geredet. Angesichts der Ukraine-Krise steht das ganze Gebilde<br />
strukturell zur Diskussion zu. Was macht der Ukraine-Krieg mit<br />
der <strong>Globalisierung</strong>?<br />
Thieß Petersen: Ich glaube, dass die bisherige <strong>Globalisierung</strong>,<br />
die sich an der maximalen betriebswirtschaftlichen Effizienz<br />
orientiert hat wie etwa Just-in-time-Produktionen mit nur einem<br />
weltweiten Anbieter, schon durch die Corona-Pandemie<br />
ins Wanken gekommen ist. Von diesem <strong>Globalisierung</strong>smodell<br />
werden wir uns verabschieden. In Zukunft werden die Unternehmen<br />
wieder verstärkt mit mehreren Zulieferern arbeiten.<br />
Wir werden vielleicht auch Teile der Produktion ins eigene<br />
Land zurückholen, wobei uns dann klar sein muss, dass dies<br />
teurer wird, weil wir bewusst auf Vorteile der internationalen<br />
Arbeitsteilung verzichten.<br />
Hinzu kommt, dass immer mehr Länder bei ihren außenwirtschaftlichen<br />
Beziehungen nicht mehr nur auf wirtschaftliche<br />
Aspekte schauen, sondern auch auf geopolitische Erwägungen.<br />
Ein Beispiel dafür war unter Donald Trump der Handelskonflikt<br />
zwischen den USA und China. Da ging es vordergründig<br />
um Handelsbilanz und Ungleichgewichte. In Wirklichkeit<br />
ging es aber um die Frage: Wer übernimmt die weltweite<br />
16 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Technologieführerschaft in wichtigen<br />
Bereichen? Technologieführerschaft ist<br />
nämlich die Basis für wirtschaftliche<br />
Stärke, und wirtschaftliche Stärke ist<br />
die Basis für politische und militärische<br />
Stärke. Deshalb glaube ich das, dass wir<br />
zu Beginn einer Zeit stehen, wo handelsbeschränkende<br />
Maßnahmen – sei es<br />
Subventionen für die eigenen Unternehmen,<br />
Strafzölle oder Sanktionen – an Bedeutung<br />
gewinnen werden. Die Zeit, in<br />
der Handelsbeschränkungen abgebaut<br />
wurden, ist vorbei. Wir werden in Zukunft<br />
verstärkt protektionistische Maßnahmen<br />
sehen.<br />
Cora Jungbluth: Mein Eindruck ist<br />
auch, dass wir eine sehr viel stärkere<br />
Geopolitisierung der Wirtschaftsbeziehungen<br />
sehen werden. Wir beobachten,<br />
dass immer mehr Länder versuchen,<br />
sogenannte kritische Abhängigkeiten in<br />
ihren Wirtschaftsbeziehungen zu reduzieren.<br />
Sei es Abhängigkeiten von Energieträgern<br />
wie Kohle, Öl und Gas oder<br />
auch Technologien wie Halbleiter oder<br />
Mikrochips, die für die digitale Transformation<br />
besonders relevant sind. Die Regierungen<br />
sind auch zunehmend bereit,<br />
die Mehrkosten dafür zu tragen.<br />
Das läuft natürlich darauf hinaus, dass<br />
die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />
künftig nicht mehr voll ausgeschöpft<br />
werden. Vor dem Hintergrund,<br />
dass wir uns von einem drohenden hin<br />
zu einem realen Systemkonflikt zwischen<br />
Demokratien auf der einen Seite<br />
und Autokratien auf der anderen Seite<br />
bewegen, ist das eben der politische<br />
Preis. Denn mit Abhängigkeiten geht<br />
immer eine potenzielle politische Erpressbarkeit<br />
einher.<br />
Ich habe manchmal den Eindruck, korrigieren<br />
Sie mich gerne, als ob China das<br />
Politische am Handel schon immer mitgedacht<br />
hat – Stichwort Neue Seidenstraße<br />
– während wir da vielleicht etwas naiv<br />
waren?<br />
Jungbluth: Die EU hat begonnen, ihre<br />
Außenbeziehungen neu auszurichten.<br />
Aber relativ spät, wenn man sich China<br />
im Vergleich anschaut. Die Seidenstraße-Initiative<br />
oder Made in China 2025<br />
zeigen, dass China eine langfristige Strategie<br />
verfolgt. China hat den Plan, bis<br />
2049 weltgrößte Supermacht zu werden.<br />
Von solchen langfristigen Perspektiven<br />
sind wir in der EU weit entfernt. Aber<br />
es gibt ein neues Verständnis dafür, dass<br />
Wirtschaftsbeziehungen und Geopolitik<br />
stärker und langfristiger zusammengedacht<br />
werden müssen. 2019 hat die<br />
EU ein neues Strategiepapier zu China<br />
herausgegeben, worin sie erstmals die<br />
Rivalität anerkannt hat. Und seitdem<br />
werden immer mehr Instrumente entwickelt,<br />
um mit der politischen Erpressbarkeit<br />
umzugehen, die China und andere<br />
Länder immer offensiver an den Tag<br />
legen. Aber es ist noch eine relativ neue<br />
Entwicklung, und insofern ist die EU da<br />
noch nicht so optimal aufgestellt.<br />
Herr Petersen, denken wir dann zukünftig<br />
wieder in Blöcken?<br />
Petersen: Eine ganz entscheidende Frage<br />
ist, wie sich die weltweite Arbeitsteilung<br />
nach dem Ukraine-Konflikt weiterentwickelt.<br />
Das kann jetzt niemand<br />
seriös vorhersagen. Wenn es darauf hinausläuft,<br />
dass die Wirtschaftsbeziehungen<br />
zwischen den USA und Europa auf<br />
der einen Seite und Russland auf der anderen<br />
Seite dauerhaft unterbrochen werden,<br />
dann wird es sicherlich eine stärkere<br />
Zusammenarbeit zwischen Russland<br />
und China geben. Dann werden wir<br />
tatsächlich zwei große Machtblöcke sehen.<br />
Auf der einen Seite demokratische<br />
Marktwirtschaften bestehend aus den<br />
USA, Europa, Japan, Südkorea, Ozeanien,<br />
Nord- und Südamerika. Und auf der<br />
anderen Seite autokratische Staaten wie<br />
China, Russland und deren Handelspartner.<br />
Aber kommt es wirklich dazu? China<br />
hätte dann weniger Exportchancen in<br />
Richtung USA und Europa. Russland ist<br />
bei aller Größe für China längst nicht so<br />
wichtig als Handelspartner wie eben die<br />
USA oder Europa. So ein Szenario hätte<br />
für alle Beteiligten Nachteile. Europäer<br />
und Amerikaner müssten dann auch<br />
auf preiswertere chinesische Produkte<br />
verzichten, Russland und China wiederum<br />
hätten nicht mehr den Zugriff auf<br />
moderne Technologien. Das wäre eine<br />
Entwicklung, bei der es eigentlich nur<br />
Verlierer gibt.<br />
Jungbluth: Zum jetzigen Zeitpunkt ist<br />
es wirklich ganz schwer, Perspektiven<br />
aufzuzeigen. Der Schlingerkurs, den<br />
China in der Ukraine-Krise fährt, zeigt<br />
aber auch, dass es noch nicht eindeutig<br />
ist mit der Blockbildung. Das ist gegenwärtig<br />
noch keine volle Allianz der Autokratien.<br />
Sobald China den Eindruck<br />
gewinnt, es könnte ins Fadenkreuz der<br />
westlichen Sanktionen geraten, sei es<br />
direkt oder indirekt, ist ein sehr großes<br />
Fragezeichen dahinter, ob sie sich<br />
auf Russlands Seite schlagen. Denn<br />
wie Thieß Petersen ja gesagt hat: Die<br />
gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen<br />
China und der EU und den USA<br />
sind wesentlich größer als die zwischen<br />
Russland und China. In konkreten Zahlen<br />
heißt das: Ein Viertel des gesamten<br />
chinesischen Außenhandels verteilt sich<br />
auf die EU und die USA, aber unter drei<br />
Prozent gehen auf Russland zurück.<br />
Und es wäre eine sehr asymmetrische<br />
Beziehung, weil Russland vor allem<br />
Rohstoffe liefert und darüber hinaus<br />
nicht viel zu bieten hat. Natürlich sind<br />
Rohstoffe wichtig für die Wirtschaftsentwickung<br />
in China, aber die sind auch<br />
substituierbar. Auch China will zunehmend<br />
erneuerbare Energien ausbauen,<br />
sodass sich eine Juniorpartnerschaft für<br />
Russland abzeichnen würde, wenn es<br />
zu dieser Allianz käme. Russland unter<br />
Putin macht jetzt nicht Eindruck, als ob<br />
man sich dort mit einer Juniorrolle zufrieden<br />
geben würde.<br />
Unternehmensvertreter sagen, dass dieses<br />
Entflechten von hochkomplexen Lieferketten<br />
gar nicht so schnell geht. Das braucht<br />
Zeit und Geduld – und die scheinen weder<br />
Politik noch Öffentlichkeit zu haben.<br />
Petersen: Was wir hier besprochen<br />
haben, ist eher die Lehrbuch-Öko-<br />
>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
17
<strong>Globalisierung</strong><br />
“<br />
Zumal Klimaneutralität<br />
eigentlich im<br />
Interesse aller<br />
Staaten liegen<br />
sollte, weil es<br />
eben nur einen<br />
Planeten gibt.<br />
Dr. Cora Francisca Jungbluth<br />
nomie, aber tatsächlich ist es natürlich<br />
so, dass es in den Lieferketten durch<br />
jahrelange Just-in-time-Produktion Verflechtungen<br />
gibt, die nicht so schnell<br />
aufgehoben oder ersetzt werden können.<br />
Für Unternehmer ist das tatsächlich<br />
ein ganz großes Problem: Ich habe<br />
vielleicht nur einen Zulieferer, und der<br />
sitzt in China. Der ist möglicherweise<br />
sogar so eine Art Monopolist. Wie will<br />
man so eine Situation ändern? In volkswirtschaftlichen<br />
Modellen gehen wir<br />
einfach davon aus, dass dies durch Vorleistungen<br />
anderer Anbieter substituiert<br />
wird und ein Anpassungsprozess an<br />
neue Zulieferer stattfindet. In der Realität<br />
ist das wesentlich schwieriger. Für<br />
die betroffenen Unternehmen kommt es<br />
zu ganz harten Unterbrechungen, von<br />
denen niemand weiß, wie man das betriebswirtschaftlich<br />
auffängt.<br />
Jungbluth: Ein Vorhaben, das dann vorangetrieben<br />
wird, ist, lokale Produktion<br />
aufzubauen. Was brauchen wir in der EU,<br />
um bestimmte Schlüsseltechnologien<br />
zu produzieren? Wo beziehen wir die<br />
Vorprodukte und Rohstoffe her? Welche<br />
von den Ländern, die dahinter stehen,<br />
sind möglicherweise Autokratien, die<br />
uns politisch erpressen könnten? Kann<br />
man diese Bestandteile der Lieferkette<br />
zurückholen – sei es nach Deutschland,<br />
nach Europa oder in sogenannte gleichgesinnte<br />
Länder? Im Endeffekt sind die<br />
kurzfristigen Folgen aber erhöhte Produktionskosten<br />
und damit höhere Preise<br />
für die Verbraucher.<br />
Was ich da auch noch sehe, ist der Umgang<br />
mit möglichen Doppelstandards.<br />
Wenn sich Unternehmen durch die<br />
Abkopplungstendenzen in der einen<br />
Hemisphäre der einen Sorte Standards<br />
unterwerfen müssen, und in der anderen<br />
Hemisphäre den anderen Standards.<br />
Dann werden wir im Prinzip in Zukunft<br />
zwei Schienen der <strong>Globalisierung</strong> betreiben<br />
müssen, und auch das geht für<br />
Unternehmen natürlich einher mit erhöhten<br />
Kosten. Vor allem für kleine und<br />
mittelständische Unternehmen ist das<br />
problematisch.<br />
Wir haben in den vergangenen 20 Jahren<br />
intensiv über die Welthandelsorganisation<br />
WTO Regeln und Urheberrechte vereinbart<br />
– immer mit dem Gedanken, ein<br />
level playing field zu schaffen. In Ihrem<br />
Szenario zerbricht diese Ordnung.<br />
Jungbluth: In einer idealen Welt ist es<br />
natürlich wünschenswert, die Welthandelsorganisation<br />
als multilaterale Organisation,<br />
an der möglichst viele Länder<br />
beteiligt sind, wieder vollständig in ihrer<br />
Funktionsfähigkeit herzustellen. Das ist<br />
gegenwärtig aber überhaupt nicht absehbar,<br />
wann und ob das je wieder sein<br />
wird. Dann gibt es die zweitbeste Lösung:<br />
Das sind bilaterale und regionale<br />
Handelsabkommen, wo zumindest eine<br />
größere Anzahl an Ländern oder Wirtschaftsregionen<br />
zusammenkommen<br />
und sich auf gemeinsame Standards<br />
und Handelsbedingungen einigen. Das<br />
ist etwas, was die EU zum Beispiel im<br />
Asien-Pazifik-Raum gerade vorantreibt.<br />
Damit einher gehen eben auch Arbeitsrechte,<br />
Sozial- und Umweltstandards.<br />
Sie sind bei einem modernen Freihandelsabkommen<br />
mittlerweile Standard,<br />
und das ist eine Möglichkeit für die EU,<br />
diese Spielregeln zu exportieren und<br />
dafür zu sorgen, dass in Regionen oder<br />
Ländern, die ein Freihandelsabkommen<br />
mit der EU anstreben, diese Standards<br />
auch gewährleistet sind.<br />
Das Pariser Klimaabkommen ist auch als<br />
globales Thema definiert worden, ist auch<br />
global ratifiziert worden, kann eigentlich<br />
auch nur global gelöst werden. Wie passt<br />
das dann noch in die Zeit?<br />
Petersen: Es wird tatsächlich schwierig,<br />
da eine Lösung hinzukommen. Dafür<br />
bräuchten wir eigentlich einen weltweit<br />
geltenden CO2-Preis, aber der ist<br />
für mich momentan absolut utopisch.<br />
Ein Weg dahin könnte ein sogenannter<br />
Klima-Club sein, bei dem sich verschiedene<br />
Länder zusammenschließen und<br />
sich auf einen gemeinsamen höheren<br />
CO2-Preis einigen. Dafür braucht man<br />
allerdings eine große Anzahl von Partnerländern.<br />
Wenn jetzt die EU und die<br />
18 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
USA sagen, wir einigen uns auf so einen<br />
Club, dann könnte das schon ein starkes<br />
Signal sein. Der Vorteil wäre nämlich,<br />
dass die Mitgliedstaaten ihre Güter<br />
und Dienstleistungen ohne Handelsbeschränkungen<br />
tauschen können. Und<br />
Staaten, die nicht Mitglied des Clubs<br />
sind, müssten entsprechende CO2-Importzölle<br />
bezahlen. So könnte ich mir<br />
einen Anreiz vorstellen.<br />
Jungbluth: Zumal Klimaneutralität<br />
eigentlich im Interesse aller Staaten<br />
liegen sollte, weil es eben nur einen<br />
Planeten gibt. Hier muss international<br />
an einem Strang gezogen werden.<br />
Die meisten Staaten weltweit haben<br />
ja mittlerweile auch Klimaneutralitätsziele.<br />
Meine Befürchtung<br />
ist aber, dass gerade die<br />
Entwicklung mit dem Krieg<br />
in der Ukraine und die sich<br />
aufdrängende Frage nach<br />
einer Blockbildung diese<br />
Klimaschutzziele stärker<br />
in den Hintergrund rücken<br />
lassen. Zumindest kurzfristig<br />
stellt sich im Fall Chinas<br />
zum Beispiel die Frage, ob<br />
hier Kohle dann doch noch<br />
weiter eine größere Rolle spielt.<br />
Auch China will nicht abhängig von russischem<br />
Gas werden, und erneuerbare<br />
Energien werden ausgebaut. Aber das<br />
geht nur langsam voran.<br />
Petersen: Und dazu eine kleine positive<br />
Anmerkung: Wenn es jetzt tatsächlich<br />
dazu kommt, dass die USA<br />
und Europa für sich entscheiden, die<br />
Klimaneutralität ernsthaft anzugehen<br />
und entsprechend mit höheren CO2<br />
Preisen arbeiten, heißt es ja, dass perspektivisch<br />
grüne Produkte und grüne<br />
Technologien ein entscheidender Wettbewerbsvorteil<br />
sind. Dann wird es aus<br />
meiner Sicht aber auch immer schwieriger,<br />
mit schmutzigen Produkten noch zu<br />
punkten. Insofern könnte die negative<br />
Erfahrung mit Russland auch noch mal<br />
ein zusätzlicher Push sein, verstärkt<br />
die ökologische Transformation voranzutreiben,<br />
weil sie eben nicht nur dem<br />
Klimaschutz dient, sondern auch die<br />
Abhängigkeit reduziert.<br />
Wir haben heute drei riesen Baustellen:<br />
Die erste Großbaustelle ist der EU Green<br />
Deal, also die klimaneutrale Transformation<br />
der Wirtschaft in Europa. Die zweite<br />
Baustelle ist der Wiederaufbau nach Corona,<br />
und die dritte Baustelle ist jetzt die<br />
geopolitische, über die wir gerade gesprochen<br />
haben. Wie realistisch ist das, dass<br />
wir alle drei gut umsetzen können?<br />
Jungbluth: Im Prinzip greifen die Fragen<br />
nach der Geopolitik und grüner<br />
Transformation in gewisser Weise ineinander.<br />
Insofern könnte das Ziel, bestimmte<br />
kritische Abhängigkeiten zu<br />
reduzieren, wie zum Beispiel Gas, damit<br />
einhergehen, dass ein größerer Schritt<br />
in Richtung nachhaltige Transformation<br />
gemacht wird.<br />
Petersen: Ich kann mir vorstellen,<br />
dass die Unternehmen oder sogar die<br />
Volkswirtschaften, die die digitale und<br />
die ökologische Transformation erfolgreich<br />
hinbekommen, die Gewinner der<br />
Zukunft sind, weil nicht-erneuerbare<br />
Rohstoffe naturgemäß begrenzt sind,<br />
und irgendwann haben wir die nicht<br />
mehr. Dann werden grüne Produkte<br />
oder klimaneutrale Produkte und Produktionsverfahren<br />
aus meiner Sicht ein<br />
entscheidender Wettbewerbsvorteil für<br />
die Zukunft sein. Länder, die das zuerst<br />
hinbekommen, werden gewinnen. Und<br />
umgekehrt: Länder, deren Wohlstand<br />
darauf basiert, weiterhin fossile Energien,<br />
also Erdöl, Erdgas und Kohle zu<br />
exportieren, werden verlieren.<br />
Wir danken Ihnen herzlich für das<br />
Gespräch! ■<br />
Dr. Cora Francisca Jungbluth<br />
ist studierte Sinologin und arbeitet<br />
als Senior Expert International<br />
Trade and Investment bei der<br />
Bertelsmann Stiftung.<br />
Dr. Thieß Petersen<br />
ist studierter Volkswirt und<br />
heute Senior Advisor für<br />
Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft<br />
bei der Bertelsmann Stiftung.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
19
<strong>Globalisierung</strong><br />
Mit Welthandel<br />
auch Weltanschauungen<br />
exportieren<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> macht<br />
eine Pause, sagt der<br />
Weltwirtschaftsexperte<br />
Lukas Menkhoff. Grund ist<br />
die wachsende Politisierung<br />
der Wirtschaft. Ob globale<br />
Herausforderungen auch in<br />
Zukunft noch globale<br />
Unterstützung finden, ist<br />
dabei offen. Menkhoff mahnt:<br />
„Ob multipolar und multilateral<br />
gut miteinander<br />
harmonieren, haben wir noch<br />
nicht wirklich ausprobiert.“<br />
20 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
UmweltDialog: Beginnen wir mit einer<br />
Begriffsbestimmung von <strong>Globalisierung</strong>!<br />
Das meint eigentlich keine singuläre Periode<br />
der Weltgeschichte, sondern verschiedene<br />
Phasen. Welches Bild von <strong>Globalisierung</strong><br />
haben Sie im Kopf?<br />
Prof. Dr. Lukas Menkhoff: Ich sehe<br />
<strong>Globalisierung</strong> als langanhaltenden Prozess<br />
seit dem 19. Jahrhundert. Wenn<br />
man das über so einen langen Zeitraum<br />
betrachtet, dann ist die <strong>Globalisierung</strong><br />
im Moment nicht zwingend beendet,<br />
sondern sie nimmt sich vielleicht eine<br />
Pause, und wir werden sehen, wie es<br />
dann weitergeht.<br />
Wie sieht diese Pause aus?<br />
Die Vorstellung, dass wir eine zunehmende<br />
Verflechtung in der Weltwirtschaft<br />
haben, ist seit gut zehn Jahren<br />
empirisch nicht mehr festzustellen,<br />
sondern in der Summe stagniert die<br />
internationale Verflechtung seit der Finanzkrise<br />
2008/2009. Jetzt ist die Frage:<br />
Woran liegt das? Die Antwort, glaube<br />
ich, lautet, dass wir seitdem ein stärkeres<br />
Maß an politisch verursachten Sanktionen<br />
und Protektionismus haben und<br />
damit den Außenhandel bremsen. Diese<br />
Entwicklung wird durch die Corona-Epidemie<br />
und aktuell den Ukraine-Krieg<br />
noch einmal verstärkt.<br />
Hinzu kommt, dass eine <strong>Globalisierung</strong>sentwicklung<br />
nicht unendlich<br />
weitergetrieben werden kann. Es wird<br />
immer Wertschöpfung geben, die nur<br />
im jeweiligen Land erbracht werden<br />
kann wie zum Beispiel lokale Dienstleistungen.<br />
Außerdem gibt es technische<br />
Grenzen: Containerschiffe können<br />
nicht beliebig groß werden. Dies ist ein<br />
Beispiel für sinkende Grenzerträge der<br />
<strong>Globalisierung</strong>, weil die Kostensenkung<br />
im internationalen Handel nicht im bisherigen<br />
Tempo fortgeschrieben wird.<br />
Foto: vchalup / stock.adobe.com<br />
Kostensenkung ist ein gutes Stichwort.<br />
Lange haben wir – zumindest in Europa<br />
– <strong>Globalisierung</strong> rein betriebswirtschaftlich<br />
betrachtet. Wo kann ich was billiger<br />
produzieren? Mit Corona und dem Krieg<br />
kommen jetzt auch politische und >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
21
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: New Gary / stock.adobe.com<br />
Wir haben vielleicht stärker darauf vertraut,<br />
dass die multilaterale Weltordnung<br />
hält. Diese Ordnung ist aus unserer<br />
Sicht so schön, weil sie sehr stark<br />
nach unseren Vorstellungen gestaltet ist.<br />
Insbesondere Deutschland hat lange von<br />
der <strong>Globalisierung</strong> und der multilateralen<br />
Ordnung profitiert. Wie sehr wird uns die<br />
globale Veränderung treffen?<br />
Das wird davon abhängen, wie es weitergeht.<br />
Es ändert sich offensichtlich etwas<br />
in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik,<br />
und diese Änderungen sind nicht<br />
zu unserem Vorteil als Volkswirtschaft.<br />
Im Moment sind die Auswirkungen aber<br />
noch begrenzt. Deshalb bin ich verhalten<br />
optimistisch. Man kann sich an neue<br />
Gegebenheiten anpassen, und die Welt<br />
ist groß, so dass sich auch neue Möglichkeiten<br />
eröffnen können. Wenn man jetzt<br />
zum Beispiel den Fall Russland nimmt,<br />
dann sind die Wirkungen der bisherigen<br />
Sanktionen für die gesamte deutsche<br />
Volkswirtschaft nicht so dramatisch,<br />
wie es auf den ersten Blick erscheinen<br />
mag (für einzelne Unternehmen natürlich<br />
schon). Man wird sehen, wie schnell<br />
sich die Unternehmen anpassen.<br />
strategische Überlegungen mit in Betracht.<br />
Werden wir ab jetzt nicht mehr nur<br />
auf den Preis, sondern auch auf die Geopolitik<br />
schauen?<br />
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen.<br />
Wenn man sich die Handelspolitik<br />
der USA oder die strategischen Entscheidungen<br />
von China anschaut, dann spielt<br />
Politik schon längere Zeit eine Rolle.<br />
Dort hat Handel jenseits der Ökonomie<br />
eine klare politische Dimension, und<br />
Entscheidungen zum Außenhandel werden<br />
auch als ein Instrument benutzt, um<br />
politisch etwas zu bewirken.<br />
Waren wir Europäer da lange Zeit zu naiv?<br />
“<br />
Nachhaltigkeit ist<br />
aufgrund des<br />
Klimawandels<br />
zwingend. Da<br />
muss noch mehr<br />
passieren, völlig<br />
egal, was sonst in<br />
der Welt los ist.<br />
Wie sehen Sie hierbei die Rolle Chinas?<br />
Manche werfen dem Land vor, bei globalen<br />
Herausforderungen in der Vergangenheit<br />
eher „Trittbrettfahrer“ gewesen zu<br />
sein. Wird China künftig offensiver auftreten?<br />
Trittbrettfahrer ist ein hartes Wort, aber<br />
klar: Sie haben asymmetrisch agiert.<br />
Das ist etwas, was man in einer Handelsordnung<br />
sich entwickelnden Ländern<br />
generell zugesteht. Sie werden anders<br />
behandelt als bereits entwickelte Länder.<br />
Bei den gegenwärtigen Wachstumsraten<br />
wird China künftig immer umfassender<br />
zu einer voll entwickelten Volkswirtschaft<br />
werden. Damit kommt das Land<br />
in eine andere Rolle, und das wissen die<br />
Entscheidungsträger. Ein schönes Beispiel<br />
sind die Entwicklungsbanken, die<br />
China initiiert, weil es unzufrieden ist<br />
mit seiner Rolle in den bestehenden Institutionen.<br />
In den klassischen Bretton-<br />
Woods-Institutionen wie Weltbank und<br />
Internationalem Währungsfonds dominieren<br />
die Amerikaner und Europäer.<br />
Wir finden das normal, weil es immer<br />
22 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
so war und wir große Geldgeber sind.<br />
Aber andere Länder finden das natürlich<br />
überhaupt nicht normal und auch nicht<br />
gut. Deshalb gründet China konkurrierende<br />
Institutionen.<br />
Indien wird einen ähnlichen Weg wie<br />
China beschreiten. In gewisser Weise<br />
sind wir das selbst schuld, wenn es uns<br />
nicht gelingt, die neuen globalen Realitäten<br />
zur Kenntnis zu nehmen und in<br />
passende institutionelle Arrangements<br />
zu überführen.<br />
Was muss sich in den multilateralen<br />
Organisationen ändern, damit sie die<br />
Herausforderungen unserer Zeit besser<br />
handhaben?<br />
Die Frage ist, ob sie überhaupt noch so<br />
funktionieren können wie in der Vergangenheit<br />
und wovon das Funktionieren<br />
solcher Institutionen abhängt. Ich<br />
finde es ein Stück weit plausibel zu sagen,<br />
dass auch Multilateralismus davon<br />
begünstigt wird, dass es stärkere Spieler<br />
gibt, die die Institutionen zusammenhalten<br />
und damit natürlich asymmetrisch<br />
Macht und Gestaltungsmöglichkeiten<br />
haben. Das wird künftig schwieriger.<br />
Unsere Welt ist multipolar, und ob multipolar<br />
und multilateral gut miteinander<br />
harmonieren, haben wir noch nicht<br />
wirklich ausprobiert. Im Moment sieht<br />
es ja so aus, als würden sich Länder gegenseitig<br />
blockieren. Das sehen Sie am<br />
Beispiel der UN: Sobald vitale Interessen<br />
der Vetomächte berührt sind, gibt<br />
es ein Veto, und dann geht nichts mehr,<br />
oder jedenfalls nichts, was von der UN<br />
insgesamt getragen würde.<br />
Bleiben dabei Themen wie Nachhaltigkeit<br />
oder Klimawandel auf der Strecke?<br />
Menkhoff: Nachhaltigkeit ist aufgrund<br />
des Klimawandels zwingend. Da muss<br />
noch mehr passieren, völlig egal, was<br />
sonst in der Welt los ist. Und von daher<br />
werden sich die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik<br />
überall auf der Welt weiter<br />
ändern. Zugleich ist das auch ein politisches<br />
Instrument von unserer Seite: Wir<br />
