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Sanierungsfall Globalisierung?

Warum der Welthandel sich neu erfinden muss – bitte diesmal nachhaltig. Das neue UmweltDialog-Magazin macht sich auf eine spannende Spurensuche nach den Ursprüngen der Globalisierung, was schief lief und was sich ändern wird.

Warum der Welthandel sich neu erfinden muss – bitte diesmal nachhaltig. Das neue UmweltDialog-Magazin macht sich auf eine spannende Spurensuche nach den Ursprüngen der Globalisierung, was schief lief und was sich ändern wird.

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Ausgabe 17<br />

Mai 2022<br />

9,00 EUR<br />

<strong>Sanierungsfall</strong><br />

<strong>Globalisierung</strong>?<br />

Warum der Welthandel sich neu erfinden muss –<br />

bitte diesmal nachhaltig.<br />

umweltdialog.de


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∙ Modul 1: Nachhaltigkeit — eine Einführung<br />

∙ Modul 2: CSRD-Anforderungen<br />

∙ Modul 3: Doppelte Materialität<br />

∙ Modul 4: Betriebliche CO 2<br />

-Bilanzierung<br />

∙ Modul 5: Schritte zur Klimastrategie<br />

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<strong>Globalisierung</strong><br />

Nicht lange schnacken, ...<br />

EDITORIAL<br />

... anpacken – diese norddeutsche Redensart beschreibt den Wunsch vieler Menschen,<br />

dass Politik vor allem Lösungen aufzeigen und nicht so sehr Lösungswege diskutieren<br />

soll. Bei der Finanzkrise, während Corona und jetzt im Krieg sind „Macher“ gefragt. Wer<br />

abwägt, gilt als Zauderer. In einer Welt, die in Echtzeit reagiert, wird Reflexion zum Makel.<br />

Der permanente Krisenmodus ist das neue Normal. Vor allem die eng verflochtene Weltwirtschaft<br />

und das, was wir gemeinhin <strong>Globalisierung</strong> nennen, muss sich neu ordnen<br />

und an vielen Stellen neu erfinden. Wir haben mit dem Weg in eine neue bipolare Struktur<br />

– transatlantischer Westen mit demokratischen Staaten auf der einen und China und<br />

Russland, die für Menschenrechtsverletzungen und Diktatur stehen, auf der anderen<br />

Seite – einen Rückschritt in der <strong>Globalisierung</strong> vor uns. Die EU hat begonnen, ihre Außenbeziehungen<br />

neu auszurichten. Aber relativ spät, wenn man sich China im Vergleich<br />

anschaut. Die Seidenstraße-Initiative zeigt, dass China eine langfristige Strategie verfolgt.<br />

In der aktuellen Ausgabe sprechen wir über Ursachen, aber vor allem mögliche künftige<br />

Entwicklungen der <strong>Globalisierung</strong>. Der Prozess der <strong>Globalisierung</strong> ist nicht naturwüchsig,<br />

sondern wird politisch gestaltet. Technische Möglichkeiten wie die Digitalisierung<br />

oder die Verbilligung der Verkehrsströme sind nur Voraussetzungen, aber letztlich sorgt<br />

der politische Gestaltungswille dafür, dass <strong>Globalisierung</strong> tatsächlich durch eine immer<br />

intensivere wirtschaftliche Verflechtung stattfindet. Diese kann – das zeigt der Krieg in<br />

der Ukraine – auch schnell gestoppt werden.<br />

Das hat nicht nur Folgen für Lieferketten, über die wir ausführlich sprechen, sondern<br />

auch für Nachhaltigkeit. Wird diese unterlassen, werden wir über ganz andere Fragen<br />

als bezahlbare Benzinpreise reden müssen, zum Beispiel auch über bezahlbares Wasser<br />

oder bezahlbare Nahrungsmittel.<br />

Wer hat im Zeitalter des Anthropozäns also am ehesten die Kompetenz zur Problemlösung?<br />

Demokratie oder Autokratie? Die Suche nach Antworten für die oben genannten<br />

Probleme hat für die gesamte Menschheit hohe Priorität, und es hat den Anschein, dass<br />

Autokratien besser in der Lage sind, diese Probleme einzudämmen. Über diese Verschiebung<br />

der Akzeptanz von Autokratien einerseits und ihren Mangel an Legitimität andererseits<br />

ist viel geschrieben worden, aber einer der Hauptgründe für diesen Hype um Autokratien<br />

ist die Tatsache, dass ihre Befürworter glauben, dass das System der Autokratie<br />

in der Lage ist, Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, globale Erwärmung, Ungleichheit,<br />

Korruption und Verlust der Artenvielfalt besser zu lösen als offene Gesellschaften.<br />

Deutlich wird, dass <strong>Globalisierung</strong> zwar in der Diskussion meist als Spiel um Profite und<br />

Ausbeutung begriffen wird. Aber tatsächlich greift das zu kurz: Am Ende geht es auch<br />

um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, mit welchen Spielregeln, mit welchen<br />

Werten und mit welchen Vorbildern.<br />

Viel Spaß beim Lesen wünscht im Namen der gesamten Redaktion Ihr<br />

Dr. Elmer Lenzen<br />

Chefredakteur<br />

Das nächste<br />

UmweltDialog-Magazin<br />

erscheint am 14.11.2022.


<strong>Globalisierung</strong><br />

Inhalt<br />

GEOPOLITIK STATT GLOBALISIERUNG?<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> löst sich nicht auf,<br />

sie verändert sich ......................................................................8<br />

Dunkle Wolken für den Welthandel ...................................16<br />

Alle drängen, sich von kritischen Geschäftspartnern unabhängig<br />

zu machen. Wer seine Wirtschaft als erster von<br />

nicht-erneuerbaren Rohstoffen frei bekommt, hat die Nase<br />

vorn.<br />

8<br />

Die Zukunft ist VUCA – volatil, unsicher,<br />

komplex und mehrdeutig. Im Fokus steht<br />

dabei die <strong>Globalisierung</strong>. Schon lange in<br />

der Kritik, wollen sie einige beerdigen,<br />

andere instrumentalisieren. Richtig wäre<br />

es, sie angesichts der neuen Realitäten<br />

neu zu denken. Von diesem globalen<br />

Netz hängen nämlich nicht nur Jobs und<br />

Lieferketten ab, sondern auch Nachhaltigkeit<br />

und Klimaschutz.<br />

Mit Welthandel auch Weltanschauungen<br />

exportieren ................................................................................20<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> macht eine Pause, sagt der Weltwirtschaftsexperte<br />

Lukas Menkhoff und mahnt: „Ob multipolar<br />

und multilateral gut miteinander harmonieren, haben wir<br />

noch nicht wirklich ausprobiert.“<br />

DEMOKRATIEN VS. AUTOKRATIEN?<br />

Offene Gesellschaften versus digitale<br />

autokratische Experimente ..................................................26<br />

„Club of Rome“-Mitglied Stefan Brunnhuber erläutert, warum<br />

letztere parasitär, kannibalisch und selbstbeschränkend<br />

sind.<br />

Navigieren durch Chinas Menschenrechtsbilanz .........36<br />

Menschenrechtsverletzungen durch Sportswashing? Die<br />

olympischen Spiele in Peking zeigen, wie schmal der Grad<br />

ist zwischen gutem Gewissen und guten Geschäften.<br />

Keine Angst vor China ...........................................................40<br />

Wir brauchen die chinesische Wirtschaftsentwicklung nicht<br />

überbewerten, aber Entwicklungsländern droht eine<br />

Schuldenabhängigkeit gegenüber China. Mit Konsequenzen.<br />

SCHWACHSTELLE LIEFERKETTE?<br />

„Kaum ein Betrieb hat mit einem<br />

weltweiten Lockdown gerechnet“ ......................................46<br />

Gründe für Geschäftsunterbrechungen gibt es viele. Um<br />

diese zu bewältigen, brauchen Unternehmen ein effektives<br />

Business Continuity Management.<br />

Advertorial | Symrise<br />

Weit verzweigt und nachhaltig integriert –<br />

die globale Lieferkette von Symrise .................................50


<strong>Globalisierung</strong><br />

Was kann ein kleines Unternehmen<br />

schon bewirken? Viel! ............................................................52<br />

In China erfolgt der Abbau Seltener Erden oft unter eher<br />

schlechten Arbeitsbedingungen. Der Mittelständler Haas &<br />

Co. Magnettechnik findet dafür pragmatische Lösungen.<br />

Am Lieferkettengesetz führt kein Weg vorbei ...............54<br />

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt erst nächstes<br />

Jahr in Kraft, wird aber bereits intensiv diskutiert. Wenig<br />

beachtet wird, dass auch in Deutschland intensiver auf<br />

ESG-Risiken geachtet wird.<br />

20<br />

Nachhaltigkeit ist aufgrund des Klimawandels<br />

zwingend. Da muss noch mehr passieren, völlig egal,<br />

was sonst in der Welt los ist.<br />

Der existenzsichernde Lohn:<br />

Mehr als der Mindestlohn .....................................................58<br />

Wie viel Lohn ist genug Lohn? Eine brennende Frage seit<br />

den Tagen der industriellen Revolution um 1700, als Arbeit<br />

zu einer Ware wurde.<br />

WO BLEIBT DIE NACHHALTIGKEIT?<br />

Was wird aus der Agenda 2030? ........................................64<br />

Nach COVID-19 und nun dem Krieg in der Ukraine ist klar,<br />

dass daraus nichts mehr wird. Besteht die Zukunft jetzt<br />

nur noch aus lauter schlechten Optionen? Und müssen wir<br />

vielleicht den Blick schon auf die Zeit nach der Agenda<br />

2030 werfen?<br />

Ist Klimapolitik ohne Sicherheitspolitik denkbar? ........68<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> ist erschöpft, sagt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler<br />

Michael Hüther im Gespräch mit<br />

uns. Weiter gehe es nur, wenn wir künftig Nachhaltigkeit<br />

nicht nur empathisch, sondern auch militärisch denken.<br />

Folgen unterlassener Nachhaltigkeit ................................72<br />

In Kriegszeiten rutschen Themen wie der Klimawandel unweigerlich<br />

in den Hintergrund. Das wird sich rächen, warnt<br />

Werner Widuckel. Für einen Kurswechsel fehlen uns aber<br />

leistungsfähige Institutionen.<br />

GESCHICHTE DER GLOBALISIERUNG<br />

Kleine Geschichte der <strong>Globalisierung</strong><br />

und ihrer Kritik .........................................................................75<br />

Der Begriff der <strong>Globalisierung</strong> meint keine aktuelle Periode<br />

der Weltgeschichte, sondern einen Prozess, der wellenförmig<br />

verläuft und von tiefen Einbrüchen unterbrochen wird.<br />

Freihandel versus Protektionismus ..................................78<br />

Die Idee am Anfang war simpel: Ohne Einfuhrhindernisse<br />

kommt mehr Kundschaft aus dem Ausland. Es gibt mehr<br />

Aufträge für Händler und Handwerker – das führt zu mehr<br />

Wohlstand und mehr Steuern für die Staatskasse.<br />

26<br />

Die Illusion der Kontrolle: Autokratische Regime<br />

sind davon überzeugt, dass sie nicht nur<br />

menschliches Verhalten in großem Maßstab<br />

kontrollieren können, sondern auch den Verlauf<br />

einer Gesellschaft als Ganzes.<br />

52<br />

Es ist zwar nicht immer möglich, eine komplett<br />

saubere Lieferkette zu haben, aber man kann viele Dinge<br />

umsetzen, um die Bedingungen zu verbessern.


<strong>Globalisierung</strong><br />

Geopolitik statt <strong>Globalisierung</strong>?<br />

Chinas Einflusssphäre wächst<br />

USA<br />

1980<br />

China<br />

Keine Daten<br />

2000<br />

2018<br />

Quelle: Lowy Institute<br />

6 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Russland expandiert dank Gruppe Wagner<br />

Quelle: dashochformat.org<br />

USA setzen auf Militärbasen<br />

Honduras<br />

Columbien<br />

Grönland<br />

Thule<br />

Bermudas<br />

Island<br />

Norwegen<br />

Großbrittannien<br />

Belgien<br />

Bosnien<br />

Portugal<br />

Spanien<br />

6. Flotte Mittelmeer<br />

Bahamas<br />

2. Flotte Atlantik<br />

Guantanamo<br />

Puerto Rico<br />

Mali<br />

Sao Tomé Principe<br />

(geplant)<br />

Deutschland Jordanien<br />

Polen<br />

Tschechien<br />

Ungarn<br />

Kosovo Georgien<br />

Türkei<br />

Irak<br />

Italien<br />

Zypern<br />

Israel<br />

Ägypten<br />

Saudi-Arabien<br />

Djibouli<br />

Turkmenistan<br />

Oman<br />

Kirgisistan<br />

Tadschikistan<br />

Afghanistan<br />

Pakistan<br />

5. Flotte<br />

Indischer Ozean<br />

Thailand<br />

Diego Garcia<br />

Singapur<br />

Japan<br />

Südkorea<br />

Midway Wake-Island<br />

Okinawa<br />

Guam<br />

Johnston-<br />

Atoll<br />

Marshall-<br />

Inseln<br />

Kwajalein-<br />

Atoll<br />

Hawaii<br />

7. Flotte West-Pazifik<br />

St. Helena<br />

Vereinigte<br />

Arabische Emirate<br />

Bahrein,<br />

Katar<br />

Kuweit<br />

Australien<br />

Amerikanisch<br />

Samoa<br />

Quelle: Atlas der <strong>Globalisierung</strong>, Base Structure Report<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

7


<strong>Globalisierung</strong><br />

Die <strong>Globalisierung</strong> löst sich nicht auf,<br />

sie verändert sich<br />

Die 2020er waren als Dekade<br />

des Wandels gedacht. Es sollte<br />

der große gesellschaftliche<br />

Umbruch Richtung Nachhaltigkeit<br />

und Klimaschutz<br />

werden. Einen Umbruch<br />

erleben wir jetzt tatsächlich,<br />

aber nicht wie geplant. Kriege<br />

und Krisen haben das weltweite<br />

Wir-Gefühl aufgebraucht.<br />

Die Zukunft ist<br />

VUCA – volatil, unsicher,<br />

komplex und mehrdeutig. Im<br />

Fokus steht dabei die<br />

<strong>Globalisierung</strong>. Schon lange<br />

in der Kritik, wollen sie einige<br />

beerdigen, andere instrumentalisieren.<br />

Richtig wäre<br />

es, sie angesichts der neuen<br />

Realitäten neu zu denken. Von<br />

diesem globalen Netz hängen<br />

nämlich nicht nur Jobs und<br />

Lieferketten ab, sondern auch<br />

Nachhaltigkeit und<br />

Klimaschutz.<br />

Von Dr. Elmer Lenzen<br />

8 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Klimawandel, COVID-19, Kriege, Lieferkettenprobleme,<br />

Hunger, Massenflucht<br />

aus Ost und Süd – die Welt, wie<br />

wir sie kennen, verändert sich rasant.<br />

Viel Optimismus ist dabei in den letzten<br />

Wochen und Monaten verbrannt. Die<br />

Vorstellung, die Zukunft als ein Weiterführen<br />

der Gegenwart zu gestalten, ist<br />

ins Wanken geraten. Und damit auch<br />

die politische und ökonomische Architektur<br />

einer Epoche, die mit dem Fall<br />

der Berliner Mauer 1989 einsetzte. Der<br />

sogenannte Washington Consensus legte<br />

seinerzeit eine globale Ordnung fest,<br />

welche den Westen, sein Demokratieverständnis<br />

und seine Wirtschaftsform als<br />

Sieger bis in alle Ewigkeit verstand.<br />

Vorbei. Schnee von gestern. Der permanente<br />

Krisenmodus ist das neue Normal.<br />

Vor allem die eng verflochtene Weltwirtschaft<br />

und das, was wir gemeinhin<br />

<strong>Globalisierung</strong> nennen, muss sich neu<br />

ordnen und an vielen Stellen neu erfinden.<br />

Es ist besser, die kriselnde <strong>Globalisierung</strong><br />

jetzt aktiv neu zu gestalten, als<br />

sie bei der nächsten Krise den Populisten<br />

und der Panik zu überlassen. In Bereichen,<br />

in denen sich die Außenpolitik<br />

mit „Megatrends“ wie Klimasicherheit,<br />

Cybersicherheit und Datenschutz vermischt,<br />

haben wir noch Zeit, einen überlegten<br />

Ansatz zu entwickeln.<br />

Der stille Abstieg der<br />

<strong>Globalisierung</strong>sidee<br />

Überraschen sollte uns die Entwicklung<br />

eigentlich nicht. Die Zeichen der Zeit<br />

standen schon länger auf Sturm. Der<br />

Leiter der Abteilung Weltwirtschaft am<br />

DIW Berlin, Lukas Menkhoff, findet:<br />

„Die Vorstellung einer zunehmenden<br />

Verflechtung in der Weltwirtschaft ist<br />

schon seit gut zehn Jahren empirisch<br />

nicht mehr festzustellen“. Bisher wurden<br />

solche Fragen unter der Perspektive<br />

von Effizienz und Wirtschaftlichkeit<br />

diskutiert. Seit Corona und dem Krieg<br />

in der Ukraine geht es zunehmend auch<br />

um den Faktor Sicherheit – sei es Versorgungssicherheit,<br />

Gesundheitsschutz<br />

oder Landesverteidigung.<br />

Nachhaltigkeit ist angesichts der globalen<br />

Krisen wichtiger denn je. Es gibt<br />

globale Herausforderungen wie den<br />

Klimawandel, den demografischen Wandel,<br />

den Corona-Wiederaufbau und viele<br />

andere Entwicklungsziele, die entschiedenes<br />

Handeln erfordern. Der daraus resultierende<br />

soziale und wirtschaftliche<br />

Wandel ist epochal. Es geht um nichts<br />

weniger als den Übergang in ein neues<br />

Zeitalter (Abschied von Bretton Woods,<br />

Washington Consensus und Industriezeitalter<br />

zugleich). Zugleich rückt die<br />

Erreichbarkeit der SDGs in weite Ferne.<br />

Eigentlich sollten die 2020er-Jahre eine<br />

„Decade of action“, ein Aufbruch, werden.<br />

Stattdessen leben wir in einer Dekade<br />

der Krisen und Rückschläge.<br />

Heute lebt weniger als die Hälfte der<br />

Menschheit in Demokratien. Tendenz<br />

sinkend. <strong>Globalisierung</strong> und Kapitalismus<br />

sind umstrittener denn je. Es<br />

häufen sich Analysen vom Ende der<br />

<strong>Globalisierung</strong>, und selbst große Vermögensverwalter<br />

wie BlackRock und<br />

das Weltwirtschaftsforum in Davos empfehlen<br />

eine Abkehr vom reinen Profitdenken.<br />

BlackRock-Gründer Larry Fink<br />

sieht den von Russlands Präsidenten<br />

Putin angezettelten Krieg als radikalen<br />

Einschnitt. Nach der Corona-Pandemie<br />

gebe dies nun der <strong>Globalisierung</strong> den<br />

Rest. „Wir hatten bereits erlebt, wie die<br />

Verbindungen zwischen Nationen, Unternehmen<br />

und sogar Menschen durch<br />

die zwei Jahre andauernde Pandemie belastet<br />

wurden“, so der BlackRock-Chef.<br />

Unternehmen und Regierungen rund<br />

um den Globus seien gezwungen, ihre<br />

Abhängigkeit von Lieferketten für Fertigung<br />

und Montage zu überdenken. Diese<br />

seien bereits durch die Corona-Krise<br />

infrage gestellt worden. >><br />

Fotos: Reverzní vyhledávání fotografií / 123rf.com<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