benutzen Nachhaltigkeit als Bedingung<br />
im Außenhandel. Hierbei denken wir,<br />
dass diese Verknüpfung von Handel und<br />
Nachhaltigkeit eine gute Sache ist, aber<br />
letztendlich versuchen wir damit auch,<br />
ob bewusst oder unbewusst, über Präferenzen<br />
oder Vorstellungen in anderen<br />
Ländern mitzuentscheiden.<br />
Lange Zeit galten <strong>Globalisierung</strong> und Demokratie<br />
als Zwillingspaar. Jetzt erleben<br />
wir, dass das eine auch ohne das andere<br />
funktioniert. Ist eine Zukunft denkbar, in<br />
der <strong>Globalisierung</strong> wächst und Demokratien<br />
auf dem Rückzug sind?<br />
Menkhoff: Auf jeden Fall, weil sie in<br />
der Entstehungsgeschichte auch unverbunden<br />
waren. Wenn wir an die frühen<br />
Formen der <strong>Globalisierung</strong> denken,<br />
dann hatte diese Phase mit Demokratie<br />
nichts zu tun. Im Gegenteil, es war<br />
eine imperialistische Zeit, in der die<br />
frühe <strong>Globalisierung</strong> stattgefunden hat.<br />
Von daher glaube ich, das sind durchaus<br />
zwei Paar Schuhe. Und es gibt genug<br />
Beispiele, an denen man sieht, dass<br />
Länder sich wirtschaftlich erstaunlich<br />
gut entwickeln können, ohne sich zu demokratisieren.<br />
Das ist aus unserer Sicht<br />
vielleicht etwas unerwartet, weil wir als<br />
offene Gesellschaft überzeugt sind, dass<br />
es Austauschbeziehungen zwischen<br />
Marktwirtschaft und Demokratie gibt,<br />
die sich gegenseitig begünstigen.<br />
Jetzt verlangen aber gerade viele Politiker<br />
und auch ESG-Investoren, dass Wirtschaft<br />
immer auch einem moralischen Kompass<br />
folgen soll. Ist das nicht im Widerspruch<br />
zu Ihrer Aussage?<br />
Im Prinzip spricht nichts gegen einen<br />
moralischen Kompass, dem folgt die<br />
Politik bereits heute, beispielsweise bei<br />
Rüstungsexporten. Aber wie rigide soll<br />
der gelten, und möchten wir mit den Folgen<br />
leben? Wenn wir wirklich erwarten,<br />
dass unsere Handelspartner sich alle so<br />
ähnlich verhalten und so ähnlich denken<br />
wie wir, dann können wir nur noch<br />
im kleinen Kreis westlicher Länder handeln.<br />
Den Rest der Welt gibt es dann als<br />
Handelspartner für uns nicht mehr. Ich<br />
weiß nicht, ob das so gewollt ist, und ich<br />
weiß auch nicht, ob es besonders klug<br />
ist.<br />
Wir danken Ihnen herzlich für das<br />
Gespräch! ■<br />
Prof. Dr. Lukas Menkhoff<br />
ist Leiter der Abteilung<br />
Weltwirtschaft am DIW Berlin,<br />
Professor für Volkswirtschaftslehre<br />
an der Humboldt-Universität zu<br />
Berlin und Mitglied der Finance<br />
Gruppe an der HU Berlin. Seine<br />
Forschungsschwerpunkte sind<br />
internationale Finanzmärkte und<br />
finanzielle Entwicklung.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
23
<strong>Globalisierung</strong><br />
Demokratien vs. Autokratien<br />
Die Demokratie verliert an Boden: Erstmals<br />
seit 2004 verzeichnet der Bertelsmann<br />
Transformationsindex (BTI)<br />
mehr autokratische als demokratische<br />
Staaten. Von 137 untersuchten<br />
Ländern sind nur noch 67 Demokratien,<br />
die Zahl der Autokratien steigt auf<br />
70. Auch bei Wirtschaftsentwicklung<br />
und Regierungsleistung zeigt die Kurve<br />
nach unten, die Corona-Pandemie<br />
hat bestehende Defizite noch deutlicher<br />
zutage treten lassen. Einen Lichtblick<br />
bietet zivilgesellschaftliches Engagement,<br />
das sich vielerorts gegen<br />
den Abbau demokratischer Standards<br />
und wachsende Ungleichheit richtet.<br />
Sehr demokratisch<br />
9,00 – 10,00<br />
8,00 – 8,99<br />
7,00 – 7,99<br />
6,00 – 6,99<br />
5,00 – 5,99<br />
4,00 – 4,99<br />
3,00 – 3,99<br />
2,00 – 2,99<br />
0 – 1,99<br />
Sehr autokratisch<br />
Keine Daten<br />
24 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Quelle: The Economist Intelligence Unit 2021<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
25
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: DisobeyArt / stock.adobe.com<br />
Offene Gesellschaften<br />
versus digitale autokratische<br />
Experimente<br />
Von Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber<br />
oder: Warum<br />
letztere parasitär,<br />
kannibalisch und<br />
selbstbeschränkend<br />
sind<br />
Einführung<br />
Betrachtet man die Entwicklung der letzten zehn Jahre, so ist<br />
es offensichtlich, dass die westlichen Demokratien, die manchmal<br />
auch als „freie Welt“ bezeichnet werden, vor grundlegenden<br />
Herausforderungen stehen. Weit davon entfernt, dass<br />
die liberale Demokratie das „Ende der Geschichte“ bedeutet,<br />
wird dieses Regierungssystem durch Alternativen, vor allem<br />
Autokratien, ersetzt. Dieser Wandel geht Hand in Hand mit<br />
wachsenden globalen Herausforderungen wie der globalen<br />
Erwärmung, asymmetrischen Kriegen, noch nie dagewesener<br />
Ungleichheit, erzwungener Migration, Pandemien, den unbekannten<br />
Auswirkungen der Automatisierung auf die traditionellen<br />
Arbeitskräfte usw. In ihrem Buch mit dem Titel That<br />
Used To Be Us stellen Thomas Friedman und Michael Mandelbaum<br />
die Frage: „Was wäre, wenn die USA sich für einen<br />
26 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Tag zu China erklären würden, um alle<br />
Herausforderungen zu lösen, mit denen<br />
wir konfrontiert sind, und sich dann entschließen<br />
würden, zu einem offenen demokratischen<br />
System zurückzukehren,<br />
um alle seine Vorteile zu genießen?“ Mit<br />
anderen Worten: Was ist die richtige politische<br />
Agenda für das 21. Jahrhundert?<br />
Sollte es mehr „offene Gesellschaften“<br />
oder mehr Autokratien geben?<br />
Freedom House stellte fest, dass in den<br />
letzten 14 Jahren 64 Länder in Bezug auf<br />
Menschenrechte, faire Wahlen, Rechte<br />
von Minderheiten und Rechtsstaatlichkeit<br />
schlechter bewertet wurden und<br />
nur 37 Länder in diesen Bereichen eine<br />
Verbesserung erfuhren. Betrachtet man<br />
die Weltbevölkerung, so leben 39 Prozent<br />
in freien Ländern und Gebieten, 25<br />
Prozent in teilweise freien Ländern und<br />
Gebieten und 36 Prozent in nicht freien<br />
Ländern und Gebieten. Wenn wir die<br />
Hälfte der Bevölkerung, die unter teilweise<br />
freien politischen Bedingungen<br />
lebt, den freien Regionen und Ländern<br />
zurechnen und die andere Hälfte den<br />
nicht freien, kann man sagen, dass zwar<br />
etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung<br />
in freien Ländern und Regionen lebt,<br />
die übrigen jedoch nicht. Am Ende des<br />
Kalten Krieges sah es so aus, als ob autoritäre<br />
und totalitäre Regime auf dem<br />
Rückzug wären, aber der aktuelle Trend<br />
zeigt das Gegenteil. Was den prozentualen<br />
Anteil der freien Welt anbelangt,<br />
so erhielt das Jahr 2020 den niedrigsten<br />
Wert seit mehr als einem Jahrzehnt.<br />
Diese empirischen Ergebnisse spiegeln<br />
eine Aussage von Wladimir Putin, dem<br />
Präsidenten der Russischen Föderation,<br />
wider, in der er behauptete, dass „der<br />
Liberalismus einfach überholt ist“. Die<br />
folgende Grafik veranschaulicht dies:<br />
Der große Niedergang der Demokratie<br />
2009<br />
-33<br />
2008<br />
2012<br />
2007 -22<br />
2011<br />
2010 -20<br />
-16<br />
-17<br />
-15<br />
2013<br />
-14<br />
2014 2015<br />
-29 -29<br />
2016<br />
-31<br />
2017<br />
-36<br />
2018<br />
-18<br />
2019<br />
-27<br />
2020<br />
-45<br />
20052006<br />
+31 -3<br />
52<br />
83<br />
59 56 59<br />
43<br />
60<br />
38<br />
67<br />
34 34<br />
49<br />
54<br />
Democracy gap<br />
Number of countries that improved<br />
minus number of countries that declined<br />
37<br />
63<br />
43<br />
54<br />
40<br />
62<br />
33<br />
72<br />
Number of countries<br />
that improved<br />
43<br />
67<br />
36<br />
71<br />
35<br />
68<br />
50<br />
Number of countries<br />
that declined<br />
64<br />
37<br />
73<br />
28<br />
Quelle: Freedom House, 2021 Jahresbericht >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
27
<strong>Globalisierung</strong><br />
In offenen<br />
Gesellschaften<br />
legitimiert<br />
sich der Staat<br />
dadurch, dass<br />
er die oft widersprüchlichen<br />
Formen der<br />
individuellen<br />
Freiheit und<br />
Verantwortung<br />
jedes seiner<br />
Mitglieder<br />
ermöglicht,<br />
schützt und<br />
ausgleicht.<br />
Problemlösung im Zeitalter des<br />
Anthropozäns<br />
Derzeit genießen diese autokratischen<br />
Experimente erhebliche Unterstützung<br />
– nicht nur in prominenten autokratischen<br />
Ländern, sondern auch in der<br />
westlichen „freien Welt“. In einigen Ländern<br />
ist die Unterstützung für eine autokratische<br />
Agenda sogar höher als Unterstützung<br />
für die „freie Welt“. Über diese<br />
Verschiebung der Akzeptanz von Autokratien<br />
einerseits und ihren Mangel<br />
an Legitimität andererseits ist viel geschrieben<br />
worden, aber einer der Hauptgründe<br />
für diesen Hype um Autokratien<br />
ist die Tatsache, dass ihre Befürworter<br />
glauben, dass das System der Autokratie<br />
in der Lage ist, Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit,<br />
globale Erwärmung, Ungleichheit,<br />
Korruption und Verlust der<br />
Artenvielfalt besser zu lösen als offene<br />
Gesellschaften. Die Suche nach Lösungen<br />
für die oben genannten Probleme<br />
hat für die gesamte Menschheit hohe<br />
Priorität, und es hat den Anschein, dass<br />
Autokratien besser in der Lage sind, diese<br />
Probleme einzudämmen. Empirisch<br />
gesehen hat das autokratische System<br />
seine Vorzüge: schnelle politische Entscheidungsfindung,<br />
rasche Umsetzung<br />
von Lösungen und straffe Skalierung<br />
der Wirtschaft. Bei näherer Betrachtung<br />
des autokratischen Systems stellt man<br />
jedoch fest, dass es selbstbegrenzende<br />
Faktoren gibt, die in die Autokratie<br />
selbst eingebaut sind. Es stellt sich die<br />
Frage, welche der beiden gegensätzlichen<br />
Alternativen einen relativen Wettbewerbsvorteil<br />
hat, um die anstehenden<br />
Herausforderungen des Anthropozäns<br />
zu bewältigen, das durch die Grenzen<br />
des Planeten, durch Spillover-Effekte<br />
und durch die allzeitige Vernetzung gekennzeichnet<br />
ist. In diesem Zeitalter hat<br />
die menschliche Spezies den Fahrersitz<br />
eingenommen, nicht nur, um den Kurs<br />
des Planeten zu bestimmen – was zu<br />
globaler Erwärmung, Verringerung der<br />
biologischen Vielfalt, Pandemien usw.<br />
führt –, sondern auch durch die Bereitstellung<br />
von Lebensformen für<br />
Menschen in großen koordinierten Gesellschaften<br />
und für die Befriedigung<br />
menschlicher sozioökonomischer Bedürfnisse.<br />
Dies ist eine Ära, in der es<br />
keine wirkliche Ausstiegsoption, keinen<br />
Plan B und keinen Neustartknopf gibt.<br />
Zusammenfassend lässt sich fragen:<br />
Welches von den beiden diskutierten<br />
Systemen – offene Gesellschaften oder<br />
Autokratien – ist besser geeignet, die<br />
globalen Herausforderungen zu lösen?<br />
Das Wesen einer offenen Gesellschaft:<br />
menschenzentriert und offen für<br />
Revisionen<br />
Historisch gesehen sind „offene Gesellschaften“<br />
– erstmals beschrieben von<br />
dem österreichischen Philosophen und<br />
Begründer des kritischen Rationalismus,<br />
Karl Popper (1902–1994), – eine<br />
konzeptionelle Antwort auf die Erfahrungen<br />
des deutschen Faschismus und<br />
des russischen Stalinismus, in denen<br />
die individuellen Menschenrechte in<br />
großem Umfang verletzt wurden. Offene<br />
Gesellschaften spiegeln eine Gesellschafts-<br />
und Verfassungsordnung wider,<br />
in der persönliche Freiheit und gegenseitige<br />
Kritik nicht nur die Grundlage für<br />
individuelles Wohlergehen, wirtschaftlichen<br />
Wohlstand und Frieden bilden,<br />
sondern auch überlegene Instrumente<br />
für die Lösung von Problemen und das<br />
Streben nach Wahrheit und Kohärenz<br />
sowohl in der Wissenschaft als auch in<br />
der Religion. In offenen Gesellschaften<br />
legitimiert sich der Staat dadurch, dass<br />
er die oft widersprüchlichen Formen der<br />
individuellen Freiheit und Verantwortung<br />
jedes seiner Mitglieder ermöglicht,<br />
schützt und ausgleicht.<br />
Obwohl das Konzept der offenen Gesellschaft<br />
historisch gesehen ein Beitrag des<br />
Westens ist, handelt es sich um eine politische<br />
Agenda, die auf jedes Land der<br />
Welt angewendet werden kann. In einer<br />
offenen Gesellschaft engagieren sich die<br />
Menschen in einem kritischen, offenen,<br />
furchtlosen und öffentlichen Dialog, um<br />
Probleme zu lösen. Jedes Mitglied einer<br />
solchen offenen Gesellschaft weiß, dass<br />
dieses Streben nach einem besseren Leben<br />
den Menschen in den Mittelpunkt<br />
stellen sollte, offen für Revisionen sein<br />
sollte, fehlerfreundlich sein sollte und<br />
auf gegenseitiger Toleranz und Vertrau-<br />
28 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
en beruhen sollte. Sie sind sich auch<br />
bewusst, dass dieses Streben nach persönlicher<br />
Freiheit potenziell mehr Kreativität,<br />
Glück, Wohlstand, Gesundheit<br />
und Wahrheit ermöglicht als jede Alternative.<br />
Die offene Gesellschaft basiert<br />
auf Pluralismus, gegenseitigem Respekt<br />
und Demut, in dem Bewusstsein, dass<br />
unser Wissen immer unvollständig, voreingenommen<br />
und möglicherweise irreführend<br />
sein wird. Dies erfordert eine<br />
ständige faire, kritische und faktenbasierte<br />
öffentliche Debatte; Untersuchungen<br />
durch eine kritische und unabhängige<br />
Presse; autonome wissenschaftliche<br />
Bemühungen, die nach der Wahrheit suchen<br />
und ein besseres Verständnis der<br />
Wunder und Magie des Lebens ermöglichen;<br />
und ein Bildungssystem, das die<br />
Kreativität jedes Einzelnen freisetzt. In<br />
offenen Gesellschaften gibt es Kontrollmechanismen,<br />
die den Missbrauch von<br />
Macht verhindern. In offenen Gesellschaften<br />
werden die Preise für Waren<br />
und Dienstleistungen in einem freien,<br />
fairen und regulierten Marktsystem mit<br />
Produkthaftung und unternehmerischer<br />
Verantwortung gebildet, ohne die Wahrheit<br />
über die sozialen und ökologischen<br />
Externalitäten zu verschweigen. Darüber<br />
hinaus sind es Gesellschaften, in denen<br />
ein System der sozialen Sicherheit<br />
funktioniert, d.h. niemand wird zurückgelassen,<br />
die Rechte von Minderheiten<br />
werden respektiert und die Stimmen<br />
der Mehrheit werden akzeptiert. Offene<br />
Gesellschaften formulieren Gesetze<br />
– und setzen sie gegebenenfalls auch<br />
um –, um gewählte politische Amtsträger<br />
abzulösen, wenn sie ihren Pflichten<br />
nicht nachkommen. Offene Gesellschaften<br />
schützen die Menschenrechte und<br />
beruhen auf der Überzeugung, dass<br />
die Koexistenz anderer Meinungen, die<br />
Kreativität des Einzelnen und die institutionalisierten<br />
Formen der Kritik ein<br />
Leben mit insgesamt größerer persönlicher<br />
Freiheit, Wahrheit und Wohlstand<br />
garantieren.<br />
Dieses Idealbild der westlichen Welt<br />
fand in den Jahren nach dem Fall der<br />
Berliner Mauer 1989 großen Anklang.<br />
Ein weiterer bedeutender Einfluss auf<br />
die Darstellung der politischen Debatten<br />
im Westen war die Konvergenzhypothese.<br />
Diese Hypothese besagt, dass<br />
der freie Handel mit autokratischen<br />
Regimen organisch zu einer globalen<br />
Konvergenz von Rechtsstaatlichkeit,<br />
Minderheitenschutz, Gewaltenteilung,<br />
Menschenrechten und freien Märkten<br />
führt. Daher, so die Hypothese, wird<br />
dieses westliche Wertesystem letztlich<br />
weltweit umgesetzt und macht offene<br />
Gesellschaften selbst stabiler und sicherer.<br />
Dieses Narrativ rechtfertigt sogar<br />
den Einsatz des Militärs bei humanitären<br />
Interventionen (R2P: Responsibility<br />
to Protect). Es scheint jedoch, dass diese<br />
Form des expansiven Liberalismus mit<br />
seinem missionarischen Proselytismus<br />
zu weit getrieben wurde. Der Fehler<br />
dieser Konvergenzhypothese ist, dass<br />
sie nicht mehr falsifiziert werden kann.<br />
Jedes Mal, wenn ein autokratisches Regime<br />
einen vermeintlichen Fehltritt<br />
begeht, wird davon ausgegangen, dass<br />
das Regime „noch nicht am Ziel ist“<br />
oder dass seine Reise in Richtung einer<br />
offenen Gesellschaft noch Zeit braucht.<br />
Es ist jedoch erwiesen, dass dies keine<br />
Fehltritte waren – autokratische Regime<br />
folgten einfach einem anderen Narrativ.<br />
So wurde beispielsweise der Fall der<br />
Berliner Mauer im Jahr 1989 im Westen<br />
als Symbol für das Ende des Kommunismus<br />
verwendet. In China war 1989 das<br />
Jahr, in dem der Volksaufstand auf dem<br />
Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen<br />
wurde, was eher ein Zeichen<br />
für die Stärke als für das Ende des Kommunismus<br />
war.<br />
Das Verständnis der offenen Gesellschaften<br />
von Demokratie und Menschenrechten<br />
unterliegt jedoch der westlichen<br />
Souveränität mit ihrem Anspruch<br />
auf universelle Gültigkeit. Wenn Sie ein<br />
Land mit einer hohen Rate an Armut,<br />
Analphabetismus und Hunger besuchen,<br />
können Sie zu dem Schluss kommen,<br />
dass es sich lohnt, für universelle<br />
Menschenrechte zu kämpfen. Gleichzeitig<br />
können Sie aber auch feststellen,<br />
dass es eine zeitliche Priorisierung und<br />
geografische Gewichtung verschiedener<br />
Werte geben kann. So werden die<br />
Ziele der Überwindung von Armut und<br />
Hunger, die Bereitstellung von Wohnraum<br />
für jeden Einzelnen und die Gewährleistung<br />
des allgemeinen Zugangs<br />
zu grundlegender Bildung und zu >><br />
Foto: Miljan Lakic / istockphoto.com<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
29
<strong>Globalisierung</strong><br />
unter kollektive Narrative, die die politische<br />
Agenda bestimmen, zu synchronisieren,<br />
zu korrigieren und auszurichten.<br />
Foto: VTsybulka / istockphoto.com<br />
Gesundheitseinrichtungen schnell Vorrang<br />
vor der Sicherung der Rechte auf<br />
freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit<br />
und geografische Mobilität über<br />
nationale Grenzen hinweg haben. Die<br />
Menschen, die in offenen Gesellschaften<br />
in Europa, den Vereinigten Staaten<br />
und anderen westlichen Ländern leben,<br />
müssen sich eingestehen, dass es<br />
Gesellschaften geben kann, die andere<br />
Prioritäten und Präferenzen haben. Es<br />
gibt zum Beispiel Gesellschaften, deren<br />
Mitglieder es vielleicht nicht für sehr<br />
wichtig halten, dass jeder das Recht auf<br />
freie Meinungsäußerung hat, sondern<br />
deren Anliegen es ist, dass ihre Kinder<br />
nicht mehr hungern, zur Schule gehen<br />
und Zugang zu Trinkwasser haben.<br />
Das autokratische System und seine<br />
Zwänge<br />
Während wir in offenen Gesellschaften<br />
geteilte, ausgewogene und kontrollierte<br />
Formen politischer Macht erleben, stützen<br />
sich autokratische Regime auf reduzierte<br />
oder gar keine verfassungsmäßigen<br />
Beschränkungen ihrer politischen<br />
Macht, die von einigen wenigen Auserwählten,<br />
von einer Partei oder sogar von<br />
einer einzelnen Person ausgeübt wird.<br />
Man kann zwischen kommunitären Formen<br />
von Autokratien (China) mit einem<br />
Einparteiensystem, paternalistischen<br />
Autokratien (Russland), die das herrschende<br />
Individuum – oft als wohlwollenden<br />
Autokraten bezeichnet – gegenüber<br />
den Institutionen hervorheben,<br />
und stammes- oder feudalistischen Formen<br />
von Autokratien (Golfstaaten) mit<br />
einer ausgeprägten Familien- oder Clanstruktur,<br />
die oft militärische und/oder<br />
religiös-fundamentalistische Züge aufweist,<br />
unterscheiden. Allen diesen Arten<br />
von Autokratien ist gemeinsam, dass sie<br />
sich auf die Sicherheit, die Stabilität und<br />
das wirtschaftliche Wohlergehen der<br />
Nation konzentrieren, die die Notwendigkeit<br />
der politischen Beteiligung der<br />
Bürger, der individuellen Freiheit und<br />
der Menschenrechte im traditionellen<br />
westlichen Sinne überwiegen. Bei allen<br />
Arten von Autokratien ist die Zustimmung<br />
der Bevölkerung zu den Entscheidungen<br />
des Herrschers höher als in den<br />
meisten, wenn nicht allen westlichen<br />
Demokratien und offenen Gesellschaften.<br />
Autokratien ziehen es vor, ihre Bürger<br />
durch Solidarität, Homogenität und<br />
die Unterordnung individueller Rechte<br />
Nehmen wir das Beispiel China. In der<br />
chinesischen Kultur gilt das erfolgreiche<br />
Kopieren des Meisters als besondere<br />
Lernleistung. Je fehlerfreier dieser<br />
Prozess abläuft, desto höher sind die<br />
Lernkurve der Person und ihr Ansehen<br />
in der Gesellschaft. Diese Kultur des<br />
„Kopierens und Einfügens“ bedeutet,<br />
dass derjenige, dem es gelingt, seine<br />
Vorgesetzten zu imitieren, einen Vorsprung<br />
genießt, weil er sich die ganze<br />
Last der Vorstellungskraft, des Erfindens<br />
und Produzierens, des Ausprobierens<br />
und Scheiterns ersparen und sich<br />
stattdessen ganz auf den Imitationsprozess<br />
konzentrieren kann. Außerdem ist<br />
die Autokratie in China beeindruckend<br />
in ihrem Ausmaß und der Geschwindigkeit,<br />
mit der Entscheidungen manchmal<br />
umgesetzt werden. Die Verringerung<br />
der Armutsquote, das Wachstum der<br />
Mittelschicht, die steigende Zahl der<br />
Studierenden in Bildungseinrichtungen,<br />
die erhöhte Produktivität und die insgesamt<br />
gestiegene Lebenserwartung in<br />
China scheinen die Überlegenheit des<br />
autokratischen Systems gegenüber der<br />
schwerfälligen Entscheidungsfindung<br />
in offenen Gesellschaften zu belegen.<br />
Dasselbe scheint auch für andere Autokratien<br />
zu gelten, die wir derzeit in Europa,<br />
Afrika und Amerika erleben.<br />
Gleichzeitig gehen jedoch eine Reihe<br />
anderer kultureller Errungenschaften<br />
verloren oder werden gar nicht erst<br />
angestrebt, und kritische Debatte, Fehlerfreundlichkeit,<br />
öffentlicher Diskurs,<br />
individuelles Urteilsvermögen und autonomes<br />
Denken sind Eigenschaften,<br />
die nur in einer offenen Gesellschaft<br />
gedeihen können. Autokratien müssen<br />
sich auf Kopier- und Nachahmungsstrategien<br />
verlassen, weil die ursprünglichen<br />
Ergebnisse kritischer Beurteilung<br />
nicht aus erster Hand verfügbar sind.<br />
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen,<br />
dass wir in einer unsicheren und<br />
komplexen Welt leben und daher mehr<br />
kritisches Denken und weniger Nachahmung,<br />
mehr unabhängiges Denken<br />
30 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
als Nachahmung und mehr Freiheit und<br />
kritische Autonomie als Kontrolle und<br />
Herrschaft benötigen. Der autokratische<br />
Herrscher muss sich auf Wissen und Informationen<br />
stützen, die ihm nur durch<br />
kritisches Urteilsvermögen zugänglich<br />
sind. Er gibt vor, über Wissen zu verfügen,<br />
das er nicht aus sich selbst heraus<br />
generieren kann. Stattdessen muss es<br />
aus anderen Quellen stammen. Betrachtet<br />
man beispielsweise die Grundlagenforschung,<br />
so wird dieses Argument<br />
durch die geringe Zahl von Patenten<br />
und Veröffentlichungen sowie die unzureichende<br />
FuE-Infrastruktur in Ländern<br />
und Gebieten unter autokratischer Herrschaft<br />
gestützt. So sind die meisten in<br />
China tätigen Forscher in offenen Gesellschaften<br />
ausgebildet worden und stellen<br />
einen versteckten Import westlicher<br />
Werte und Standards in Autokratien<br />
dar. Sie spielen die Rolle von „game<br />
changers“ in Autokratien, indem sie<br />
diese von innen heraus offener machen<br />
(während sie ihre Kinder auf Schweizer<br />
Gymnasien schicken).<br />
Kannibalisierende, parasitäre und<br />
selbstlimitierende Faktoren von<br />
Autokratien<br />
Mein Argument ist, dass die Autokratien,<br />
die derzeit überall auf der Welt herrschen,<br />
auf der Grundlage von Voraussetzungen<br />
gedeihen, die sie nicht selbst<br />
geschaffen haben. Diese Autokratien<br />
sind selbstlimitierend und kannibalisierend,<br />
dass sie eher früher als später<br />
enden werden, da sie von Wissen abhängig<br />
sind, das ursprünglich aus der freien<br />
Welt stammt.<br />
Die Aspekte der Preisgestaltung in freien<br />
Wettbewerbsmärkten, eine rigorose<br />
Debatte über Fakten in einem interdisziplinären<br />
wissenschaftlichen Diskurs,<br />
die freie öffentliche Rede, eine freie,<br />
kritische und investigative Presse, eine<br />
kreative und pluralistische Kulturszene<br />
und der Aufbau von Sozialkapital auf<br />
der Grundlage von zwischenmenschlichem<br />
Vertrauen und gegenseitiger<br />
Toleranz – sie alle gehen auf einen<br />