9


<strong>Globalisierung</strong><br />

Die internationalen<br />

Konsequenzen<br />

werden vielfältig sein:<br />

Handelskonflikte,<br />

der Austritt aus<br />

internationalen<br />

Organisationen oder<br />

die Kündigung<br />

internationaler<br />

Abkommen und vor<br />

allem die Weigerung,<br />

gemeinsam an der<br />

Fortentwicklung einer<br />

neuen Weltordnung<br />

mitzuwirken.<br />

Was bedeutet eigentlich<br />

<strong>Globalisierung</strong>?<br />

<strong>Globalisierung</strong> verläuft nicht in einem<br />

linearen Prozess des Immer-mehr,<br />

Immer-weiter und Immer-schneller.<br />

Stattdessen verläuft <strong>Globalisierung</strong><br />

in Wellen. Immer wieder wird sie von<br />

Rückschlägen unterbrochen und kann<br />

sogar völlig zum Erliegen kommen. Die<br />

Vorteile der <strong>Globalisierung</strong> – durch den<br />

freieren Fluss von Geld, Menschen, Ideen<br />

und Handel – sind vielfältig. Doch<br />

statt einer flachen Welt ist eine Welt<br />

mit zerklüfteten Gipfeln und rauen, tiefen<br />

Tälern entstanden, die durch Wohlstandsgefälle,<br />

Verschuldung, politische<br />

Rezession und Ungleichgewichte in den<br />

Volkswirtschaften der Welt gekennzeichnet<br />

ist. „Es ist ein kompliziertes<br />

Thema, aber ich denke, dass die <strong>Globalisierung</strong><br />

insgesamt zurückgehen wird“,<br />

glaubt der britische Wirtschaftswissenschaftler<br />

Paul Donovan. Der Politikwissenschaftler<br />

Ulrich Menzel schreibt in<br />

einem exzellenten Essay zur gefesselten<br />

<strong>Globalisierung</strong>: „Es versteht sich dabei<br />

von selbst, dass Krisen der <strong>Globalisierung</strong><br />

nicht bereits beginnen, wenn sich<br />

<strong>Globalisierung</strong>skritiker – die es zu allen<br />

Zeiten gab – erstmals zu Wort melden,<br />

sondern dann, wenn die Kritik so stark<br />

wird, dass der globalisierungsbefürwortende<br />

Diskurs nicht mehr hegemonial<br />

ist.“<br />

Heute treffen zwei ganz unterschiedliche<br />

<strong>Globalisierung</strong>smodelle aufeinander:<br />

Auf der einen Seite der unternehmerische,<br />

um den Preisvorteil bedachte<br />

Ansatz von David Ricardo, und auf der<br />

anderen Seite der rentenbasierte Ansatz<br />

à la Hartmut Elsenhans. Menzel beschreibt<br />

letztere Gruppe so: „Viele <strong>Globalisierung</strong>sgewinner<br />

wie die Ölstaaten<br />

am Persischen Golf, aber auch die rohstoffreichen<br />

afrikanischen Staaten und<br />

selbst Russland sind rentenbasierte und<br />

nicht profitbasierte Ökonomien. Die hohen<br />

Einkommen der Herrschenden bzw.<br />

der Staatsklasse entstehen dort nicht<br />

aus unternehmerischer Tätigkeit, sondern<br />

aus der politischen Kontrolle über<br />

einkommensträchtige Ressourcen. Folglich<br />

wird ein Teil der Einkommen nicht<br />

investiert, um international wettbewerbsfähig<br />

zu bleiben, sondern für die<br />

Organe des Sicherheitsapparats (Armee,<br />

Polizei, Geheimdienste, Präsidentengarde<br />

usw.) verausgabt, um die Macht und<br />

damit den Zugriff auf die Rente zu behaupten.“<br />

Rückbau, Pause oder Fragmentierung –<br />

quo vadis <strong>Globalisierung</strong>? Sieben Trends<br />

werden in Zukunft besonders wichtig:<br />

1. Geopolitisierung statt<br />

Ökonomisierung<br />

Während der Corona-Pandemie hat sich<br />

die Weltordnung nahezu unbemerkt<br />

verschoben. Die zentralen geopolitischen<br />

Krisen unserer Zeit sind nicht<br />

verschwunden – und kehren nun mit<br />

Macht zurück. Der tiefe Schock des Westens<br />

über den Krieg in der Ukraine hat<br />

zu einer sehr viel stärkeren Geopolitisierung<br />

der Wirtschaftsbeziehungen geführt.<br />

Wir beobachten, dass immer mehr<br />

Länder versuchen, sogenannte kritische<br />

Abhängigkeiten in ihren Wirtschaftsbeziehungen<br />

zu reduzieren. Risiken der<br />

<strong>Globalisierung</strong> werden neu evaluiert,<br />

die Abhängigkeit von Rohstoffmärkten<br />

wo immer möglich drastisch reduziert.<br />

Lange Zeit hatten wir Angst davor, dass<br />

alle Lebensbereiche ökonomisiert werden.<br />

Seit der Finanzkrise 2008/2009 erleben<br />

wir stattdessen eher eine Politisierung<br />

aller Lebensbereiche. Der Staat soll sich<br />

kümmern. Der Staat soll für Sicherheit<br />

in einer zunehmend als unsicher erlebten<br />

Welt sorgen.<br />

10 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Der Westen nutzt immer gezielter die<br />

Finanzmärkte als Sanktionswaffe.<br />

So sprach man bezeichnenderweise<br />

beim Ausschluss Russlands aus dem<br />

SWIFT-System martialisch von der<br />

„nuklearen Option“. Statt Wandel durch<br />

Handel wird Handel also immer öfter<br />

als Disziplinierungsmittel gesehen. Ein<br />

Beispiel: Bei der ersten Russlandresolution<br />

der UN enthielt sich Bangladesch<br />

der Stimme. Litauen verweigerte im Anschluss<br />

Bangladesch eine bereits zugesagte<br />

Tranche von knapp einer halben<br />

Million Corona-Impfdosen. Der zweiten<br />

Resolution gegen Russland stimmte das<br />

südasiatische Land zu.<br />

Letztendlich schlägt sich das in höheren<br />

Kosten nieder. Das ist der Preis<br />

der Freiheit, glaubt die Sinologin Cora<br />

Jungbluth: „Es läuft darauf hinaus, dass<br />

die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />

künftig nicht mehr voll ausgeschöpft<br />

werden. Vor dem Hintergrund<br />

von drohenden hin zu realen Systemkonflikten<br />

ist das eben der politische<br />

Preis. Denn mit Abhängigkeiten geht<br />

immer eine potenzielle politische Erpressbarkeit<br />

einher.“<br />

2. Blockhandel statt Welthandel?<br />

Thieß Petersen von der Bertelsmann<br />

Stiftung sagt im Interview: „Immer<br />

mehr Länder schauen bei ihren außenwirtschaftlichen<br />

Beziehungen nicht<br />

mehr nur auf wirtschaftliche Aspekte,<br />

sondern auch auf geopolitische Erwägungen.<br />

Ein Beispiel dafür war unter<br />

Donald Trump der Handelskonflikt zwischen<br />

den USA und China. Da ging es<br />

vordergründig um Handelsbilanz und<br />

Ungleichgewichte. In Wirklichkeit ging<br />

es aber um die Frage: Wer übernimmt<br />

die weltweite Technologieführerschaft<br />

in wichtigen Bereichen? Technologieführerschaft<br />

ist nämlich die Basis für<br />

wirtschaftliche Stärke, und wirtschaftliche<br />

Stärke ist die Basis für politische<br />

und militärische Stärke. Strafzölle und<br />

Sanktionen werden deshalb an Bedeutung<br />

gewinnen.“ Die internationalen<br />

Konsequenzen werden vielfältig sein:<br />

Handelskonflikte, der Austritt aus internationalen<br />

Organisationen oder die Kündigung<br />

internationaler Abkommen und<br />

vor allem die Weigerung, gemeinsam an<br />

der Fortentwicklung einer neuen Weltordnung<br />

mitzuwirken.<br />

Beide Blöcke werden sich teilweise gegeneinander<br />

abschotten und um Randgebiete<br />

konkurrieren – aktuell in Osteuropa,<br />

künftig womöglich in Taiwan,<br />

davon ist auch der wirtschaftspolitische<br />

Journalist Henrik Müller überzeugt.<br />

Im SPIEGEL schreibt er: „Der Handel<br />

zwischen den Blöcken wird Schaden<br />

nehmen, auch weil immer mehr Güterund<br />

Dienstleistungstransaktionen Wissen<br />

und Informationen („Intangibles“)<br />

enthalten und Datenströme nach sich<br />

ziehen. Lieferanten aus Ländern, die<br />

nicht die gleichen Werte teilen, kein vergleichbares<br />

Rechtssystem haben und als<br />

Gegner angesehen werden müssen, sind<br />

in der neuen Blockrealität keine vertrauenswürdigen<br />

Handelspartner mehr.“<br />

Außerdem werden sich durch die neue<br />

geostrategische Lage sicher auch globale<br />

Wertschöpfungsketten massiv verändern.<br />

Darauf werden Unternehmen<br />

reagieren müssen, und Investoren werden<br />

sich die Frage stellen: Für welche<br />

Unternehmensteile können wir langfristig<br />

der beste Eigentümer sein? Henrik<br />

Müller glaubt, dass globale Konzerne<br />

mit feingliedrigen, weltumspannenden<br />

Wertschöpfungsketten nicht mehr in die<br />

kommende Zeit passen werden. „Westliche<br />

Konzerne werden sich entweder aus<br />

Teilen der Welt zurückziehen oder je<br />

eigenständige Einheiten bilden müssen,<br />

die weitgehend losgelöst von der Zentrale<br />

agieren – mit begrenztem Austausch >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

11


<strong>Globalisierung</strong><br />

an Vorleistungen, Kapital und Wissen.“<br />

Vor allem für kleine und mittelständische<br />

Unternehmen ist das problematisch.<br />

3. Verfügbarkeit statt Effizienz<br />

Bisher war die Wirtschaftsordnung an<br />

Effizienz orientiert. Henrik Müller sagt:<br />

„Unternehmen reagierten sensibel auf<br />

Preis- und Kostendifferenziale. Nun aber<br />

werden viele Güter so knapp, dass es vor<br />

allem um Mengen geht: um die reine<br />

Verfügbarkeit knapper Güter, fast egal<br />

zu welchem Preis – von Weizen über<br />

Erdgas bis zu Neon für die Chipproduktion.“<br />

Die zunehmende Hyper-Spezialisierung<br />

und der Handel über immer tiefere<br />

Wertschöpfungsketten bieten unbestritten<br />

Effizienzvorteile, sind aber sehr<br />

störungsanfällig. Darin unterscheidet<br />

sich im Grunde eine Monokultur in der<br />

Landwirtschaft wenig von einer graduierten<br />

Lieferkette. Schon seit einigen<br />

Jahren kann man beobachten, dass viele<br />

international agierende Unternehmen<br />

begonnen haben, ursprünglich komplett<br />

nach Asien ausgelagerte Produktionen<br />

zurückzuholen, umzuverteilen oder so<br />

umzustellen, dass sie nicht in Realzeit<br />

von der Lieferung abhängig sind. Thieß<br />

Petersen bemerkt, dass die „bisherige<br />

<strong>Globalisierung</strong>, die sich an der maximalen<br />

betriebswirtschaftlichen Effizienz<br />

orientiert hat, wie etwa Just-in-time-<br />

Produktionen mit nur einem weltweiten<br />

Anbieter, schon durch die Corona-Pandemie<br />

ins Wanken gekommen ist. Von<br />

diesem <strong>Globalisierung</strong>smodell werden<br />

wir uns verabschieden. In Zukunft werden<br />

die Unternehmen wieder verstärkt<br />

mit mehreren Zulieferern arbeiten.“<br />

Seitdem <strong>Globalisierung</strong> immer öfter<br />

auch unter geostrategischen Risiken<br />

betrachtet wird, beschäftigen sich Politiker:innen<br />

mit systematischen Kriterien,<br />

welche kritischen Abhängigkeiten reduziert<br />

werden müssen. Eine Richtgröße<br />

in der Diskussion scheint zu sein, dass<br />

die Versorgung nicht zu mehr als einem<br />

Drittel von einem Anbieter bzw. einer<br />

Anbieterin abhängen darf. Bei der Neuausrichtung<br />

der Verteilwege sollen die<br />

bisher ungeliebten Freihandelsabkommen<br />

eine Schlüsselrolle einnehmen.<br />

4. Demokratien vs. Autokratien?<br />

Immer drängender stellt sich heute die<br />

Frage: Sind unsere Strukturen in den<br />

westlichen Demokratien zu langsam,<br />

um die Krisen zu meistern? Machen<br />

das autoritäre Systeme nicht besser? –<br />

Da wird nicht lange debattiert, sondern<br />

durchregiert. Die Biden-Administration<br />

setzt gezielt auf das alte Schema des<br />

Kalten Krieges von Gut gegen Böse, um<br />

die Beziehungen zwischen den Großmächten<br />

zu definieren. Heute liest sich<br />

das als Demokratie gegen Autokratie –<br />

diese Biden-Formel ist verlockend, aber<br />

zu simpel. Es geht um Hegenomie, sagt<br />

Professor Werner Widuckel: „Hegemonie<br />

bedeutet Vorherrschaft. Es geht also<br />

um die Frage, wer letztendlich als Macht<br />

oder Machtblock geostrategisch bestimmt,<br />

wie eine Weltordnung aussieht<br />

bzw. welche Werteorientierung letztlich<br />

herrscht. Hier wird sichtbar, dass das<br />

Modell von westlicher Demokratie, Menschenrechten<br />

und Rechtsstaatlichkeit<br />

sich nicht automatisch durchsetzt, sondern<br />

auch alternative Ordnungen dem<br />

entgegenwirken – insbesondere seitens<br />

Chinas und Russlands.“<br />

Bisher hat der Westen mehr Partner, sei<br />

es in politisch-militärischen Bündnissen<br />

oder internationalen Institutionen.<br />

Aber diese westlich geprägte internationale<br />

Ordnung – sie zeigt sich gerade<br />

in multilateralen Abkommen zu Klimaschutz<br />

und Menschenrechten – erodiert<br />

schon seit Jahren. „China suchte bisher<br />

vor allem mit wirtschaftlichen Mitteln<br />

12 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

nach Einfluss. Das könnte sich ändern“,<br />

glaubt Henrik Müller. Und darin liegen<br />

Konfliktpotenziale. Phasen des hegemonialen<br />

Übergangs von der absteigenden<br />

zu einer aufsteigenden Macht sind nämlich<br />

immer Phasen der Fragmentierung<br />

der Welt und damit potenziell konfliktreich.<br />

Dabei wird uns seltener das Gut-gegen-Böse-Narrativ<br />

von Joe Biden begegnen.<br />

„Pessimistischerweise deutet vieles<br />

darauf hin, dass die postglobalisierte<br />

Weltordnung ein Wettstreit zwischen<br />

dem Modell der liberalen Demokratie<br />

und dem der gelenkten Demokratie (managed<br />

democracies) sein wird“, glaubt<br />

der <strong>Globalisierung</strong>sautor Michael O'Sullivan.<br />

„Gelenkte Demokratien“ sind in<br />

immer mehr Ländern im Aufwind. Die<br />

Zahl der freien Demokratien geht dagegen<br />

nachweislich zurück. Im globalen<br />

Süden wächst die Wahrnehmung, dass<br />

die Ideen einer liberalen Demokratie<br />

möglicherweise nur etwas für den Westen<br />

seien. Die tiefe Zerstrittenheit in einigen<br />

westlichen Gesellschaften, insbesondere<br />

die USA, wird hierfür als Beleg<br />

und abschreckendes Beispiel herangezogen.<br />

Vielleicht ist Bidens Narrativ daher<br />

eher eine Chiffre, um die inneren Konflikte<br />

in der US-Gesellschaft zuzuschütten?<br />

Äußere Feinde waren dafür schon<br />

immer gut.<br />

5. Multipolar statt multilateral<br />

Globale multilaterale Institutionen wie<br />

die Vereinten Nationen oder auch die<br />

Europäische Union haben in den letzten<br />

Jahren enorm an Bindekraft verloren.<br />

Erleben wir durch den Ukraine-Krieg<br />

jetzt eine Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten?<br />

Reicht das, um die Ursachen<br />

für den Attraktivitätsverlust wettzumachen?<br />

Die derzeitigen globalen Krisen werden<br />

voraussichtlich zu einer neuen Fragmentierung<br />

von noch nicht absehbarer<br />

Intensität und Dauer führen. Das hat<br />

strukturelle, institutionelle und ideologische<br />

Ursachen. In dieser Situation<br />

bräuchte es starke Institutionen. Dass<br />

nationale Zentralbanken oder auch die<br />

veralteten Instrumente wie Weltbank,<br />

Internationaler Währungsfonds oder<br />

Welthandelsorganisation diese Lücke<br />

schließen können, ist unwahrscheinlich.<br />

Lukas Menkhoff warnt: „Auch der Multilateralismus<br />

wird davon begünstigt,<br />

dass es stärkere Spieler gibt, die die Institutionen<br />

zusammenhalten. Das wird<br />

künftig schwieriger. Unsere Welt ist<br />

multipolar, und ob multipolar und multilateral<br />

gut miteinander harmonieren,<br />

haben wir noch nicht wirklich ausprobiert.“<br />

Diese Unterschiede kommen in den Verhandlungen<br />

zum Ausdruck, die auf verschiedenen<br />

Wegen geführt werden, erläutert<br />

Aditi Sara Verghese, Leiterin der<br />

Arbeitsgruppe Welthandel beim World<br />

Economic Forum (WEF) in Davos. Einige<br />

Verhandlungsansätze sind „multilateral“,<br />

d. h. alle Mitglieder sind beteiligt,<br />

und andere sind „plurilateral“, d. h. einige<br />

Länder kommen auf der Grundlage<br />

gemeinsamer Interessen voran.<br />

Die derzeitigen<br />

globalen Krisen<br />

werden voraussichtlich<br />

zu einer neuen<br />

Fragmentierung von<br />

noch nicht absehbarer<br />

Intensität und Dauer<br />

führen.<br />

„Ein schönes Beispiel sind die Entwicklungsbanken,<br />

die China initiiert, weil es<br />

unzufrieden ist mit seiner Rolle in den<br />

bestehenden Institutionen. In den klassischen<br />

Bretton-Woods-Institutionen wie<br />

Weltbank und Internationalem Währungsfonds<br />

dominieren die Amerikaner<br />

und Europäer“, erläutert Menkhoff. „Wir<br />

finden das normal, weil es immer so war<br />

und wir große Geldgeber sind. Aber andere<br />

Länder finden das natürlich überhaupt<br />

nicht normal und auch nicht gut.<br />

Deshalb gründet China konkurrierende<br />

Institutionen. Indien wird einen ähnlichen<br />

Weg wie China beschreiten. In gewisser<br />

Weise sind wir das selbst schuld,<br />

wenn es uns nicht gelingt, die neuen >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