menschen- und personenzentrierten<br />
Ansatz zurück und sind jedem Versuch<br />
überlegen, die Gesellschaft durch einen<br />
kollektiven, nicht-demokratischen Topdown-Prozess<br />
zu regulieren. Lebenslange<br />
politische Führung oder jahrzehntelange<br />
politische Machtausübung ohne<br />
die Möglichkeit, durch einen gewählten<br />
Vertreter ersetzt zu werden, ist kein Zeichen<br />
von Macht, sondern von Schwäche<br />
des betreffenden Systems. Dies zeigt,<br />
dass dieses System auf eine öffentliche<br />
und kritische Debatte verzichtet hat, um<br />
seinen Willen durchzusetzen und umzusetzen.<br />
Die zahlreichen kritischen Rückkopplungsschleifen,<br />
die das Gleichgewicht<br />
in einer offenen Gesellschaft aufrechterhalten<br />
und genügend Flexibilität bieten,<br />
um auf asymmetrische Schocks (wie die<br />
globale Erwärmung oder Pandemien) zu<br />
reagieren, die ihrerseits dezentralisierte,<br />
unzensierte Informationen erfordern,<br />
sind in Autokratien schlecht entwickelt.<br />
Es muss darauf hingewiesen werden,<br />
dass die von Autokratien auferlegte Zensur<br />
die Kritik nicht erleichtert. Während<br />
Kritik inklusiv und ein grundlegender<br />
Bestandteil jeder offenen Gesellschaft<br />
ist, da sie unterschiedliche Argumente<br />
würdigt und versucht, den Status quo<br />
zu verbessern, schafft die Zensur ein<br />
Ingroup-Outgroup-Szenario derjenigen,<br />
die dem Mandat des Herrschers folgen,<br />
und derjenigen, die dagegen rebellieren.<br />
Autokratien sind Orte, an denen Filme<br />
und Medien, Verlage und Wikipedia,<br />
Lehrpläne für Schulen und Universitäten<br />
und sogar die Geschichte zensiert<br />
werden, was zu Bürgern ohne Gedächtnis<br />
und Menschen ohne kritischen Verstand<br />
führt. In diesem Fall ist die Zensur<br />
exklusiv und moralisierend.<br />
In Autokratien wird der Prozess der Suche<br />
nach Wahrheit, Freiheit, Fairness<br />
usw. durch autokratisches Wissen und<br />
eine parteipolitische Agenda ersetzt,<br />
die der Führer vorgibt selbst entworfen<br />
zu haben, die sich aber in Wirklichkeit<br />
auf die Suche nach Wahrheit stützt, die<br />
anderswo, nämlich in offenen Gesellschaften,<br />
entsteht. Autokratien sind zu<br />
homogen und zu sehr von oben nach<br />
unten getaktet, um in einer komplexen,<br />
nicht linearen Welt zu reagieren und<br />
Lebenslange<br />
politische<br />
Führung oder<br />
jahrzehntelange<br />
politische<br />
Machtausübung<br />
ohne die<br />
Möglichkeit,<br />
durch einen<br />
gewählten<br />
Vertreter ersetzt<br />
zu werden, ist<br />
kein Zeichen von<br />
Macht, sondern<br />
von Schwäche des<br />
betreffenden<br />
Systems.<br />
>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
31
<strong>Globalisierung</strong><br />
Die Illusion<br />
der Kontrolle:<br />
Autokratische<br />
Regime sind<br />
davon überzeugt,<br />
dass sie<br />
nicht nur<br />
menschliches<br />
Verhalten in<br />
großem Maßstab<br />
kontrollieren<br />
können, sondern<br />
auch den<br />
Verlauf einer<br />
Gesellschaft<br />
als Ganzes.<br />
zu agieren, in der Ungewissheit und<br />
Unvollständigkeit die Entscheidungen<br />
des täglichen Lebens bestimmen. Das<br />
gilt für die Politik ebenso wie für die<br />
Unternehmenswelt. Dies gilt auch für<br />
Einzelpersonen, kleine und große Gruppen<br />
und Körperschaften sowie große<br />
institutionelle Einrichtungen. Politische<br />
Clan-Strukturen, in denen Familienmitglieder<br />
des ursprünglichen Herrschers<br />
der Autokratie ausgewählt werden, um<br />
das Land oder das Territorium ohne<br />
jegliche externe Prüfung zu regieren,<br />
bedeuten, dass die Innovation und Kreativität<br />
der besten und klügsten Köpfe<br />
niemals entwickelt werden und dass die<br />
fehlende Einbeziehung eines kritischen<br />
dritten Sektors zu systemischer Korruption<br />
führt. Weitere Beispiele zeigen,<br />
dass ein kritischer Geist einem Geist,<br />
der kollektiven Kontrollmechanismen<br />
unterworfen ist, überlegen ist.<br />
Offene Gesellschaften hingegen werden<br />
durch einen dynamischen und dezentralen<br />
Prozess angetrieben, der von kritischen<br />
und freidenkenden Individuen<br />
geleitet wird, die bereit sind zu scheitern<br />
und ausreichend ermutigt werden,<br />
persönliche Verantwortung zu übernehmen,<br />
sei es im Unternehmertum, auf<br />
der unbekannten und strengen Reise<br />
wissenschaftlicher Entdeckungen, in<br />
der Kreativität kultureller Ausdrucksformen,<br />
in einer offenen, furchtlosen<br />
öffentlichen Debatte über ihre eigenen<br />
Zweifel, Unsicherheiten und unvollständigen<br />
Kenntnisse, bei der alltäglichen<br />
Entscheidungsfindung im privaten Bereich<br />
und bei der Festlegung politischer<br />
Agenden.<br />
Trotz der Akzeptanz von Autokratien<br />
durch die jeweilige Bevölkerung aufgrund<br />
ihrer wirtschaftlichen und politischen<br />
Macht und ihrer schieren Größe<br />
beruhen Autokratien auf mindestens<br />
zwei Formen von Illusionen, die dazu<br />
führen, dass diese Autokratien sich<br />
selbst begrenzen, parasitär sind und<br />
sich selbst ausbeuten: die Illusion der<br />
Kontrolle und die Illusion von Wissen<br />
und Weisheit. Beide Illusionen führen<br />
zu der falschen Annahme, dass die politische<br />
Kontrolle von Autokratien und<br />
die Macht, die sie über die Verbreitung<br />
von Wissen ausüben, sie in die Lage versetzen,<br />
die Herausforderungen des 21.<br />
Jahrhunderts zu bewältigen und sie offenen<br />
Gesellschaften überlegen machen.<br />
Die Illusion der Kontrolle: Autokratische<br />
Regime sind davon überzeugt, dass<br />
sie nicht nur menschliches Verhalten<br />
in großem Maßstab kontrollieren können,<br />
sondern auch den Verlauf einer<br />
Gesellschaft als Ganzes. Gesichtserkennungsprogramme,<br />
die unkontrollierte<br />
Anwendung künstlicher Intelligenz,<br />
Sozialkreditsysteme, groß angelegte<br />
staatliche Interventionen und Regulierungsbemühungen,<br />
ein geschlossenes<br />
Internet und öffentliche Videoüberwachung<br />
sind Beispiele dafür, wie Autokratien<br />
behaupten, einen gesellschaftlichen<br />
Prozess zu kontrollieren und zu befehlen,<br />
den offene Gesellschaften ganz<br />
anders organisieren. Autokratischen<br />
politischen Systemen fehlt es jedoch an<br />
externen Rückkopplungsschleifen, wie<br />
z. B. einer kritischen Presse und Medien,<br />
freien und unabhängigen Anwälten<br />
oder einem autonomen zivilen Sektor,<br />
der unentbehrliches Wissen zur Bewältigung<br />
der Herausforderungen der nahen<br />
Zukunft bereitstellt. Ohne diese Bildung<br />
von sozialem Kapital, das nur entsteht,<br />
wenn freie und autonome Menschen<br />
sich zur Zusammenarbeit entschließen,<br />
haben autokratische Systeme im Vergleich<br />
zu offenen Gesellschaften viel<br />
weniger Kontrolle über externe und interne<br />
Herausforderungen.<br />
Die Illusion von Wissen und Weisheit:<br />
Autokratische Regime sind davon überzeugt,<br />
dass sie in der Lage sind, von<br />
innen heraus genügend Weisheit und<br />
Wissen zu generieren, um die Gesellschaft<br />
zu regieren und systemische Herausforderungen<br />
zu bewältigen. Dieses<br />
autokratische Wissen ist jedoch eine<br />
Illusion, denn diese Regime verlassen<br />
sich auf die Informationen und das Wissen,<br />
das in offenen Gesellschaften generiert<br />
wird, das dann für die Zwecke autokratischer<br />
Systeme missbraucht und<br />
instrumentalisiert wird. Das Wissen,<br />
die Weisheit und die Informationen, die<br />
der Einzelne in offenen Gesellschaften<br />
32 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
zur Lösung von Problemen erwirbt, sind<br />
dem Wissen, der Weisheit und den Informationen<br />
überlegen, die in Autokratien<br />
aus erster Hand generiert werden.<br />
Ein Einparteiensystem ist nicht in der<br />
Lage, Weisheit auf die Art und Weise<br />
zu generieren, wie es offene Gesellschaften<br />
tun, d. h. auf eine dezentrale,<br />
menschenzentrierte, kritische und fehlerfreundliche<br />
Weise. Ein fehlgeschlagenes<br />
staatliches Immobilieninvestitionsprogramm<br />
beispielsweise erfordert<br />
eine Sichtweise, die es ermöglicht, das<br />
Programm zu korrigieren. In einem<br />
autokratischen System ist die einzige<br />
verlässliche Informationsquelle, über<br />
die der politische Apparat verfügt, das<br />
eigene Parteiprogramm. Im Gegensatz<br />
dazu kann sich eine offene Gesellschaft<br />
auf die freie Preisbildung auf freien<br />
Märkten, eine kritische, investigative<br />
Presse und eine Forschungsgemeinschaft<br />
verlassen, die empirische Beweise<br />
dafür liefert, wie die Fehler im Programm<br />
zu korrigieren sind. In offenen<br />
Gesellschaften gibt es mehr als nur eine<br />
Stimme. Diese vielen Stimmen garantieren<br />
den Fortschritt, bestimmen die<br />
Lösungen für Probleme und führen auf<br />
den Weg des kollektiven Wohlstands.<br />
Wenn Wissenschaftler einen Bonus erhalten,<br />
wenn sie Kurse über politische<br />
Parteiprogramme anbieten, in denen<br />
Ideologie und Parteizugehörigkeit wichtiger<br />
sind als Kompetenz oder Professionalität,<br />
in denen die Ausgaben für<br />
die innere Sicherheit höher sind als für<br />
Verteidigung und Militär, und in denen<br />
sogar die Verfassung selbst dem Parteiprogramm<br />
untergeordnet wird, kann<br />
nicht davon ausgegangen werden, dass<br />
ein solches System den globalen Herausforderungen<br />
des 21. Jahrhunderts<br />
gewachsen ist. Kein Parteiprogramm,<br />
kein Militärregime und keine Ideologie<br />
kann die in offenen Gesellschaften<br />
entstehende Weisheit ersetzen. Mit<br />
anderen Worten: Das gesellschaftliche<br />
Immunsystem oder Frühwarnsystem<br />
ist in Autokratien schwach, da<br />
bei der Entscheidungsfindung Befehle<br />
von oben nach unten vorherrschen.<br />
Dieses Argument lässt sich noch einen<br />
Schritt weiterführen. Autokratien<br />
funktionieren nur, weil sie auf Errungenschaften<br />
zurückgreifen können,<br />
die sie nicht selbst garantiert oder<br />
überhaupt erst hervorgebracht haben;<br />
ihnen fehlt der endogene Faktor der<br />
kritischen Selbstkorrektur, der für die<br />
Entwicklung von Wissen in offenen Gesellschaften<br />
entscheidend ist. Offene<br />
Gesellschaften hingegen akzeptieren<br />
die Meinungen von Rechts- und Linkspopulisten<br />
und berücksichtigen auch<br />
die Aspekte geschlossener homogener<br />
ethnischer Lebensräume, wohl wissend,<br />
dass niemand zu 100 Prozent<br />
im Unrecht ist und dass jede Position<br />
sich im Lichte gegenseitiger Kritik, offener<br />
öffentlicher Debatten, einer freien<br />
Presse und freier und autonomer Forschung<br />
und Entwicklung rechtfertigen<br />
muss. Wenn dieser Test nicht gelingt,<br />
wird eine Position als falsch erwiesen<br />
und innerhalb der offenen Gesellschaft<br />
disqualifiziert. In diesem Sinne sind<br />
autokratische Systeme parasitär und<br />
selbstbegrenzend. Die Bedeutung ihres<br />
politischen Einflusses entfällt, sobald<br />
sie mit all den kulturellen Errungenschaften<br />
konfrontiert werden, die für<br />
offene Gesellschaften charakteristisch<br />
sind: individuelle Kritik, Kreativität<br />
und das Zusammenleben von heterogenen<br />
ethnischen und sozioökonomischen<br />
Gruppen. In Autokratien wird<br />
Grundlagenforschung betrieben, werden<br />
Patente angemeldet, werden auf<br />
Märkten Preise gebildet, werden Journalisten<br />
tätig. Diese Vorgänge sind also<br />
bereits uneingestandene Inseln „offener<br />
gesellschaftlicher Beziehungen“ innerhalb<br />
einer autokratischen Dystopie.<br />
Die folgende Grafik veranschaulicht die<br />
Ergebnisse:<br />
Offene Gesellschaften versus digitale Autokratien:<br />
Warum Autokratien parasitär, kannibalisierend und<br />
selbstlimitierend sind<br />
creativity copy conformism<br />
critics coexistence control<br />
Open societies<br />
order of freedom<br />
Digital autocracies<br />
order of command<br />
>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
33
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: Sherman_Sham / istockphoto.com<br />
Schlussfolgerung<br />
Illiberale Demokratien, gelenkte Demokratien<br />
und Einparteiendemokratien<br />
– die alle in der einen oder anderen<br />
Hinsicht als autokratische Regime<br />
betrachtet werden können – sind nicht<br />
identisch mit dem Verständnis von Demokratie<br />
und Rechtsstaatlichkeit in offenen<br />
Gesellschaften im Westen, auch<br />
wenn sie einen ähnlichen Namen tragen.<br />
Diese autokratischen Regime stellen<br />
ein historisches Experiment dar, das<br />
sehr vielversprechend war, aber schon<br />
bald seine negativen Folgen zeigte. Auch<br />
wenn dieses Experiment zunächst großartig<br />
klingen mag, ist es eine regressive<br />
Antwort auf die Herausforderungen des<br />
21. Jahrhunderts. Offene Gesellschaften<br />
hingegen leben von der Idee einer<br />
liberalen Ordnung, die auf einem auf<br />
den Menschen ausgerichteten Ansatz<br />
beruht. Sie werden weder von der Vorstellung<br />
einer erzwungenen Gleichheit<br />
durch linke Narrative noch von einer<br />
ausgrenzenden ethnischen Identität<br />
durch rechte Narrative angetrieben.<br />
Beide Narrative – wenn sie einen autoritären<br />
Charakter annehmen – hängen<br />
von der Illusion ab, Gesellschaften und<br />
ihre Bürger kontrollieren zu können und<br />
Informationen, Wissen und Einsichten<br />
über Prozesse zu besitzen, die ihnen<br />
nicht gehören. Der freie Verkehr von<br />
Waren, grundlegende F&E-Aktivitäten,<br />
kritische Presseberichterstattung und<br />
die Entfaltung menschlicher Kreativität<br />
setzen eine Ordnung der Freiheit voraus<br />
und sind nur in offenen Gesellschaften<br />
wirklich gegeben. Wer diesen Zusammenhang<br />
zwischen liberaler Demokratie<br />
und Fortschritt nicht begreift, wird<br />
die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts<br />
nicht überleben. Würde die<br />
Welt nur aus autokratischen Systemen<br />
bestehen, gäbe es weder echten wissenschaftlichen<br />
Fortschritt noch objektive<br />
und kritische Nachrichten noch ein Maximum<br />
an Kreativität und kultureller<br />
Vielfalt.<br />
Es geht also um die Frage: Regieren<br />
durch Kontrolle, Konformismus und Kopieren<br />
oder Regieren durch Kritik, Koexistenz<br />
von Heterogenität und Kreativität?<br />
Der Lauf der Geschichte wird zeigen,<br />
welches Modell sich als erfolgreicher bei<br />
der Bewältigung der Herausforderungen<br />
des 21. Jahrhunderts erweist. Die<br />
vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf<br />
hin, dass autokratische Systeme im<br />
Vergleich zu offenen Gesellschaften bei<br />
der Bewältigung der Probleme des 21.<br />
Jahrhunderts am zweitbesten abschneiden.<br />
Es stimmt zwar, dass offene Gesellschaften<br />
nach außen hin zerbrechlicher<br />
erscheinen, aber im Inneren weisen sie<br />
aufgrund autonomer und selbstkritischer<br />
Individuen eine größere Robustheit<br />
auf. Sie erscheinen auf den ersten<br />
Blick unbeholfen und langsam in ihren<br />
Entscheidungen, zeigen aber Flexibilität<br />
und Fehlertoleranz, wenn nötig, und<br />
korrigieren sich selbst. In einer vollständig<br />
vernetzten und komplexen Welt mit<br />
zunehmender Ungewissheit, nichtlinea-<br />
34 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
ren negativen Rückkopplungsschleifen<br />
und Spillover-Effekten, asymmetrischen<br />
Schocks und unbekannten Unbekannten<br />
wird der Wettbewerbsvorteil von<br />
Autokratien – sowohl in geografischer<br />
als auch in zeitlicher Hinsicht – zu kurz<br />
greifen oder sich als Fehlstart erweisen.<br />
Sie bleiben parasitär, da sie von offenen<br />
Gesellschaften abhängig sind, und kannibalisieren<br />
sich selbst, da sie relevante<br />
Informationen importieren müssen, die<br />
nur in offenen Gesellschaften generiert<br />
werden, und bleiben somit von Natur<br />
aus selbstlimitierend.<br />
Trotz der Rückschläge und Rückschritte<br />
war es historisch gesehen immer ein<br />
personenzentrierter Ansatz, der mehr<br />
Wohlstand, mehr soziale Errungenschaften,<br />
mehr wissenschaftliche Entdeckungen<br />
und mehr Gesundheit ermöglicht<br />
hat als jede andere Form des politischen<br />
Systems. In den letzten Jahrhunderten<br />
hat der Lauf der Geschichte gezeigt,<br />
dass die Ergebnisse umso besser sind, je<br />
perfekter ein menschenzentrierter Ansatz<br />
umgesetzt wird. Das bedeutet nicht,<br />
dass es keine Misserfolge, keinen Missbrauch<br />
und keine Irreführung in Bezug<br />
auf einen auf den Menschen ausgerichteten<br />
Ansatz gegeben hat. Aber immer<br />
dann, wenn eine Gesellschaft individuelle<br />
Kreativität, Kritik und das Zusammenleben<br />
heterogener Gruppen begünstigte<br />
und Minderheiten und individuelle<br />
Freiheit respektierte und schützte, wurden<br />
mehr Wohlstand, Gesundheit und<br />
Freiheit erreicht. Ich glaube, dass offene<br />
Gesellschaften widerstandsfähiger sind,<br />
weil sie fehlerfreundlicher, anpassungsfähiger<br />
und restaurativer sind, was wiederum<br />
möglich ist, weil sie kritischer<br />
sind. Sie sind in der Lage, ihre eigenen<br />
Selbstheilungskräfte in einer Weise zu<br />
mobilisieren, die Autokratien nicht zur<br />
Verfügung steht. Offene Gesellschaften<br />
brauchen also keine Agenda für Weltfrieden<br />
oder Global Governance, sondern<br />
müssen lediglich ihre Attraktivität<br />
durch ihren Vorbildcharakter unter Beweis<br />
stellen.<br />
Man muss sich eingestehen, dass Autokratien<br />
nicht automatisch durch die<br />
bloße Präsenz offener Gesellschaften zu<br />
offenen Gesellschaften mit dem ihnen<br />
innewohnenden Wertekanon werden.<br />
Vielmehr ist es genau andersherum: Autokratien<br />
brauchen offene Gesellschaften,<br />
um sich stabiler zu machen, indem<br />
sie sich das Wissen und die Diskussionen<br />
offener Gesellschaften aneignen,<br />
um ihre eigene Macht zu festigen.<br />
Solange die freie Welt diese Autokratien<br />
nicht nachahmt und kopiert, werden<br />
wir aus dieser historischen Phase herauskommen.<br />
Der zunehmende Einfluss<br />
der Autokratien wird einmal mehr zeigen,<br />
dass es nie ein Ende der Geschichte<br />
oder ein Ende der Ideologie gibt, sondern<br />
dass die freie Welt mit ständigen<br />
Herausforderungen konfrontiert ist, die<br />
vielleicht nie enden. In der Zwischenzeit<br />
müssen wir uns jedoch eingestehen,<br />
dass wir beide Systeme brauchen, wenn<br />
wir den derzeitigen Zustand der Welt<br />
betrachten. Offene Gesellschaften haben<br />
durch öffentliche Debatten, eine freie,<br />
investigative Presse, unkontrollierte<br />
Kreativität, Preissignale in einem freien<br />
Marktsystem, unzensierte Informationen<br />
und einen rigorosen wissenschaftlichen<br />
Diskurs in den Sozial- und Grundlagenwissenschaften,<br />
die alle auf einem<br />
personenzentrierten Ansatz beruhen,<br />
ausreichend Wissen und Weisheit hervorgebracht;<br />
folglich nutzen Autokratien<br />
diese kulturellen Errungenschaften,<br />
um Lösungen für die großen Herausforderungen<br />
in ihren eigenen Ländern<br />
(z. B. globale Erwärmung, Beseitigung<br />
der Armut usw.) zu entwickeln und zu<br />
skalieren.<br />
In der Folge wird das Aufeinandertreffen<br />
von offenen Gesellschaften und<br />
Autokratien zur Entwicklung einer<br />
nicht-hegemonialen Ära führen, in der<br />
asymmetrische und wechselseitige Abhängigkeiten<br />
vorherrschen, und nicht<br />
zu einer weiteren Ära des Imperialismus,<br />
in der jeder Vertreter davon überzeugt<br />
ist, dass seine Weltanschauungen<br />
vom anderen übernommen werden müssen.<br />
Um das Bonmot des berühmten Biologen<br />
E. O. Wilson neu zu formulieren:<br />
„Autokratien sind ein interessantes Experiment,<br />
aber sie haben die falsche Art<br />
und die falsche Zeit erwischt.“ ■<br />
Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber<br />
ist Psychiater und Wirtschaftswissenschaftler;<br />
Mitglied des<br />
Kuratoriums der Weltakademie der<br />
Wissenschaften und Künste;<br />
Mitglied der Europäischen Akademie<br />
der Wissenschaften und Künste;<br />
Mitglied der Lancet Commission;<br />
Mitglied des Club of Rome.<br />
Die englische<br />
Originalversion erschien im<br />
Global Goals Yearbook 2021.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
35
<strong>Globalisierung</strong><br />
Navigieren durch<br />
Chinas Menschenrechtsbilanz<br />
Von Ribhu Singh<br />
Foto: CHROMORANGE / stock.adobe.com<br />
36 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Zu den Winterspielen 2022 in<br />
Peking strömten die<br />
Besucher in Scharen, rund<br />
150.000 Menschen waren<br />
eingeladen, die Spiele zu<br />
verfolgen. Die Gästeliste war<br />
umfangreich und enthielt<br />
viele Autokraten. Über 20 Premierminister,<br />
Präsidenten und<br />
Staatschefs wurden erwartet.<br />
Einige Länder boykottierten<br />
die Olympischen Spiele<br />
jedoch diplomatisch.<br />
Demokratische Mächte wie Australien,<br />
Großbritannien und Kanada<br />
verweisen auf ihre Abwesenheit<br />
in Bezug auf Chinas Menschenrechtslage<br />
und unterstreichen damit Pekings<br />
Distanz und angespannte Beziehungen<br />
zum Westen. Aber andere sind offen für<br />
die chinesische Gastfreundschaft. Der<br />
russische Präsident Wladimir Putin, der<br />
ägyptische Präsident Abdel Fattah Al-Sisi<br />
und der saudi-arabische Kronprinz<br />
Mohammed bin Salman sind bemerkenswerte<br />
Teilnehmer an den Veranstaltungen.<br />
Die USA haben ihren Standpunkt gegenüber<br />
Menschenrechtsverletzungen<br />
in China deutlich gemacht. „China setzt<br />
Zwang und Aggression ein, um die<br />
Autonomie in Hongkong systematisch<br />
auszuhöhlen, die Demokratie in Taiwan<br />
zu untergraben, die Menschenrechte<br />
in Xinjiang und Tibet zu verletzen und<br />
Seeansprüche im Südchinesischen Meer<br />
geltend zu machen, die gegen internationales<br />
Recht verstoßen“, sagte US-Außenminister<br />
Anthony Blinken in einer<br />
Erklärung von Anfang 2021.<br />
Die Ansichten der Amerikaner zeigen<br />
einen ähnlichen Trend. Eine kürzlich<br />
durchgeführte Umfrage von Pew Research<br />
ergab, dass 67 Prozent der Amerikaner<br />
China gegenüber eine ablehnende<br />
Haltung einnehmen, verglichen mit<br />
46 Prozent im Jahr 2018.<br />
China hält einen Boykott indessen für<br />
eine bloße Form der Manipulation seines<br />
Images in der Welt. „Die Vereinigten<br />
Staaten, Großbritannien und Australien<br />
haben die Olympischen Spiele als<br />
Plattform für politische Manipulationen<br />
genutzt“, sagte Wang Wenbin, ein Sprecher<br />
des chinesischen Außenministeriums.<br />
Menschenrechtsverletzungen durch<br />
Sportswashing<br />
Die Olympischen Spiele werden weltweit<br />
von mehr als drei Milliarden Menschen<br />
verfolgt und sind somit eine gute Gelegenheit,<br />
das Image eines Landes zu fördern.<br />
Russland hat sein Image mit den<br />
Olympischen Spielen 1980 und der Fußballweltmeisterschaft<br />
2018 aufpoliert.<br />
Als Peking 2008 die Olympischen Sommerspiele<br />
ausrichtete, wurde die Veranstaltung<br />
als „eine Kraft des Guten“ beworben<br />
– im Gegensatz zu dem, was in<br />
dem Land geschah, wie die Verhaftung<br />
von Journalisten, die Unterdrückung<br />
von Meinungen und der Missbrauch von<br />
Arbeitsmigranten.<br />
Das Internationale Olympische Komitee<br />
(IOC) hat wenig unternommen, um<br />
China für seine Handlungen zur Rechenschaft<br />
zu ziehen, und dem Land<br />
stattdessen erlaubt, die Winterspiele<br />
2022 auszurichten. Die Entscheidung<br />
des Komitees fiel 2015, als Chinas Präsident<br />
Xi Jinping wegen Menschenrechtsverletzungen<br />
wie Massenverhaftungen,<br />
kultureller Verfolgung, systematischer<br />
Misshandlung und Folter von uigurischen<br />
Muslimen stark in der Kritik<br />
stand. Die Regierung wurde auch wegen<br />
der Verhaftung von Frauenrechtsaktivisten,<br />
Journalisten und Anwälten zur<br />
Unterdrückung der Meinungsfreiheit<br />
kritisiert.<br />
Die Vision des IOC, „die Menschlichkeit<br />
zu feiern“, steht im Widerspruch zu den<br />
Menschenrechtsverletzungen Chinas.<br />
Es macht sich fast zum Komplizen. Die<br />
dreimalige olympische Tennisspielerin<br />
Peng Shuai versuchte, die Aufmerksamkeit<br />
der Welt auf Chinas Konflikt mit den<br />
Bürgerrechten zu lenken. Sie beschuldigte<br />
auch einen ehemaligen Spit- >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
37
<strong>Globalisierung</strong><br />
Reicht ein<br />
bloßer diplomatischer<br />
Boykott aus,<br />
um Chinas<br />
gestärktem<br />
Autoritarismus<br />
etwas<br />
entgegenzusetzen?<br />
zenbeamten des sexuellen Missbrauchs.<br />