13


<strong>Globalisierung</strong><br />

globalen Realitäten zur Kenntnis zu<br />

nehmen und in passende institutionelle<br />

Arrangements zu überführen.“<br />

6. Was ist Chinas Rolle?<br />

Schon seit der Obama-Administration<br />

ist die US-Politik damit beschäftigt, das<br />

Ende des amerikanischen Jahrhunderts<br />

und die Grundlagen einer multipolaren<br />

Welt voranzutreiben. Dazu gehört grundsätzlich<br />

auch eine Abkehr von der Rolle<br />

des „Weltpolizisten“. In der „American<br />

Decline“-Debatte steht China im Fokus.<br />

Seit der Öffnung des Landes im Jahre<br />

1978 hat China einen welthistorisch und<br />

vor allem ökonomisch einmaligen Aufstieg<br />

erlebt. Ulrich Menzel sagt: „Wenn<br />

China ein zehnprozentiges Wachstum<br />

erfährt, dann wachsen auch die Staatseinnahmen<br />

und die Militärausgaben um<br />

zehn Prozent jährlich. China stellt also<br />

nicht nur die Position der USA als wirtschaftliche<br />

Führungsmacht, sondern<br />

perspektivisch auch ihren Status als internationale<br />

Ordnungsmacht infrage.“<br />

Als potenzieller Nachfolger der USA als<br />

globaler Hegemon stellen sich für China<br />

weitreichende Fragen. Bisher konnte das<br />

Reich der Mitte als „Trittbrettfahrer“ von<br />

einer westlichen Handelsordnung nutznießen,<br />

ohne sich an den Kosten der Bereitstellung<br />

dieser internationalen Ordnung<br />

zu beteiligen. Menzel: „Gleichzeitig<br />

profitierte die chinesische Wirtschaft<br />

wie keine andere vom Liberalismus der<br />

USA: Ohne den riesigen und für sie wichtigsten<br />

amerikanischen Absatzmarkt<br />

wäre das chinesische Industrie- und<br />

Exportwunder nicht denkbar gewesen.“<br />

Wenn China jetzt die Führungsrolle der<br />

USA übernimmt, muss es künftig auch<br />

für die Kosten der internationalen Ordnung<br />

aufkommen, also insbesondere für<br />

Sicherheit und Stabilität.<br />

Chinas Ausweg aus diesem Dilemma besteht<br />

darin, dass es nicht plant, die USA<br />

aus ihrer kostspieligen Rolle als globale<br />

Führungsmacht zu entlassen. Vielmehr<br />

fokussiert sich China auf die Bereitstellung<br />

einer Ordnung innerhalb ihrer<br />

Einflusszone. Chinas Modell ist ein Club<br />

von Staaten, die sich den Regeln Pekings<br />

unterwerfen. Deutlich sieht man diese<br />

Strategie bei der Entwicklung der Neuen<br />

Seidenstraße, wo durch den Bau von Infrastrukturen<br />

wie Eisenbahnen, Straßen,<br />

Pipelines, Stromtrassen und großzügige<br />

Kreditvergaben entsprechende Loyalitäten<br />

aufgebaut werden. Ulrich Menzel<br />

weist in diesem Zusammenhang auf die<br />

historische Analogie zum Tributsystem<br />

der Ming-Periode Anfang des 15. Jahrhunderts<br />

hin.<br />

7. Sternstunde der Populisten?<br />

Das eigentliche Problem beim derzeitigen<br />

hegemonialen Übergang von einer<br />

US-geführten multilateralen Ordnung<br />

hin zu einer multipolaren Ordnung besteht<br />

darin, dass die Situation für die<br />

USA einerseits eine Entlastung und Befreiung<br />

ist. Man muss nicht mehr die „politische<br />

Drecksarbeit“ machen, während<br />

die eigenen Alliierten nur zuschauen.<br />

Andererseits bedeutet der Abschied vom<br />

Hegemonialen auch einen Statusverlust.<br />

Mindestens drei große geistige Strömungen<br />

beobachtet der Historiker Hans von<br />

Trotha im Deutschlandfunk-Essay seit<br />

Beginn des Jahrtausends: Da sind „ein<br />

vulgärer Nationalismus, die Aufwertung<br />

der Privatsphäre zum politischen<br />

Raum für politisch nicht repräsentierte<br />

Gruppen und schließlich ein politischer<br />

Irrationalismus, dessen offensichtlichster<br />

Vertreter Donald Trump ist.“<br />

Besonders in den USA machen sich die<br />

Folgen des Aufstiegs Chinas bemerkbar:<br />

Während sich im „Rostgürtel“ der USA<br />

und auf dem Land die Verlierer der <strong>Globalisierung</strong><br />

und Deindustrialisierung<br />

sammeln, erleben die Städter an den<br />

Küsten eine goldene Ära der Möglich-<br />

14 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

keiten. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum<br />

Berlin schreibt im Tagesanzeiger:<br />

„Der politische Wettbewerb<br />

ist in Europa wie Nordamerika zweidimensional<br />

geworden. Auf dem einen Pol<br />

der kulturellen Konfliktlinie befinden<br />

sich die mit hohem Human- und Sozialkapital<br />

ausgestatteten akademisierten<br />

neuen Mittelschichten. Sie leben urban,<br />

sind ökonomisch privilegiert, folgen<br />

einem kosmopolitischen Weltbild. Sie<br />

legen Wert auf gendergerechte Sprache<br />

und Klimapolitik. Ökonomisch zählen<br />

sie zu den Begünstigten. Am anderen<br />

Pol der Konfliktachse sammeln sich die<br />

Kommunitaristen. Sie verfügen über einen<br />

geringeren formalen Bildungsgrad,<br />

befürworten einen starken Nationalstaat,<br />

von dem sie strikte Migrationskontrolle,<br />

sozialen Schutz und finanzielle<br />

Förderung erwarten.“<br />

Ulrich Menzel sagt: „Mit griffigen Slogans<br />

wie ‚America first‘ und ‚Make<br />

America great again‘ bestimmen die<br />

Trumpisten seither den Anti-<strong>Globalisierung</strong>sdiskurs<br />

– und bezeugen damit die<br />

Dialektik einer <strong>Globalisierung</strong>spolitik,<br />

die sich nun gegen ihr altes Machtzentrum<br />

kehrt. Trotz der Abwahl Trumps<br />

dürften Hoffnungen auf ein Zurück zur<br />

Hegemonie des globalisierungsfreundlichen<br />

Paradigmas vergebens bleiben.<br />

Auch die jetzige Biden-Administration<br />

muss den strukturellen Faktoren Rechnung<br />

tragen und wird keineswegs alles,<br />

was in der Trump-Ära an Antiglobalisierungspolitik<br />

betrieben wurde, wieder<br />

rückgängig machen können.“ ■<br />

#FaireLieferketten<br />

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zum neuen<br />

Lieferkettengesetz<br />

Das neue Lieferkettengesetz verpflichtet große<br />

Unternehmen in Deutschland ab 2023, auf<br />

die Einhaltung von Menschenrechten in ihren<br />

Lieferketten zu achten. Faire Arbeits- und<br />

Lebensbedingungen von Menschen weltweit<br />

zu fördern, ist Chance und Herausforderung<br />

zugleich.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

Die Bundesregierung unterstützt Sie<br />

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15


<strong>Globalisierung</strong><br />

DUNKLE WOLKEN FÜR<br />

DEN WELTHANDEL<br />

Grafiken: NicoElNino / aepsilon / stock.adobe.com<br />

<strong>Globalisierung</strong> bedeutete<br />

lange Zeit, dass die Welt<br />

zusammenwächst. Jetzt<br />

zerfällt sie wieder in Einflusssphären.<br />

Daher drängen alle<br />

darauf, sich von kritischen<br />

Geschäftspartnern unabhängig<br />

zu machen. Das eröffnet<br />

Chancen: Wer seine Wirtschaft<br />

als erster von nichterneuerbaren<br />

Rohstoffen frei<br />

bekommt, hat die Nase vorn.<br />

UmweltDialog: In den letzten Jahren haben wir beim Thema<br />

<strong>Globalisierung</strong>skritik häufig über eher funktionale Missstände<br />

geredet. Angesichts der Ukraine-Krise steht das ganze Gebilde<br />

strukturell zur Diskussion zu. Was macht der Ukraine-Krieg mit<br />

der <strong>Globalisierung</strong>?<br />

Thieß Petersen: Ich glaube, dass die bisherige <strong>Globalisierung</strong>,<br />

die sich an der maximalen betriebswirtschaftlichen Effizienz<br />

orientiert hat wie etwa Just-in-time-Produktionen mit nur einem<br />

weltweiten Anbieter, schon durch die Corona-Pandemie<br />

ins Wanken gekommen ist. Von diesem <strong>Globalisierung</strong>smodell<br />

werden wir uns verabschieden. In Zukunft werden die Unternehmen<br />

wieder verstärkt mit mehreren Zulieferern arbeiten.<br />

Wir werden vielleicht auch Teile der Produktion ins eigene<br />

Land zurückholen, wobei uns dann klar sein muss, dass dies<br />

teurer wird, weil wir bewusst auf Vorteile der internationalen<br />

Arbeitsteilung verzichten.<br />

Hinzu kommt, dass immer mehr Länder bei ihren außenwirtschaftlichen<br />

Beziehungen nicht mehr nur auf wirtschaftliche<br />

Aspekte schauen, sondern auch auf geopolitische Erwägungen.<br />

Ein Beispiel dafür war unter Donald Trump der Handelskonflikt<br />

zwischen den USA und China. Da ging es vordergründig<br />

um Handelsbilanz und Ungleichgewichte. In Wirklichkeit<br />

ging es aber um die Frage: Wer übernimmt die weltweite<br />

16 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Technologieführerschaft in wichtigen<br />