China wies alle Vorwürfe zurück. Auch<br />
das IOC drückte ein Auge zu.<br />
„Das IOC hat sich vom Schweigen über<br />
Pekings miserable Menschenrechtsbilanz<br />
zur aktiven Zusammenarbeit mit<br />
den chinesischen Behörden bei der Untergrabung<br />
der Meinungsfreiheit und<br />
der Missachtung angeblicher sexueller<br />
Übergriffe hinreißen lassen“, sagte<br />
Yaqiu Wang, leitender China-Forscher<br />
bei Human Rights Watch. „Das IOC<br />
scheint seine Beziehungen zu einem<br />
großen Menschenrechtsverletzer über<br />
die Rechte und die Sicherheit der olympischen<br />
Athleten zu stellen.“<br />
Ist ein diplomatischer Boykott<br />
ausreichend?<br />
Die Inhaftierung von rund 13 Millionen<br />
Uiguren und ethnischen Kasachen<br />
– einer türkisch-muslimischen<br />
Gemeinschaft in China – und andere<br />
Menschenrechtsverletzungen wie das<br />
Verbot traditioneller sozialer Aktionen<br />
in Tibet und die Untergrabung der Autonomie<br />
der Bürger von Hongkong werfen<br />
eine ernste Frage auf: Reicht ein bloßer<br />
diplomatischer Boykott aus, um Chinas<br />
gestärktem Autoritarismus etwas entgegenzusetzen?<br />
Da das IOC nur wenig Aufmerksamkeit<br />
schenkt, kann die Verantwortung, sich<br />
gegen Chinas Verhalten zu wehren,<br />
nicht nur auf den Schultern der Athleten<br />
liegen. Die Rolle der großen Unternehmen<br />
im Umgang mit China ist ein weiterer<br />
Schritt um sicherzustellen, dass<br />
Chinas Übertretungen nicht unkontrolliert<br />
bleiben, da Veranstaltungen wie die<br />
Olympischen Spiele von vielen Sponsoren<br />
gesponsert werden, oft von globalen<br />
Unternehmen. „Schweigen heißt mitschuldig<br />
sein“, sagte die amerikanische<br />
Biathletin Clare Egan gegenüber der<br />
New York Times.<br />
Zu den offiziellen Partnern der Olympischen<br />
Spiele gehören unter anderem<br />
Namen wie Allianz, Intel, Coca-Cola,<br />
Toyota, Visa, Samsung, Procter & Gam-<br />
38 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: Artwell / stock.adobe.com<br />
ble, Bridgestone, Airbnb und Alibaba.<br />
„Visa, Coca-Cola und andere haben ein<br />
ungewöhnlich niedriges Marketing-Profil“,<br />
sagte Diana Choyleva, Chefvolkswirtin<br />
bei Enodo Economics, gegenüber der<br />
BBC und fügte hinzu, dass es multinationalen<br />
Unternehmen in einer Zeit wie<br />
dieser „immer schwerer fallen wird“,<br />
neutral zu bleiben.<br />
Die Partner spielen eine wichtige Rolle,<br />
da sie Milliarden von Dollar ausgeben,<br />
um mit der olympischen Marke in Verbindung<br />
gebracht zu werden, die auch<br />
einen wesentlichen Teil der Einnahmen<br />
des IOC ausmacht. Als Human Rights<br />
Watch die Allianz im Oktober 2021 fragte,<br />
wie sie die Menschenrechtsproblematik<br />
in China im Zusammenhang mit<br />
ihrem Sponsoring betrachtet, sagte das<br />
Unternehmen, dass es hinter der olympischen<br />
Bewegung stehe und deren Ideale<br />
„seit langem“ und unerschütterlich<br />
unterstütze.<br />
Aber wo zieht ein globales Unternehmen<br />
die Grenze? „Wenn ich der Vorstandsvorsitzende<br />
eines Unternehmens wäre,<br />
das eine Menge Geld für das Sponsoring<br />
einer Veranstaltung oder Organisation<br />
ausgibt, würde ich sicherlich sicherstellen<br />
wollen, dass diese Veranstaltung<br />
oder Organisation ein gutes Licht auf<br />
mich wirft“, fügte Egan hinzu, der auch<br />
Vorsitzender des Athletenkomitees der<br />
Internationalen Biathlon Union ist.<br />
Andere Partner reagierten ähnlich diplomatisch.<br />
Auf die Frage von Bloomberg<br />
nach ihrer Beteiligung an den Olympischen<br />
Spielen antwortete die Schweizer<br />
Luxus-Uhrenmanufaktur Omega, dass<br />
sie sich als globale Marke der „internationalen<br />
Spannungen“ bewusst sei und<br />
diese weiterhin sorgfältig beobachte.<br />
„Wir glauben aufrichtig, dass die Olympischen<br />
Spiele eine perfekte Gelegenheit<br />
sind, sich im Geiste der Einheit auf einer<br />
gemeinsamen Basis zu treffen“, so das<br />
Unternehmen in seiner Antwort. Airbnb<br />
sagte, dass es glaubt, dass China „ein<br />
wichtiger Teil“ seiner Mission ist, Menschen<br />
mit verschiedenen Hintergründen<br />
weltweit zu verbinden.<br />
Marktzugang und Gewinn steuern<br />
Global agierende Unternehmen streben<br />
nach Profit, aber sie müssen auch ihren<br />
Ruf wahren – etwas, auf das sie achten<br />
sollten, wenn sie eine Veranstaltung in<br />
China sponsern. Aber das ist kein Spaziergang<br />
für sie. Nike, H&M und andere<br />
westliche Marken wurden in China mit<br />
einem Boykott konfrontiert, nachdem<br />
sie sich gegen Zwangsarbeit in Xinjiang<br />
ausgesprochen hatten. Auch der Tweet<br />
des damaligen General Managers der<br />
Houston Rockets zur Unterstützung der<br />
Proteste in Hongkong führte zu heftigen<br />
Reaktionen, die Zensur nach sich zogen<br />
und das Geschäft zwischen China und<br />
der NBA gefährdeten.<br />
Der Umgang mit den ethischen Risiken<br />
bei Geschäften in China ist mit großer<br />
Sorgfalt verbunden. Eine Geschäftstätigkeit<br />
in China ist angesichts der derzeitigen<br />
Arbeitsbedingungen riskant.<br />
Frankreich hat beispielsweise eine<br />
Untersuchung darüber eingeleitet, ob<br />
Bekleidungsunternehmen wie Zara,<br />
Skechers und andere von „Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit durch den<br />
Einsatz von Zwangsarbeitern in China“<br />
profitiert haben. In einer Zeit wie dieser<br />
könnte ein Rückzug sinnvoll sein.<br />
Die Unternehmen könnten alternative<br />
Herstellungswege erkunden. Die Suche<br />
nach Transparenz – die Veröffentlichung<br />
ethischer Standards – ist ebenso<br />
wichtig, da sie dazu beiträgt, dass Handlungen<br />
und Abläufe bei der Ausübung<br />
von Geschäften nachvollziehbar sind.<br />
„In dem Maße, wie ein restriktiveres<br />
Regulierungs- und Governance-System<br />
in allen Bereichen – von chinesischen<br />
Schulen und Universitäten bis hin zu<br />
Unternehmen, Medien und Unterhaltung<br />
– zum Tragen kommt, und zwar<br />
oft abrupt und ohne Einspruchsmöglichkeit,<br />
müssen Investoren in chinesische<br />
Vermögenswerte die Risiken<br />
sorgfältiger abwägen“, schreibt George<br />
Magnus, ehemaliger Chefökonom von<br />
UBS.<br />
Die Reaktionen der Unternehmen auf<br />
China sind unterschiedlich. Einige haben<br />
ihre Tätigkeit mit Widerstand fortgesetzt,<br />
andere haben sich zurückgezogen.<br />
Dann gibt es Unternehmen, die<br />
von China abhängig sind und sich offen<br />
für die chinesischen Standards einsetzen.<br />
Vielleicht ist es jetzt an der Zeit,<br />
dass globale Unternehmen Stellung<br />
beziehen – denn nur gleiche Wettbewerbsbedingungen<br />
können uns weiter<br />
bringen. ■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
39
<strong>Globalisierung</strong><br />
Keine<br />
Angst<br />
vor<br />
China<br />
Von Sonja Scheferling<br />
Wir brauchen die chinesische Wirtschaftsentwicklung<br />
nicht überbewerten, sagt der<br />
Volkswirt und Theologe Joachim Wiemeyer<br />
in unserem Gespräch und sieht Deutschland<br />
nach wie vor als <strong>Globalisierung</strong>sgewinner.<br />
Entwicklungsländer warnt er aber vor einer<br />
steigenden Schuldenabhängigkeit gegenüber<br />
China.<br />
UmweltDialog: Herr Professor Wiemeyer, der Soziologe Hartmut<br />
Rosa sagt, durch technische Beschleunigung und die Steigerung<br />
unseres Lebenstempos werden unsere Beziehungen zur Außenwelt<br />
und zum Wohnort weniger stabil. Dreht sich die Welt für<br />
manche von uns heute zu schnell?<br />
Prof. Wiemeyer: Worauf bezieht sich denn der Beschleunigungsaspekt<br />
exakt? Das müssen wir zunächst klären. In der<br />
öffentlichen Wahrnehmung haben wir häufig eine Diskrepanz<br />
zwischen technologischer Beschleunigung und der Realität.<br />
Nehmen Sie als Beispiel den vermuteten Anstieg der Arbeitsproduktivität<br />
in den letzten Jahren. Angesichts der Diskussionen<br />
über die Digitalisierung müssten wir sehr schnell durch<br />
den technischen Fortschritt das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen<br />
sehen. Tatsächlich ist die Arbeitsproduktivität der<br />
letzten Jahre sehr gering angestiegen, während die Zahl der<br />
Arbeitsstunden und die Anzahl der Arbeitsplätze zugenommen<br />
haben.<br />
Auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist in Deutschland<br />
leicht gestiegen. Das heißt, dass Menschen nicht andauernd<br />
ihren Arbeitsplatz wechseln, es sei denn es handelt sich um<br />
Branchen, die insgesamt durch Flexibilität gekennzeichnet<br />
sind; wie das Gaststättengewerbe etwa. Menschen verlassen<br />
40 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Unsere Annahme, dass man Menschen<br />
bei einer wirtschaftlichen Entwicklung,<br />
die auf Innovation und Technologie beruht,<br />
nicht ausschließlich zu freien,<br />
mündigen Unternehmern machen könne,<br />
sondern sie am politischen Entscheidungsprozess<br />
im Sinne eines freien,<br />
mündigen Bürgertums teilhaben lassen<br />
müsse, hat sich bis jetzt noch nicht bewahrheitet.<br />
vor allem wegen des Studiums ihren<br />
Heimatort. Aber ansonsten ist die deutsche<br />
Bevölkerung relativ immobil und<br />
hat ihren Lebensmittelpunkt häufig wenige<br />
Kilometer vom eigenen Geburtsort<br />
entfernt.<br />
Der Politologe Ulrich Menzel definiert<br />
<strong>Globalisierung</strong> als die Kompression von<br />
Raum und Zeit. Machen wir uns vielleicht<br />
ein falsches Bild von <strong>Globalisierung</strong>, etwa<br />
als einem sich immer weiter ausdehnenden<br />
Prozess?<br />
Ja, der Prozess der <strong>Globalisierung</strong> ist ja<br />
nicht naturwüchsig, sondern wurde politisch<br />
gestaltet. Technische Möglichkeiten<br />
wie die Digitalisierung oder die Verbilligung<br />
der Verkehrsströme sind nur<br />
Voraussetzungen, aber letztlich sorgt<br />
der politische Gestaltungswille dafür,<br />
dass <strong>Globalisierung</strong> tatsächlich durch<br />
eine immer intensivere wirtschaftliche<br />
Verflechtung stattfindet. Diese kann<br />
Foto: jeson / stock.adobe.com<br />
– das zeigt der Krieg in der Ukraine –<br />
auch schnell gestoppt werden.<br />
Der Angriff Russlands auf die Ukraine<br />
und die autokratische Herrschaft Putins<br />
zeigen, dass weltweite wirtschaftliche<br />
Verflechtung eben nicht zu einem automatischen<br />
Ausbreiten freiheitlicher, demokratischer<br />
Grundwerte führt. Wo lag der<br />
Denkfehler?<br />
Nach 1990 lag die Hoffnung in der <strong>Globalisierung</strong>,<br />
dass man auch mit China<br />
und Russland durch wirtschaftliche<br />
Verflechtung insgesamt weltpolitisch<br />
Gemeinsamkeiten entwickelt. Die<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte<br />
den Wohlstand mehren und durch<br />
Austausch, Reisen und Studien junger<br />
Menschen sollte es zu einer Annährung<br />
der unterschiedlichen politischen<br />
Systeme in Richtung westlicher Werte<br />
wie Menschenrechte und Demokratie<br />
kommen.<br />
Im Falle Chinas ist diese Entwicklung<br />
aber noch offen. Sollten die repressiven<br />
Maßnahmen der jetzigen chinesischen<br />
Regierung die Wirtschaftskraft hemmen<br />
und eine wirtschaftliche Stagnation auslösen,<br />
wird das gesamtgesellschaftliche<br />
Folgen für das Land haben.<br />
Sie argumentieren, dass es einen Zusammenhang<br />
zwischen Rohstoffreichtum und<br />
mangelnder politischer Freiheit und gesamtgesellschaftlichem<br />
Wohlstand gibt.<br />
Wie das?<br />
In Ländern wie Russland, Saudi-Arabien<br />
oder auch in vielen Teilen Afrikas stellen<br />
Rohstoffe diesbezüglich einen Fluch dar.<br />
Hier sind diktatorische Regime durch<br />
den Export von Öl, Gas et cetera reich<br />
geworden, und eine herrschende Gruppe<br />
hat sich jeweils alle wirtschaftlichen<br />
Vorteile gesichert und gibt die Mittel zur<br />
Absicherung ihrer Macht statt zur Entwicklung<br />
des Landes aus.<br />
Wie sich Rohstoffreichtum zum Wohle<br />
aller nutzen lässt, zeigt sich im Gegensatz<br />
dazu in Norwegen. Den Norwegern<br />
ist es durch ihren Staatsfond gelungen,<br />
die Rohstofferlöse der gesamten Bevölkerung<br />
zugutekommen zu lassen.<br />
Das heißt im Umkehrschluss, dass Rohstoffarmut<br />
gesamtgesellschaftlich Vorteile<br />
hat.<br />
Japan und Deutschland etwa sind rohstoffarm.<br />
Beiden Ländern blieb nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg nichts anderes<br />
übrig, als in Menschen durch Bildung<br />
zu investieren und auf dem Weltmarkt<br />
hochfertige Qualitätsprodukte anzubieten<br />
und Marktführerschaft zu erlangen.<br />
In unserem Falle sind das Branchen >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
41
<strong>Globalisierung</strong><br />
wie der Automobilsektor, der Maschinenbau<br />
oder die chemische Industrie.<br />
Und mit unseren Exporterlösen sind wir<br />
in der Lage, die Rohstoffe zu bezahlen,<br />
die wir benötigen.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> ist mit dem Versprechen<br />
angetreten, dass freie Märkte den<br />
größten Vorteil für alle bringen. Das wird<br />
zunehmend auch in Industrienationen<br />
hinterfragt. Wie muss eine neue Narration<br />
lauten?<br />
Deutschland als Ganzes gehört ganz<br />
klar zu den <strong>Globalisierung</strong>sgewinnern.<br />
Wir generieren Exportüberschüsse in<br />
wichtigen Branchen und haben zahlreiche<br />
„heimliche“ Weltmarktführer im<br />
Mittelstand.<br />
Natürlich hat sich durch die <strong>Globalisierung</strong><br />
und die Digitalisierung die Wirtschaft<br />
strukturell gewandelt. Auch in<br />
Deutschland haben wir einen großen<br />
Niedriglohnsektor, in dem hauptsächlich<br />
zugewanderte Menschen arbeiten.<br />
Wer heute ein Päckchen von Amazon<br />
bekommt, wird meistens von einem<br />
Fahrer mit Migrationshintergrund beliefert.<br />
Darüber hinaus gibt es natürlich auch<br />
Branchen, die durch Billigexporte oder<br />
internationale Konkurrenz bedroht sind<br />
und in denen Menschen ihren Arbeitsplatz<br />
verlieren. Hier liegen dann die Vorteile<br />
der <strong>Globalisierung</strong> hauptsächlich<br />
bei den Konsumenten, die ihre Produkte<br />
günstig auswählen können. Wir können<br />
aber die negativen Auswirkungen durch<br />
sozialen Ausgleich weitestgehend kompensieren.<br />
Das ist in den USA so nicht<br />
passiert: Die schwach ausgestaltete<br />
Regionalpolitik kann dort den Strukturwandel<br />
durch wirtschaftspolitische<br />
oder sozialpolitische Maßnahmen nicht<br />
abfedern. Darüber hinaus hat die Mittelschicht<br />
in den vergangenen 20 bis<br />
30 Jahren keinen Einkommenszuwachs<br />
verzeichnet und ist im Gegensatz zur<br />
deutschen geschrumpft.<br />
Damit spricht vieles für ein Modell der<br />
sozialen Marktwirtschaft auf globaler<br />
Ebene.<br />
Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com<br />
Ja, die Mehrzahl der Ökonomen rechnet<br />
die Vorteile des internationalen Handels<br />
aus, enthält sich aber Werturteilen<br />
zur gerechten Verteilung. Wie die <strong>Globalisierung</strong>sgewinne<br />
verteilt werden,<br />
muss politisch entschieden werden.<br />
Passiert das nicht, können bestimmte<br />
Regionen oder Bevölkerungsgruppen<br />
zu <strong>Globalisierung</strong>sverlierern werden,<br />
finden sich in sozialen Protestbewegungen<br />
wieder und wählen Politiker wie<br />
Donald Trump.<br />
Chinas Aufstieg wird von vielen argwöhnisch<br />
beäugt. Wir gehen davon aus, dass<br />
der Aufstieg des einen den Abstieg des<br />
anderen bedeuten wird. Sind wir in Europa<br />
nachher am Ende doch die <strong>Globalisierung</strong>sverlierer?<br />
China hat ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen<br />
als die meisten europäischen<br />
Länder. Im Vergleich zu Deutschland<br />
hat das Land uns beim Bruttosozialprodukt<br />
nur überholt, weil es 20 Mal so<br />
viele Einwohner hat und deswegen eine<br />
andere Wirtschaftsleistung erbringen<br />
kann. Wachstumsraten von bis zu zehn<br />
Prozent waren zwar beeindruckend,<br />
aber man sollte diese Entwicklung auch<br />
nicht überbewerten, weil die Abstände<br />
im Pro-Kopf-Einkommen zwischen<br />
Deutschland und China nach wie vor<br />
sehr groß sind.<br />
Natürlich versucht China, Unternehmen<br />
wichtiger Schlüsseltechnologien aufzukaufen,<br />
durch massive staatliche Subventionen<br />
und Dumping führender Anbieter<br />
zu werden und andere Länder in<br />
diesen Bereichen abhängig zu machen.<br />
Aber wie groß sind denn beispielsweise<br />
unsere Investitionen dort? Nehmen wir<br />
mal die Automobilindustrie. Jeder namenhafte<br />
Autohersteller betreibt große<br />
Fabriken in China. Gibt es im Gegenzug<br />
einen chinesischen Autobauer in<br />
Deutschland?<br />
42 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
Wie kann die <strong>Globalisierung</strong> darüber hinaus<br />
so gestaltet werden, dass Entwicklungsländer<br />
gleichermaßen an den Gewinnen<br />
beteiligt werden?<br />
Da gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens<br />
muss die interne Struktur in den<br />
Entwicklungsländern für ausländische<br />
Investoren attraktiv sein. Eigene<br />
junge kreative Menschen dürfen am<br />
wirtschaftlichen Engagement nicht gehindert<br />
werden. Komplementär dazu<br />
müssen Infrastruktur und Bildungssysteme<br />
so ausgebaut werden, dass sie<br />
an den wirtschaftlichen Erfordernissen<br />
ausgerichtet sind. Das passiert in vielen<br />
Entwicklungsländern so nicht. Zweitens<br />
müssen die Entwicklungsländer einen<br />
freien Marktzugang ohne Zölle und andere<br />
Handelshemmnisse bekommen.<br />
“<br />
Deutschland<br />
als Ganzes<br />
gehört ganz<br />
klar zu<br />
den <strong>Globalisierung</strong>sgewinnern.<br />
Der Weg, den viele afrikanische Länder<br />
gehen, sich von China Infrastrukturen<br />
et cetera finanzieren zu lassen, um unabhängiger<br />
von US-Amerika und Europa<br />
zu sein, ist gefährlich, weil sie dadurch<br />
in eine Schuldenabhängigkeit gegenüber<br />
China geraten. Viele afrikanische<br />
Länder schauen auf das chinesische<br />
Wirtschaftsmodell, weil es dem asiatischen<br />
Land gelungen ist, mehrere 100<br />
Millionen Menschen aus der absoluten<br />
Armut herauszuführen.<br />
<strong>Globalisierung</strong> bedeutet für die meisten<br />
eine Methode zur Optimierung von Wirtschaftswachstum.<br />
Müssen wir mit Blick<br />
auf Nachhaltigkeit und planetare Grenzen<br />
nicht raus aus dem Hamsterrad?<br />
<strong>Globalisierung</strong><br />
Wir müssen generell so wirtschaften,<br />
dass dauerhaft menschliches Leben auf<br />
unserem Planeten möglich ist und jeder<br />
unter menschenwürdigen Verhältnissen<br />
leben kann. Deswegen sind die Nachhaltigen<br />
Entwicklungsziele der UN für<br />
2030 so wichtig, denn es geht auch darum,<br />
dass wir die absolute Armut überwinden<br />
und die bestehenden globalen<br />
Unterschiede zwischen den Ländern<br />
angleichen. Anderenfalls wird es zu<br />
weiteren Migrationsströmen und gesellschaftlichen<br />
Konflikten kommen. Beim<br />
Wirtschaftswachstum als Indikator für<br />
Wirtschaftsleistung müssen wir wiederum<br />
zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern<br />
unterscheiden.<br />
Denn in Entwicklungsländern ist erhebliches<br />
Wirtschaftswachstum notwendig,<br />
um die materielle Armut zu überwinden.<br />
Dabei müssen die Entwicklungsländer<br />
jene umweltschädlichen Phasen überspringen,<br />
die wir in der industriellen Revolution<br />
durchgemacht haben, um unseren<br />
Planeten nicht weiter zu gefährden.<br />
Das erfordert natürlich einen erheblichen<br />
Technologietransfer. In Industrieländern<br />
wie Deutschland lebt die Bevölkerungsmehrheit<br />
im relativen Wohlstand. Hier<br />
kauft man etwa Kleidungsstücke, weil<br />
man sie haben möchte und nicht, weil<br />
man sie unbedingt benötigt. Oftmals werden<br />
sie dann nach kurzer Zeit entsorgt;<br />
Shoppen wird zum Selbstzweck. Hier<br />
stellt sich zu Recht die Frage, ob weiteres<br />
Wirtschaftswachstum den Menschen<br />
mehr Sinn und Lebensqualität bietet.<br />
Vielleicht wären hier Aspekte wie eine<br />
größere Zeitsouveränität durch eine Reduzierung<br />
der Arbeitszeit und Lohnverzicht<br />
geeigneter, um die Lebensqualität<br />
der Menschen zu steigern. ■<br />
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer<br />
war bis März 2021 Lehrstuhlinhaber<br />
für Christliche Gesellschaftslehre<br />
an der Katholisch-<br />
Theologischen Fakultät der<br />
Ruhr-Universität Bochum.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
43
<strong>Globalisierung</strong><br />
Schwachstelle Lieferkette?<br />
Das Zusammenspiel der Drehscheiben in den weltweiten Lieferketten<br />
Textilindustrie<br />
POL<br />
CZE<br />
FRA<br />
PRT<br />
AUT<br />
CHE<br />
HUN<br />
ROM<br />
DEU<br />
ITA<br />
SVK<br />
BGR<br />
LTU<br />
SVN<br />
HKG<br />
MLT<br />
FIJ<br />
BRN<br />
SIN<br />
LAO<br />
MON<br />
PHI<br />
HRV<br />
CYP<br />
MAL<br />
SRI<br />
GRC<br />
TUR<br />
RUS<br />
LUX<br />
ESP<br />
IRL<br />
GBR<br />
AUS<br />
PAK<br />
MDV<br />
BEL<br />
THA<br />
CHN<br />
NPL<br />
NLD<br />
IND<br />
NOR<br />
CAM<br />
TAP<br />
SWE<br />
JAP<br />
DNK<br />
KOR<br />
FIN<br />
LVA<br />
VIE<br />
EST<br />
KAZ<br />
KGZ<br />
BRA<br />
IDN<br />
USA<br />
MEX<br />
CAN<br />
BAN<br />
BTN<br />
Kapazitäten von Containerschiffen<br />
im Weltseehandel in den Jahren<br />
1980 bis 2020 (in Millionen dwt)<br />
207<br />
216<br />
228<br />
244<br />
246<br />
253<br />
266<br />
275<br />
169<br />
98<br />
64<br />
11<br />
20<br />
26<br />
44<br />
1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020<br />
Quellen: UNCTAD; Clarkson Research Services<br />
44 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Güter der Informations- und Kommunikationstechnologie<br />
NOR<br />
CZE<br />
DNK<br />
POL<br />
ESP<br />
ROM<br />
SWE<br />
AUT<br />
GBR<br />
ITA<br />
MLT<br />
CHE<br />
FRA<br />
PAK FIJ SRI BAN<br />
MON<br />
LAO<br />
KAZ<br />
KGZ<br />
HKG<br />
CAM<br />
NLD<br />
IRL<br />
CAN<br />
MEX<br />
FIN<br />
HUN<br />
BEL<br />
DEU<br />
RUS<br />
CYP<br />
TUR<br />
CHN<br />
KOR<br />
USA<br />
BRA<br />
BRN<br />
THA<br />
SVN<br />
PRT<br />
SVK<br />
SVK<br />
LVA<br />
EST<br />
LTU<br />
HRV<br />
LUX<br />
GRC<br />
AUS<br />
NPL<br />
IND<br />
BTN<br />
IDN<br />
JPN<br />
TAP<br />
PHI<br />
MAL<br />
MDV<br />
VIE<br />
Quelle: WTO (2019) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT<br />
Deutschland ist Nummer drei im Welthandel<br />
16<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
China<br />
USA<br />
Deutschland<br />
Japan<br />
Frankreich<br />
Großbritannien<br />
Südkorea<br />
Italien<br />
2000<br />
2020<br />
Quelle: WTO; eigene Berechnungen der WELT<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
45
<strong>Globalisierung</strong><br />
Kaum ein Betrieb hat<br />
mit einem weltweiten<br />
Lockdown gerechnet<br />
“Überschwemmungen, Cyber-Angriffe oder schwere Fabrikunglücke: Gründe<br />
Von Sonja Scheferling<br />
für Geschäftsunterbrechungen gibt es viele. Um diese zu bewältigen, brauchen<br />
Unternehmen ein effektives Business Continuity Management (BCM).<br />
Wie man ein leistungsfähiges Notfallsystem aufbaut, erläutert Beatrice Maier,<br />
Principal Consultant, Lead Trainer, Auditor bei DNV in unserem<br />
UmweltDialog-Interview. Sie ist Expertin in Sachen Krisenmanagement.<br />
46 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: industrieblick / stock.adobe.com<br />
Wie groß ist die Abhängigkeit von einzelnen<br />
Lieferanten? Können Logistikprozesse<br />
aufrechterhalten werden? Welche<br />
Rohstoffe oder Materialien können<br />
knapp werden? Im Rahmen einer Business<br />
Continuity Impact Analyse müssen<br />
Unternehmen hier vorab kritische Stellen<br />
im Unternehmen und innerhalb der<br />
Lieferketten identifizieren, die zu Unterbrechungen<br />
führen können. Wie sensibel<br />
die Lieferketten sind, auch über die<br />
COVID-Pandemie hinaus, zeigt sich jetzt<br />
wieder anhand der neu entbrannten Diskussion<br />
über ein Lieferkettengesetz.<br />
BCM und ISO 22301 im Fokus<br />
UmweltDialog: Deutschland profitiert<br />
wie kaum ein anderes Land von internationaler<br />
Arbeitsteilung. In der aktuellen<br />
Krisensituation werden nun Stimmen<br />
laut, die den Abbau globaler Lieferketten<br />
fordern und die Produktion ins Inland<br />
zurückholen wollen, um eine kontinuierliche<br />
Versorgung relevanter Produkte zu<br />
sichern. Wie praktikabel ist das?<br />
Beatrice Maier: Aus meiner Sicht kommt<br />
die Industrie heutzutage nicht ohne globale<br />
Lieferketten aus. Es ist wichtig darüber<br />
nachzudenken, in welchem Ausmaß<br />
diese erforderlich sind und wie Unternehmen<br />