Bereichen? Technologieführerschaft ist<br />

nämlich die Basis für wirtschaftliche<br />

Stärke, und wirtschaftliche Stärke ist<br />

die Basis für politische und militärische<br />

Stärke. Deshalb glaube ich das, dass wir<br />

zu Beginn einer Zeit stehen, wo handelsbeschränkende<br />

Maßnahmen – sei es<br />

Subventionen für die eigenen Unternehmen,<br />

Strafzölle oder Sanktionen – an Bedeutung<br />

gewinnen werden. Die Zeit, in<br />

der Handelsbeschränkungen abgebaut<br />

wurden, ist vorbei. Wir werden in Zukunft<br />

verstärkt protektionistische Maßnahmen<br />

sehen.<br />

Cora Jungbluth: Mein Eindruck ist<br />

auch, dass wir eine sehr viel stärkere<br />

Geopolitisierung der Wirtschaftsbeziehungen<br />

sehen werden. Wir beobachten,<br />

dass immer mehr Länder versuchen,<br />

sogenannte kritische Abhängigkeiten in<br />

ihren Wirtschaftsbeziehungen zu reduzieren.<br />

Sei es Abhängigkeiten von Energieträgern<br />

wie Kohle, Öl und Gas oder<br />

auch Technologien wie Halbleiter oder<br />

Mikrochips, die für die digitale Transformation<br />

besonders relevant sind. Die Regierungen<br />

sind auch zunehmend bereit,<br />

die Mehrkosten dafür zu tragen.<br />

Das läuft natürlich darauf hinaus, dass<br />

die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />

künftig nicht mehr voll ausgeschöpft<br />

werden. Vor dem Hintergrund,<br />

dass wir uns von einem drohenden hin<br />

zu einem realen Systemkonflikt zwischen<br />

Demokratien auf der einen Seite<br />

und Autokratien auf der anderen Seite<br />

bewegen, ist das eben der politische<br />

Preis. Denn mit Abhängigkeiten geht<br />

immer eine potenzielle politische Erpressbarkeit<br />

einher.<br />

Ich habe manchmal den Eindruck, korrigieren<br />

Sie mich gerne, als ob China das<br />

Politische am Handel schon immer mitgedacht<br />

hat – Stichwort Neue Seidenstraße<br />

– während wir da vielleicht etwas naiv<br />

waren?<br />

Jungbluth: Die EU hat begonnen, ihre<br />

Außenbeziehungen neu auszurichten.<br />

Aber relativ spät, wenn man sich China<br />

im Vergleich anschaut. Die Seidenstraße-Initiative<br />

oder Made in China 2025<br />

zeigen, dass China eine langfristige Strategie<br />

verfolgt. China hat den Plan, bis<br />

2049 weltgrößte Supermacht zu werden.<br />

Von solchen langfristigen Perspektiven<br />

sind wir in der EU weit entfernt. Aber<br />

es gibt ein neues Verständnis dafür, dass<br />

Wirtschaftsbeziehungen und Geopolitik<br />

stärker und langfristiger zusammengedacht<br />

werden müssen. 2019 hat die<br />

EU ein neues Strategiepapier zu China<br />

herausgegeben, worin sie erstmals die<br />

Rivalität anerkannt hat. Und seitdem<br />

werden immer mehr Instrumente entwickelt,<br />

um mit der politischen Erpressbarkeit<br />

umzugehen, die China und andere<br />

Länder immer offensiver an den Tag<br />

legen. Aber es ist noch eine relativ neue<br />

Entwicklung, und insofern ist die EU da<br />

noch nicht so optimal aufgestellt.<br />

Herr Petersen, denken wir dann zukünftig<br />

wieder in Blöcken?<br />

Petersen: Eine ganz entscheidende Frage<br />

ist, wie sich die weltweite Arbeitsteilung<br />

nach dem Ukraine-Konflikt weiterentwickelt.<br />

Das kann jetzt niemand<br />

seriös vorhersagen. Wenn es darauf hinausläuft,<br />

dass die Wirtschaftsbeziehungen<br />

zwischen den USA und Europa auf<br />

der einen Seite und Russland auf der anderen<br />

Seite dauerhaft unterbrochen werden,<br />

dann wird es sicherlich eine stärkere<br />

Zusammenarbeit zwischen Russland<br />

und China geben. Dann werden wir<br />

tatsächlich zwei große Machtblöcke sehen.<br />

Auf der einen Seite demokratische<br />

Marktwirtschaften bestehend aus den<br />

USA, Europa, Japan, Südkorea, Ozeanien,<br />

Nord- und Südamerika. Und auf der<br />

anderen Seite autokratische Staaten wie<br />

China, Russland und deren Handelspartner.<br />

Aber kommt es wirklich dazu? China<br />

hätte dann weniger Exportchancen in<br />

Richtung USA und Europa. Russland ist<br />

bei aller Größe für China längst nicht so<br />

wichtig als Handelspartner wie eben die<br />

USA oder Europa. So ein Szenario hätte<br />

für alle Beteiligten Nachteile. Europäer<br />

und Amerikaner müssten dann auch<br />

auf preiswertere chinesische Produkte<br />

verzichten, Russland und China wiederum<br />

hätten nicht mehr den Zugriff auf<br />

moderne Technologien. Das wäre eine<br />

Entwicklung, bei der es eigentlich nur<br />

Verlierer gibt.<br />

Jungbluth: Zum jetzigen Zeitpunkt ist<br />

es wirklich ganz schwer, Perspektiven<br />

aufzuzeigen. Der Schlingerkurs, den<br />

China in der Ukraine-Krise fährt, zeigt<br />

aber auch, dass es noch nicht eindeutig<br />

ist mit der Blockbildung. Das ist gegenwärtig<br />

noch keine volle Allianz der Autokratien.<br />

Sobald China den Eindruck<br />

gewinnt, es könnte ins Fadenkreuz der<br />

westlichen Sanktionen geraten, sei es<br />

direkt oder indirekt, ist ein sehr großes<br />

Fragezeichen dahinter, ob sie sich<br />

auf Russlands Seite schlagen. Denn<br />

wie Thieß Petersen ja gesagt hat: Die<br />

gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen<br />

China und der EU und den USA<br />

sind wesentlich größer als die zwischen<br />

Russland und China. In konkreten Zahlen<br />

heißt das: Ein Viertel des gesamten<br />

chinesischen Außenhandels verteilt sich<br />

auf die EU und die USA, aber unter drei<br />

Prozent gehen auf Russland zurück.<br />

Und es wäre eine sehr asymmetrische<br />

Beziehung, weil Russland vor allem<br />

Rohstoffe liefert und darüber hinaus<br />

nicht viel zu bieten hat. Natürlich sind<br />

Rohstoffe wichtig für die Wirtschaftsentwickung<br />

in China, aber die sind auch<br />

substituierbar. Auch China will zunehmend<br />

erneuerbare Energien ausbauen,<br />

sodass sich eine Juniorpartnerschaft für<br />

Russland abzeichnen würde, wenn es<br />

zu dieser Allianz käme. Russland unter<br />

Putin macht jetzt nicht Eindruck, als ob<br />

man sich dort mit einer Juniorrolle zufrieden<br />

geben würde.<br />

Unternehmensvertreter sagen, dass dieses<br />

Entflechten von hochkomplexen Lieferketten<br />

gar nicht so schnell geht. Das braucht<br />

Zeit und Geduld – und die scheinen weder<br />

Politik noch Öffentlichkeit zu haben.<br />

Petersen: Was wir hier besprochen<br />

haben, ist eher die Lehrbuch-Öko-<br />

>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

17


<strong>Globalisierung</strong><br />

“<br />

Zumal Klimaneutralität<br />

eigentlich im<br />

Interesse aller<br />

Staaten liegen<br />

sollte, weil es<br />

eben nur einen<br />

Planeten gibt.<br />

Dr. Cora Francisca Jungbluth<br />

nomie, aber tatsächlich ist es natürlich<br />

so, dass es in den Lieferketten durch<br />

jahrelange Just-in-time-Produktion Verflechtungen<br />

gibt, die nicht so schnell<br />

aufgehoben oder ersetzt werden können.<br />

Für Unternehmer ist das tatsächlich<br />

ein ganz großes Problem: Ich habe<br />

vielleicht nur einen Zulieferer, und der<br />

sitzt in China. Der ist möglicherweise<br />

sogar so eine Art Monopolist. Wie will<br />

man so eine Situation ändern? In volkswirtschaftlichen<br />

Modellen gehen wir<br />

einfach davon aus, dass dies durch Vorleistungen<br />

anderer Anbieter substituiert<br />

wird und ein Anpassungsprozess an<br />

neue Zulieferer stattfindet. In der Realität<br />

ist das wesentlich schwieriger. Für<br />

die betroffenen Unternehmen kommt es<br />

zu ganz harten Unterbrechungen, von<br />

denen niemand weiß, wie man das betriebswirtschaftlich<br />

auffängt.<br />

Jungbluth: Ein Vorhaben, das dann vorangetrieben<br />

wird, ist, lokale Produktion<br />

aufzubauen. Was brauchen wir in der EU,<br />

um bestimmte Schlüsseltechnologien<br />

zu produzieren? Wo beziehen wir die<br />

Vorprodukte und Rohstoffe her? Welche<br />

von den Ländern, die dahinter stehen,<br />

sind möglicherweise Autokratien, die<br />

uns politisch erpressen könnten? Kann<br />

man diese Bestandteile der Lieferkette<br />

zurückholen – sei es nach Deutschland,<br />

nach Europa oder in sogenannte gleichgesinnte<br />

Länder? Im Endeffekt sind die<br />

kurzfristigen Folgen aber erhöhte Produktionskosten<br />

und damit höhere Preise<br />

für die Verbraucher.<br />

Was ich da auch noch sehe, ist der Umgang<br />

mit möglichen Doppelstandards.<br />

Wenn sich Unternehmen durch die<br />

Abkopplungstendenzen in der einen<br />

Hemisphäre der einen Sorte Standards<br />

unterwerfen müssen, und in der anderen<br />

Hemisphäre den anderen Standards.<br />

Dann werden wir im Prinzip in Zukunft<br />

zwei Schienen der <strong>Globalisierung</strong> betreiben<br />

müssen, und auch das geht für<br />

Unternehmen natürlich einher mit erhöhten<br />

Kosten. Vor allem für kleine und<br />

mittelständische Unternehmen ist das<br />

problematisch.<br />

Wir haben in den vergangenen 20 Jahren<br />

intensiv über die Welthandelsorganisation<br />

WTO Regeln und Urheberrechte vereinbart<br />

– immer mit dem Gedanken, ein<br />

level playing field zu schaffen. In Ihrem<br />

Szenario zerbricht diese Ordnung.<br />

Jungbluth: In einer idealen Welt ist es<br />

natürlich wünschenswert, die Welthandelsorganisation<br />

als multilaterale Organisation,<br />

an der möglichst viele Länder<br />

beteiligt sind, wieder vollständig in ihrer<br />

Funktionsfähigkeit herzustellen. Das ist<br />

gegenwärtig aber überhaupt nicht absehbar,<br />

wann und ob das je wieder sein<br />

wird. Dann gibt es die zweitbeste Lösung:<br />

Das sind bilaterale und regionale<br />

Handelsabkommen, wo zumindest eine<br />

größere Anzahl an Ländern oder Wirtschaftsregionen<br />

zusammenkommen<br />

und sich auf gemeinsame Standards<br />

und Handelsbedingungen einigen. Das<br />

ist etwas, was die EU zum Beispiel im<br />

Asien-Pazifik-Raum gerade vorantreibt.<br />

Damit einher gehen eben auch Arbeitsrechte,<br />

Sozial- und Umweltstandards.<br />

Sie sind bei einem modernen Freihandelsabkommen<br />

mittlerweile Standard,<br />

und das ist eine Möglichkeit für die EU,<br />

diese Spielregeln zu exportieren und<br />

dafür zu sorgen, dass in Regionen oder<br />

Ländern, die ein Freihandelsabkommen<br />

mit der EU anstreben, diese Standards<br />

auch gewährleistet sind.<br />

Das Pariser Klimaabkommen ist auch als<br />

globales Thema definiert worden, ist auch<br />

global ratifiziert worden, kann eigentlich<br />

auch nur global gelöst werden. Wie passt<br />

das dann noch in die Zeit?<br />

Petersen: Es wird tatsächlich schwierig,<br />

da eine Lösung hinzukommen. Dafür<br />

bräuchten wir eigentlich einen weltweit<br />

geltenden CO2-Preis, aber der ist<br />

für mich momentan absolut utopisch.<br />

Ein Weg dahin könnte ein sogenannter<br />

Klima-Club sein, bei dem sich verschiedene<br />

Länder zusammenschließen und<br />

sich auf einen gemeinsamen höheren<br />

CO2-Preis einigen. Dafür braucht man<br />

allerdings eine große Anzahl von Partnerländern.<br />

Wenn jetzt die EU und die<br />

18 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

USA sagen, wir einigen uns auf so einen<br />

Club, dann könnte das schon ein starkes<br />

Signal sein. Der Vorteil wäre nämlich,<br />

dass die Mitgliedstaaten ihre Güter<br />

und Dienstleistungen ohne Handelsbeschränkungen<br />

tauschen können. Und<br />

Staaten, die nicht Mitglied des Clubs<br />

sind, müssten entsprechende CO2-Importzölle<br />

bezahlen. So könnte ich mir<br />

einen Anreiz vorstellen.<br />

Jungbluth: Zumal Klimaneutralität<br />

eigentlich im Interesse aller Staaten<br />

liegen sollte, weil es eben nur einen<br />

Planeten gibt. Hier muss international<br />

an einem Strang gezogen werden.<br />

Die meisten Staaten weltweit haben<br />

ja mittlerweile auch Klimaneutralitätsziele.<br />

Meine Befürchtung<br />

ist aber, dass gerade die<br />

Entwicklung mit dem Krieg<br />

in der Ukraine und die sich<br />

aufdrängende Frage nach<br />

einer Blockbildung diese<br />

Klimaschutzziele stärker<br />

in den Hintergrund rücken<br />

lassen. Zumindest kurzfristig<br />

stellt sich im Fall Chinas<br />

zum Beispiel die Frage, ob<br />

hier Kohle dann doch noch<br />

weiter eine größere Rolle spielt.<br />

Auch China will nicht abhängig von russischem<br />

Gas werden, und erneuerbare<br />

Energien werden ausgebaut. Aber das<br />

geht nur langsam voran.<br />

Petersen: Und dazu eine kleine positive<br />

Anmerkung: Wenn es jetzt tatsächlich<br />

dazu kommt, dass die USA<br />

und Europa für sich entscheiden, die<br />

Klimaneutralität ernsthaft anzugehen<br />

und entsprechend mit höheren CO2<br />

Preisen arbeiten, heißt es ja, dass perspektivisch<br />

grüne Produkte und grüne<br />

Technologien ein entscheidender Wettbewerbsvorteil<br />

sind. Dann wird es aus<br />

meiner Sicht aber auch immer schwieriger,<br />

mit schmutzigen Produkten noch zu<br />

punkten. Insofern könnte die negative<br />

Erfahrung mit Russland auch noch mal<br />

ein zusätzlicher Push sein, verstärkt<br />

die ökologische Transformation voranzutreiben,<br />

weil sie eben nicht nur dem<br />

Klimaschutz dient, sondern auch die<br />

Abhängigkeit reduziert.<br />

Wir haben heute drei riesen Baustellen:<br />

Die erste Großbaustelle ist der EU Green<br />

Deal, also die klimaneutrale Transformation<br />

der Wirtschaft in Europa. Die zweite<br />

Baustelle ist der Wiederaufbau nach Corona,<br />

und die dritte Baustelle ist jetzt die<br />

geopolitische, über die wir gerade gesprochen<br />

haben. Wie realistisch ist das, dass<br />

wir alle drei gut umsetzen können?<br />

Jungbluth: Im Prinzip greifen die Fragen<br />

nach der Geopolitik und grüner<br />

Transformation in gewisser Weise ineinander.<br />

Insofern könnte das Ziel, bestimmte<br />

kritische Abhängigkeiten zu<br />

reduzieren, wie zum Beispiel Gas, damit<br />

einhergehen, dass ein größerer Schritt<br />

in Richtung nachhaltige Transformation<br />

gemacht wird.<br />

Petersen: Ich kann mir vorstellen,<br />

dass die Unternehmen oder sogar die<br />

Volkswirtschaften, die die digitale und<br />

die ökologische Transformation erfolgreich<br />

hinbekommen, die Gewinner der<br />

Zukunft sind, weil nicht-erneuerbare<br />

Rohstoffe naturgemäß begrenzt sind,<br />

und irgendwann haben wir die nicht<br />

mehr. Dann werden grüne Produkte<br />

oder klimaneutrale Produkte und Produktionsverfahren<br />

aus meiner Sicht ein<br />

entscheidender Wettbewerbsvorteil für<br />

die Zukunft sein. Länder, die das zuerst<br />

hinbekommen, werden gewinnen. Und<br />

umgekehrt: Länder, deren Wohlstand<br />

darauf basiert, weiterhin fossile Energien,<br />

also Erdöl, Erdgas und Kohle zu<br />

exportieren, werden verlieren.<br />

Wir danken Ihnen herzlich für das<br />

Gespräch! ■<br />

Dr. Cora Francisca Jungbluth<br />

ist studierte Sinologin und arbeitet<br />

als Senior Expert International<br />

Trade and Investment bei der<br />

Bertelsmann Stiftung.<br />

Dr. Thieß Petersen<br />

ist studierter Volkswirt und<br />

heute Senior Advisor für<br />

Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft<br />

bei der Bertelsmann Stiftung.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

19


<strong>Globalisierung</strong><br />

Mit Welthandel<br />

auch Weltanschauungen<br />

exportieren<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> macht<br />

eine Pause, sagt der<br />

Weltwirtschaftsexperte<br />

Lukas Menkhoff. Grund ist<br />

die wachsende Politisierung<br />

der Wirtschaft. Ob globale<br />

Herausforderungen auch in<br />

Zukunft noch globale<br />

Unterstützung finden, ist<br />

dabei offen. Menkhoff mahnt:<br />

„Ob multipolar und multilateral<br />

gut miteinander<br />

harmonieren, haben wir noch<br />

nicht wirklich ausprobiert.“<br />

20 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

UmweltDialog: Beginnen wir mit einer<br />

Begriffsbestimmung von <strong>Globalisierung</strong>!<br />

Das meint eigentlich keine singuläre Periode<br />

der Weltgeschichte, sondern verschiedene<br />

Phasen. Welches Bild von <strong>Globalisierung</strong><br />

haben Sie im Kopf?<br />

Prof. Dr. Lukas Menkhoff: Ich sehe<br />

<strong>Globalisierung</strong> als langanhaltenden Prozess<br />

seit dem 19. Jahrhundert. Wenn<br />

man das über so einen langen Zeitraum<br />

betrachtet, dann ist die <strong>Globalisierung</strong><br />

im Moment nicht zwingend beendet,<br />

sondern sie nimmt sich vielleicht eine<br />

Pause, und wir werden sehen, wie es<br />

dann weitergeht.<br />

Wie sieht diese Pause aus?<br />

Die Vorstellung, dass wir eine zunehmende<br />

Verflechtung in der Weltwirtschaft<br />

haben, ist seit gut zehn Jahren<br />

empirisch nicht mehr festzustellen,<br />

sondern in der Summe stagniert die<br />

internationale Verflechtung seit der Finanzkrise<br />

2008/2009. Jetzt ist die Frage:<br />

Woran liegt das? Die Antwort, glaube<br />

ich, lautet, dass wir seitdem ein stärkeres<br />

Maß an politisch verursachten Sanktionen<br />

und Protektionismus haben und<br />

damit den Außenhandel bremsen. Diese<br />

Entwicklung wird durch die Corona-Epidemie<br />

und aktuell den Ukraine-Krieg<br />

noch einmal verstärkt.<br />

Hinzu kommt, dass eine <strong>Globalisierung</strong>sentwicklung<br />

nicht unendlich<br />

weitergetrieben werden kann. Es wird<br />

immer Wertschöpfung geben, die nur<br />

im jeweiligen Land erbracht werden<br />

kann wie zum Beispiel lokale Dienstleistungen.<br />

Außerdem gibt es technische<br />

Grenzen: Containerschiffe können<br />

nicht beliebig groß werden. Dies ist ein<br />

Beispiel für sinkende Grenzerträge der<br />

<strong>Globalisierung</strong>, weil die Kostensenkung<br />

im internationalen Handel nicht im bisherigen<br />

Tempo fortgeschrieben wird.<br />

Foto: vchalup / stock.adobe.com<br />

Kostensenkung ist ein gutes Stichwort.<br />

Lange haben wir – zumindest in Europa<br />

– <strong>Globalisierung</strong> rein betriebswirtschaftlich<br />

betrachtet. Wo kann ich was billiger<br />

produzieren? Mit Corona und dem Krieg<br />

kommen jetzt auch politische und >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

21


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: New Gary / stock.adobe.com<br />

Wir haben vielleicht stärker darauf vertraut,<br />

dass die multilaterale Weltordnung<br />

hält. Diese Ordnung ist aus unserer<br />

Sicht so schön, weil sie sehr stark<br />

nach unseren Vorstellungen gestaltet ist.<br />

Insbesondere Deutschland hat lange von<br />

der <strong>Globalisierung</strong> und der multilateralen<br />

Ordnung profitiert. Wie sehr wird uns die<br />

globale Veränderung treffen?<br />

Das wird davon abhängen, wie es weitergeht.<br />

Es ändert sich offensichtlich etwas<br />

in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik,<br />

und diese Änderungen sind nicht<br />

zu unserem Vorteil als Volkswirtschaft.<br />

Im Moment sind die Auswirkungen aber<br />

noch begrenzt. Deshalb bin ich verhalten<br />

optimistisch. Man kann sich an neue<br />

Gegebenheiten anpassen, und die Welt<br />

ist groß, so dass sich auch neue Möglichkeiten<br />

eröffnen können. Wenn man jetzt<br />

zum Beispiel den Fall Russland nimmt,<br />

dann sind die Wirkungen der bisherigen<br />

Sanktionen für die gesamte deutsche<br />

Volkswirtschaft nicht so dramatisch,<br />

wie es auf den ersten Blick erscheinen<br />

mag (für einzelne Unternehmen natürlich<br />

schon). Man wird sehen, wie schnell<br />

sich die Unternehmen anpassen.<br />

strategische Überlegungen mit in Betracht.<br />

Werden wir ab jetzt nicht mehr nur<br />

auf den Preis, sondern auch auf die Geopolitik<br />

schauen?<br />

Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen.<br />

Wenn man sich die Handelspolitik<br />

der USA oder die strategischen Entscheidungen<br />

von China anschaut, dann spielt<br />

Politik schon längere Zeit eine Rolle.<br />

Dort hat Handel jenseits der Ökonomie<br />

eine klare politische Dimension, und<br />

Entscheidungen zum Außenhandel werden<br />

auch als ein Instrument benutzt, um<br />

politisch etwas zu bewirken.<br />

Waren wir Europäer da lange Zeit zu naiv?<br />

“<br />

Nachhaltigkeit ist<br />

aufgrund des<br />

Klimawandels<br />

zwingend. Da<br />

muss noch mehr<br />

passieren, völlig<br />

egal, was sonst in<br />

der Welt los ist.<br />

Wie sehen Sie hierbei die Rolle Chinas?<br />

Manche werfen dem Land vor, bei globalen<br />

Herausforderungen in der Vergangenheit<br />

eher „Trittbrettfahrer“ gewesen zu<br />

sein. Wird China künftig offensiver auftreten?<br />

Trittbrettfahrer ist ein hartes Wort, aber<br />

klar: Sie haben asymmetrisch agiert.<br />

Das ist etwas, was man in einer Handelsordnung<br />

sich entwickelnden Ländern<br />

generell zugesteht. Sie werden anders<br />

behandelt als bereits entwickelte Länder.<br />

Bei den gegenwärtigen Wachstumsraten<br />

wird China künftig immer umfassender<br />

zu einer voll entwickelten Volkswirtschaft<br />

werden. Damit kommt das Land<br />

in eine andere Rolle, und das wissen die<br />

Entscheidungsträger. Ein schönes Beispiel<br />

sind die Entwicklungsbanken, die<br />

China initiiert, weil es unzufrieden ist<br />

mit seiner Rolle in den bestehenden Institutionen.<br />

In den klassischen Bretton-<br />

Woods-Institutionen wie Weltbank und<br />

Internationalem Währungsfonds dominieren<br />

die Amerikaner und Europäer.<br />

Wir finden das normal, weil es immer<br />

22 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

so war und wir große Geldgeber sind.<br />

Aber andere Länder finden das natürlich<br />

überhaupt nicht normal und auch nicht<br />

gut. Deshalb gründet China konkurrierende<br />

Institutionen.<br />

Indien wird einen ähnlichen Weg wie<br />

China beschreiten. In gewisser Weise<br />

sind wir das selbst schuld, wenn es uns<br />

nicht gelingt, die neuen globalen Realitäten<br />

zur Kenntnis zu nehmen und in<br />

passende institutionelle Arrangements<br />

zu überführen.<br />

Was muss sich in den multilateralen<br />

Organisationen ändern, damit sie die<br />

Herausforderungen unserer Zeit besser<br />

handhaben?<br />

Die Frage ist, ob sie überhaupt noch so<br />

funktionieren können wie in der Vergangenheit<br />

und wovon das Funktionieren<br />

solcher Institutionen abhängt. Ich<br />

finde es ein Stück weit plausibel zu sagen,<br />

dass auch Multilateralismus davon<br />

begünstigt wird, dass es stärkere Spieler<br />

gibt, die die Institutionen zusammenhalten<br />

und damit natürlich asymmetrisch<br />

Macht und Gestaltungsmöglichkeiten<br />

haben. Das wird künftig schwieriger.<br />

Unsere Welt ist multipolar, und ob multipolar<br />

und multilateral gut miteinander<br />

harmonieren, haben wir noch nicht<br />

wirklich ausprobiert. Im Moment sieht<br />

es ja so aus, als würden sich Länder gegenseitig<br />

blockieren. Das sehen Sie am<br />

Beispiel der UN: Sobald vitale Interessen<br />

der Vetomächte berührt sind, gibt<br />

es ein Veto, und dann geht nichts mehr,<br />

oder jedenfalls nichts, was von der UN<br />

insgesamt getragen würde.<br />

Bleiben dabei Themen wie Nachhaltigkeit<br />

oder Klimawandel auf der Strecke?<br />

Menkhoff: Nachhaltigkeit ist aufgrund<br />

des Klimawandels zwingend. Da muss<br />

noch mehr passieren, völlig egal, was<br />

sonst in der Welt los ist. Und von daher<br />

werden sich die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik<br />

überall auf der Welt weiter<br />

ändern. Zugleich ist das auch ein politisches<br />

Instrument von unserer Seite: Wir<br />

benutzen Nachhaltigkeit als Bedingung<br />

im Außenhandel. Hierbei denken wir,<br />

dass diese Verknüpfung von Handel und<br />

Nachhaltigkeit eine gute Sache ist, aber<br />

letztendlich versuchen wir damit auch,<br />

ob bewusst oder unbewusst, über Präferenzen<br />

oder Vorstellungen in anderen<br />

Ländern mitzuentscheiden.<br />

Lange Zeit galten <strong>Globalisierung</strong> und Demokratie<br />

als Zwillingspaar. Jetzt erleben<br />

wir, dass das eine auch ohne das andere<br />

funktioniert. Ist eine Zukunft denkbar, in<br />

der <strong>Globalisierung</strong> wächst und Demokratien<br />

auf dem Rückzug sind?<br />

Menkhoff: Auf jeden Fall, weil sie in<br />

der Entstehungsgeschichte auch unverbunden<br />

waren. Wenn wir an die frühen<br />

Formen der <strong>Globalisierung</strong> denken,<br />

dann hatte diese Phase mit Demokratie<br />

nichts zu tun. Im Gegenteil, es war<br />

eine imperialistische Zeit, in der die<br />

frühe <strong>Globalisierung</strong> stattgefunden hat.<br />

Von daher glaube ich, das sind durchaus<br />

zwei Paar Schuhe. Und es gibt genug<br />

Beispiele, an denen man sieht, dass<br />

Länder sich wirtschaftlich erstaunlich<br />

gut entwickeln können, ohne sich zu demokratisieren.<br />

Das ist aus unserer Sicht<br />

vielleicht etwas unerwartet, weil wir als<br />

offene Gesellschaft überzeugt sind, dass<br />

es Austauschbeziehungen zwischen<br />

Marktwirtschaft und Demokratie gibt,<br />

die sich gegenseitig begünstigen.<br />

Jetzt verlangen aber gerade viele Politiker<br />

und auch ESG-Investoren, dass Wirtschaft<br />

immer auch einem moralischen Kompass<br />

folgen soll. Ist das nicht im Widerspruch<br />

zu Ihrer Aussage?<br />

Im Prinzip spricht nichts gegen einen<br />

moralischen Kompass, dem folgt die<br />

Politik bereits heute, beispielsweise bei<br />

Rüstungsexporten. Aber wie rigide soll<br />

der gelten, und möchten wir mit den Folgen<br />

leben? Wenn wir wirklich erwarten,<br />

dass unsere Handelspartner sich alle so<br />

ähnlich verhalten und so ähnlich denken<br />

wie wir, dann können wir nur noch<br />

im kleinen Kreis westlicher Länder handeln.<br />

Den Rest der Welt gibt es dann als<br />

Handelspartner für uns nicht mehr. Ich<br />

weiß nicht, ob das so gewollt ist, und ich<br />

weiß auch nicht, ob es besonders klug<br />

ist.<br />

Wir danken Ihnen herzlich für das<br />

Gespräch! ■<br />

Prof. Dr. Lukas Menkhoff<br />

ist Leiter der Abteilung<br />

Weltwirtschaft am DIW Berlin,<br />

Professor für Volkswirtschaftslehre<br />

an der Humboldt-Universität zu<br />

Berlin und Mitglied der Finance<br />

Gruppe an der HU Berlin. Seine<br />

Forschungsschwerpunkte sind<br />

internationale Finanzmärkte und<br />

finanzielle Entwicklung.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

23


<strong>Globalisierung</strong><br />

Demokratien vs. Autokratien<br />

Die Demokratie verliert an Boden: Erstmals<br />

seit 2004 verzeichnet der Bertelsmann<br />

Transformationsindex (BTI)<br />

mehr autokratische als demokratische<br />

Staaten. Von 137 untersuchten<br />

Ländern sind nur noch 67 Demokratien,<br />

die Zahl der Autokratien steigt auf<br />

70. Auch bei Wirtschaftsentwicklung<br />

und Regierungsleistung zeigt die Kurve<br />

nach unten, die Corona-Pandemie<br />

hat bestehende Defizite noch deutlicher<br />

zutage treten lassen. Einen Lichtblick<br />

bietet zivilgesellschaftliches Engagement,<br />

das sich vielerorts gegen<br />

den Abbau demokratischer Standards<br />

und wachsende Ungleichheit richtet.<br />

Sehr demokratisch<br />

9,00 – 10,00<br />

8,00 – 8,99<br />

7,00 – 7,99<br />

6,00 – 6,99<br />

5,00 – 5,99<br />

4,00 – 4,99<br />

3,00 – 3,99<br />

2,00 – 2,99<br />

0 – 1,99<br />

Sehr autokratisch<br />

Keine Daten<br />

24 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Quelle: The Economist Intelligence Unit 2021<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

25


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: DisobeyArt / stock.adobe.com<br />

Offene Gesellschaften<br />

versus digitale autokratische<br />

Experimente<br />

Von Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber<br />

oder: Warum<br />

letztere parasitär,<br />

kannibalisch und<br />

selbstbeschränkend<br />

sind<br />

Einführung<br />

Betrachtet man die Entwicklung der letzten zehn Jahre, so ist<br />

es offensichtlich, dass die westlichen Demokratien, die manchmal<br />

auch als „freie Welt“ bezeichnet werden, vor grundlegenden<br />

Herausforderungen stehen. Weit davon entfernt, dass<br />

die liberale Demokratie das „Ende der Geschichte“ bedeutet,<br />

wird dieses Regierungssystem durch Alternativen, vor allem<br />

Autokratien, ersetzt. Dieser Wandel geht Hand in Hand mit<br />

wachsenden globalen Herausforderungen wie der globalen<br />

Erwärmung, asymmetrischen Kriegen, noch nie dagewesener<br />

Ungleichheit, erzwungener Migration, Pandemien, den unbekannten<br />

Auswirkungen der Automatisierung auf die traditionellen<br />

Arbeitskräfte usw. In ihrem Buch mit dem Titel That<br />

Used To Be Us stellen Thomas Friedman und Michael Mandelbaum<br />

die Frage: „Was wäre, wenn die USA sich für einen<br />

26 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Tag zu China erklären würden, um alle<br />

Herausforderungen zu lösen, mit denen<br />

wir konfrontiert sind, und sich dann entschließen<br />

würden, zu einem offenen demokratischen<br />

System zurückzukehren,<br />

um alle seine Vorteile zu genießen?“ Mit<br />

anderen Worten: Was ist die richtige politische<br />

Agenda für das 21. Jahrhundert?<br />

Sollte es mehr „offene Gesellschaften“<br />

oder mehr Autokratien geben?<br />

Freedom House stellte fest, dass in den<br />

letzten 14 Jahren 64 Länder in Bezug auf<br />

Menschenrechte, faire Wahlen, Rechte<br />

von Minderheiten und Rechtsstaatlichkeit<br />

schlechter bewertet wurden und<br />

nur 37 Länder in diesen Bereichen eine<br />

Verbesserung erfuhren. Betrachtet man<br />

die Weltbevölkerung, so leben 39 Prozent<br />

in freien Ländern und Gebieten, 25<br />

Prozent in teilweise freien Ländern und<br />

Gebieten und 36 Prozent in nicht freien<br />

Ländern und Gebieten. Wenn wir die<br />

Hälfte der Bevölkerung, die unter teilweise<br />

freien politischen Bedingungen<br />

lebt, den freien Regionen und Ländern<br />

zurechnen und die andere Hälfte den<br />

nicht freien, kann man sagen, dass zwar<br />

etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung<br />

in freien Ländern und Regionen lebt,<br />

die übrigen jedoch nicht. Am Ende des<br />

Kalten Krieges sah es so aus, als ob autoritäre<br />

und totalitäre Regime auf dem<br />

Rückzug wären, aber der aktuelle Trend<br />

zeigt das Gegenteil. Was den prozentualen<br />

Anteil der freien Welt anbelangt,<br />

so erhielt das Jahr 2020 den niedrigsten<br />

Wert seit mehr als einem Jahrzehnt.<br />

Diese empirischen Ergebnisse spiegeln<br />

eine Aussage von Wladimir Putin, dem<br />

Präsidenten der Russischen Föderation,<br />

wider, in der er behauptete, dass „der<br />

Liberalismus einfach überholt ist“. Die<br />

folgende Grafik veranschaulicht dies:<br />

Der große Niedergang der Demokratie<br />

2009<br />

-33<br />

2008<br />

2012<br />

2007 -22<br />

2011<br />

2010 -20<br />

-16<br />

-17<br />

-15<br />

2013<br />

-14<br />

2014 2015<br />

-29 -29<br />

2016<br />

-31<br />

2017<br />

-36<br />

2018<br />

-18<br />

2019<br />

-27<br />

2020<br />

-45<br />

20052006<br />

+31 -3<br />

52<br />

83<br />

59 56 59<br />

43<br />

60<br />

38<br />

67<br />

34 34<br />

49<br />

54<br />

Democracy gap<br />

Number of countries that improved<br />

minus number of countries that declined<br />

37<br />

63<br />

43<br />

54<br />

40<br />

62<br />

33<br />

72<br />

Number of countries<br />

that improved<br />

43<br />

67<br />

36<br />

71<br />

35<br />

68<br />

50<br />

Number of countries<br />

that declined<br />

64<br />

37<br />

73<br />

28<br />

Quelle: Freedom House, 2021 Jahresbericht >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