sich in Krisenzeiten gegenüber<br />
Produktionsausfällen absichern können.<br />
Das ist generell schon Bestandteil eines<br />
guten Business Continuity Managements.<br />
Laut der ISO 22301 muss dieses<br />
in der Lage sein, die Lieferung von Produkten<br />
und Dienstleistungen innerhalb<br />
eines akzeptablen Zeitraums mit vordefinierter<br />
Kapazität fortzusetzen.<br />
„Mit einem BCM soll sichergestellt werden,<br />
dass die kritischen Geschäftsfunktionen<br />
im Fall interner oder externer<br />
Ereignisse aufrechterhalten oder zeitgerecht<br />
wiederhergestellt werden können.<br />
BCM zielt damit vor allem auf eine Minimierung<br />
der Wirkungen solcher Ereignisse“,<br />
schreibt Risknet. Wie bei jedem<br />
Managementsystem müssen das BCM<br />
in die Unternehmensstrategie verankert<br />
und Verantwortlichkeiten definiert werden.<br />
Ferner gilt es, Krisenszenarien und<br />
deren Auswirkungen zu definieren. Gemäß<br />
einer Business-Continuity-Strategie<br />
müssen Pläne erarbeitet werden, die<br />
„eine Wiederherstellung der geschäftskritischen<br />
Prozesse und Ressourcen in<br />
einer Krisensituation ermöglichen sollen.“<br />
Der ISO-Standard 22301 bündelt die Anforderungen,<br />
ein BCM systematisch >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
47
<strong>Globalisierung</strong><br />
zu implementieren und zu lenken. Auf<br />
diese Weise sind Betriebe auf Krisen<br />
und mögliche Betriebsunterbrechungen<br />
vorbereitet, können auf diese reagieren<br />
und nach einem Störungsfall die<br />
Geschäftstätigkeit fortsetzen. Die ISO<br />
22301 deckt die Bereiche Produktion,<br />
Finanzen, Lieferkette, Gesundheit und<br />
Sicherheit ab und ist auf jede Organisation<br />
und Branche anwendbar.<br />
Wie können Managementsysteme helfen,<br />
Krisen wie die Corona-Pandemie zu steuern?<br />
Gute Managementsysteme basieren generell<br />
darauf, dass Unternehmen ihre<br />
IST-Situation ermitteln. Wie stehe ich<br />
finanziell da? Wie sind meine Organisations-<br />
und Personalstrukturen? Wie<br />
ist es um meine Wettbewerbsfähigkeit<br />
bestellt? Wie sieht es in Sachen Umweltschutz<br />
aus? Es geht immer darum, die<br />
jeweiligen Geschäftsbereiche systematisch<br />
zu analysieren und Maßnahmen<br />
zu planen und regelmäßig zu überprüfen,<br />
mit denen vorab definierte Ziele erreicht<br />
werden.<br />
Dasselbe gilt für Krisensituationen:<br />
Hierbei muss vorab geklärt werden,<br />
welche potenziellen Notfallsituationen<br />
ein Unternehmen treffen können. Welchen<br />
Risiken ist das Unternehmen mit<br />
welcher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt,<br />
welche Konsequenzen haben diese für<br />
die Geschäftstätigkeit und mit welchen<br />
Maßnahmen können die Betriebsunterbrechungen<br />
vermieden werden? Wie<br />
wird im Falle des Eintretens eines Notfalls<br />
durch vorausschauende Planung<br />
betrieblicher Schaden abgewendet?<br />
Überlegungen, wie im Falle einer Pandemie<br />
vorzugehen ist, sollten bereits seit<br />
der Vogelgrippe Bestandteil eines Managementsystems<br />
sein.<br />
Ich denke, dass nicht alle Unternehmen<br />
auf die aktuelle Krise genügend vorbereitet<br />
waren. Aber weniger im Hinblick<br />
auf den weltweiten „Lockdown“ – kaum<br />
ein Betrieb hat eine Krise dieser Größenordnung<br />
in seine Wahrscheinlichkeitsberechnung<br />
aufgenommen – als<br />
vielmehr im Hinblick auf die Weiterführung<br />
der Geschäfte zum Beispiel im Homeoffice<br />
und die entsprechenden Kon-<br />
48 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
“Es geht immer darum, die jeweiligen<br />
Geschäftsbereiche systematisch zu analysieren<br />
und Maßnahmen zu planen und regelmäßig zu<br />
überprüfen, mit denen vorab definierte Ziele<br />
erreicht werden.<br />
sequenzen. Denn aus Sicht von Business<br />
Continuity schließen sich hier wichtige<br />
Fragen an: Sind Hard- und Software verfügbar,<br />
sind die IT- und Datensicherheit<br />
sowie der Schutz vor Cyber-Angriffen<br />
ausreichend?<br />
DNV unterstützt Unternehmen im Bereich<br />
Business Continuity auf unterschiedliche<br />
Arten. Beispielsweise bieten Sie Ihren<br />
Kunden und Kundinnen Remote-Audits,<br />
zahlreiche Informationen über Newsletter<br />
und Webinare an oder führen (online)<br />
Workshops durch. Was machen Sie auf<br />
dem Gebiet außerdem?<br />
Wir führen Zertifizierungen nach ISO<br />
22301 durch. Aufgrund der aktuellen<br />
Situation machen wir das bis zu einem<br />
Foto: Siwakorn1933 / stock.adobe.com<br />
bestimmten Punkt auch online. Je nach<br />
Zertifikat müssen wir die Ergebnisse zu<br />
einem späteren Zeitpunkt dann vor Ort<br />
verifizieren.<br />
Für die Kunden, die wir nicht zertifizieren,<br />
bieten wir außerdem zahlreiche<br />
Assessment-Services an, um die Stabilität<br />
ihrer Krisenmanagements zu beurteilen.<br />
Wo sind Lücken in der Ausführung?<br />
Wo müssen Pläne nachgebessert<br />
werden? Wie kommen die Unternehmen<br />
nach einer Krise wieder in den Normalbetrieb?<br />
Um ein aktuelles Beispiel zu<br />
nennen: Unternehmen müssen sich<br />
aufgrund des Corona-Virus Gedanken<br />
über ihr Infektionsrisikomanagement<br />
machen, um vorschriftsmäßig die Gesundheit<br />
von Mitarbeitern und Kunden<br />
zu schützen und ihre Geschäftstätigkeit<br />
weiterführen zu können. Hierzu bieten<br />
wir mit unserem Service „Reifegradbeurteilung<br />
des Managements von Infektionsrisiken“<br />
eine unabhängige Beurteilung<br />
an. Neben einem ausführlichen<br />
Ergebnisbericht und der Reifegraderklärung<br />
kann das My-Care-Label zur<br />
Kommunikation und zum Aufbau von<br />
Vertrauen mit Kunden und Mitarbeitern<br />
genutzt werden.<br />
Über Ihre Homepage können Interessierte<br />
außerdem ein kostenloses Online-Self-<br />
Assessment machen, das Auskunft über<br />
den Reifegrad ihres BCM gibt. Wie funktioniert<br />
das?<br />
Das Selbstbewertungs-Tool basiert auf<br />
weltweiten Best Practices und den Anforderungen<br />
der ISO 22301. Es ist Teil<br />
unseres Online-Self-Assessment-Portals,<br />
das verschiedene Standards abdeckt. Bei<br />
der Durchführung müssen die User Fragen<br />
zu Themen wie Führung, Risikomanagement,<br />
Produktlebenszyklus, Kommunikation<br />
oder Managementsystemen<br />
beantworten und erhalten dann einen<br />
Statusbericht über ihr BCM. Dieser kann<br />
als PDF ausgedruckt werden. Wer Interesse<br />
hat, kann im Nachgang dazu mit<br />
unseren Experten über Verbesserungspotenziale<br />
für sein BCM sprechen.<br />
Vielen Dank für das Gespräch! ■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
49
Advertorial<br />
<strong>Globalisierung</strong><br />
Weit verzweigt und<br />
nachhaltig integriert –<br />
die globale<br />
Lieferkette<br />
von Symrise<br />
Die Produkte von Symrise schaffen begeisternde<br />
Geschmacks- und Dufterlebnisse, verbessern<br />
die Eigenschaften von Nahrungsmitteln und<br />
tragen zu Gesundheit und Wohlbefinden<br />
bei – in über 150<br />
Ländern weltweit. Konsequente<br />
Kundenorientierung, hohe<br />
Innovationskraft und die<br />
gezielte Expansion in<br />
neue Märkte bilden<br />
die Grundlagen für<br />
nachhaltiges, profitables<br />
Wachstum.<br />
Die rund 34.000 Produkte des Unternehmens<br />
entstehen zum Großteil auf Basis<br />
natürlicher Rohstoffe wie Vanille, Zitrus,<br />
Zwiebeln, Fisch, Fleisch oder Blütenund<br />
Pflanzenmaterialien und stammen<br />
von allen Kontinenten. Diese Aromen,<br />
Wirkstoffe, Parfümöle und sensorischen<br />
Lösungen bilden in der Regel zentrale<br />
funktionale Bestandteile in den Endprodukten<br />
der Kunden. Zu ihnen gehören<br />
Parfüm-, Kosmetik- und Lebensmittelhersteller,<br />
die pharmazeutische Industrie<br />
sowie Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln,<br />
von Heimtierfutter und<br />
Babynahrung. Der Konzern mit Sitz in<br />
Holzminden ist mit mehr als 100 Standorten<br />
in Europa, Afrika und dem Nahen<br />
sowie Mittleren Osten, in Asien, den USA<br />
sowie in Lateinamerika vertreten.<br />
Derart komplexe Lieferketten langfristig<br />
nachhaltig aufzustellen, bringt besondere<br />
Herausforderungen mit sich.<br />
Wesentlichkeit im Fokus: Verantwortungsvolle<br />
Beschaffung<br />
Foto: Nikolaus Urban / Symrise<br />
Ein zentrales Thema der unternehmerischen<br />
Tätigkeit von Symrise bildet die<br />
verantwortungsvolle Beschaffung der<br />
eingesetzten Rohstoffe. Symrise kann<br />
nur so gut agieren wie seine Zulieferer.<br />
Die weit verzweigten Lieferketten beginnen<br />
oft bei Kleinbauern. Umso mehr Bedeutung<br />
besitzen daher die Rahmenbedingungen<br />
für die verantwortungsvolle<br />
Beschaffung der Rohstoffe. Insgesamt<br />
arbeitet Symrise mit mehr als 5.000<br />
Lieferanten zusammen. Das umfasst die<br />
Rohstoffbeschaffung sowie die Nutzung<br />
von Dienstleistungen.<br />
50 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Gleichzeitig ergeben sich für Symrise<br />
Chancen. Denn mit enger und zukunftsgerichteter<br />
Zusammenarbeit lassen sich<br />
Lieferantenbeziehungen nachhaltig stärken<br />
und Partnerschaften langfristig<br />
fördern. Um das sicherzustellen, hat<br />
Symrise die Rahmenbedingungen für<br />
verantwortungsvolle Beschaffung in einer<br />
Beschaffungsrichtlinie und einem<br />
Verhaltenskodex festgelegt, der für alle<br />
Lieferanten gilt. Für diese Einbindung<br />
seiner Lieferanten schaffte es Symrise<br />
2020 erstmals im CDP-Rating auf das<br />
Supplier Engagement Leaderboard.<br />
Sorgfalt walten lassen<br />
Als im Juli 2021 das Sorgfaltspflichtengesetz<br />
in Kraft trat, das die Verantwortung<br />
deutscher Konzerne für Menschenrechte<br />
und Umweltschutz entlang der<br />
globalen Lieferkette regelt, hatte sich<br />
Symrise gut vorbereitet. Denn bereits<br />
im April hatte sich das „Responsible<br />
Sourcing Steering Committee“ (RSSC)<br />
gegründet, in dem die Nachhaltigkeitsabteilung<br />
mit den Einkaufsleitern der<br />
Geschäftsbereiche zusammenarbeitet.<br />
Das Gremium soll Rohstofflieferanten<br />
und die indirekten Zulieferer wie Dienstleister<br />
oder Packmittellieferanten auf<br />
Chancen und Risiken in Sachen Nachhaltigkeit<br />
evaluieren. Es legt die Prozesse<br />
für die Lieferantenbewertungen, die entsprechenden<br />
Maßnahmen sowie die Einbettung<br />
der Bewertungskriterien in die<br />
Unternehmensprozesse fest. Auf diese<br />
Weise lassen sich Lieferketten resilienter<br />
machen und Symrise nimmt seine<br />
Verantwortung in diesem Kontext wahr.<br />
In Sichtweite: 100 % der<br />
Lieferanten nach Nachhaltigkeitskriterien<br />
bewertet<br />
Symrise will seine Lieferketten weiter<br />
und fortlaufend nachhaltiger gestalten –<br />
sozial wie ökologisch. Deshalb hat sich<br />
das Unternehmen zum Ziel gesetzt, bis<br />
2025 alle Lieferanten (Rohstoffe und<br />
Dienstleistungen) nach Nachhaltigkeitskriterien<br />
zu bewerten. Außerdem soll<br />
sich die Zahl der Lieferanten erhöhen,<br />
die sich im Rahmen des „CDP Supply<br />
Chain“-Programms eigene Umweltziele<br />
setzen. Darüber hinaus strebt der Konzern<br />
bis 2025 die 100 Prozent nachhaltige<br />
Beschaffung von strategischen Agrarund<br />
Aquakultur-Rohstoffen an.<br />
Gemeinsam Lieferketten gestalten<br />
Weil sich viele Prozesse in der Beschaffung<br />
nur gemeinsam abbilden lassen,<br />
beteiligt sich Symrise an gemeinsamen<br />
Initiativen für verantwortungsvolle Beschaffung.<br />
Dazu gehört auch die Initiative<br />
für nachhaltige Agrarlieferketten<br />
(INA), in der sich 34 Organisationen<br />
und Unternehmen zusammengeschlossen<br />
haben, um das geplante deutsche<br />
Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz zu<br />
bewerben. Dieses hat der Bund im Jahr<br />
2021 beschlossen, um den Schutz der<br />
Menschenrechte entlang globaler Lieferketten<br />
zu verbessern.<br />
Weiter engagiert sich Symrise seit März<br />
2021 in der internationalen Initiative<br />
AIM-Progress (Association des Industries<br />
de Marque). Dazu gehören Konsumgüterhersteller<br />
und Zulieferer, die sich<br />
für Nachhaltigkeit und die Einhaltung<br />
der Menschenrechte in der Lieferkette<br />
einsetzen. Neben Symrise unterstützen<br />
zahlreiche Unternehmen die Initiative.<br />
AIM-Progress bietet ein Forum für Austausch,<br />
gegenseitige Anerkennung von<br />
Audits, Fortbildungen und Vernetzung.<br />
Mehr und mehr Unternehmen will<br />
Symrise zum kollaborativen Austausch<br />
von Lieferantendaten in die SEDEX- oder<br />
EcoVadis-Plattformen einladen, um einen<br />
immer besseren Überblick über<br />
deren Nachhaltigkeitswirken zu bekommen.<br />
Das RSSC wird darüber hinaus zum<br />
Beispiel die Rohstofflieferanten weiter<br />
auffordern, am CDP-Supply-Chain-Programm<br />
teilzunehmen. Das machen die<br />
Holzmindener schon seit fünf Jahren. Im<br />
Jahr 2021 haben sich so 60 Prozent der<br />
Lieferanten, die Symrise angeschrieben<br />
hat, an den Programmen für den Schutz<br />
von Klima, Wasser und Wald beteiligt.<br />
Mehr als 70 Prozent der Zulieferer haben<br />
bereits Klimaziele definiert, die<br />
damit verbundenen Maßnahmen haben<br />
drei Millionen Tonnen CO 2<br />
eingespart.<br />
Nachhaltig bewertet<br />
Auch Analysten und Investoren achten<br />
verstärkt auf nachhaltig integrierte Lieferketten<br />
im globalen Kontext. Die Ratingagentur<br />
EcoVadis hat Symrise 2021<br />
nach sieben Gold-Medaillen erstmals<br />
den Platin-Status für seine nachgewiesene<br />
Nachhaltigkeitsleistung verliehen.<br />
Mit einem Score von 75/100 gehört es<br />
damit zu den ein Prozent der von Eco-<br />
Vadis am besten bewerteten Unternehmen.<br />
EcoVadis beurteilt Unternehmen<br />
weltweit in den vier Dimensionen Umwelt,<br />
Soziales, Ethik und Nachhaltigkeit<br />
in der Lieferkette. Zudem nutzt Symrise<br />
die EcoVadis-Datenbank zur Bewertung<br />
der Nachhaltigkeitsperformance seiner<br />
Lieferanten. Gemäß seiner Responsible<br />
Sourcing Policy fordert das Unternehmen<br />
seine Geschäftspartner, die EcoVadis<br />
mindestens mit „Bronze“ eingestuft hat,<br />
dazu auf, den Gold-Status anzustreben.<br />
Die Einstufung eines Lieferanten unterhalb<br />
der Bronze-Kategorie kann zur<br />
Beendigung der Geschäftsbeziehung<br />
führen.<br />
Für Herausforderungen gerüstet<br />
Nachhaltig integrierte Lieferketten in<br />
einer globalen Gesellschaft können<br />
auch in Zeiten helfen, in denen sich die<br />
Rahmenbedingungen plötzlich ändern.<br />
So geschehen während der Corona-Pandemie.<br />
Die Lieferketten haben sich in<br />
vielen Bereichen sehr fragil gezeigt, was<br />
Symrise dank seiner jahrelangen Bemühungen<br />
um eine nachhaltige Rückwärtsintegration<br />
seiner wichtigsten Rohstoffe<br />
ausgleichen konnte. Die Produktion lief<br />
weiter, was wiederum allen Beteiligten<br />
entlang der Lieferkette zugutekam.<br />
Die genannten Beispiele belegen, dass<br />
Symrise Nachhaltigkeit zum integralen<br />
Bestandteil seiner unternehmerischen<br />
Tätigkeit gemacht hat. Die Rohstoffbeschaffung<br />
bildet eines der zentralen<br />
Themen, die das Unternehmen über verschiedene<br />
Maßnahmen steuert. ■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
51
<strong>Globalisierung</strong><br />
Was kann ein kleines Unternehmen<br />
schon bewirken?<br />
Fotos: RHJ / stock.adobe.com<br />
Seltene Erden sind wichtiger Bestandteil vieler<br />
moderner Produkte wie Smartphones oder auch<br />
Windräder. In China erfolgt der Abbau allerdings<br />
oft unter eher schlechten Arbeitsbedingungen.<br />
Mit diesen Problemen in seiner Lieferkette wurde<br />
auch das mittelständische Unternehmen Haas &<br />
Co. Magnettechnik konfrontiert – und fand einen<br />
pragmatischen Ansatz zur Lösung.<br />
Von Elena Köhn<br />
Wer ein Smartphone, einen Computer<br />
oder ein Elektroauto sein Eigen nennt,<br />
besitzt auch sogenannte Seltene Erden.<br />
Denn diese Metalle sind essenzielle Materialien<br />
für viele Hightechprodukte. Die<br />
größten derzeit bekannten Vorkommen<br />
der Seltenen Erden liegen in China, berichtet<br />
der Bayerische Rundfunk. Mit<br />
einem Marktanteil von rund 90 Prozent<br />
der globalen Produktion habe das Land<br />
damit eine Monopolstellung. Zwar gebe<br />
es auch in anderen Ländern Vorkommen<br />
Seltener Erden. Diese seien aber<br />
zu gering, weshalb sich der Abbau nicht<br />
lohnt. Der Abbau und die Verarbeitung<br />
der Metalle in China sind allerdings mit<br />
menschenrechtlichen und ökologischen<br />
Risiken verbunden.<br />
52 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Diese Erfahrung machte auch Haas & Co.<br />
Magnettechnik. Dass Menschenrechte in<br />
der Lieferkette auch für den deutschen<br />
Mittelständler ein Thema sind, wurde<br />
Christopher Haas allerdings erst richtig<br />
klar, als das Unternehmen für einen<br />
Kunden ein Nachhaltigkeitsaudit absolvieren<br />
musste. Für die Herstellung der<br />
Magnete, die nicht nur in Smartphones<br />
und E-Autos, sondern auch in Windrädern<br />
zum Einsatz kommen, benötigt<br />
das etwa 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
starke Unternehmen nämlich<br />
das seltene Erdenmetall Neodym. Dieses<br />
wird unter schwierigen Bedingungen gewonnen:<br />
„In den Minen verwenden die<br />
Arbeiter Säuren, um den Rohstoff aus<br />
dem Gestein zu waschen, wodurch radioaktives<br />
Thorium freigesetzt wird“, erklärt<br />
Geschäftsführer Christopher Haas<br />
im Interview mit dem Online-Magazin<br />
Markt und Mittelstand. „Das ist nicht nur<br />
eine Belastung für die Umwelt, sondern<br />
auch für die Arbeiter, da sie oft keine<br />
ausreichende Schutzkleidung haben.“<br />
Große Herausforderungen …<br />
2011 nahm Haas & Co. seine Lieferkette<br />
daher genauer unter die Lupe und identifizierte<br />
zunächst mithilfe eines Mappings<br />
die wichtigsten menschenrechtlichen<br />
Risiken im Zusammenhang mit<br />
seiner Geschäftstätigkeit. Dies bestätigte,<br />
dass die größten Herausforderungen<br />
im Bereich der Lieferketten liegen. Gegenüber<br />
seinen direkten Lieferantinnen<br />
und Lieferanten hat das KMU bereits<br />
die Achtung der Menschenrechte in den<br />
Einkaufsbedingungen festgeschrieben.<br />
Der Mittelständler überprüft zudem<br />
durch regelmäßige Besuche, ob die Anforderungen<br />
auch eingehalten werden<br />
und sucht dabei auch immer den direkten<br />
Austausch mit seinen Geschäftspartnerinnen<br />
und -partnern.<br />
Bei einem seiner chinesischen Zulieferbetriebe<br />
stellte Haas & Co. schließlich<br />
Handlungsbedarf fest. Die mangelhaften<br />
Arbeitsbedingungen machten sich auch<br />
bei der Qualität der Produkte bemerkbar.<br />
So hatte dieser Zulieferbetriebe zeitweise<br />
mit Fluktuationsraten im Bereich Personal<br />
von bis zu 40 Prozent zu kämpfen.<br />
Der Grund: Rund um das chinesische<br />
Neujahrsfest kehren Wanderarbeitende<br />
oft gar nicht zu ihrer alten Arbeitsstelle<br />
zurück, sondern suchen sich eine neue<br />
Anstellung mit besseren Bedingungen.<br />
Hieraus entstanden messbare Qualitätsprobleme<br />
der importierten Waren und<br />
erhöhte Kosten für Reklamationen und<br />
Neuproduktionen.<br />
… pragmatische Lösungen<br />
Haas & Co. musste also Herausforderungen<br />
angehen, die selbst für große Unternehmen<br />
mitunter schwer lösbar sind.<br />
„Es ist zwar im Moment nicht möglich,<br />
bei Magneten eine komplett saubere<br />
Lieferkette zu haben, aber wir können<br />
dennoch einige Dinge umsetzen, um<br />
die Bedingungen zu verbessern“, meint<br />
Haas. Im Falle der chinesischen Fabrik,<br />
die mit hoher Fluktuation zu kämpfen<br />
hatte, regte das mittelständische Unternehmen<br />
zum Beispiel verschiedene<br />
Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes<br />
an. So baute der Lieferant<br />
etwa Notschalter in Maschinen ein und<br />
setzte die Unterkünfte der Wanderarbeiterinnen<br />
und Wanderarbeiter instand.<br />
Außerdem wurde Arbeitsschutzkleidung<br />
zur Verfügung gestellt und den<br />
Arbeiterinnen und Arbeitern angepasst.<br />
Dank der besseren Arbeitsbedingungen<br />
zeigten sich auch schnell Verbesserungen<br />
im Betrieb: Die Fluktuation konnte<br />
auf rund zehn Prozent gesenkt werden.<br />
Dadurch stiegen die Produktivität und<br />
Produktqualität, die Kosten wiederum<br />
sanken. Die Investitionen in bessere<br />
Arbeitsbedingungen lohnten sich also<br />
auch wirtschaftlich für den Zulieferbetrieb,<br />
weiß Haas. „Das war ein wichtiges<br />
Argument für das Unternehmen,<br />
um die Verbesserungen auch wirklich<br />
umzusetzen.“<br />
Um Transparenz gegenüber seinen Kundinnen<br />
und Kunden zu schaffen, spricht<br />
Haas & Co. zudem proaktiv an, wo (noch)<br />
keine Verbesserungen möglich sind.<br />
Damit möchte das mittelständische Unternehmen<br />
entlang der gesamten Wertschöpfungskette<br />
das Bewusstsein für<br />
Menschenrechtsthemen schärfen, um<br />
so langfristig und partnerschaftlich auf<br />
Verbesserungen hinzuwirken. Die Umsetzung<br />
der CSR-Maßnahmen hat aber<br />
auch zahlreiche positive Auswirkungen<br />
auf Haas & Co. selbst. Zum einen wird<br />
das KMU damit seiner gesellschaftlichen<br />
Verantwortung gerecht. Zum anderen<br />
profitiert das Unternehmen finanziell<br />
langfristig durch die Gewinnung von<br />
Neukunden und Neukundinnen, denen<br />
soziale Nachhaltigkeit und Menschenrechte<br />
– nicht zuletzt auch aufgrund<br />
steigender gesetzlicher Anforderungen<br />
– wichtig sind. ■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
53
<strong>Globalisierung</strong><br />
Am Lieferkettengesetz<br />
führt kein Weg vorbei<br />
Von Ulrich Klose und Milena Knoop<br />
Grafik: merklicht.de / stock.adobe.com<br />
54 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz<br />
tritt erst<br />
nächstes Jahr in Kraft, wird<br />
aber bereits intensiv diskutiert.<br />
Kritisiert wird einerseits,<br />
dass es nur für sehr große<br />
Unternehmen gelten soll,<br />
andererseits bemängeln<br />
Wirtschaftsverbände den<br />
bürokratischen Aufwand.<br />
Wenig beachtet wird, dass<br />
Auftraggeber:innen nun auch<br />
in Deutschland intensiver als<br />
bislang auf umwelt- und menschenrechtliche<br />
Risiken bei<br />
ihren Zulieferbetrieben achten<br />
müssen.<br />
Bereits seit 2011 müssen Unternehmen<br />
grundsätzlich auf die Einhaltung<br />
der Menschenrechte in ihren Lieferketten<br />
achten. Dazu verpflichten die<br />
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und<br />
Menschenrechte (UNLP) ihre Mitgliedsstaaten,<br />
darunter auch Deutschland.<br />
Sonderlich erfolgreich waren die Bemühungen<br />
der Bundesregierung in dieser<br />
Hinsicht aber nicht. Zwar sah der 2016<br />
verabschiedete Nationale Aktionsplan<br />
Wirtschaft und Menschenrechte (NAP)<br />
nach Angaben des Bundesministeriums<br />
für Arbeit und Soziales vor, „dass bis<br />
2020 mindestens die Hälfte aller Unternehmen<br />
in Deutschland mit mehr als<br />
500 Beschäftigten die im NAP beschriebenen<br />
Elemente menschenrechtlicher<br />
Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse<br />
integriert haben.“ Allerdings ergab eine<br />
Befragung zur Umsetzung der NAP-Ziele,<br />
dass nicht einmal 20 Prozent der Unternehmen<br />
dieser Pflicht ausreichend<br />
nachkommen.<br />
Für mehr Verbindlichkeit soll deswegen<br />
nun das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“<br />
sorgen. Es tritt nächstes Jahr für<br />
Betriebe mit mehr als 3.000 Beschäftigten<br />
in Kraft. Laut Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung soll es dazu beitragen,<br />
die Einhaltung grundlegender Menschenrechtsstandards<br />
sowie das Verbot<br />
von Kinderarbeit und Zwangsarbeit in<br />
den globalen Lieferketten durchzusetzen.<br />
Große Unternehmen müssen dann<br />
erkannte Menschenrechtsverletzungen<br />
und Umweltzerstörungen im eigenen<br />
Geschäftsbereich unverzüglich abstellen.<br />
Bei unmittelbaren Zulieferbetrieben<br />
muss wiederum ein Plan zur schnellstmöglichen<br />
Beseitigung und Minimierung<br />
der Verstöße erstellt werden. Bei<br />
mittelbaren Zulieferbetrieben müssen<br />
Auftraggeber:innen anlassbezogen tätig<br />
werden.<br />
Auf die letztendlich etwa 3.000 vom<br />
Gesetz betroffenen Unternehmen – ab<br />
2024 greift es bereits ab 1.000 Mitarbeitenden<br />
– kommen damit neue Aufgaben<br />
zu. Im Wesentlichen bestehen diese laut<br />
Initiative Lieferkettengesetz darin, ein<br />
Risikomanagement einzurichten, regelmäßig<br />
Risikoanalysen zu möglichen<br />
Menschenrechts- und Umweltverstößen<br />
in der Lieferkette zu erstellen, ein Beschwerdeverfahren<br />
einzurichten und<br />