27


<strong>Globalisierung</strong><br />

In offenen<br />

Gesellschaften<br />

legitimiert<br />

sich der Staat<br />

dadurch, dass<br />

er die oft widersprüchlichen<br />

Formen der<br />

individuellen<br />

Freiheit und<br />

Verantwortung<br />

jedes seiner<br />

Mitglieder<br />

ermöglicht,<br />

schützt und<br />

ausgleicht.<br />

Problemlösung im Zeitalter des<br />

Anthropozäns<br />

Derzeit genießen diese autokratischen<br />

Experimente erhebliche Unterstützung<br />

– nicht nur in prominenten autokratischen<br />

Ländern, sondern auch in der<br />

westlichen „freien Welt“. In einigen Ländern<br />

ist die Unterstützung für eine autokratische<br />

Agenda sogar höher als Unterstützung<br />

für die „freie Welt“. Über diese<br />

Verschiebung der Akzeptanz von Autokratien<br />

einerseits und ihren Mangel<br />

an Legitimität andererseits ist viel geschrieben<br />

worden, aber einer der Hauptgründe<br />

für diesen Hype um Autokratien<br />

ist die Tatsache, dass ihre Befürworter<br />

glauben, dass das System der Autokratie<br />

in der Lage ist, Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit,<br />

globale Erwärmung, Ungleichheit,<br />

Korruption und Verlust der<br />

Artenvielfalt besser zu lösen als offene<br />

Gesellschaften. Die Suche nach Lösungen<br />

für die oben genannten Probleme<br />

hat für die gesamte Menschheit hohe<br />

Priorität, und es hat den Anschein, dass<br />

Autokratien besser in der Lage sind, diese<br />

Probleme einzudämmen. Empirisch<br />

gesehen hat das autokratische System<br />

seine Vorzüge: schnelle politische Entscheidungsfindung,<br />

rasche Umsetzung<br />

von Lösungen und straffe Skalierung<br />

der Wirtschaft. Bei näherer Betrachtung<br />

des autokratischen Systems stellt man<br />

jedoch fest, dass es selbstbegrenzende<br />

Faktoren gibt, die in die Autokratie<br />

selbst eingebaut sind. Es stellt sich die<br />

Frage, welche der beiden gegensätzlichen<br />

Alternativen einen relativen Wettbewerbsvorteil<br />

hat, um die anstehenden<br />

Herausforderungen des Anthropozäns<br />

zu bewältigen, das durch die Grenzen<br />

des Planeten, durch Spillover-Effekte<br />

und durch die allzeitige Vernetzung gekennzeichnet<br />

ist. In diesem Zeitalter hat<br />

die menschliche Spezies den Fahrersitz<br />

eingenommen, nicht nur, um den Kurs<br />

des Planeten zu bestimmen – was zu<br />

globaler Erwärmung, Verringerung der<br />

biologischen Vielfalt, Pandemien usw.<br />

führt –, sondern auch durch die Bereitstellung<br />

von Lebensformen für<br />

Menschen in großen koordinierten Gesellschaften<br />

und für die Befriedigung<br />

menschlicher sozioökonomischer Bedürfnisse.<br />

Dies ist eine Ära, in der es<br />

keine wirkliche Ausstiegsoption, keinen<br />

Plan B und keinen Neustartknopf gibt.<br />

Zusammenfassend lässt sich fragen:<br />

Welches von den beiden diskutierten<br />

Systemen – offene Gesellschaften oder<br />

Autokratien – ist besser geeignet, die<br />

globalen Herausforderungen zu lösen?<br />

Das Wesen einer offenen Gesellschaft:<br />

menschenzentriert und offen für<br />

Revisionen<br />

Historisch gesehen sind „offene Gesellschaften“<br />

– erstmals beschrieben von<br />

dem österreichischen Philosophen und<br />

Begründer des kritischen Rationalismus,<br />

Karl Popper (1902–1994), – eine<br />

konzeptionelle Antwort auf die Erfahrungen<br />

des deutschen Faschismus und<br />

des russischen Stalinismus, in denen<br />

die individuellen Menschenrechte in<br />

großem Umfang verletzt wurden. Offene<br />

Gesellschaften spiegeln eine Gesellschafts-<br />

und Verfassungsordnung wider,<br />

in der persönliche Freiheit und gegenseitige<br />

Kritik nicht nur die Grundlage für<br />

individuelles Wohlergehen, wirtschaftlichen<br />

Wohlstand und Frieden bilden,<br />

sondern auch überlegene Instrumente<br />

für die Lösung von Problemen und das<br />

Streben nach Wahrheit und Kohärenz<br />

sowohl in der Wissenschaft als auch in<br />

der Religion. In offenen Gesellschaften<br />

legitimiert sich der Staat dadurch, dass<br />

er die oft widersprüchlichen Formen der<br />

individuellen Freiheit und Verantwortung<br />

jedes seiner Mitglieder ermöglicht,<br />

schützt und ausgleicht.<br />

Obwohl das Konzept der offenen Gesellschaft<br />

historisch gesehen ein Beitrag des<br />

Westens ist, handelt es sich um eine politische<br />

Agenda, die auf jedes Land der<br />

Welt angewendet werden kann. In einer<br />

offenen Gesellschaft engagieren sich die<br />

Menschen in einem kritischen, offenen,<br />

furchtlosen und öffentlichen Dialog, um<br />

Probleme zu lösen. Jedes Mitglied einer<br />

solchen offenen Gesellschaft weiß, dass<br />

dieses Streben nach einem besseren Leben<br />

den Menschen in den Mittelpunkt<br />

stellen sollte, offen für Revisionen sein<br />

sollte, fehlerfreundlich sein sollte und<br />

auf gegenseitiger Toleranz und Vertrau-<br />

28 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

en beruhen sollte. Sie sind sich auch<br />

bewusst, dass dieses Streben nach persönlicher<br />

Freiheit potenziell mehr Kreativität,<br />

Glück, Wohlstand, Gesundheit<br />

und Wahrheit ermöglicht als jede Alternative.<br />

Die offene Gesellschaft basiert<br />

auf Pluralismus, gegenseitigem Respekt<br />

und Demut, in dem Bewusstsein, dass<br />

unser Wissen immer unvollständig, voreingenommen<br />

und möglicherweise irreführend<br />

sein wird. Dies erfordert eine<br />

ständige faire, kritische und faktenbasierte<br />

öffentliche Debatte; Untersuchungen<br />

durch eine kritische und unabhängige<br />

Presse; autonome wissenschaftliche<br />

Bemühungen, die nach der Wahrheit suchen<br />

und ein besseres Verständnis der<br />

Wunder und Magie des Lebens ermöglichen;<br />

und ein Bildungssystem, das die<br />

Kreativität jedes Einzelnen freisetzt. In<br />

offenen Gesellschaften gibt es Kontrollmechanismen,<br />

die den Missbrauch von<br />

Macht verhindern. In offenen Gesellschaften<br />

werden die Preise für Waren<br />

und Dienstleistungen in einem freien,<br />

fairen und regulierten Marktsystem mit<br />

Produkthaftung und unternehmerischer<br />

Verantwortung gebildet, ohne die Wahrheit<br />

über die sozialen und ökologischen<br />

Externalitäten zu verschweigen. Darüber<br />

hinaus sind es Gesellschaften, in denen<br />

ein System der sozialen Sicherheit<br />

funktioniert, d.h. niemand wird zurückgelassen,<br />

die Rechte von Minderheiten<br />

werden respektiert und die Stimmen<br />

der Mehrheit werden akzeptiert. Offene<br />

Gesellschaften formulieren Gesetze<br />

– und setzen sie gegebenenfalls auch<br />

um –, um gewählte politische Amtsträger<br />

abzulösen, wenn sie ihren Pflichten<br />

nicht nachkommen. Offene Gesellschaften<br />

schützen die Menschenrechte und<br />

beruhen auf der Überzeugung, dass<br />

die Koexistenz anderer Meinungen, die<br />

Kreativität des Einzelnen und die institutionalisierten<br />

Formen der Kritik ein<br />

Leben mit insgesamt größerer persönlicher<br />

Freiheit, Wahrheit und Wohlstand<br />

garantieren.<br />

Dieses Idealbild der westlichen Welt<br />

fand in den Jahren nach dem Fall der<br />

Berliner Mauer 1989 großen Anklang.<br />

Ein weiterer bedeutender Einfluss auf<br />

die Darstellung der politischen Debatten<br />

im Westen war die Konvergenzhypothese.<br />

Diese Hypothese besagt, dass<br />

der freie Handel mit autokratischen<br />

Regimen organisch zu einer globalen<br />

Konvergenz von Rechtsstaatlichkeit,<br />

Minderheitenschutz, Gewaltenteilung,<br />

Menschenrechten und freien Märkten<br />

führt. Daher, so die Hypothese, wird<br />

dieses westliche Wertesystem letztlich<br />

weltweit umgesetzt und macht offene<br />

Gesellschaften selbst stabiler und sicherer.<br />

Dieses Narrativ rechtfertigt sogar<br />

den Einsatz des Militärs bei humanitären<br />

Interventionen (R2P: Responsibility<br />

to Protect). Es scheint jedoch, dass diese<br />

Form des expansiven Liberalismus mit<br />

seinem missionarischen Proselytismus<br />

zu weit getrieben wurde. Der Fehler<br />

dieser Konvergenzhypothese ist, dass<br />

sie nicht mehr falsifiziert werden kann.<br />

Jedes Mal, wenn ein autokratisches Regime<br />

einen vermeintlichen Fehltritt<br />

begeht, wird davon ausgegangen, dass<br />

das Regime „noch nicht am Ziel ist“<br />

oder dass seine Reise in Richtung einer<br />

offenen Gesellschaft noch Zeit braucht.<br />

Es ist jedoch erwiesen, dass dies keine<br />

Fehltritte waren – autokratische Regime<br />

folgten einfach einem anderen Narrativ.<br />

So wurde beispielsweise der Fall der<br />

Berliner Mauer im Jahr 1989 im Westen<br />

als Symbol für das Ende des Kommunismus<br />

verwendet. In China war 1989 das<br />

Jahr, in dem der Volksaufstand auf dem<br />

Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen<br />

wurde, was eher ein Zeichen<br />

für die Stärke als für das Ende des Kommunismus<br />

war.<br />

Das Verständnis der offenen Gesellschaften<br />

von Demokratie und Menschenrechten<br />

unterliegt jedoch der westlichen<br />

Souveränität mit ihrem Anspruch<br />

auf universelle Gültigkeit. Wenn Sie ein<br />

Land mit einer hohen Rate an Armut,<br />

Analphabetismus und Hunger besuchen,<br />

können Sie zu dem Schluss kommen,<br />

dass es sich lohnt, für universelle<br />

Menschenrechte zu kämpfen. Gleichzeitig<br />

können Sie aber auch feststellen,<br />

dass es eine zeitliche Priorisierung und<br />

geografische Gewichtung verschiedener<br />

Werte geben kann. So werden die<br />

Ziele der Überwindung von Armut und<br />

Hunger, die Bereitstellung von Wohnraum<br />

für jeden Einzelnen und die Gewährleistung<br />

des allgemeinen Zugangs<br />

zu grundlegender Bildung und zu >><br />

Foto: Miljan Lakic / istockphoto.com<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

29


<strong>Globalisierung</strong><br />

unter kollektive Narrative, die die politische<br />

Agenda bestimmen, zu synchronisieren,<br />

zu korrigieren und auszurichten.<br />

Foto: VTsybulka / istockphoto.com<br />

Gesundheitseinrichtungen schnell Vorrang<br />

vor der Sicherung der Rechte auf<br />

freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit<br />

und geografische Mobilität über<br />

nationale Grenzen hinweg haben. Die<br />

Menschen, die in offenen Gesellschaften<br />

in Europa, den Vereinigten Staaten<br />

und anderen westlichen Ländern leben,<br />

müssen sich eingestehen, dass es<br />

Gesellschaften geben kann, die andere<br />

Prioritäten und Präferenzen haben. Es<br />

gibt zum Beispiel Gesellschaften, deren<br />

Mitglieder es vielleicht nicht für sehr<br />

wichtig halten, dass jeder das Recht auf<br />

freie Meinungsäußerung hat, sondern<br />

deren Anliegen es ist, dass ihre Kinder<br />

nicht mehr hungern, zur Schule gehen<br />

und Zugang zu Trinkwasser haben.<br />

Das autokratische System und seine<br />

Zwänge<br />

Während wir in offenen Gesellschaften<br />

geteilte, ausgewogene und kontrollierte<br />

Formen politischer Macht erleben, stützen<br />

sich autokratische Regime auf reduzierte<br />

oder gar keine verfassungsmäßigen<br />

Beschränkungen ihrer politischen<br />

Macht, die von einigen wenigen Auserwählten,<br />

von einer Partei oder sogar von<br />

einer einzelnen Person ausgeübt wird.<br />

Man kann zwischen kommunitären Formen<br />

von Autokratien (China) mit einem<br />

Einparteiensystem, paternalistischen<br />

Autokratien (Russland), die das herrschende<br />

Individuum – oft als wohlwollenden<br />

Autokraten bezeichnet – gegenüber<br />

den Institutionen hervorheben,<br />

und stammes- oder feudalistischen Formen<br />

von Autokratien (Golfstaaten) mit<br />

einer ausgeprägten Familien- oder Clanstruktur,<br />

die oft militärische und/oder<br />

religiös-fundamentalistische Züge aufweist,<br />

unterscheiden. Allen diesen Arten<br />

von Autokratien ist gemeinsam, dass sie<br />

sich auf die Sicherheit, die Stabilität und<br />

das wirtschaftliche Wohlergehen der<br />

Nation konzentrieren, die die Notwendigkeit<br />

der politischen Beteiligung der<br />

Bürger, der individuellen Freiheit und<br />

der Menschenrechte im traditionellen<br />

westlichen Sinne überwiegen. Bei allen<br />

Arten von Autokratien ist die Zustimmung<br />

der Bevölkerung zu den Entscheidungen<br />

des Herrschers höher als in den<br />

meisten, wenn nicht allen westlichen<br />

Demokratien und offenen Gesellschaften.<br />

Autokratien ziehen es vor, ihre Bürger<br />

durch Solidarität, Homogenität und<br />

die Unterordnung individueller Rechte<br />

Nehmen wir das Beispiel China. In der<br />

chinesischen Kultur gilt das erfolgreiche<br />

Kopieren des Meisters als besondere<br />

Lernleistung. Je fehlerfreier dieser<br />

Prozess abläuft, desto höher sind die<br />

Lernkurve der Person und ihr Ansehen<br />

in der Gesellschaft. Diese Kultur des<br />

„Kopierens und Einfügens“ bedeutet,<br />

dass derjenige, dem es gelingt, seine<br />

Vorgesetzten zu imitieren, einen Vorsprung<br />

genießt, weil er sich die ganze<br />

Last der Vorstellungskraft, des Erfindens<br />

und Produzierens, des Ausprobierens<br />

und Scheiterns ersparen und sich<br />

stattdessen ganz auf den Imitationsprozess<br />

konzentrieren kann. Außerdem ist<br />

die Autokratie in China beeindruckend<br />

in ihrem Ausmaß und der Geschwindigkeit,<br />

mit der Entscheidungen manchmal<br />

umgesetzt werden. Die Verringerung<br />

der Armutsquote, das Wachstum der<br />

Mittelschicht, die steigende Zahl der<br />

Studierenden in Bildungseinrichtungen,<br />

die erhöhte Produktivität und die insgesamt<br />

gestiegene Lebenserwartung in<br />

China scheinen die Überlegenheit des<br />

autokratischen Systems gegenüber der<br />

schwerfälligen Entscheidungsfindung<br />

in offenen Gesellschaften zu belegen.<br />

Dasselbe scheint auch für andere Autokratien<br />

zu gelten, die wir derzeit in Europa,<br />

Afrika und Amerika erleben.<br />

Gleichzeitig gehen jedoch eine Reihe<br />

anderer kultureller Errungenschaften<br />

verloren oder werden gar nicht erst<br />

angestrebt, und kritische Debatte, Fehlerfreundlichkeit,<br />

öffentlicher Diskurs,<br />

individuelles Urteilsvermögen und autonomes<br />

Denken sind Eigenschaften,<br />

die nur in einer offenen Gesellschaft<br />

gedeihen können. Autokratien müssen<br />

sich auf Kopier- und Nachahmungsstrategien<br />

verlassen, weil die ursprünglichen<br />

Ergebnisse kritischer Beurteilung<br />

nicht aus erster Hand verfügbar sind.<br />

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen,<br />

dass wir in einer unsicheren und<br />

komplexen Welt leben und daher mehr<br />

kritisches Denken und weniger Nachahmung,<br />

mehr unabhängiges Denken<br />

30 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

als Nachahmung und mehr Freiheit und<br />

kritische Autonomie als Kontrolle und<br />

Herrschaft benötigen. Der autokratische<br />

Herrscher muss sich auf Wissen und Informationen<br />

stützen, die ihm nur durch<br />

kritisches Urteilsvermögen zugänglich<br />

sind. Er gibt vor, über Wissen zu verfügen,<br />

das er nicht aus sich selbst heraus<br />

generieren kann. Stattdessen muss es<br />

aus anderen Quellen stammen. Betrachtet<br />

man beispielsweise die Grundlagenforschung,<br />

so wird dieses Argument<br />

durch die geringe Zahl von Patenten<br />

und Veröffentlichungen sowie die unzureichende<br />

FuE-Infrastruktur in Ländern<br />

und Gebieten unter autokratischer Herrschaft<br />

gestützt. So sind die meisten in<br />

China tätigen Forscher in offenen Gesellschaften<br />

ausgebildet worden und stellen<br />

einen versteckten Import westlicher<br />

Werte und Standards in Autokratien<br />

dar. Sie spielen die Rolle von „game<br />

changers“ in Autokratien, indem sie<br />

diese von innen heraus offener machen<br />

(während sie ihre Kinder auf Schweizer<br />

Gymnasien schicken).<br />

Kannibalisierende, parasitäre und<br />

selbstlimitierende Faktoren von<br />

Autokratien<br />

Mein Argument ist, dass die Autokratien,<br />

die derzeit überall auf der Welt herrschen,<br />

auf der Grundlage von Voraussetzungen<br />

gedeihen, die sie nicht selbst<br />

geschaffen haben. Diese Autokratien<br />

sind selbstlimitierend und kannibalisierend,<br />

dass sie eher früher als später<br />

enden werden, da sie von Wissen abhängig<br />

sind, das ursprünglich aus der freien<br />

Welt stammt.<br />

Die Aspekte der Preisgestaltung in freien<br />

Wettbewerbsmärkten, eine rigorose<br />

Debatte über Fakten in einem interdisziplinären<br />

wissenschaftlichen Diskurs,<br />

die freie öffentliche Rede, eine freie,<br />

kritische und investigative Presse, eine<br />

kreative und pluralistische Kulturszene<br />

und der Aufbau von Sozialkapital auf<br />

der Grundlage von zwischenmenschlichem<br />

Vertrauen und gegenseitiger<br />

Toleranz – sie alle gehen auf einen<br />

menschen- und personenzentrierten<br />

Ansatz zurück und sind jedem Versuch<br />

überlegen, die Gesellschaft durch einen<br />

kollektiven, nicht-demokratischen Topdown-Prozess<br />

zu regulieren. Lebenslange<br />

politische Führung oder jahrzehntelange<br />

politische Machtausübung ohne<br />

die Möglichkeit, durch einen gewählten<br />

Vertreter ersetzt zu werden, ist kein Zeichen<br />

von Macht, sondern von Schwäche<br />

des betreffenden Systems. Dies zeigt,<br />

dass dieses System auf eine öffentliche<br />

und kritische Debatte verzichtet hat, um<br />

seinen Willen durchzusetzen und umzusetzen.<br />

Die zahlreichen kritischen Rückkopplungsschleifen,<br />

die das Gleichgewicht<br />

in einer offenen Gesellschaft aufrechterhalten<br />

und genügend Flexibilität bieten,<br />

um auf asymmetrische Schocks (wie die<br />

globale Erwärmung oder Pandemien) zu<br />

reagieren, die ihrerseits dezentralisierte,<br />

unzensierte Informationen erfordern,<br />

sind in Autokratien schlecht entwickelt.<br />

Es muss darauf hingewiesen werden,<br />

dass die von Autokratien auferlegte Zensur<br />

die Kritik nicht erleichtert. Während<br />

Kritik inklusiv und ein grundlegender<br />

Bestandteil jeder offenen Gesellschaft<br />

ist, da sie unterschiedliche Argumente<br />

würdigt und versucht, den Status quo<br />

zu verbessern, schafft die Zensur ein<br />

Ingroup-Outgroup-Szenario derjenigen,<br />

die dem Mandat des Herrschers folgen,<br />

und derjenigen, die dagegen rebellieren.<br />

Autokratien sind Orte, an denen Filme<br />

und Medien, Verlage und Wikipedia,<br />

Lehrpläne für Schulen und Universitäten<br />

und sogar die Geschichte zensiert<br />

werden, was zu Bürgern ohne Gedächtnis<br />

und Menschen ohne kritischen Verstand<br />

führt. In diesem Fall ist die Zensur<br />

exklusiv und moralisierend.<br />

In Autokratien wird der Prozess der Suche<br />

nach Wahrheit, Freiheit, Fairness<br />

usw. durch autokratisches Wissen und<br />

eine parteipolitische Agenda ersetzt,<br />

die der Führer vorgibt selbst entworfen<br />

zu haben, die sich aber in Wirklichkeit<br />

auf die Suche nach Wahrheit stützt, die<br />

anderswo, nämlich in offenen Gesellschaften,<br />

entsteht. Autokratien sind zu<br />

homogen und zu sehr von oben nach<br />

unten getaktet, um in einer komplexen,<br />

nicht linearen Welt zu reagieren und<br />

Lebenslange<br />

politische<br />

Führung oder<br />

jahrzehntelange<br />

politische<br />

Machtausübung<br />

ohne die<br />

Möglichkeit,<br />

durch einen<br />

gewählten<br />

Vertreter ersetzt<br />

zu werden, ist<br />

kein Zeichen von<br />

Macht, sondern<br />

von Schwäche des<br />

betreffenden<br />

Systems.<br />

>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

31


<strong>Globalisierung</strong><br />

Die Illusion<br />

der Kontrolle:<br />

Autokratische<br />

Regime sind<br />

davon überzeugt,<br />

dass sie<br />

nicht nur<br />

menschliches<br />

Verhalten in<br />

großem Maßstab<br />

kontrollieren<br />

können, sondern<br />

auch den<br />

Verlauf einer<br />

Gesellschaft<br />

als Ganzes.<br />

zu agieren, in der Ungewissheit und<br />

Unvollständigkeit die Entscheidungen<br />

des täglichen Lebens bestimmen. Das<br />

gilt für die Politik ebenso wie für die<br />

Unternehmenswelt. Dies gilt auch für<br />

Einzelpersonen, kleine und große Gruppen<br />

und Körperschaften sowie große<br />

institutionelle Einrichtungen. Politische<br />

Clan-Strukturen, in denen Familienmitglieder<br />

des ursprünglichen Herrschers<br />

der Autokratie ausgewählt werden, um<br />

das Land oder das Territorium ohne<br />

jegliche externe Prüfung zu regieren,<br />

bedeuten, dass die Innovation und Kreativität<br />

der besten und klügsten Köpfe<br />

niemals entwickelt werden und dass die<br />

fehlende Einbeziehung eines kritischen<br />

dritten Sektors zu systemischer Korruption<br />

führt. Weitere Beispiele zeigen,<br />

dass ein kritischer Geist einem Geist,<br />

der kollektiven Kontrollmechanismen<br />

unterworfen ist, überlegen ist.<br />

Offene Gesellschaften hingegen werden<br />

durch einen dynamischen und dezentralen<br />

Prozess angetrieben, der von kritischen<br />

und freidenkenden Individuen<br />

geleitet wird, die bereit sind zu scheitern<br />

und ausreichend ermutigt werden,<br />

persönliche Verantwortung zu übernehmen,<br />

sei es im Unternehmertum, auf<br />

der unbekannten und strengen Reise<br />

wissenschaftlicher Entdeckungen, in<br />

der Kreativität kultureller Ausdrucksformen,<br />

in einer offenen, furchtlosen<br />

öffentlichen Debatte über ihre eigenen<br />

Zweifel, Unsicherheiten und unvollständigen<br />

Kenntnisse, bei der alltäglichen<br />

Entscheidungsfindung im privaten Bereich<br />

und bei der Festlegung politischer<br />

Agenden.<br />

Trotz der Akzeptanz von Autokratien<br />

durch die jeweilige Bevölkerung aufgrund<br />

ihrer wirtschaftlichen und politischen<br />

Macht und ihrer schieren Größe<br />

beruhen Autokratien auf mindestens<br />

zwei Formen von Illusionen, die dazu<br />

führen, dass diese Autokratien sich<br />

selbst begrenzen, parasitär sind und<br />

sich selbst ausbeuten: die Illusion der<br />

Kontrolle und die Illusion von Wissen<br />

und Weisheit. Beide Illusionen führen<br />

zu der falschen Annahme, dass die politische<br />

Kontrolle von Autokratien und<br />

die Macht, die sie über die Verbreitung<br />

von Wissen ausüben, sie in die Lage versetzen,<br />

die Herausforderungen des 21.<br />

Jahrhunderts zu bewältigen und sie offenen<br />

Gesellschaften überlegen machen.<br />

Die Illusion der Kontrolle: Autokratische<br />

Regime sind davon überzeugt, dass<br />

sie nicht nur menschliches Verhalten<br />

in großem Maßstab kontrollieren können,<br />

sondern auch den Verlauf einer<br />

Gesellschaft als Ganzes. Gesichtserkennungsprogramme,<br />

die unkontrollierte<br />

Anwendung künstlicher Intelligenz,<br />

Sozialkreditsysteme, groß angelegte<br />

staatliche Interventionen und Regulierungsbemühungen,<br />

ein geschlossenes<br />

Internet und öffentliche Videoüberwachung<br />

sind Beispiele dafür, wie Autokratien<br />

behaupten, einen gesellschaftlichen<br />

Prozess zu kontrollieren und zu befehlen,<br />

den offene Gesellschaften ganz<br />

anders organisieren. Autokratischen<br />

politischen Systemen fehlt es jedoch an<br />

externen Rückkopplungsschleifen, wie<br />

z. B. einer kritischen Presse und Medien,<br />

freien und unabhängigen Anwälten<br />

oder einem autonomen zivilen Sektor,<br />

der unentbehrliches Wissen zur Bewältigung<br />

der Herausforderungen der nahen<br />

Zukunft bereitstellt. Ohne diese Bildung<br />

von sozialem Kapital, das nur entsteht,<br />

wenn freie und autonome Menschen<br />

sich zur Zusammenarbeit entschließen,<br />

haben autokratische Systeme im Vergleich<br />

zu offenen Gesellschaften viel<br />

weniger Kontrolle über externe und interne<br />

Herausforderungen.<br />

Die Illusion von Wissen und Weisheit:<br />

Autokratische Regime sind davon überzeugt,<br />

dass sie in der Lage sind, von<br />

innen heraus genügend Weisheit und<br />

Wissen zu generieren, um die Gesellschaft<br />

zu regieren und systemische Herausforderungen<br />

zu bewältigen. Dieses<br />

autokratische Wissen ist jedoch eine<br />

Illusion, denn diese Regime verlassen<br />

sich auf die Informationen und das Wissen,<br />

das in offenen Gesellschaften generiert<br />

wird, das dann für die Zwecke autokratischer<br />

Systeme missbraucht und<br />

instrumentalisiert wird. Das Wissen,<br />

die Weisheit und die Informationen, die<br />

der Einzelne in offenen Gesellschaften<br />

32 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

zur Lösung von Problemen erwirbt, sind<br />

dem Wissen, der Weisheit und den Informationen<br />

überlegen, die in Autokratien<br />

aus erster Hand generiert werden.<br />

Ein Einparteiensystem ist nicht in der<br />

Lage, Weisheit auf die Art und Weise<br />

zu generieren, wie es offene Gesellschaften<br />

tun, d. h. auf eine dezentrale,<br />

menschenzentrierte, kritische und fehlerfreundliche<br />

Weise. Ein fehlgeschlagenes<br />

staatliches Immobilieninvestitionsprogramm<br />

beispielsweise erfordert<br />

eine Sichtweise, die es ermöglicht, das<br />

Programm zu korrigieren. In einem<br />

autokratischen System ist die einzige<br />

verlässliche Informationsquelle, über<br />

die der politische Apparat verfügt, das<br />

eigene Parteiprogramm. Im Gegensatz<br />

dazu kann sich eine offene Gesellschaft<br />

auf die freie Preisbildung auf freien<br />

Märkten, eine kritische, investigative<br />

Presse und eine Forschungsgemeinschaft<br />

verlassen, die empirische Beweise<br />

dafür liefert, wie die Fehler im Programm<br />

zu korrigieren sind. In offenen<br />

Gesellschaften gibt es mehr als nur eine<br />

Stimme. Diese vielen Stimmen garantieren<br />

den Fortschritt, bestimmen die<br />

Lösungen für Probleme und führen auf<br />

den Weg des kollektiven Wohlstands.<br />

Wenn Wissenschaftler einen Bonus erhalten,<br />

wenn sie Kurse über politische<br />

Parteiprogramme anbieten, in denen<br />

Ideologie und Parteizugehörigkeit wichtiger<br />

sind als Kompetenz oder Professionalität,<br />

in denen die Ausgaben für<br />

die innere Sicherheit höher sind als für<br />

Verteidigung und Militär, und in denen<br />

sogar die Verfassung selbst dem Parteiprogramm<br />

untergeordnet wird, kann<br />

nicht davon ausgegangen werden, dass<br />

ein solches System den globalen Herausforderungen<br />

des 21. Jahrhunderts<br />

gewachsen ist. Kein Parteiprogramm,<br />

kein Militärregime und keine Ideologie<br />

kann die in offenen Gesellschaften<br />

entstehende Weisheit ersetzen. Mit<br />

anderen Worten: Das gesellschaftliche<br />

Immunsystem oder Frühwarnsystem<br />

ist in Autokratien schwach, da<br />

bei der Entscheidungsfindung Befehle<br />

von oben nach unten vorherrschen.<br />

Dieses Argument lässt sich noch einen<br />

Schritt weiterführen. Autokratien<br />

funktionieren nur, weil sie auf Errungenschaften<br />

zurückgreifen können,<br />

die sie nicht selbst garantiert oder<br />

überhaupt erst hervorgebracht haben;<br />

ihnen fehlt der endogene Faktor der<br />

kritischen Selbstkorrektur, der für die<br />

Entwicklung von Wissen in offenen Gesellschaften<br />

entscheidend ist. Offene<br />

Gesellschaften hingegen akzeptieren<br />

die Meinungen von Rechts- und Linkspopulisten<br />

und berücksichtigen auch<br />

die Aspekte geschlossener homogener<br />

ethnischer Lebensräume, wohl wissend,<br />

dass niemand zu 100 Prozent<br />

im Unrecht ist und dass jede Position<br />

sich im Lichte gegenseitiger Kritik, offener<br />

öffentlicher Debatten, einer freien<br />

Presse und freier und autonomer Forschung<br />

und Entwicklung rechtfertigen<br />

muss. Wenn dieser Test nicht gelingt,<br />

wird eine Position als falsch erwiesen<br />

und innerhalb der offenen Gesellschaft<br />

disqualifiziert. In diesem Sinne sind<br />

autokratische Systeme parasitär und<br />

selbstbegrenzend. Die Bedeutung ihres<br />

politischen Einflusses entfällt, sobald<br />

sie mit all den kulturellen Errungenschaften<br />

konfrontiert werden, die für<br />

offene Gesellschaften charakteristisch<br />

sind: individuelle Kritik, Kreativität<br />

und das Zusammenleben von heterogenen<br />

ethnischen und sozioökonomischen<br />

Gruppen. In Autokratien wird<br />

Grundlagenforschung betrieben, werden<br />

Patente angemeldet, werden auf<br />

Märkten Preise gebildet, werden Journalisten<br />

tätig. Diese Vorgänge sind also<br />

bereits uneingestandene Inseln „offener<br />

gesellschaftlicher Beziehungen“ innerhalb<br />

einer autokratischen Dystopie.<br />

Die folgende Grafik veranschaulicht die<br />

Ergebnisse:<br />

Offene Gesellschaften versus digitale Autokratien:<br />

Warum Autokratien parasitär, kannibalisierend und<br />

selbstlimitierend sind<br />

creativity copy conformism<br />

critics coexistence control<br />

Open societies<br />

order of freedom<br />

Digital autocracies<br />

order of command<br />

>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

33


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: Sherman_Sham / istockphoto.com<br />

Schlussfolgerung<br />

Illiberale Demokratien, gelenkte Demokratien<br />

und Einparteiendemokratien<br />

– die alle in der einen oder anderen<br />

Hinsicht als autokratische Regime<br />

betrachtet werden können – sind nicht<br />

identisch mit dem Verständnis von Demokratie<br />

und Rechtsstaatlichkeit in offenen<br />

Gesellschaften im Westen, auch<br />

wenn sie einen ähnlichen Namen tragen.<br />

Diese autokratischen Regime stellen<br />

ein historisches Experiment dar, das<br />

sehr vielversprechend war, aber schon<br />

bald seine negativen Folgen zeigte. Auch<br />

wenn dieses Experiment zunächst großartig<br />

klingen mag, ist es eine regressive<br />

Antwort auf die Herausforderungen des<br />

21. Jahrhunderts. Offene Gesellschaften<br />

hingegen leben von der Idee einer<br />

liberalen Ordnung, die auf einem auf<br />

den Menschen ausgerichteten Ansatz<br />

beruht. Sie werden weder von der Vorstellung<br />

einer erzwungenen Gleichheit<br />

durch linke Narrative noch von einer<br />

ausgrenzenden ethnischen Identität<br />

durch rechte Narrative angetrieben.<br />

Beide Narrative – wenn sie einen autoritären<br />

Charakter annehmen – hängen<br />

von der Illusion ab, Gesellschaften und<br />

ihre Bürger kontrollieren zu können und<br />

Informationen, Wissen und Einsichten<br />

über Prozesse zu besitzen, die ihnen<br />

nicht gehören. Der freie Verkehr von<br />

Waren, grundlegende F&E-Aktivitäten,<br />

kritische Presseberichterstattung und<br />

die Entfaltung menschlicher Kreativität<br />

setzen eine Ordnung der Freiheit voraus<br />

und sind nur in offenen Gesellschaften<br />

wirklich gegeben. Wer diesen Zusammenhang<br />

zwischen liberaler Demokratie<br />

und Fortschritt nicht begreift, wird<br />

die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts<br />

nicht überleben. Würde die<br />

Welt nur aus autokratischen Systemen<br />

bestehen, gäbe es weder echten wissenschaftlichen<br />

Fortschritt noch objektive<br />

und kritische Nachrichten noch ein Maximum<br />

an Kreativität und kultureller<br />

Vielfalt.<br />

Es geht also um die Frage: Regieren<br />

durch Kontrolle, Konformismus und Kopieren<br />

oder Regieren durch Kritik, Koexistenz<br />

von Heterogenität und Kreativität?<br />

Der Lauf der Geschichte wird zeigen,<br />

welches Modell sich als erfolgreicher bei<br />

der Bewältigung der Herausforderungen<br />

des 21. Jahrhunderts erweist. Die<br />

vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf<br />

hin, dass autokratische Systeme im<br />

Vergleich zu offenen Gesellschaften bei<br />

der Bewältigung der Probleme des 21.<br />

Jahrhunderts am zweitbesten abschneiden.<br />

Es stimmt zwar, dass offene Gesellschaften<br />

nach außen hin zerbrechlicher<br />

erscheinen, aber im Inneren weisen sie<br />

aufgrund autonomer und selbstkritischer<br />

Individuen eine größere Robustheit<br />

auf. Sie erscheinen auf den ersten<br />

Blick unbeholfen und langsam in ihren<br />

Entscheidungen, zeigen aber Flexibilität<br />

und Fehlertoleranz, wenn nötig, und<br />

korrigieren sich selbst. In einer vollständig<br />

vernetzten und komplexen Welt mit<br />

zunehmender Ungewissheit, nichtlinea-<br />

34 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

ren negativen Rückkopplungsschleifen<br />

und Spillover-Effekten, asymmetrischen<br />

Schocks und unbekannten Unbekannten<br />

wird der Wettbewerbsvorteil von<br />

Autokratien – sowohl in geografischer<br />

als auch in zeitlicher Hinsicht – zu kurz<br />

greifen oder sich als Fehlstart erweisen.<br />

Sie bleiben parasitär, da sie von offenen<br />

Gesellschaften abhängig sind, und kannibalisieren<br />

sich selbst, da sie relevante<br />

Informationen importieren müssen, die<br />

nur in offenen Gesellschaften generiert<br />

werden, und bleiben somit von Natur<br />

aus selbstlimitierend.<br />

Trotz der Rückschläge und Rückschritte<br />

war es historisch gesehen immer ein<br />

personenzentrierter Ansatz, der mehr<br />

Wohlstand, mehr soziale Errungenschaften,<br />

mehr wissenschaftliche Entdeckungen<br />

und mehr Gesundheit ermöglicht<br />

hat als jede andere Form des politischen<br />

Systems. In den letzten Jahrhunderten<br />

hat der Lauf der Geschichte gezeigt,<br />

dass die Ergebnisse umso besser sind, je<br />

perfekter ein menschenzentrierter Ansatz<br />

umgesetzt wird. Das bedeutet nicht,<br />

dass es keine Misserfolge, keinen Missbrauch<br />

und keine Irreführung in Bezug<br />

auf einen auf den Menschen ausgerichteten<br />

Ansatz gegeben hat. Aber immer<br />

dann, wenn eine Gesellschaft individuelle<br />

Kreativität, Kritik und das Zusammenleben<br />

heterogener Gruppen begünstigte<br />

und Minderheiten und individuelle<br />

Freiheit respektierte und schützte, wurden<br />

mehr Wohlstand, Gesundheit und<br />

Freiheit erreicht. Ich glaube, dass offene<br />

Gesellschaften widerstandsfähiger sind,<br />

weil sie fehlerfreundlicher, anpassungsfähiger<br />

und restaurativer sind, was wiederum<br />

möglich ist, weil sie kritischer<br />

sind. Sie sind in der Lage, ihre eigenen<br />

Selbstheilungskräfte in einer Weise zu<br />

mobilisieren, die Autokratien nicht zur<br />

Verfügung steht. Offene Gesellschaften<br />

brauchen also keine Agenda für Weltfrieden<br />

oder Global Governance, sondern<br />

müssen lediglich ihre Attraktivität<br />

durch ihren Vorbildcharakter unter Beweis<br />

stellen.<br />

Man muss sich eingestehen, dass Autokratien<br />

nicht automatisch durch die<br />

bloße Präsenz offener Gesellschaften zu<br />

offenen Gesellschaften mit dem ihnen<br />

innewohnenden Wertekanon werden.<br />

Vielmehr ist es genau andersherum: Autokratien<br />

brauchen offene Gesellschaften,<br />

um sich stabiler zu machen, indem<br />

sie sich das Wissen und die Diskussionen<br />

offener Gesellschaften aneignen,<br />

um ihre eigene Macht zu festigen.<br />

Solange die freie Welt diese Autokratien<br />

nicht nachahmt und kopiert, werden<br />

wir aus dieser historischen Phase herauskommen.<br />

Der zunehmende Einfluss<br />

der Autokratien wird einmal mehr zeigen,<br />

dass es nie ein Ende der Geschichte<br />

oder ein Ende der Ideologie gibt, sondern<br />

dass die freie Welt mit ständigen<br />

Herausforderungen konfrontiert ist, die<br />

vielleicht nie enden. In der Zwischenzeit<br />

müssen wir uns jedoch eingestehen,<br />

dass wir beide Systeme brauchen, wenn<br />

wir den derzeitigen Zustand der Welt<br />

betrachten. Offene Gesellschaften haben<br />

durch öffentliche Debatten, eine freie,<br />

investigative Presse, unkontrollierte<br />

Kreativität, Preissignale in einem freien<br />

Marktsystem, unzensierte Informationen<br />

und einen rigorosen wissenschaftlichen<br />

Diskurs in den Sozial- und Grundlagenwissenschaften,<br />

die alle auf einem<br />

personenzentrierten Ansatz beruhen,<br />

ausreichend Wissen und Weisheit hervorgebracht;<br />

folglich nutzen Autokratien<br />

diese kulturellen Errungenschaften,<br />

um Lösungen für die großen Herausforderungen<br />

in ihren eigenen Ländern<br />

(z. B. globale Erwärmung, Beseitigung<br />

der Armut usw.) zu entwickeln und zu<br />

skalieren.<br />

In der Folge wird das Aufeinandertreffen<br />

von offenen Gesellschaften und<br />

Autokratien zur Entwicklung einer<br />

nicht-hegemonialen Ära führen, in der<br />

asymmetrische und wechselseitige Abhängigkeiten<br />

vorherrschen, und nicht<br />

zu einer weiteren Ära des Imperialismus,<br />

in der jeder Vertreter davon überzeugt<br />

ist, dass seine Weltanschauungen<br />

vom anderen übernommen werden müssen.<br />

Um das Bonmot des berühmten Biologen<br />

E. O. Wilson neu zu formulieren:<br />

„Autokratien sind ein interessantes Experiment,<br />

aber sie haben die falsche Art<br />

und die falsche Zeit erwischt.“ ■<br />

Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber<br />

ist Psychiater und Wirtschaftswissenschaftler;<br />

Mitglied des<br />

Kuratoriums der Weltakademie der<br />

Wissenschaften und Künste;<br />

Mitglied der Europäischen Akademie<br />

der Wissenschaften und Künste;<br />

Mitglied der Lancet Commission;<br />

Mitglied des Club of Rome.<br />

Die englische<br />

Originalversion erschien im<br />

Global Goals Yearbook 2021.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

35


<strong>Globalisierung</strong><br />

Navigieren durch<br />

Chinas Menschenrechtsbilanz<br />

Von Ribhu Singh<br />

Foto: CHROMORANGE / stock.adobe.com<br />

36 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Zu den Winterspielen 2022 in<br />