die Sorgfaltspflichtaktivitäten zu dokumentieren.<br />
Wirtschaftsverbände beklagen<br />
bürokratischen Aufwand<br />
Darüber, wie stark die Belastungen für<br />
die Wirtschaft werden und wie groß<br />
der Nutzen des Gesetzes ist, gehen die<br />
Meinungen auseinander. Die Initiative<br />
Lieferkettengesetz, ein Bündnis von<br />
mehr als 125 Organisationen, hebt hervor,<br />
dass zum ersten Mal ein Gesetz in<br />
Deutschland Unternehmen dazu verpflichte,<br />
„Verantwortung für die Menschen<br />
in ihren Lieferketten zu übernehmen“,<br />
wie Koordinatorin Johanna Kusch<br />
sagt. Sie kritisiert aber auch: „Das Gesetz<br />
umfasst zu wenige Unternehmen<br />
und macht zu viele Ausnahmen bei den<br />
Sorgfaltspflichten. Es verweigert Betroffenen<br />
den Anspruch auf Schadensersatz<br />
und setzt leider kein Zeichen für den Klimaschutz<br />
in Lieferketten.“<br />
Skeptischer zeigen sich Unternehmensund<br />
Wirtschaftsvertreter:innen. Das<br />
Gesetz stelle „die Unternehmen unter<br />
Generalverdacht und bürdet ihnen unnötig<br />
Bürokratie auf“, beklagt etwa Thilo<br />
Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des<br />
Maschinen- und Anlagenbauverbands<br />
VDMA. Er spricht sich für eine europäische<br />
Regelung der Problematik aus. Felix<br />
Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des<br />
Zentralverbands Deutsches Baugewerbe<br />
(ZDB), warnt besonders vor Folgen für<br />
die eigentlich gar nicht direkt adressierten<br />
kleinen und mittleren Unternehmen.<br />
Großunternehmen könnten ihre Lieferkettenverantwortung<br />
auf die KMU abwälzen.<br />
Diesen drohe dann durch neue<br />
Dokumentations- und Berichtspflichten<br />
die Überlastung.<br />
In der Tat seien KMU mittelbar durch<br />
das Lieferkettengesetz betroffen, bestätigt<br />
Ceren Yildiz, wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin „Umweltschutz in Lieferketten“<br />
beim BUND, UmweltDialog<br />
auf Nachfrage. Sie unterlägen aber >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
55
<strong>Globalisierung</strong><br />
Internationale Gesetze mit Fokus auf<br />
Menschenrechte<br />
Verschiedene internationale Gesetze regeln bereits<br />
bestimmte Bereiche menschenrechtlicher Sorgfaltspflicht.<br />
Etwa beim Thema Konfliktmineralien.<br />
So ist die EU-Verordnung, die sicherstellen soll,<br />
dass die Mineralien Zinn, Tantal, Wolfram und Gold<br />
aus konfliktfreien Quellen bezogen werden, seit<br />
Januar 2021 in Kraft. In den USA wurde dazu 2010<br />
der „Dodd-Frank Act“ verabschiedet, der ebenfalls<br />
zum Ziel hat, die verantwortungsvolle Gewinnung<br />
von mineralischen Rohstoffen zu fördern.<br />
In Frankreich gibt es mit dem „Loi sur le Devoir de<br />
Vigilance“ bereits seit 2017 ein Gesetz zur Umsetzung<br />
der UN-Leitprinzipien, das bestimmte ökologische<br />
und soziale Sorgfaltspflichten für große Unternehmen<br />
verbindlich regelt. In den Niederlanden gibt<br />
es seit 2019 das „Child Labour Due Diligence Law“,<br />
das Unternehmen dazu verpflichtet, Kinderarbeit in<br />
ihren Lieferketten zu verhindern.<br />
Der 2021 in Norwegen verabschiedete „Transparency<br />
Act“ verpflichtet Unternehmen ebenfalls dazu,<br />
Sorgfaltspflichten im Hinblick auf Menschenrechte<br />
und menschenwürdige Arbeit in der gesamten<br />
Wertschöpfungskette zu erfüllen. Er gilt auch für<br />
nicht in Norwegen ansässige Unternehmen, wenn<br />
diese etwa Produkte oder Dienstleistungen dort<br />
anbieten.<br />
Der britische „Modern Slavery Act“ wiederum ist<br />
seit 2015 in Kraft und verlangt von Unternehmen,<br />
Informationen darüber zu veröffentlichen, wie sie<br />
moderne Sklaverei in ihren Lieferketten vermeiden.<br />
Sofern deutsche Unternehmen einen bestimmten<br />
Anteil ihres Umsatzes durch Aktivitäten in Großbritannien<br />
erwirtschaften, gilt das Gesetz auch für sie.<br />
In Australien gibt es seit 2018 auch einen „Modern<br />
Slavery Act“, der dem britischen Gesetzt ähnelt.<br />
nicht der gleichen behördlichen Kontrolle<br />
und Durchsetzung und müssten<br />
nicht dieselben Auskunfts- und Risikomanagementpflichten<br />
erfüllen.<br />
Mittelständische Unternehmen wünschen<br />
sich Rechtssicherheit<br />
Anders als es die großen Verbände<br />
darstellten, nehme er gerade bei mittelständischen<br />
Unternehmen Unterstützung<br />
für die Ziele des Gesetzes wahr,<br />
merkte dagegen Friedel Hütz-Adams,<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der<br />
ökumenischen Organisation Südwind<br />
e.V., kürzlich gegenüber der Presse an.<br />
Die Unternehmen forderten vor allem<br />
Rechtssicherheit. Denn derzeit verfügten<br />
sie nicht über ausreichend Möglichkeiten,<br />
ihrerseits ihre Zulieferer zu<br />
kontrollieren. Zu mehr Gelassenheit<br />
rät auch der Unternehmensberater und<br />
ehemalige Menschenrechtsbeauftragte<br />
der Bundesregierung Markus Löning im<br />
Interview mit der taz: „Firmen werden<br />
sich zusammenschließen, um Standardverfahren<br />
zu entwickeln, die dem einzelnen<br />
Unternehmen einen Teil der Arbeit<br />
abnehmen. Branchenverbände arbeiten<br />
an solchen Lösungen, wir ebenso.“<br />
Im Sinne der Rechtssicherheit bringt<br />
das Lieferkettengesetz tatsächlich einige<br />
Verbesserungen, hebt die Initiative Lieferkettengesetz<br />
hervor. Unternehmen,<br />
die von Menschenrechtsverletzungen<br />
56 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
in ihrer Lieferkette erfahren, könnten<br />
nun das zuständige Bundesamt für<br />
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA)<br />
zum Eingreifen veranlassen. Dieses<br />
kann konkrete Maßnahmen anordnen.<br />
Sogar Zwangsgelder von bis zu 50.000<br />
Euro sind möglich. Bei wiederholten<br />
Verstößen können Betriebe sogar für<br />
drei Jahre von öffentlichen Aufträgen<br />
ausgeschlossen werden.<br />
Auch deutsche Lieferketten müssen<br />
kontrolliert werden<br />
In Deutschland ansässige Unternehmen<br />
müssen sich nun also mehr Gedanken<br />
über ihre Lieferketten machen – und<br />
zwar auch über die inländischen Zulieferbeziehungen.<br />
Denn auch wenn globale<br />
Lieferketten – wie etwa für Kakao,<br />
Aluminium oder Kleidung – in menschenrechtlicher<br />
Hinsicht besonders<br />
problematisch sind, herrscht auch in der<br />
Bundesrepublik keineswegs eitel Sonnenschein.<br />
Die Initiative Lieferkettengesetz<br />
nennt unter anderem die Arbeitsbedingungen<br />
in der Fleischindustrie, die<br />
schlechtere Bezahlung von Frauen sowie<br />
die Arbeitsbedingungen und das Lohndumping<br />
in der Logistikbranche.<br />
Heißt das konkret, dass deutsche Unternehmen,<br />
die für ihre Kantine Lebensmittel<br />
eines Fleischverarbeiters beziehen,<br />
der wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen<br />
ins Gerede gekommen ist,<br />
nun eingreifen müssen? Ja, sagt Ceren<br />
Yildiz zu UmweltDialog: „Menschenrechtsbezogene<br />
Pflicht bedeutet für<br />
Unternehmen, dass sie menschenrechtlichen<br />
Risiken vorzubeugen haben oder<br />
die Verletzung von Menschenrechten<br />
zu minimieren oder zu beenden haben.<br />
Diese Maßgabe gilt für den eigenen Geschäftsbereich,<br />
den der Zulieferer und<br />
bei substantiierter Kenntnis auch für<br />
mittelbare Zulieferer.“ So sei es in Paragraph<br />
2 des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes<br />
geregelt. Sofort abgebrochen<br />
werden muss die Geschäftsbeziehung<br />
gemäß Paragraph 7 nicht. Scheiterten<br />
Verbesserungsbemühungen aber, könne<br />
auch dieser Schritt nötig werden. ■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
57
<strong>Globalisierung</strong><br />
Der existenzsichernde<br />
Lohn: Mehr als der<br />
Mindestlohn<br />
Von Ribhu Singh<br />
Wie viel Lohn ist genug Lohn? Eine brennende<br />
Frage seit den Tagen der industriellen Revolution<br />
um 1700, als Arbeit zu einer Ware wurde.<br />
58 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Fotos: Hyejin Kang / stock.adobe.com<br />
Die Frage, wie viel Lohn für die geleistete<br />
Arbeit angemessen ist, ist seit Jahrhunderten<br />
Gegenstand von Debatten in<br />
Vorstandsetagen und von Gesprächen<br />
beim Abendessen zwischen Arbeitgebern,<br />
politischen Entscheidungsträgern<br />
und Wirtschaftswissenschaftlern. Die<br />
Frage der angemessenen Entlohnung<br />
ist nach wie vor ein klassischer Fall, bei<br />
dem es um die Frage geht, wie lang ein<br />
Stück Schnur wirklich ist.<br />
Die Global Living Wage Coalition (GLWC)<br />
definiert den existenzsichernden Lohn<br />
als „das Entgelt, das ein Arbeitnehmer<br />
an einem bestimmten Ort für eine<br />
normale Arbeitswoche erhält und das<br />
ausreicht, um dem Arbeitnehmer und<br />
seiner Familie einen angemessenen Lebensstandard<br />
zu bieten“. Andererseits<br />
ist der Mindestlohn ein Begriff, der die<br />
niedrigste Vergütung pro Stunde bezeichnet,<br />
die einem Arbeitnehmer nach<br />
den gesetzlichen Bestimmungen gezahlt<br />
werden darf. Er ist lediglich der Ausgangspunkt,<br />
um zu bestimmen, wie viel<br />
einem Arbeitnehmer für seine Arbeit<br />
gezahlt werden kann. Er berücksichtigt<br />
nicht die Art des Lebensstils, den sich<br />
ein solcher Lohn leisten und erhalten<br />
kann. Das Konzept des existenzsichernden<br />
Lohns geht über den Mindestlohn<br />
hinaus. Es geht einen Schritt weiter und<br />
untersucht, ob sich ein Arbeitnehmer<br />
mit dem für seine Arbeit gezahlten Lohn<br />
einen angemessenen Lebensstandard<br />
leisten kann.<br />
Da die Lebensbedingungen in den verschiedenen<br />
Teilen der Welt unterschiedlich<br />
sind, stellt sich die Frage, wie wir<br />
bestimmen können, was ein angemessener<br />
Lebensstil ist, ohne Gefahr zu laufen,<br />
anmaßend zu sein. Richard Anker und<br />
Martha Anker, Wirtschaftswissenschaftler<br />
und Begründer der Anker-Methodik,<br />
argumentieren, dass „Subjektivität kein<br />
Hindernis für die Akzeptanz wirtschaftlicher<br />
Konzepte ist”. Sie behaupten, dass<br />
die meisten wirtschaftlichen Konzepte<br />
teilweise auf Subjektivität beruhen, die<br />
subjektive Faktoren wie das Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP), Arbeitslosigkeit und<br />
Armut berücksichtigen.<br />
Bestimmung des existenzsichernden<br />
Lohns<br />
Der GLWC hat die Anker-Methode als<br />
Standard für die Schätzung des existenzsichernden<br />
Lohns festgelegt. Nach<br />
der Anker-Methode beruht der Test für<br />
den existenzsichernden Lohn auf zwei<br />
Komponenten. Die erste Komponente besteht<br />
in der Schätzung der Kosten einer<br />
grundlegenden, aber angemessenen Lebensweise<br />
für einen Arbeitnehmer und<br />
seine Familie an einem bestimmten Ort.<br />
Zweitens muss festgestellt werden, ob<br />
der geschätzte existenzsichernde Lohn<br />
den Arbeitnehmern auch gezahlt wird.<br />
Um die Kosten für einen grundlegenden,<br />
aber angemessenen Lebensstil für<br />
Arbeitnehmer zu ermitteln, werden die<br />
Lebenshaltungskosten in drei Kategorien<br />
eingeteilt, nämlich Nahrungsmittel,<br />
Wohnung und andere wesentliche<br />
Bedürfnisse. Die Lebensmittelkosten<br />
werden auf der Grundlage einer kostengünstigen,<br />
nahrhaften Ernährung<br />
ermittelt, die den Empfehlungen der<br />
Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />
und den lokalen Lebensmittelpräferenzen<br />
entspricht. Auch die lokalen<br />
Lebensmittelpreise werden berücksichtigt.<br />
Die lokalen Wohnkosten werden<br />
auf der Grundlage internationaler und<br />
lokaler Standards für Anstand und<br />
Würde geschätzt und von den lokalen<br />
Wohnungsbehörden mitgeteilt. Die Ankler-Methode<br />
verwendet eine Extrapolationsmethode,<br />
um die Kosten für andere<br />
Grundbedürfnisse wie Gesundheitsversorgung,<br />
Bildung und Transport zu ermitteln.<br />
>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
59
<strong>Globalisierung</strong><br />
Um den geschätzten existenzsichernden<br />
Lohn zu ermitteln, werden die geschätzten<br />
Gesamtkosten für einen angemessenen<br />
Lebensstandard für eine typische<br />
Familie auf die für diesen Ort typische<br />
Anzahl von Vollzeitbeschäftigten pro Familie<br />
umgelegt.<br />
Das Konzept des existenzsichernden<br />
Lohns befasst sich mit der Frage, ob das<br />
Entgelt ausreicht, um die Haushaltskosten<br />
zu decken und eine Familie zu ernähren,<br />
im Gegensatz zum Mindestlohn,<br />
der lediglich vorschreibt, wie hoch das<br />
Grundentgelt sein sollte, ein rechtliches<br />
Konstrukt mit Gesetzeskraft, so Anker<br />
& Anker. In der Vergangenheit haben<br />
viele Arbeitgeber die Mindestlöhne so<br />
niedrig wie möglich angesetzt, um große<br />
Gewinnspannen zu erzielen und gleichzeitig<br />
die gesetzlichen Bestimmungen<br />
einzuhalten, was jedoch zu Lasten der<br />
Arbeitnehmer ging.<br />
Auseinandersetzung mit<br />
ausbeuterischen Arbeitspraktiken<br />
Der Mindestlohn wird häufig von politischen<br />
Motiven und den Interessen<br />
der politischen Entscheidungsträger<br />
bestimmt. Die Regierungen formulieren<br />
ihn, um konkurrierende Interessen<br />
auszugleichen, die Armut zu verringern<br />
und sicherzustellen, dass die Bedürfnisse<br />
der Haushalte ausreichend gedeckt<br />
sind. Außerdem wollen sie die Beschäftigung<br />
und das Wirtschaftswachstum<br />
ankurbeln. Der existenzsichernde Lohn<br />
ist für Arbeitgeber nicht gesetzlich vorgeschrieben,<br />
so dass die Arbeitnehmer<br />
für ausbeuterische Arbeitspraktiken anfällig<br />
sind.<br />
Das Mindestlohnübereinkommen der Internationalen<br />
Arbeitsorganisation (IAO)<br />
dient Regierungen, Interessenvertretern<br />
und der Öffentlichkeit als Leitfaden für<br />
Grundlegendes<br />
und oberstes Ziel<br />
ist es, den<br />
Arbeitnehmern<br />
einen Mindestlohn<br />
zu sichern, der<br />
ihnen und ihren<br />
Familien einen zufriedenstellenden<br />
Lebensstandard<br />
ermöglicht.<br />
die Ableitung geeigneter Schätzungen<br />
des existenzsichernden Lohns, wenn<br />
Verhandlungen über die Festsetzung<br />
des Mindestlohns geführt werden. In<br />
Teil (a) des Übereinkommens wird ausdrücklich<br />
darauf hingewiesen, was bei<br />
der Festlegung der Höhe des Mindestlohns<br />
zu berücksichtigen ist: „die Bedürfnisse<br />
der Arbeitnehmer und ihrer<br />
Familien unter Berücksichtigung des<br />
allgemeinen Lohnniveaus im Lande, der<br />
Lebenshaltungskosten, der Leistungen<br />
der sozialen Sicherheit und des relativen<br />
Lebensstandards anderer sozialer<br />
Gruppen“.<br />
Grundlegendes und oberstes Ziel ist es,<br />
den Arbeitnehmern einen Mindestlohn<br />
zu sichern, der ihnen und ihren Familien<br />
einen zufriedenstellenden Lebensstandard<br />
ermöglicht.<br />
Das Streben nach einem existenzsichernden<br />
Lohn ist nicht unproblematisch,<br />
insbesondere in kapitalistischen<br />
Gesellschaften. Im Laufe der Jahre haben<br />
sich Arbeitnehmer gewerkschaftlich<br />
organisiert, um für eine angemessene<br />
Entlohnung zu kämpfen, und sind<br />
oft auf Protest gegangen, um Druck auf<br />
die Arbeitgeber auszuüben, damit diese<br />
die Bedeutung der Arbeitskräfte anerkennen.<br />
In Ländern wie Argentinien, Russland<br />
und Südafrika gab es Proteste wegen<br />
niedriger Löhne und der Notwendigkeit<br />
eines angemessenen Lebensstandards.<br />
Die Ereignisse vom 16. August 2012 in<br />
Marikana, Südafrika, wo 34 Minenarbeiter<br />
von der Polizei erschossen wurden,<br />
während sie für eine Lohnerhöhung protestierten,<br />
bleiben historisch. Der Vorfall<br />
wurde als Marikana-Massaker bekannt<br />
und hat ein Schlaglicht auf die ausbeuterischen<br />
Arbeitspraktiken geworfen, denen<br />
gering qualifizierte und angelernte<br />
Arbeiter ausgesetzt sind. Gemessen am<br />
Gini-Index der Weltbank ist Südafrika,<br />
gefolgt von Namibia und Surinam, nach<br />
wie vor das Land mit der weltweit größten<br />
Ungleichheit, wobei die obersten ein<br />
Prozent der Einkommensbezieher 20<br />
Prozent des Einkommens für sich beanspruchen.<br />
Der Verhandlungsprozess ist nach wie<br />
vor recht schwierig, vor allem wegen<br />
der kapitalistischen Ideale, die multinationale<br />
Unternehmen antreiben. Schätzungen<br />
des Lohnniveaus erfordern eine<br />
gründliche Untersuchung von Arbeitsangebot<br />
und -nachfrage sowie Konsultationen<br />
mit den politischen Instanzen<br />
und den Interessengruppen. Konflikte<br />
sind unvermeidlich, wenn alle Parteien<br />
ihre Interessen wahren wollen.<br />
Die Ethical Trading Initiative (ETI) weist<br />
darauf hin, dass, wenn die Budgets nicht<br />
vollständig aufgestockt werden, wenn<br />
die Löhne für einige Arbeitnehmer erhöht<br />
werden, dies dazu führen könnte,<br />
dass andere entlassen werden, wenn<br />
die Unternehmen sich in einer Situation<br />
befinden, in der sie sich keine großen<br />
Arbeitskräfte leisten können, was zu<br />
Arbeitslosigkeit führt. Dies würde folg-<br />
60 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
lich den Zweck der Forderung nach einem<br />
existenzsichernden Lohn zunichte<br />
machen, da der Lebensstandard einiger<br />
Arbeitnehmer angehoben und der anderer<br />
gesenkt werden würde. In der ETI<br />
heißt es weiter, dass gering qualifizierte<br />
Arbeitnehmer in der Regel Gefahr laufen,<br />
aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu<br />
werden, weil ihre Fähigkeiten nicht als<br />
würdig für die neu festgelegten höheren<br />
Löhne angesehen werden.<br />
Das Streben nach einem existenzsichernden<br />
Lohn ist die eine Seite. Genauso<br />
wichtig ist es, festzustellen, ob ein<br />
existenzsichernder Lohn gezahlt wird.<br />
Die Ankler-Methode trägt dem Rechnung,<br />
indem sie berücksichtigt, wie die<br />
Arbeitnehmer tatsächlich bezahlt werden.<br />
Im Sinne der Methode schließt der<br />
existenzsichernde Lohn die Bezahlung<br />
von Überstunden aus, da diese während<br />
der regulären Arbeitszeit geleistet werden<br />
müssen. Die Arbeitnehmer sollten<br />
nach Abzug der Steuern über ein ausreichendes<br />
Einkommen verfügen, um<br />
einen angemessenen Lebensstil führen<br />
zu können, daher wird dies ebenfalls<br />
berücksichtigt. Produktivitätsprämien<br />
werden bei der Ermittlung des existenzsichernden<br />
Lohns nicht berücksichtigt.<br />
Schließlich bietet das Verfahren einen<br />
Leitfaden zur Ermittlung des Arbeitsniveaus<br />
in verschiedenen Arbeitsstrukturen,<br />
z. B. Standard-, Zeit- und Saisonarbeit.<br />
Der Weg zu einer gleichberechtigten<br />
Gesellschaft, in der die Menschen einen<br />
angemessenen Lebensstandard<br />
oberhalb der Armutsgrenze genießen,<br />
liegt noch weit vor uns. Dazu bedarf es<br />
effizienter Verhandlungen und selbstloser<br />
Kompromisse. So etwas wie ein<br />
ausreichendes Gehalt gibt es nicht. Der<br />
existenzsichernde Lohn ist ein Ansatzpunkt.<br />
■<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
61
<strong>Globalisierung</strong><br />
Wo bleibt die Nachhaltigkeit?<br />
Ressourcenverbrauch,<br />
in Anzahl Erden<br />
Beispiel: Wenn alle Menschen der<br />
Erde den Ressourcenverbrauch der<br />
Deutschen hätten, wären statt einer<br />
2,97 Erden notwendig (berücksichtigt<br />
sind Tierhaltung, Holzproduktion, Fischerei,<br />
Ackerbau, Infrastruktur und<br />
CO 2<br />
-Emissionen; Daten von 2016).<br />
keine Daten<br />
unter 1<br />
1 bis unter 2<br />
2 bis unter 3<br />
3 bis unter 4<br />
4 bis unter 5<br />
5 und mehr<br />
62 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Quelle: DER SPIEGEL; Global Footprint Network<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
63
<strong>Globalisierung</strong><br />
Was wird<br />
aus der<br />
Agenda<br />
2030?<br />
Von Dr. Elmer Lenzen<br />
Viele Experten sagen, dass die<br />
2020er-Jahre entscheidend<br />
sein werden, um gute Transformationspfade<br />
einzuschlagen.<br />
Klimawissenschaftler des<br />
IPCC etwa warnen, dass wir in<br />
diesem Jahrzehnt wahrscheinlich<br />
einige Kipppunkte des<br />
Erdklimas überschreiten<br />
werden. Diese Folgen sind<br />
dann irreparabel. UN-Generalsekretär<br />
Antonio Guterrés<br />
erklärte die 2020er-Jahre<br />
deshalb zur „Decade of<br />
Action“. Nach COVID-19 und<br />
nun dem Krieg in der Ukraine<br />
ist klar, dass daraus nichts<br />
mehr wird. Besteht die<br />
Zukunft jetzt nur noch aus<br />
lauter schlechten Optionen?<br />
Und müssen wir vielleicht den<br />
Blick schon auf die Zeit nach<br />
der Agenda 2030 werfen?<br />
Corona und Krieg haben einen sehr großen Einfluss<br />
auf den Nachhaltigkeitsdiskurs. Das steht fest. Sei es<br />
nur, weil wir die kostbare Zeit der 2020er-Jahre mit<br />
anderen Problemen nutzen. Aber was diese Veränderung<br />
konkret bedeuten wird, wissen auch die meisten Experten<br />
nicht. In Texten liest man daher meist die unverfänglichen<br />
allgemeinen Hinweise auf Wichtigkeit der Transformation,<br />
Dringlichkeit der globalen Herausforderungen und daraus<br />
abgeleitet die Ansicht, dass wir uns „Nichtstun nicht leisten<br />
können“. Stimmt. Aber was tun?<br />
Fast unser gesamtes Nachhaltigkeitsverständnis basiert auf<br />
Erkenntnissen und Publikationen der letzten 30 Jahre und ist<br />
in der Zeit des Washington Consensus nach 1989 gewachsen.<br />
Die sogenannte Friedensdividende sollte zu guten Teilen in<br />
Wohlstand, Wohlfahrt und nachhaltige Entwicklungsziele in-<br />
64 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: Manuel Elias / UN Photo<br />
vestiert werden. Die UN-Umweltkonferenzen<br />
im Rio-Format waren die ersten<br />
großen multilateralen Ereignisse. Diese<br />
bereiteten den Weg für die internationale<br />
Klimapolitik (ausgehend von Kyoto<br />
1997), internationale Organisationen<br />
wie den WBCSD (1995) und UN Global<br />
Compact (2000) sowie vor allem die<br />
UN-Entwicklungsziele, SDGs (2015).<br />
Wie Nachhaltigkeit ohne den Resonanzboden<br />
der <strong>Globalisierung</strong> und der Hegemonie<br />
des Westens aussehen soll, haben<br />
wir noch nicht ausprobiert. Ansätze<br />
zu CSR aus Indien oder China wurde<br />
meist belächelt und kaum beachtet.<br />
Vieles war der Ehrlichkeit halber auch<br />
nicht so gut. Aber in einer multipolaren<br />
Welt werden wir uns unweigerlich mit<br />
unterschiedlichen Perspektiven auf ein<br />
Thema beschäftigen müssen. Rigorose<br />
Positionen nach dem Motto: „Das ist<br />
so. Darüber brauchen wir nicht mehr<br />
zu diskutieren“ werden wenig Chancen<br />
haben. Gerade beim drängenden Thema<br />
Klimaschutz müssen wir dringend neue<br />
Formate finden, um die Folgeschäden<br />
einzudämmen.<br />
Aber auch in einer multipolaren Welt<br />
gilt: Ein stabiler, offener Handel bringt<br />
Wachstum, Größe, Innovation und<br />
Technologieverbreitung mit sich, die<br />
genutzt werden können, um die Dekarbonisierung<br />
zu beschleunigen und<br />
die Anpassung an den Klimawandel zu<br />
erleichtern. Wie kann dieser Prozess<br />
fortgesetzt werden, wenn der <strong>Globalisierung</strong><br />
die Geschäftsgrundlagen entzogen<br />
wird?<br />
1. Politik<br />
Wir bräuchten jetzt eigentlich so etwas<br />
wie eine globale Klima-Governance, um<br />
den Klimawandel tatsächlich in den<br />
Griff zu bekommen. Die Aussichten sind<br />
schlecht. Der Volkswirt Thieß Peter- >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
65
<strong>Globalisierung</strong><br />
sen glaubt: „Es wird tatsächlich schwierig,<br />
da eine Lösung hinzukommen. Dafür<br />
bräuchten wir eigentlich einen weltweit<br />
geltenden CO 2<br />
-Preis, aber der ist für mich<br />
momentan absolut utopisch. Ein Weg dahin<br />
könnte ein sogenannter Klima-Club<br />
sein, bei dem sich verschiedene Länder<br />
zusammenschließen und sich auf einen<br />
gemeinsamen höheren CO2-Preis einigen.<br />
Dafür braucht man allerdings eine<br />
große Anzahl von Partnerländern. Wenn<br />
jetzt die EU und die USA sagen, wir einigen<br />
uns auf so einen Club, dann könnte<br />
das schon ein starkes Signal sein. Der<br />
Vorteil wäre nämlich, dass die Mitgliedstaaten<br />
ihre Güter und Dienstleistungen<br />
ohne Handelsbeschränkungen tauschen<br />
können. Und Staaten, die nicht Mitglied<br />
des Clubs sind, müssten entsprechende<br />
CO 2<br />
-Importzölle bezahlen.“<br />
2. Unternehmen<br />
Fragen, die künftig im Zentrum unternehmerischer<br />
Überlegungen stehen,<br />
sind: Wo kommen Waren und Bauteile<br />
her? Unter welchen Bedingungen, auch<br />
politisch, wird produziert? Wie viel<br />
Energie könnte bei einer Verlagerung<br />
sofort eingespart werden? Wie sicher ist<br />
investiertes Kapital in nicht-demokratischen<br />
Staaten? Was vor ein paar Wochen<br />
noch Vorreiter-Denken war, ist nun mit<br />
rasanter Geschwindigkeit in der Realität<br />
aktueller Management-Entscheidungen<br />
angekommen. Viele dieser Fragen müssen<br />
jetzt beantwortet werden.<br />
Es gibt für Unternehmen eine klare Verbindung<br />
zwischen Nachhaltigkeit und<br />
dem ökonomischen Erfolg sowie der Zukunftsfähigkeit.<br />
Studien haben gezeigt,<br />
dass die Vernetzung der Transformationsthemen<br />
den größten Effekt hat. Besonders<br />
erfolgreich sind Unternehmen,<br />
die gleichzeitig in Nachhaltigkeit und<br />
Digitalisierung investieren. Man nennt<br />
das die Twin Transformation.<br />
Petersen: „Ich kann mir vorstellen,<br />
dass die Unternehmen oder sogar die<br />
Volkswirtschaften, die die digitale und<br />
die ökologische Transformation erfolgreich<br />
hinbekommen, die Gewinner der<br />
Zukunft sind, weil nicht-erneuerbare<br />
Rohstoffe naturgemäß begrenzt sind,<br />
und irgendwann haben wir die nicht<br />
mehr. Dann werden grüne Produkte<br />
oder klimaneutrale Produkte und Produktionsverfahren<br />
aus meiner Sicht ein<br />
entscheidender Wettbewerbsvorteil für<br />
die Zukunft sein. Länder, die das zuerst<br />
hinbekommen, werden gewinnen. Und<br />
umgekehrt: Länder, deren Wohlstand<br />
darauf basiert, weiterhin fossile Energien,<br />
also Erdöl, Erdgas und Kohle zu exportieren,<br />
werden verlieren.“<br />
3. Investoren<br />
Investoren werden das Thema Nachhaltigkeit<br />
nach dem Krieg stärker aufgreifen.<br />
Klimakrise, Personalmangel und<br />
Lieferkettenprobleme belasten Unternehmensperformances<br />
und damit die<br />
Rentabilitätserwartungen von Investoren.<br />
ESG ist kein „nice to have“, sondern<br />
wird fundamentaler Bestandteil von Anlageentscheidungen.<br />
„ESG ist ein Trend,<br />
der gekommen ist, um zu bleiben“, sagt<br />
Steffen Puhlmann, ESG-Experte bei<br />
FTI-Andersch. „Vor allem Mittelständler<br />
stehen jetzt unter Druck, ESG-konforme<br />
Management-Ansätze zu entwickeln“,<br />
sagt er. „Denn sie waren bisher als zumeist<br />
nicht berichtspflichtige Unternehmen<br />
weniger von Regulatorik in diesem<br />
Feld betroffen. Unternehmen können<br />
nicht mehr warten, bis mögliche gesetzliche<br />
Verpflichtungen greifen.“<br />
4. Entwicklungsländer<br />
Der Ukraine-Krieg bedroht die Ernährungs-<br />
und Energiesicherheit. Die Versorgung<br />
mit Getreide dürfte sich für<br />
viele Entwicklungsländer dauerhaft verschlechtern<br />
und verteuern. Sollten russische<br />
Getreideexporte deutlich fallen,<br />
etwa weil das Land einen Exportstopp<br />
verhängt, stünden einige der ärmsten<br />
Länder wohl vor einer schweren Hungerkrise.<br />
„Russland und die Ukraine zählen<br />
zu den wichtigsten Getreideexporteuren<br />
der Welt. Zahlreiche afrikanische Staaten<br />
sind von den Lieferungen abhängig<br />
und könnten einen Ausfall oder Rückgang<br />
auch langfristig nicht ersetzen“,<br />
sagt Tobias Heidland vom Kieler Institut<br />
für Weltwirtschaft. „Dies kann für einzelne<br />
Länder dramatische Folgen haben,<br />
im schlimmsten Fall drohen Hunger und<br />
soziale Unruhen.“ Bei Energiefragen<br />
sieht es nicht besser aus: Die hohen Kosten<br />
belasten vor allem arme Familien,<br />
die den Großteil des Einkommens für<br />
Energie, Wohnen und Essen ausgeben.<br />
Staatliche Hilfe ist unwahrscheinlich, da<br />
sich die staatliche Schuldenquote während<br />
der COVID-19-Pandemie in vielen<br />
Ländern dramatisch verschlechtert hat.<br />
Staatspleiten sind daher nicht unwahrscheinlich.<br />
5. Beschleunigung der Energiewende<br />
Die politische Bedeutung von Energieversorgung<br />
ist heute jedem klar. Die<br />
Konflikte werden deshalb zu einer<br />
Beschleunigung der Energiewende,<br />
insbesondere in Europa, beitragen. Bisher<br />
machten Investoren ihre Anlageentscheidungen<br />
im Energiesektor von<br />
drei Kriterien abhängig: Erstens Versorgungssicherheit,<br />
zweitens Kosten<br />
und drittens Umweltauswirkungen. Die<br />
ersten beiden Kriterien sprachen bisher<br />
für fossile Energien. Die Sanktionspolitik<br />
gegen Russland stellt diese Bewertung<br />
auf den Kopf. Selbst wenn die<br />
Energiekosten sich beruhigen sollten,<br />
bleibt die Sorge um die Versorgungssicherheit.<br />
Experten glauben, dass der Russlandboykott<br />
der Strategie des EU Green<br />
Deals in die Karten spielt. Maria Elena<br />
Drew vom Vermögensverwalter T. Rowe<br />
Price schreibt: „Interessanterweise gehören<br />
zu den EU-Ländern, die sich am<br />
stärksten gegen die Verabschiedung des<br />
Abkommens gewehrt haben, auch einige<br />
der Länder, die gegenüber Russland<br />
am anfälligsten sind.“ Schon jetzt wird<br />
massiv in den Ausbau von erneuerbaren<br />
Energien investiert und es werden<br />
gesetzliche und bürokratische Hürden<br />
abgebaut. Der deutsche Bundeswirtschaftsminister<br />
Robert Habeck (Grüne)<br />
spricht von „ökologischem Patriotismus“:<br />
„Die erneuerbaren Energien liegen<br />
künftig im öffentlichen Interesse<br />
und dienen der öffentlichen Sicherheit.<br />
Das ist entscheidend, um das Tempo zu<br />
erhöhen.“ ■<br />
66 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
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<strong>Globalisierung</strong><br />
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>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
67
<strong>Globalisierung</strong><br />
Ist Klimapolitik<br />
ohne Sicherheitspolitik<br />
denkbar?<br />
Von Sonja Scheferling<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> ist<br />
erschöpft, sagt der renommierte<br />
Wirtschaftswissenschaftler<br />
Michael Hüther im<br />
Gespräch mit uns. Weiter<br />
gehe es nur, wenn wir<br />
künftig Nachhaltigkeit nicht<br />
nur empathisch, sondern<br />
auch militärisch denken.<br />
UmweltDialog: Wir erleben gerade einen<br />
geopolitischen Zeitenwechsel. Welche Auswirkungen<br />
ergeben sich für die industriellen<br />
Beziehungen und den Welthandel?<br />
Professor Hüther: Wir haben mit dem<br />
Weg in eine neue bipolare Struktur –<br />
transatlantischer Westen mit demokratischen<br />
Staaten auf der einen und China<br />
und Russland, die für Menschenrechtsverletzungen<br />
und Diktatur stehen, auf<br />
der anderen Seite – in der Tat einen<br />
Rückschritt in der <strong>Globalisierung</strong> vor<br />
uns.<br />
Im Grunde genommen gehen wir in der<br />
Entwicklung 30 bis 40 Jahre zurück.<br />
Das wird sich auf unseren gesamten<br />
Wertschöpfungsprozess auswirken: Die<br />
Selbstverständlichkeit, mit der wir internationale<br />
Märkte genutzt haben, wird<br />
es so nicht mehr geben. Denn internationaler<br />
Handel und internationaler<br />
Austausch setzen ja ein gegenseitiges<br />
Vertrauen in bestimmte Rahmenbedingungen<br />
voraus. Das hat Russland durch<br />
seinen Angriff auf die Ukraine zerstört<br />
und China durch sein Schweigen mindestens<br />
unterminiert.<br />
Sie haben einmal an einer Studie unter<br />
dem Titel „Geschäftsmodell Deutschland<br />
auf dem Prüfstand“ mitgewirkt. Wie fällt<br />
Ihr Urteil angesichts der aktuellen Entwicklungen<br />
aus?<br />
Das „Geschäftsmodell Deutschland“ ist<br />
industriebasiert mit einem hohen Anteil<br />
an industrieller Differenzierung,<br />
ergänzt durch einen breiten Dienstleistungssektor.<br />
Deswegen besetzen wir<br />
wichtige Positionen in internationalen<br />
Märkten und sind Exportweltmeister.<br />
Die deutsche Wirtschaft ist hoch flexibel.<br />
Insofern ist sie auch in der Lage,<br />
sich diesen Veränderungen zu stellen<br />
und sie zu meistern. Dennoch ändert<br />
sich durch die aktuelle Entwicklung<br />
die Perspektive, und wir müssen uns<br />
fragen, wie und wo wir uns künftig engagieren.<br />
Das ändert ein Stück weit die<br />
gewohnte Geschäftsgrundlage des deutschen<br />
Modells, <strong>Globalisierung</strong> überall<br />
nutzen zu können.<br />
Mit Ihrem Hinweis auf die neue bipolare<br />
Struktur haben Sie bereits den Systemkonflikt<br />
unterschiedlicher Herrschaftsformen<br />
angesprochen, der sich auf die Globali-<br />
68 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
sierung auswirkt. Francis Fukuyama hat<br />
kürzlich in der NZZ geschrieben, dass eine<br />
russische Niederlage „eine Wiedergeburt<br />
der Freiheit“ ermögliche und den „Blues“<br />
vom Niedergang der globalen Demokratie<br />
vertreiben werde. Teilen Sie die Ansicht?<br />
Putin hat der ganzen Welt verdeutlicht,<br />
dass er kein verlässlicher Partner ist,<br />
sondern das Völkerrecht missachtet und<br />
Kriegsverbrechen begeht. Ich stimme<br />
Fukuyama zu, möchte aber die normativen<br />
Grundlagen unserer westlichen Tradition<br />
konkretisieren. Diese beruhen auf<br />
einem Dreiklang aus demokratischer<br />
Selbstermächtigung des Menschen,<br />
zivilgesellschaftlicher Teilhabe und<br />
marktwirtschaftlicher Innovationsfähigkeit.<br />
Die Paradigmen, die ich in meiner<br />
Arbeit über die erschöpfte <strong>Globalisierung</strong><br />
aufgestellt habe, sind aktueller<br />
denn je. Sie sind der Ausdruck eines<br />
unterschätzten normativen Konfliktes,<br />
der sich jetzt deutlich durch die bipolare<br />
Systemstruktur zeigt und auf den wir<br />
uns zurückbesinnen müssen, wollen wir<br />
die <strong>Globalisierung</strong> zukunftsfähig gestalten.<br />
Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com<br />
Wir setzen auf unveräußerliche Menschenrechte,<br />
Rechtsstaatlichkeit und<br />
Gewaltenteilung. Bei der Wahl unserer<br />
Handelspartner sehen wir das nicht so<br />
eng, wie unser neuer Energielieferant<br />
Katar zeigt.<br />
Wenn man in einer globalen Struktur tätig<br />
sein möchte, muss man Kompromisse<br />
eingehen. Das muss man ganz nüchtern<br />
betrachten. Versucht man ständig<br />
den eigenen ethischen Kodex durchzusetzen,<br />
handelt man am Ende nur noch<br />
mit sich selbst. Im Augenblick sind wir<br />
auch in einer gewissen Notsituation,<br />
weil wir von russischem Gas unabhängig<br />
werden wollen und weil der Zielkorridor<br />
einer ausgebauten Infrastruktur<br />
aus erneuerbaren Energien noch weit<br />
entfernt ist. Da haben wir nicht so viele<br />
Auswahlmöglichkeiten.<br />
Für Unternehmen sind Menschenrechtsrisiken<br />
in dieser Form schon lange >><br />
>><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
69
<strong>Globalisierung</strong><br />
ein Thema, denn ihr nachhaltiger Erfolg<br />
ist auch von der Reputation abhängig.<br />
Kunden können und wollen Druck auf<br />
die Unternehmen ausüben, indem sie<br />
bestimmte Produkte boykottieren, die<br />
in Regionen unter menschenrechtswidrigen<br />
Umständen hergestellt wurden.<br />
Außerdem haben wir das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz,<br />
das unternehmerisches<br />
Handeln reglementiert. Ob<br />
dieses in der aktuellen Situation so noch<br />
durchführbar ist, ist aber fraglich.<br />
Warum?<br />
Wir benötigen von den Unternehmen<br />
jetzt eine hohe Anpassungsfähigkeit<br />
und Flexibilität, die nicht von strikten<br />
Regulierungen verhindert wird.<br />
Sie können einem Mittelständler nicht<br />
erklären, warum er die Daten seiner<br />
Lieferkette transparent darlegen muss,<br />
während die Bundesregierung Energie<br />
aus Katar bezieht. Auch die Verabschiedung<br />
eines Lieferkettengesetzes auf europäischer<br />
Ebene halte ich in der jetzigen<br />
Phase nicht für sinnvoll. Wichtig ist<br />
es, bestimmte rote Linien zu definieren,<br />
die nicht überschritten werden dürfen.<br />
Beispielsweise muss das strikte Verbot<br />
von Kinderarbeit und Zwangsarbeit<br />
gelten.<br />
Herr Professor Hüther, lassen Sie uns konkret<br />
über Nachhaltigkeit sprechen. Für<br />
viele sind Nachhaltigkeit und die ökosoziale<br />
Transformation unserer Gesellschaften<br />
angesichts der veränderten Weltlage<br />
wichtiger denn je. Wie sehen Sie das?<br />
Nachhaltigkeit ist immer wichtig, weil<br />
das bedeutet, dass wir die Ressourcen, die<br />
wir haben, nicht überdehnen, sondern so<br />
nutzen, dass auch künftige Generationen<br />
daraus eine Möglichkeit ableiten können.<br />
Mit Blick auf Klimaneutralität versuchen<br />
wir nach 200 Jahren das Zeitalter fossiler<br />
Energie zu beenden. Das ist eine gewaltige<br />
Herausforderung, die gesellschaftlich<br />
begleitet und moderiert werden muss,<br />
um eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung<br />
zu erreichen. Man muss immer wieder<br />
testen, welche Ansätze funktionieren<br />
70 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
und welche nicht, und lernend Neues<br />
ausprobieren.<br />
Im Augenblick ist die Situation so, dass<br />
wir auch gar keine andere Möglichkeit<br />
haben. Wir müssen uns energetisch autonomer<br />
versorgen und unsere Energieversorgung<br />
diversifizieren, um unsere<br />
Gasabhängigkeit zu reduzieren. Auch<br />
das bedeutet, dass wir den Weg in eine<br />
klimaneutrale Energieproduktion beschreiten<br />
müssen.<br />
Für Sie hängen Klimapolitik und Sicherheitspolitik<br />
zusammen. Wie das?<br />
In den letzten Jahrzehnten haben wir<br />
wichtige Themen in den Bereichen Außen-<br />
und Sicherheitspolitik nicht ausreichend<br />
benannt und dafür gestritten,<br />
sondern nur die wirtschaftliche Dividende<br />
eingestrichen. Diese Verantwortungslosigkeit<br />
fällt uns jetzt auf die Füße. Wollen<br />
wir international eine führende Rolle<br />
in der Klimapolitik einnehmen, müssen<br />
wir auch eine eigene Sicherheitsarchitektur<br />
aufbauen und uns verteidigen<br />
können. Nur so nehmen uns andere<br />
Staaten ernst und sind bereit, klimapolitische<br />
Forderungen unsererseits zu<br />
akzeptieren.<br />
Für einen nachhaltigen Wandel ist aber<br />
nicht nur die globale Perspektive entscheidend,<br />
sondern auch die Einführung technischer<br />
Innovationen. Ist das nicht eine<br />
Wette mit vielen Unbekannten, da wir weder<br />
die Lösungen kennen noch absehbar<br />
ist, ob und wann sie kommen?<br />
Das ist aber immer so. Wir gehen ständig<br />
Wetten auf die Zukunft ein, da wir<br />
ja davon ausgehen, weiterzuleben und<br />
unseren Beitrag zu leisten. Die Menschheitsgeschichte<br />
hat gezeigt, dass die<br />
Welt ein Innovationsstandort ist. Wir<br />
können diese Herausforderungen meistern<br />
und sind in der Lage, die notwendigen<br />
Lösungen für eine nachhaltige<br />
Transformation zu finden.<br />
Vielen Dank für das Gespräch! ■<br />
Prof. Dr. Michael Hüther<br />
ist Direktor und Mitglied des<br />
Präsidiums beim Institut der<br />
deutschen Wirtschaft Köln.<br />
Zukunftsgestalter?<br />
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Krisenzeiten fordern Wandel. Die dramatischen Ereignisse dieser Tage<br />
zeigen, wie stark Ressourcenschonung, Klimaschutz und alternative<br />
Energie- und Ernährungskonzepte die wirtschaftlichen Chancen von<br />
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Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
71
<strong>Globalisierung</strong><br />
Folgen<br />
Foto: Mike Mareen / stock.adobe.com<br />
unterlassener<br />
Nachhaltigkeit<br />
In Kriegszeiten rutschen<br />
Themen wie der<br />
Klimawandel unweigerlich<br />
in den Hintergrund.<br />
Das wird sich rächen,<br />
warnt Werner Widuckel.<br />
Für einen Kurswechsel<br />
fehlen uns aber<br />
leistungsfähige<br />
Institutionen.<br />
Von Dr. Werner Widuckel<br />
UmweltDialog: Kanzler Scholz spricht<br />
angesichts des Ukraine-Krieges von einer<br />
Zeitenwende. Was macht das mit der <strong>Globalisierung</strong>?<br />
Prof. Dr. Werner Widuckel: Die Frage<br />
der <strong>Globalisierung</strong> wird künftig sicherlich<br />
sehr viel stärker auch unter dem<br />
Gesichtspunkt von globalen geostrategischen<br />
Abhängigkeiten diskutiert werden.<br />
Handel wird auch als Machtinstrument<br />
zur Durchsetzung politischer und<br />
geostrategischer Ziele eingesetzt. Dieses<br />
Denken ist eine ganze Weile in den Hintergrund<br />
getreten, weil mit dem Fall des<br />
Eisernen Vorhangs 1990 die Vorstellung<br />
einer zunehmenden Konvergenz der<br />
politischen Systeme und der Werteordnung<br />
in der Welt vorgeherrscht hat. Das<br />
hat sich letztendlich als eine Illusion<br />
herausgestellt.<br />
Wir erleben stattdessen jetzt eine beschleunigte<br />
Aufrüstung. Das Stockholmer<br />
Friedensforschungsinstitut SIPRI<br />
weist schon seit einer Weile darauf hin,<br />
dass die Militärausgaben stark wachsen.<br />
Zugleich erleben wir eine Zunahme von<br />
militärischen Auseinandersetzungen.<br />
Ich habe mir heute Morgen im Vorfeld<br />
des Interviews mal die Mühe gemacht,<br />
die ganzen Krisenherde aufzuzählen,<br />
die wir gegenwärtig haben. Ich bin weltweit<br />
auf zwölf gekommen – wir leben in<br />
alles andere als friedlichen Zeiten, und<br />
das wirkt sich auch auf die <strong>Globalisierung</strong><br />
aus.<br />
Kriege gab und gibt es, zynisch gesagt,<br />
immer. Warum glauben Sie, dass die Veränderung<br />
diesmal tiefer geht?<br />
Es geht deshalb tiefer, weil die Auseinandersetzung<br />
auch eine Frage von<br />
Hegemonie ist. Hegemonie bedeutet<br />
Vorherrschaft. Es geht also um die Frage,<br />
wer letztlich als Macht oder Machtblock<br />
geostrategisch bestimmt, wie<br />
eine Weltordnung aussieht bzw. welche<br />
Werteorientierung letztlich herrscht.<br />
Hier wird sichtbar, dass das Modell von<br />
westlicher Demokratie, Menschenrechten<br />
und Rechtsstaatlichkeit sich nicht<br />
automatisch durchsetzt, sondern auch<br />
alternative Ordnungen dem entgegenwirken<br />
– insbesondere seitens Chinas<br />
72 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
und Russlands. Das Ganze geht einher<br />
mit einem zunehmend aufgeladenen Nationalismus,<br />
der im Übrigen durchaus<br />
auch ein Problem westlicher Demokratien<br />
ist. Das haben wir beispielsweise in<br />
den USA unter Trump gesehen.<br />
Wie wird sich das auf multilaterale Vorhaben<br />
auswirken?<br />
Es wird sicherlich zunehmend schwieriger<br />
werden, globale Standards für Nachhaltigkeit<br />
umzusetzen. Wir sehen das<br />
bei internationalen politischen Abstimmungsprozessen,<br />
die die Erderwärmung<br />
begrenzen sollen. Bestimmte Staaten<br />
haben hier massive Vorbehalte, weil sie<br />
Wohlstandsverluste und auch entsprechende<br />
soziale Unruhen und Auseinandersetzungen<br />
befürchten. Wir verlieren<br />
hierdurch wertvolle Zeit, die Klimakrise<br />
zu bewältigen.<br />
Viele sehen in Nachhaltigkeit und einer<br />
öko-sozialen Transformation, gerade jetzt<br />
auch vor dem Hintergrund der Energieabhängigkeit,<br />
einen Ausweg aus dem derzeitigen<br />
Krisenmodus. Teilen Sie das?<br />
Wir werden letztlich um das Beschreiten<br />
eines nachhaltigeren Pfads gar nicht<br />
umhinkommen, weil wir anders die Frage<br />
der Erderwärmung nicht in den Griff<br />
bekommen, und wenn wir die Frage der<br />
Erderwärmung wiederum nicht in den<br />
Griff bekommen, werden auch lebensnotwendige<br />
Ressourcen zunehmend<br />
knapper. Das heißt, letztendlich haben<br />
wir zu einem globalen Konsens für eine<br />
nachhaltige Entwicklung gar keine Alternative,<br />
weil andernfalls alle die Verlierer<br />
wären.<br />
Haben wir aus Ihrer Sicht die passenden<br />
Institutionen und auch die Kraft, all diese<br />
Herausforderungen gleichzeitig zu stemmen?<br />
Ich gebe Ihnen recht, das ist sicherlich<br />
die größte Herausforderung, und man<br />
kann manchmal Zweifel haben, ob wir<br />
die Kraft bzw. die passenden Institutionen<br />
haben, diese zu bewältigen. Wenn<br />
wir uns die reale Klimaentwicklung anschauen,<br />
dann sehen wir, dass der Prozess<br />
sehr viel schneller vonstatten geht,<br />
als das Klimamodelle vor 20 Jahren prognostiziert<br />
haben. Wir bräuchten jetzt<br />
eigentlich so etwas wie eine globale Klima-Governance,<br />
um den Klimawandel<br />
tatsächlich in den Griff zu bekommen.<br />
Und gleichzeitig brauchen wir einen<br />
geostrategischen Interessenausgleich,<br />
der uns von der Aufrüstungsspirale herunterbringt.<br />
So gesehen fehlen uns globale Institutionen,<br />
hier ein entsprechendes Regime<br />
mit geeigneten Regeln auch tatsächlich<br />
umzusetzen. Nach wie vor haben wir<br />
eine Sichtweise, die von nationalen bzw.<br />
Blockinteressen geprägt ist. Und solange<br />
wir das nicht auflösen – Gorbatschow<br />
hat das „Neues Denken“ genannt – und<br />
wir den Gedanken eines europäischen<br />
Hauses in ein globales Haus übersetzen,<br />
werden wir es nicht schaffen.<br />
UN-Generalsekretär António Guterres hat<br />
die 2020er-Jahre eine Dekade der Aktion<br />
genannt, in der wir Weichen stellen müssen,<br />
weil uns sonst unwiederbringliche<br />
Kipppunkte drohen. Ich habe allerdings<br />
das Gefühl, dass wir uns in den 20ern mit<br />
allem möglichen beschäftigen, wie Pandemien<br />
und Kriegen, aber nicht mit den<br />
anderen globalen Herausforderungen.<br />
Rennt uns die Zeit davon?<br />
Die Gefahr besteht in der Tat und das<br />
wird dann auch zu wachsenden gesellschaftlichen<br />
Auseinandersetzungen<br />
führen – sowohl zwischen den Generationen<br />
als auch zwischen Menschen,<br />
die von diesen Entwicklungen sozial<br />
unterschiedlich betroffen sein werden.<br />
Das macht sich heute bereits bemerkbar<br />
bei der Frage „Wie gleichen wir den Benzinpreis<br />
aus?“. Angesichts der Folgen<br />
unterlassener Nachhaltigkeit werden<br />
wir über ganz andere Fragen als bezahlbare<br />
Benzinpreise reden müssen, zum<br />
Beispiel auch über bezahlbares Wasser<br />
oder bezahlbare Nahrungsmittel.<br />
Wir danken Ihnen herzlich für das<br />
Gespräch! ■<br />
Dr. Werner Widuckel<br />
ist Professor für<br />
Personalmanagement und<br />
Arbeitsorganisation in<br />
technologieorientierten<br />
Unternehmen an der<br />
Friedrich-Alexander-Universität<br />
Erlangen-Nürnberg.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
73
<strong>Globalisierung</strong><br />
Geschichte der <strong>Globalisierung</strong><br />
Jahr 1 1000 1500 1600 1700 1820 1850 1870<br />
1. Indien Indien China China Indien China China China<br />
2. China China Indien Indien China Indien Indien Indien<br />
3.<br />
Römisches<br />
Reich<br />
Türkei Italien Frankreich Frankreich Russland Großbritannien Großbritannien<br />
4. Türkei<br />
Gebiet der<br />
spät. UDSSR<br />
Frankreich Italien Japan Großbritannien Frankreich Russland<br />
5. Ägypten Frankreich<br />
Gebiet der<br />
spät. UDSSR<br />
Gebiet der<br />
spät. UDSSR<br />
Gebiet der<br />
spät. UDSSR<br />
Frankreich Deutschland Deutschland<br />
Bei diesen Daten handelt es sich um Schätzungen, da Maddison<br />
nur bis zum Jahre 2008 Daten erfasst hat. SPIEGEL ONLINE hat<br />
die BIP-Werte für 2012 und 2030 auf Basis der von der Weltbank<br />
prognostizierten BIP-Zuwachsraten hochgerechnet.<br />
Jahr 1900 1913 1950 1970 1990 2008 2012 2030<br />
1. USA USA USA USA USA USA USA China<br />
2. 2. China China Sowjetunion Sowjetunion Japan China China USA<br />
3. Großbritannien Deutschland Großbritannien Japan China Indien Japan Japan<br />
4. Indien<br />
Gebiet der<br />
spät. UDSSR<br />
Deutschland Deutschland Sowjetunion Japan Deutschland Indien<br />
5. Deutschland Großbritannien China China Deutschland Deutschland Frankreich Deutschland<br />
Quellen: Historical Statistics of the World Economy, Angus Maddison, Stand: März 2013<br />
74 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: Benjamin Haas / stock.adobe.com<br />
Auszüge aus einem Essay von Ulrich Menzel<br />
Kleine Geschichte<br />
der <strong>Globalisierung</strong><br />
und ihrer Kritik<br />
Der Begriff der <strong>Globalisierung</strong> meint keine<br />
aktuelle Periode der Weltgeschichte, sondern<br />
einen Prozess, der wellenförmig verläuft und von<br />
tiefen Einbrüchen unterbrochen wird. Die Aufschwungphasen<br />
sind durch ein exponentielles<br />
Wachstum gekennzeichnet, bis Kipppunkte<br />
erreicht werden. Parallel dazu verläuft ein<br />
Prozess der Fragmentierung, der einzelne Länder,<br />
Großregionen oder Teile einer Gesellschaft<br />
betrifft, weil es immer Gewinner und Verlierer der<br />
<strong>Globalisierung</strong> gibt.<br />
Der Einbruch im Prozess der <strong>Globalisierung</strong><br />
reichte vom Ausbruch<br />
des Ersten bis zum Ende<br />
des Zweiten Weltkriegs. Die Weltwirtschaftskrise<br />
der 1930er-Jahre im Anschluss<br />
an den Schwarzen Freitag an der<br />
Wallstreet, als Kipppunkt vergleichbar<br />
mit der Lehmann-Pleite von 2008, sorgte<br />
dafür, dass nach einer kurzen Phase<br />
der erneuten Blüte des Welthandels in<br />
den 1920er-Jahren das Internationale<br />
Öffentliche Gut „Stabilität“ nicht mehr<br />
gewährleistet war. Großbritannien war<br />
dazu nicht mehr in der Lage, in den USA<br />
fehlten in den folgenden Jahren der >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
75
<strong>Globalisierung</strong><br />
„Great Depression“ sowohl die Mittel als<br />
auch der politische Wille. Die Massenarbeitslosigkeit<br />
wurde mit dem New Deal<br />
bekämpft und das keynesianische Denken<br />
(Keynes 1936) gegenüber der Neoklassik<br />
hegemonial: Dem Staat wurde<br />
anstelle des Marktes wieder eine wichtige<br />
Steuerungsfunktion beigemessen.<br />
Die neuerliche Wende, um der <strong>Globalisierung</strong><br />
wieder freie Bahn zu verschaffen,<br />
wurde erst auf der Bretton-Woods-Konferenz<br />
1944 eingeleitet, als die USA das<br />
Zepter in die Hand nahmen und sich<br />
bereit zeigten, als internationale Ordnungsmacht<br />
nicht nur für Sicherheit,<br />
sondern auch für Stabilität zu sorgen.<br />
Die auf amerikanische Initiative gegründeten<br />
Organisationen Weltwährungsfonds,<br />
Weltbank und GATT, woraus<br />
später die WTO hervorging, lieferten die<br />
institutionellen Rahmenbedingungen,<br />
die mit dem „Washington Consensus“<br />
von US-Administration und in Washington<br />
ansässigen internationalen Organisationen<br />
auch paradigmatisch zum<br />
Ausdruck kamen. Seit den 1970er-Jahren<br />
war es der von Milton Friedman<br />
und seiner Chicago School propagierte<br />
Neoliberalismus, der zunächst die Hegemonie<br />
des Keynesianismus durchbrach,<br />
um daraufhin das Handeln der Politik<br />
zu bestimmen. Die neoliberale Politik<br />
der Haushaltskonsolidierung, der Deregulierung<br />
der Märkte, der Privatisierung<br />
der Öffentlichen Dienste (bzw. der<br />
Öffentlichen Güter) und Staatsbetriebe<br />
wie Bahn und Post und der immer neuen<br />
Zollsenkungsrunden, der Deregulierung<br />
der Finanzmärkte, des Mediensektors<br />
und anderer Dienstleistungen verschaffte<br />
der später so genannten zweiten Welle<br />
der <strong>Globalisierung</strong> freie Bahn. Waren<br />
die Staaten in der ersten Welle noch die<br />
Antreiber, so wurden sie in der zweiten<br />
Welle zu den Getriebenen.<br />
Damit sind wir in der Gegenwart, die<br />
Ende der 1990er-Jahre begonnen hat.<br />
Has globalization gone too far?, das<br />
schmale Buch des hochdekorierten Ökonomen<br />
Dani Rodrik (1997), markierte<br />
den Auftakt der <strong>Globalisierung</strong>sskepsis.<br />
Hier nämlich meldete sich eine renommierte<br />
und fachlich hochkompetente<br />
Stimme zu Wort. 2011 legte Rodrik<br />
(2011) mit Das <strong>Globalisierung</strong>s-Paradox<br />
nach, in dem er auf das Trilemma aus<br />
Demokratie, nationaler Souveränität<br />
und Hyperglobalisierung verwies. Damit<br />
avancierte der türkische Ökonom<br />
zur Leitfigur migrationsskeptischer linker<br />
Brexit-Befürworter, die sich auch<br />
in der Labour Party finden. Auf Rodrik<br />
folgten aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
globalisierungskritische Beiträge<br />
von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf<br />
(1997), Joseph Stiglitz (2002) oder Walden<br />
Bello (2005). Aus der frühen <strong>Globalisierung</strong>skritik<br />
wurde der Antiglobalisierungsdiskurs,<br />
der 2018/19 zu einer<br />
regelrechten Welle anschwoll. Genannt<br />
seien nur die Bücher Heiner Flassbecks<br />
und Paul Steinhardts (2018) respektive<br />
Michael Hüthers, Mathias Diermeiers<br />
und Henry Goeckes (2018) für den<br />
deutschsprachigen sowie Colin Crouchs<br />
(2018) und Michael O’Sullivans (2019)<br />
für den angelsächsischen Bereich. Die<br />
zitierten Bücher sind wohlgemerkt alle<br />
vor Ausbruch der Corona-Krise verfasst<br />
worden und entstanden eher unter dem<br />
Eindruck der Finanz- und Flüchtlingskrise.<br />
Eine tiefe Bresche in die große Erzählung<br />
schlägt nicht zuletzt der Klimawandel,<br />
der seit 2019 dank der „Fridays<br />
for Future“-Bewegung ins Bewusstsein<br />
einer breiten Öffentlichkeit gedrungen<br />
ist. Dessen Folgen in Form von Dürren,<br />
Waldbränden, Starkregen, abschmelzenden<br />
Gletschern und dem Schwund des<br />
Polareises, Überschwemmungen und<br />
Stürmen werden zunehmend auch für<br />
Laien erfahrbar. Hier wird aber nicht<br />
in erster Linie das populistische, sondern<br />
das kosmopolitische Milieu globalisierungskritisch<br />
mobilisiert. Der<br />
massenhafte Verbrauch von Rohstoffen<br />
und fossilen Energieträgern und damit<br />
die Emission von CO 2<br />
durch globalen<br />
Handel, Massentourismus und Fleischkonsum<br />
rücken den Zusammenhang<br />
von <strong>Globalisierung</strong> und Klimawandel<br />
in den Blick. Begriffe wie „Flugscham“,<br />
die Kritik an Kreuzfahrten, Inlandsflügen<br />
und SUVs, an Brandrodungen des<br />
Tropenwalds – um Flächen für den Sojaanbau<br />
zu schaffen, der die Massentierhaltung<br />
hierzulande ermöglicht, die wiederum<br />
die „Vorprodukte“ liefert für die<br />
mit osteuropäischen Wanderarbeitern<br />
„bestückten“ Schlachtbetriebe, um die<br />
Kühlschiffe für den Schweinefleischexport<br />
ausgerechnet nach China zu beladen<br />
– prägen diesen globalisierungskritischen<br />
Diskurs.<br />
Sortiert man die <strong>Globalisierung</strong>sliteratur,<br />
so lassen sich grob fünf Positionen<br />
unterscheiden. Erstens der frühere<br />
neoliberale Mainstream, der <strong>Globalisierung</strong>sprozesse<br />
für grundsätzlich po-<br />
76 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Foto: M-SUR / stock.adobe.com<br />
sitiv hält und deshalb alles empfiehlt,<br />
was diese fördert. Dieses Denken, das<br />
jahrelang die Politik bestimmte, ist in<br />
die Defensive geraten, auf jeden Fall ist<br />
es nicht mehr hegemonial. Zweitens die<br />
neoidealistische Position, die unterstellt,<br />
dass die weitere <strong>Globalisierung</strong> zwar<br />
nicht aufzuhalten ist, der Staat jedoch<br />
als regulierende Instanz auf eine neue<br />
Ebene gehoben werden muss, um unter<br />
den Begriffen „Global Governance“<br />
bzw. „Weltregieren ohne Weltregierung“<br />
dem entfesselten Markt Paroli<br />
bieten zu können. Bei diesem Ansatz<br />
spielt die Durchsetzung internationaler<br />
Normen, um die Macht durch das Recht<br />
in den internationalen Beziehungen<br />
zu ersetzen, eine zentrale Rolle. Diese<br />
Position ist in der Debatte nahezu verstummt.<br />
Drittens die neorealistische Position, die<br />
behauptet, dass die <strong>Globalisierung</strong> nicht<br />
auf multilaterale, sondern nur auf hegemoniale<br />
Weise in geordnete Bahnen gelenkt<br />
werden kann. Entscheidend ist für<br />
sie die Weltordnungspolitik des „benevolenten<br />
Hegemons“, der die Internationalen<br />
Öffentlichen Güter bereitstellt und<br />
dabei nicht nur sein Eigeninteresse, sondern<br />
auch das Interesse der Gefolgschaft<br />
der Freerider im Auge behält. Diese Position<br />
hat derzeit mit der Problematik des<br />
hegemonialen Übergangs umzugehen:<br />
Der alte Hegemon schwächelt und verweigert<br />
sich, der neue Anwärter ist noch<br />
nicht bereit. Viertens die linken <strong>Globalisierung</strong>sgegner,<br />
die durch die Rückkehr<br />
des Staates in die Politik bzw. die<br />
Renaissance des Keynesianismus eine<br />
zumindest partielle Deglobalisierung<br />
erzwingen wollen. Und schließlich fünftens<br />
die rechten <strong>Globalisierung</strong>sgegner,<br />
die zwar noch über kein stimmiges theoretisches<br />
Konzept verfügen, aber bereit<br />
sind, jede populistische Ad-hoc-Forderung<br />
nach dem Motto „Man bräuchte<br />
doch bloß …“ zu unterstützen. ■<br />
Quelle: Prof. Dr. Ulrich Menzel: Corona und die<br />
gefesselte <strong>Globalisierung</strong>, Berliner Journal für<br />
Soziologie, Juli 2021.<br />
Dieser Artikel wird unter der Creative Commons<br />
Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht.<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
77
<strong>Globalisierung</strong><br />
Geschichte und Grundlagen des<br />
Freihandels<br />
Waren, die Grenzen überqueren, kosten<br />
Geld: Zölle. Auf der<br />
ganzen Welt. Seit<br />
Jahrtausenden.<br />
Lange erhoben<br />
Landesfürsten<br />
und Herrscher<br />
in Europa Gebiets-<br />
und Wegzölle<br />
– eine Art<br />
Maut – für die<br />
Nutzung eines<br />
Hafens oder<br />
einer Straße.<br />
Noch Ende<br />
des 18. Jahrhunderts wurde allein bei<br />
einem Transport von Köln nach Königsberg<br />
eine Ware etwa achtzig Mal kontrolliert.<br />
Foto: Calado / stock.adobe.com<br />
Jahrhundertelang hat das niemanden<br />
groß gestört – bis auf die Händler natürlich.<br />
Wer Zölle erhob, hatte Macht.<br />
In der Zeit des Absolutismus zwischen<br />
dem 16. und 18. Jahrhundert nutzten<br />
Herrscher, aber auch freie Städte das<br />
aus: Sie schützten die heimischen Handwerker<br />
und Manufakturen vor Konkurrenz<br />
aus dem Ausland – zum Beispiel<br />
78 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
durch besonders hohe Zölle auf die Einfuhr<br />
von Wein oder Tuch.<br />
Es war das Zeitalter des Merkantilismus,<br />
in dem die Herrschenden erstmals<br />
systematisch versuchten, ihre heimische<br />
Wirtschaft zu lenken, um Hof und<br />
Militär finanzieren zu können.<br />
Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begann<br />
sich ein anderes Prinzip durchzusetzen,<br />
das wir heute „Freihandel“<br />
nennen.<br />
Wegweisend waren dafür Ökonomen wie<br />
Adam Smith. Der Schotte entwickelte in<br />
seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“<br />
bereits 1776 die These, dass jedes<br />
Land im besten Fall nur die Güter herstellen<br />
soll, die es günstiger oder schneller<br />
produzieren kann als andere Länder.<br />
Damit der Außenhandel angeregt wird<br />
und der Wohlstand aller Länder steigt,<br />
müssten gleichzeitig Handelshemmnisse<br />
wie Zölle wegfallen.<br />
Ohne Einfuhrhindernisse kommt in der<br />
Theorie mehr Kundschaft aus dem Ausland.<br />
Es gibt mehr Aufträge für Händler<br />
und Handwerker – das führt zu mehr<br />
Wohlstand und mehr Steuern für die<br />
Staatskasse.<br />
Eine ähnliche Idee hatte Anfang des 19.<br />
Jahrhunderts der britische Wirtschaftswissenschaftler<br />
David Ricardo mit seiner<br />
Theorie der komparativen Kostenvorteile.<br />
Demnach hilft es allen Staaten, wenn<br />
sie Handel treiben – und sich die Produktion<br />
bestimmter Waren aufteilen.<br />
Ricardo begründete dies damit, dass<br />
ein Land immer das Produkt herstellen<br />
wird, bei dem sein Vorteil am größten<br />
ist. Dadurch blieben auch für Länder mit<br />
Kostennachteilen Bereiche übrig, auf die<br />
sie sich spezialisieren könnten.<br />
Ricardos Modell ist bis heute die theoretische<br />
Grundlage für den weltweiten<br />
Warenaustausch.<br />
Gegenpart des Freihandels ist der Protektionismus.<br />
Darunter versteht man<br />
Maßnahmen von Ländern, die heimische<br />
Wirtschaft zu schützen. So beschloss<br />
Großbritannien Ende des 19. Jahrhunderts,<br />
auf Waren müsse das Herkunftsland<br />
angegeben sein. Damit sollten britische<br />
Firmen vor Billig-Konkurrenz aus<br />
dem Ausland geschützt werden – auch<br />
aus Deutschland.<br />
So entstand „Made in Germany“ – heute<br />
ein Qualitätssiegel für deutsche Waren.<br />
Die USA und andere Länder führten<br />
nach dem Börsencrash von 1929 hohe<br />
Einfuhrzölle ein. Sie wollten so ihre<br />
Wirtschaft vor Konkurrenz durch Importe<br />
schützen.<br />
Viele dieser Bestimmungen gibt es heute<br />
nicht mehr. Die Bundesrepublik Deutschland<br />
und die Länder der damaligen Europäischen<br />
Wirtschaftsgemeinschaft gründeten<br />
1968 die Zollunion. Damit begann<br />
das Ende der Zölle in Westeuropa.<br />
Bis 1992, der Einführung des europäischen<br />
Binnenmarktes, fielen auch andere,<br />
sogenannte „nichttarifäre“ Handelshemmnisse<br />
– wie nationale Normen,<br />
Einfuhrquoten oder Kontingente, also<br />
Mengenbeschränkungen – weg, die den<br />
Austausch von Waren behinderten –<br />
auch die Grenzkontrollen in weiten Teilen<br />
Europas.<br />
Wer Zölle<br />
erhob,<br />
hatte<br />
Macht.<br />
Der Warenaustausch innerhalb der EU<br />
wuchs, vielerorts auch der Wohlstand.<br />
Zölle gibt es aber noch immer. Und sie<br />
sind nicht der einzige Weg für Staaten,<br />
um Konkurrenz aus dem Ausland abzuwehren.<br />
Auch staatliche Zuschüsse, also<br />
Subventionen, dienen dazu, die heimische<br />
Wirtschaft zu stützen.<br />
Die EU bezuschusste zum Beispiel lange<br />
den Verkauf von Milchpulver, Rindfleisch<br />
oder Weizen auf den Weltmärkten<br />
– dort verfielen in Folge die Preise.<br />
Gerade im globalen Süden hatten es viele<br />
Bauern schwer, auf den heimischen<br />
Märkten ihre Erzeugnisse zu verkaufen.<br />
Ein weiteres protektionistisches Mittel<br />
sind Produktstandards, die die ausländische<br />
Konkurrenz nicht erfüllt. Zum<br />
Beispiel das Reinheitsgebot, das deutsche<br />
Brauereien einst vor Bier aus dem<br />
Ausland schützen sollte.<br />
Lange hatte es so ausgesehen, als würde<br />
der Protektionismus eine immer geringere<br />
Rolle spielen. Der grenzüberschreitende<br />
Warenaustausch wurde intensiver<br />
und erfasste immer mehr Regionen auf<br />
der Welt.<br />
Nationale Regeln rückten in den Hintergrund,<br />
globale und kontinentale Märkte,<br />
auf denen große Unternehmen agierten,<br />
wuchsen.<br />
Die Welthandelsorganisation WTO arbeitet<br />
seit 1995 mit ihren heute 164 Mitgliedsstaaten<br />
am Abbau noch existierender<br />
Handelsschranken.<br />
Der Begriff <strong>Globalisierung</strong> hat sich in<br />
den 1990er Jahren für diese Entwicklungen<br />
durchgesetzt. Ermöglicht wurde sie<br />
nicht nur durch eine Liberalisierung des<br />
Welthandels, sondern auch durch rasante<br />
Fortschritte bei Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> bringt Vor- und<br />
Nachteile mit sich. So können Un- >><br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
79
<strong>Globalisierung</strong><br />
ternehmen Marktanteile in einem Land<br />
verlieren, wenn ein ausländischer Konkurrent<br />
auf ihren Markt kommt. Das<br />
kann Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
Jobs kosten.<br />
Außerdem hat die <strong>Globalisierung</strong> die<br />
unterschiedliche Entwicklung reicher<br />
und armer Länder in den vergangenen<br />
Jahrzehnten teilweise verstärkt. Ungleichheiten,<br />
die vielfach schon seit der<br />
Kolonialzeit existieren, wurden größer.<br />
Vielen Schwellen- und Entwicklungsländern<br />
hat der Handel mit der westlichen<br />
Welt Nachteile gebracht: Multinationale<br />
Firmen breiteten sich aus, die<br />
Entstehung eigener Industrien wurde<br />
gebremst. Eine nachhaltige Entwicklung<br />
war unter diesen Bedingungen<br />
schwierig.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> bereitet heute aber<br />
auch den westlichen Staaten zunehmend<br />
Probleme: Der Wettlauf um besonders<br />
günstige Preise geht oft zu Lasten<br />
staatlicher, sozialer und ökologischer<br />
Standards.<br />
Dies belastet auch Teile der Bevölkerung<br />
in den Industrienationen, die<br />
teilweise Lohneinbußen hinnehmen<br />
müssen.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong> hat in ihrer heutigen<br />
Ausprägung also Gewinner – aber auch<br />
Verlierer.<br />
<strong>Globalisierung</strong> unter neuen<br />
Vorzeichen<br />
Smartphones aus China, Bananen aus<br />
Ecuador, Kaffee aus Kenia, T-Shirts aus<br />
Bangladesch, Autos aus Japan, Suchmaschinen<br />
und Streaming-Dienste aus den<br />
USA …<br />
Viele der Produkte und Dienstleistungen,<br />
die wir täglich nutzen, haben eine<br />
lange Reise hinter sich. Oder sie werden<br />
an einem tausende Kilometer entfernten<br />
Ort bereitgestellt.<br />
Manche sehen darin die Ursache für den<br />
Aufstieg populistischer und nationalistischer<br />
Bewegungen und Politiker. Befür-<br />
Jahrzehntelang<br />
kannte<br />
der Güteraustausch<br />
nur<br />
ein Ziel:<br />
Zuwachs.<br />
Das sind die Auswirkungen der <strong>Globalisierung</strong><br />
– der weltweiten Verflechtung<br />
von Politik, Kultur, Arbeitswelt – und<br />
vor allem der Wirtschaft. Manche sagen,<br />
die <strong>Globalisierung</strong> begann bereits vor<br />
über 500 Jahren, mit der Ankunft von<br />
Christoph Kolumbus in Amerika.<br />
Verstärkt wurde sie später durch die<br />
Erfindung von Dampfschiff, Eisenbahn,<br />
Verbrennungsmotor, Düsenflugzeug,<br />
Container, Telefon und Internet.<br />
Geringere Transportkosten, bessere<br />
Kommunikation und immer weniger<br />
Handelshemmnisse führten seit den<br />
90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts<br />
noch einmal zu einer Beschleunigung<br />
dieser Entwicklung.<br />
Für viele ist die <strong>Globalisierung</strong> eine Erfolgsgeschichte.<br />
Sie hat das Leben von<br />
Millionen Menschen in Industrienationen<br />
und Schwellenländern gravierend<br />
verändert – und viele Jobs weltweit geschaffen.<br />
Beispiel Europa: Exporte in Länder außerhalb<br />
der EU sicherten im Jahr 2000<br />
etwa 22 Millionen Arbeitsplätze. 2017<br />
waren es rund 36 Millionen, also über<br />
zwei Drittel mehr.<br />
In Deutschland hingen zuletzt fast acht<br />
Millionen Jobs vom Export in Länder außerhalb<br />
Europas ab – also jeder Fünfte<br />
und fast doppelt so viele wie zur Jahrtausendwende.<br />
In anderen EU-Ländern – so etwa Frankreich,<br />
Spanien, Italien oder Polen – war<br />
die Entwicklung ähnlich.<br />
Doch die <strong>Globalisierung</strong> bringt auch gravierende<br />
Probleme mit sich. So verstärkt<br />
sie die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen<br />
Ländern des Nordens und des globalen<br />
Südens.<br />
Während die sich entwickelnden Länder<br />
vorwiegend Rohstoffe wie Bananen,<br />
Kaffee, Kobalt oder Erdöl exportieren,<br />
stellen die Industrieländer und die aufstrebenden<br />
Volkswirtschaften vor allem<br />
hochspezialisierte Konsumgüter wie<br />
Computer oder Autos her.<br />
Die Entstehung weltweiter Lieferketten<br />
hat zwar auch im globalen Süden neue<br />
Fabriken – und neue Jobs – entstehen<br />
lassen. Und die Ausfuhr von Industriegütern<br />
ist dadurch auch in einigen dieser<br />
Länder gestiegen. Doch Millionen<br />
Arbeiter und Arbeiterinnen stellen<br />
dort für sehr niedrige Löhne und unter<br />
widrigen Bedingungen Kleider oder<br />
Smartphones her. In Ländern, wo die<br />
Arbeitsbedingungen besonders schlecht<br />
sind, versuchen Menschen teilweise woanders<br />
ihr Glück – und verlassen ihre<br />
Heimatländer.<br />
Auch im wohlhabenden Norden sorgt<br />
die <strong>Globalisierung</strong> für Verwerfungen: Einige<br />
der Produkte, die in den Schwellenländern<br />
zu geringen Löhnen hergestellt<br />
werden, sind wettbewerbsfähiger als die<br />
aus den Industrieländern.<br />
Vielfach sind neue weltweite Konkurrenzen<br />
entstanden. Das hat Jobs im globalen<br />
Norden gekostet. Gewerkschaften beklagen<br />
geringe Lohnzuwächse. Zunehmende<br />
Ungleichheit sorgt für Instabilität.<br />
80 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
<strong>Globalisierung</strong><br />
Die weltweiten Lieferketten hatten lange<br />
für einen Boom der Wirtschaft gesorgt.<br />
Nun gibt es in der Fertigung immer weniger<br />
zu globalisieren. Die Herstellung<br />
wird zunehmend von der Automatisierung<br />
bestimmt, Produktionsprozesse –<br />
aber auch Absatzmärkte – werden wieder<br />
regionaler. Zuletzt hing das auch mit<br />
den wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie<br />
zusammen.<br />
Gleichzeitig ist ein rasantes Plus beim<br />
weltweiten Austausch digitaler Dienstleistungen<br />
zu beobachten – anders als<br />
bei Industriegütern und beim Kapitalverkehr.<br />
Nicht zuletzt ist China, lange nur Produktionsstätte<br />
des Westens, zu einem<br />
bedeutenden Wettbewerber auf dem<br />
Weltmarkt geworden.<br />
Foto: aerial-drone / stock.adobe.com<br />
Dabei halfen dem Land eine gezielte<br />
Strategie im Hightech-Bereich und die<br />
Seidenstraßen-Initiative – der Versuch<br />
der Regierung in Peking, die Wirtschaftsregionen<br />
des Landes mit Teilen<br />
Asiens, Europas und Afrikas zu integrieren.<br />
Außerdem seine 1,4 Milliarden<br />
Einwohner und Einwohnerinnen, also<br />
potentielle Konsumenten und Konsumentinnen<br />
– sowie Hunderte Millionen<br />
weiterer auf Absatzmärkten im asiatisch-pazifischen<br />
Raum.<br />
worter protektionistischer Maßnahmen<br />
haben auf der ganzen Welt Zulauf bekommen.<br />
<strong>Globalisierung</strong>skritische Bewegungen<br />
protestieren gegen den Abschluss von<br />
Handelsabkommen. Und Handelskonflikte<br />
haben weltweit zugenommen.<br />
Experten und Expertinnen sprechen bereits<br />
von Deglobalisierung. Noch hängen<br />
aber weiter Millionen Arbeitsplätze weltweit<br />
von Ein- und Ausfuhren ab, gerade<br />
in Deutschland, wo sich die Im- und Exporte<br />
seit der Jahrtausendwende mehr<br />
als verdoppelt haben.<br />
Wohin geht die Zukunft? Mehrere Faktoren<br />
ändern derzeit das Gesicht der <strong>Globalisierung</strong>.<br />
Jahrzehntelang kannte der<br />
Güteraustausch nur ein Ziel: Zuwachs.<br />
Vor allem zwischen den Industrienationen<br />
und Ländern wie China oder Indien.<br />
Doch das rasante Wachstum der vergangenen<br />
Jahre stockt.<br />
Der internationale Warenaustausch<br />
wächst bereits seit einiger Zeit langsamer<br />
als die Produktion.<br />
Wie sich der Welthandel angesichts der<br />
jüngsten Verwerfungen weiterentwickelt,<br />
ist schwer absehbar.<br />
Wenn die globale Rezession überstanden<br />
ist, könnte China die USA jedoch irgendwann<br />
als größte Wirtschaftsmacht<br />
der Welt überholen. Nicht zuletzt –<br />
aufgrund der <strong>Globalisierung</strong>. ■<br />
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz<br />
„CC BY-SA 4.0 - Namensnennung - Weitergabe<br />
unter gleichen Bedingungen 4.0 International“<br />
veröffentlicht. Autor/-in: Kai Schöneberg für bpb.de<br />
Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />
81
<strong>Globalisierung</strong><br />
guter<br />
Letzt<br />
Zu<br />
Kleidung: Überproduktion<br />
landet auf Müllhalden<br />
IMPRESSUM<br />
UmweltDialog ist ein unabhängiger Nachrichtendienst<br />
rund um die Themen Nachhaltigkeit und Corporate Social<br />
Responsibility. Die Redaktion von UmweltDialog berichtet<br />
unabhängig, auch von den Interessen der eigenen Gesellschafter,<br />
über alle relevanten Themen und Ereignisse aus<br />
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.<br />
Grafik: strichfiguren.de / stock.adobe.com<br />
Die Überproduktion der Fast-Fashion-Industrie verursacht<br />
immer größere Müllberge im globalen Süden. Das<br />
ist das Ergebnis einer Vor-Ort-Recherche von Greenpeace<br />
Deutschland, die im Rahmen der „Fashion Revolution<br />
Week“ veröffentlicht wurde.<br />
Allein in Deutschland werden jährlich mehr als eine Million<br />
Tonnen Altkleider gesammelt. Weniger als ein Drittel<br />
wird in Deutschland als Secondhandware weiterverkauft.<br />
Der Großteil wird nach Osteuropa und Afrika exportiert.<br />
Doch viele Kleidungsstücke haben keinen Marktwert<br />
mehr, weil sie defekt, verschmutzt oder für das örtliche<br />
Klima ungeeignet sind. Die Recherchen haben ergeben,<br />
dass 30 bis 40 Prozent der Importe nicht mehr verkauft<br />
werden können. Sie landen gemeinsam mit der Überproduktion<br />
auf Mülldeponien, in Flüssen oder werden unter<br />
freiem Himmel verbrannt: weltweit eine LKW-Ladung pro<br />
Sekunde.<br />
„Es reicht nicht aus, das Wort ‚nachhaltig‘ auf Textilien zu<br />
schreiben, ohne das Geschäftsmodell zu verändern“, sagt<br />
Viola Wohlgemuth, Expertin für Ressourcenschutz von<br />
Greenpeace. „Wir brauchen wie beim Klima ein internationales<br />
Abkommen, das den Export von Textilmüll verbietet,<br />
recyclefähiges Produktdesign vorschreibt und eine globale<br />
Steuer, die das Verursacherprinzip mit einbezieht. Das<br />
heißt, die Hersteller werden für die Kosten der Beseitigung<br />
der verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden in der<br />
gesamten Lieferkette finanziell verantwortlich gemacht.“ ■<br />
Herausgeber:<br />
macondo publishing GmbH<br />
Dahlweg 87<br />
48153 Münster<br />
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Elena Köhn, Milena Knoop, Ulrich Klose<br />
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Lektorat:<br />
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82 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de
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■ Klimareporting (TCFD, CDP, SASB, GHG-Protokoll)<br />
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