Peking strömten die<br />

Besucher in Scharen, rund<br />

150.000 Menschen waren<br />

eingeladen, die Spiele zu<br />

verfolgen. Die Gästeliste war<br />

umfangreich und enthielt<br />

viele Autokraten. Über 20 Premierminister,<br />

Präsidenten und<br />

Staatschefs wurden erwartet.<br />

Einige Länder boykottierten<br />

die Olympischen Spiele<br />

jedoch diplomatisch.<br />

Demokratische Mächte wie Australien,<br />

Großbritannien und Kanada<br />

verweisen auf ihre Abwesenheit<br />

in Bezug auf Chinas Menschenrechtslage<br />

und unterstreichen damit Pekings<br />

Distanz und angespannte Beziehungen<br />

zum Westen. Aber andere sind offen für<br />

die chinesische Gastfreundschaft. Der<br />

russische Präsident Wladimir Putin, der<br />

ägyptische Präsident Abdel Fattah Al-Sisi<br />

und der saudi-arabische Kronprinz<br />

Mohammed bin Salman sind bemerkenswerte<br />

Teilnehmer an den Veranstaltungen.<br />

Die USA haben ihren Standpunkt gegenüber<br />

Menschenrechtsverletzungen<br />

in China deutlich gemacht. „China setzt<br />

Zwang und Aggression ein, um die<br />

Autonomie in Hongkong systematisch<br />

auszuhöhlen, die Demokratie in Taiwan<br />

zu untergraben, die Menschenrechte<br />

in Xinjiang und Tibet zu verletzen und<br />

Seeansprüche im Südchinesischen Meer<br />

geltend zu machen, die gegen internationales<br />

Recht verstoßen“, sagte US-Außenminister<br />

Anthony Blinken in einer<br />

Erklärung von Anfang 2021.<br />

Die Ansichten der Amerikaner zeigen<br />

einen ähnlichen Trend. Eine kürzlich<br />

durchgeführte Umfrage von Pew Research<br />

ergab, dass 67 Prozent der Amerikaner<br />

China gegenüber eine ablehnende<br />

Haltung einnehmen, verglichen mit<br />

46 Prozent im Jahr 2018.<br />

China hält einen Boykott indessen für<br />

eine bloße Form der Manipulation seines<br />

Images in der Welt. „Die Vereinigten<br />

Staaten, Großbritannien und Australien<br />

haben die Olympischen Spiele als<br />

Plattform für politische Manipulationen<br />

genutzt“, sagte Wang Wenbin, ein Sprecher<br />

des chinesischen Außenministeriums.<br />

Menschenrechtsverletzungen durch<br />

Sportswashing<br />

Die Olympischen Spiele werden weltweit<br />

von mehr als drei Milliarden Menschen<br />

verfolgt und sind somit eine gute Gelegenheit,<br />

das Image eines Landes zu fördern.<br />

Russland hat sein Image mit den<br />

Olympischen Spielen 1980 und der Fußballweltmeisterschaft<br />

2018 aufpoliert.<br />

Als Peking 2008 die Olympischen Sommerspiele<br />

ausrichtete, wurde die Veranstaltung<br />

als „eine Kraft des Guten“ beworben<br />

– im Gegensatz zu dem, was in<br />

dem Land geschah, wie die Verhaftung<br />

von Journalisten, die Unterdrückung<br />

von Meinungen und der Missbrauch von<br />

Arbeitsmigranten.<br />

Das Internationale Olympische Komitee<br />

(IOC) hat wenig unternommen, um<br />

China für seine Handlungen zur Rechenschaft<br />

zu ziehen, und dem Land<br />

stattdessen erlaubt, die Winterspiele<br />

2022 auszurichten. Die Entscheidung<br />

des Komitees fiel 2015, als Chinas Präsident<br />

Xi Jinping wegen Menschenrechtsverletzungen<br />

wie Massenverhaftungen,<br />

kultureller Verfolgung, systematischer<br />

Misshandlung und Folter von uigurischen<br />

Muslimen stark in der Kritik<br />

stand. Die Regierung wurde auch wegen<br />

der Verhaftung von Frauenrechtsaktivisten,<br />

Journalisten und Anwälten zur<br />

Unterdrückung der Meinungsfreiheit<br />

kritisiert.<br />

Die Vision des IOC, „die Menschlichkeit<br />

zu feiern“, steht im Widerspruch zu den<br />

Menschenrechtsverletzungen Chinas.<br />

Es macht sich fast zum Komplizen. Die<br />

dreimalige olympische Tennisspielerin<br />

Peng Shuai versuchte, die Aufmerksamkeit<br />

der Welt auf Chinas Konflikt mit den<br />

Bürgerrechten zu lenken. Sie beschuldigte<br />

auch einen ehemaligen Spit- >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

37


<strong>Globalisierung</strong><br />

Reicht ein<br />

bloßer diplomatischer<br />

Boykott aus,<br />

um Chinas<br />

gestärktem<br />

Autoritarismus<br />

etwas<br />

entgegenzusetzen?<br />

zenbeamten des sexuellen Missbrauchs.<br />

China wies alle Vorwürfe zurück. Auch<br />

das IOC drückte ein Auge zu.<br />

„Das IOC hat sich vom Schweigen über<br />

Pekings miserable Menschenrechtsbilanz<br />

zur aktiven Zusammenarbeit mit<br />

den chinesischen Behörden bei der Untergrabung<br />

der Meinungsfreiheit und<br />

der Missachtung angeblicher sexueller<br />

Übergriffe hinreißen lassen“, sagte<br />

Yaqiu Wang, leitender China-Forscher<br />

bei Human Rights Watch. „Das IOC<br />

scheint seine Beziehungen zu einem<br />

großen Menschenrechtsverletzer über<br />

die Rechte und die Sicherheit der olympischen<br />

Athleten zu stellen.“<br />

Ist ein diplomatischer Boykott<br />

ausreichend?<br />

Die Inhaftierung von rund 13 Millionen<br />

Uiguren und ethnischen Kasachen<br />

– einer türkisch-muslimischen<br />

Gemeinschaft in China – und andere<br />

Menschenrechtsverletzungen wie das<br />

Verbot traditioneller sozialer Aktionen<br />

in Tibet und die Untergrabung der Autonomie<br />

der Bürger von Hongkong werfen<br />

eine ernste Frage auf: Reicht ein bloßer<br />

diplomatischer Boykott aus, um Chinas<br />

gestärktem Autoritarismus etwas entgegenzusetzen?<br />

Da das IOC nur wenig Aufmerksamkeit<br />

schenkt, kann die Verantwortung, sich<br />

gegen Chinas Verhalten zu wehren,<br />

nicht nur auf den Schultern der Athleten<br />

liegen. Die Rolle der großen Unternehmen<br />

im Umgang mit China ist ein weiterer<br />

Schritt um sicherzustellen, dass<br />

Chinas Übertretungen nicht unkontrolliert<br />

bleiben, da Veranstaltungen wie die<br />

Olympischen Spiele von vielen Sponsoren<br />

gesponsert werden, oft von globalen<br />

Unternehmen. „Schweigen heißt mitschuldig<br />

sein“, sagte die amerikanische<br />

Biathletin Clare Egan gegenüber der<br />

New York Times.<br />

Zu den offiziellen Partnern der Olympischen<br />

Spiele gehören unter anderem<br />

Namen wie Allianz, Intel, Coca-Cola,<br />

Toyota, Visa, Samsung, Procter & Gam-<br />

38 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: Artwell / stock.adobe.com<br />

ble, Bridgestone, Airbnb und Alibaba.<br />

„Visa, Coca-Cola und andere haben ein<br />

ungewöhnlich niedriges Marketing-Profil“,<br />

sagte Diana Choyleva, Chefvolkswirtin<br />

bei Enodo Economics, gegenüber der<br />

BBC und fügte hinzu, dass es multinationalen<br />

Unternehmen in einer Zeit wie<br />

dieser „immer schwerer fallen wird“,<br />

neutral zu bleiben.<br />

Die Partner spielen eine wichtige Rolle,<br />

da sie Milliarden von Dollar ausgeben,<br />

um mit der olympischen Marke in Verbindung<br />

gebracht zu werden, die auch<br />

einen wesentlichen Teil der Einnahmen<br />

des IOC ausmacht. Als Human Rights<br />

Watch die Allianz im Oktober 2021 fragte,<br />

wie sie die Menschenrechtsproblematik<br />

in China im Zusammenhang mit<br />

ihrem Sponsoring betrachtet, sagte das<br />

Unternehmen, dass es hinter der olympischen<br />

Bewegung stehe und deren Ideale<br />

„seit langem“ und unerschütterlich<br />

unterstütze.<br />

Aber wo zieht ein globales Unternehmen<br />

die Grenze? „Wenn ich der Vorstandsvorsitzende<br />

eines Unternehmens wäre,<br />

das eine Menge Geld für das Sponsoring<br />

einer Veranstaltung oder Organisation<br />

ausgibt, würde ich sicherlich sicherstellen<br />

wollen, dass diese Veranstaltung<br />

oder Organisation ein gutes Licht auf<br />

mich wirft“, fügte Egan hinzu, der auch<br />

Vorsitzender des Athletenkomitees der<br />

Internationalen Biathlon Union ist.<br />

Andere Partner reagierten ähnlich diplomatisch.<br />

Auf die Frage von Bloomberg<br />

nach ihrer Beteiligung an den Olympischen<br />

Spielen antwortete die Schweizer<br />

Luxus-Uhrenmanufaktur Omega, dass<br />

sie sich als globale Marke der „internationalen<br />

Spannungen“ bewusst sei und<br />

diese weiterhin sorgfältig beobachte.<br />

„Wir glauben aufrichtig, dass die Olympischen<br />

Spiele eine perfekte Gelegenheit<br />

sind, sich im Geiste der Einheit auf einer<br />

gemeinsamen Basis zu treffen“, so das<br />

Unternehmen in seiner Antwort. Airbnb<br />

sagte, dass es glaubt, dass China „ein<br />

wichtiger Teil“ seiner Mission ist, Menschen<br />

mit verschiedenen Hintergründen<br />

weltweit zu verbinden.<br />

Marktzugang und Gewinn steuern<br />

Global agierende Unternehmen streben<br />

nach Profit, aber sie müssen auch ihren<br />

Ruf wahren – etwas, auf das sie achten<br />

sollten, wenn sie eine Veranstaltung in<br />

China sponsern. Aber das ist kein Spaziergang<br />

für sie. Nike, H&M und andere<br />

westliche Marken wurden in China mit<br />

einem Boykott konfrontiert, nachdem<br />

sie sich gegen Zwangsarbeit in Xinjiang<br />

ausgesprochen hatten. Auch der Tweet<br />

des damaligen General Managers der<br />

Houston Rockets zur Unterstützung der<br />

Proteste in Hongkong führte zu heftigen<br />

Reaktionen, die Zensur nach sich zogen<br />

und das Geschäft zwischen China und<br />

der NBA gefährdeten.<br />

Der Umgang mit den ethischen Risiken<br />

bei Geschäften in China ist mit großer<br />

Sorgfalt verbunden. Eine Geschäftstätigkeit<br />

in China ist angesichts der derzeitigen<br />

Arbeitsbedingungen riskant.<br />

Frankreich hat beispielsweise eine<br />

Untersuchung darüber eingeleitet, ob<br />

Bekleidungsunternehmen wie Zara,<br />

Skechers und andere von „Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit durch den<br />

Einsatz von Zwangsarbeitern in China“<br />

profitiert haben. In einer Zeit wie dieser<br />

könnte ein Rückzug sinnvoll sein.<br />

Die Unternehmen könnten alternative<br />

Herstellungswege erkunden. Die Suche<br />

nach Transparenz – die Veröffentlichung<br />

ethischer Standards – ist ebenso<br />

wichtig, da sie dazu beiträgt, dass Handlungen<br />

und Abläufe bei der Ausübung<br />

von Geschäften nachvollziehbar sind.<br />

„In dem Maße, wie ein restriktiveres<br />

Regulierungs- und Governance-System<br />

in allen Bereichen – von chinesischen<br />

Schulen und Universitäten bis hin zu<br />

Unternehmen, Medien und Unterhaltung<br />

– zum Tragen kommt, und zwar<br />

oft abrupt und ohne Einspruchsmöglichkeit,<br />

müssen Investoren in chinesische<br />

Vermögenswerte die Risiken<br />

sorgfältiger abwägen“, schreibt George<br />

Magnus, ehemaliger Chefökonom von<br />

UBS.<br />

Die Reaktionen der Unternehmen auf<br />

China sind unterschiedlich. Einige haben<br />

ihre Tätigkeit mit Widerstand fortgesetzt,<br />

andere haben sich zurückgezogen.<br />

Dann gibt es Unternehmen, die<br />

von China abhängig sind und sich offen<br />

für die chinesischen Standards einsetzen.<br />

Vielleicht ist es jetzt an der Zeit,<br />

dass globale Unternehmen Stellung<br />

beziehen – denn nur gleiche Wettbewerbsbedingungen<br />

können uns weiter<br />

bringen. ■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

39


<strong>Globalisierung</strong><br />

Keine<br />

Angst<br />

vor<br />

China<br />

Von Sonja Scheferling<br />

Wir brauchen die chinesische Wirtschaftsentwicklung<br />

nicht überbewerten, sagt der<br />

Volkswirt und Theologe Joachim Wiemeyer<br />

in unserem Gespräch und sieht Deutschland<br />

nach wie vor als <strong>Globalisierung</strong>sgewinner.<br />

Entwicklungsländer warnt er aber vor einer<br />

steigenden Schuldenabhängigkeit gegenüber<br />

China.<br />

UmweltDialog: Herr Professor Wiemeyer, der Soziologe Hartmut<br />

Rosa sagt, durch technische Beschleunigung und die Steigerung<br />

unseres Lebenstempos werden unsere Beziehungen zur Außenwelt<br />

und zum Wohnort weniger stabil. Dreht sich die Welt für<br />

manche von uns heute zu schnell?<br />

Prof. Wiemeyer: Worauf bezieht sich denn der Beschleunigungsaspekt<br />

exakt? Das müssen wir zunächst klären. In der<br />

öffentlichen Wahrnehmung haben wir häufig eine Diskrepanz<br />

zwischen technologischer Beschleunigung und der Realität.<br />

Nehmen Sie als Beispiel den vermuteten Anstieg der Arbeitsproduktivität<br />

in den letzten Jahren. Angesichts der Diskussionen<br />

über die Digitalisierung müssten wir sehr schnell durch<br />

den technischen Fortschritt das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen<br />

sehen. Tatsächlich ist die Arbeitsproduktivität der<br />

letzten Jahre sehr gering angestiegen, während die Zahl der<br />

Arbeitsstunden und die Anzahl der Arbeitsplätze zugenommen<br />

haben.<br />

Auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist in Deutschland<br />

leicht gestiegen. Das heißt, dass Menschen nicht andauernd<br />

ihren Arbeitsplatz wechseln, es sei denn es handelt sich um<br />

Branchen, die insgesamt durch Flexibilität gekennzeichnet<br />

sind; wie das Gaststättengewerbe etwa. Menschen verlassen<br />

40 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Unsere Annahme, dass man Menschen<br />

bei einer wirtschaftlichen Entwicklung,<br />

die auf Innovation und Technologie beruht,<br />

nicht ausschließlich zu freien,<br />

mündigen Unternehmern machen könne,<br />

sondern sie am politischen Entscheidungsprozess<br />

im Sinne eines freien,<br />

mündigen Bürgertums teilhaben lassen<br />

müsse, hat sich bis jetzt noch nicht bewahrheitet.<br />

vor allem wegen des Studiums ihren<br />

Heimatort. Aber ansonsten ist die deutsche<br />

Bevölkerung relativ immobil und<br />

hat ihren Lebensmittelpunkt häufig wenige<br />

Kilometer vom eigenen Geburtsort<br />

entfernt.<br />

Der Politologe Ulrich Menzel definiert<br />

<strong>Globalisierung</strong> als die Kompression von<br />

Raum und Zeit. Machen wir uns vielleicht<br />

ein falsches Bild von <strong>Globalisierung</strong>, etwa<br />

als einem sich immer weiter ausdehnenden<br />

Prozess?<br />

Ja, der Prozess der <strong>Globalisierung</strong> ist ja<br />

nicht naturwüchsig, sondern wurde politisch<br />

gestaltet. Technische Möglichkeiten<br />

wie die Digitalisierung oder die Verbilligung<br />

der Verkehrsströme sind nur<br />

Voraussetzungen, aber letztlich sorgt<br />

der politische Gestaltungswille dafür,<br />

dass <strong>Globalisierung</strong> tatsächlich durch<br />

eine immer intensivere wirtschaftliche<br />

Verflechtung stattfindet. Diese kann<br />

Foto: jeson / stock.adobe.com<br />

– das zeigt der Krieg in der Ukraine –<br />

auch schnell gestoppt werden.<br />

Der Angriff Russlands auf die Ukraine<br />

und die autokratische Herrschaft Putins<br />

zeigen, dass weltweite wirtschaftliche<br />

Verflechtung eben nicht zu einem automatischen<br />

Ausbreiten freiheitlicher, demokratischer<br />

Grundwerte führt. Wo lag der<br />

Denkfehler?<br />

Nach 1990 lag die Hoffnung in der <strong>Globalisierung</strong>,<br />

dass man auch mit China<br />

und Russland durch wirtschaftliche<br />

Verflechtung insgesamt weltpolitisch<br />

Gemeinsamkeiten entwickelt. Die<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte<br />

den Wohlstand mehren und durch<br />

Austausch, Reisen und Studien junger<br />

Menschen sollte es zu einer Annährung<br />

der unterschiedlichen politischen<br />

Systeme in Richtung westlicher Werte<br />

wie Menschenrechte und Demokratie<br />

kommen.<br />

Im Falle Chinas ist diese Entwicklung<br />

aber noch offen. Sollten die repressiven<br />

Maßnahmen der jetzigen chinesischen<br />

Regierung die Wirtschaftskraft hemmen<br />

und eine wirtschaftliche Stagnation auslösen,<br />

wird das gesamtgesellschaftliche<br />

Folgen für das Land haben.<br />

Sie argumentieren, dass es einen Zusammenhang<br />

zwischen Rohstoffreichtum und<br />

mangelnder politischer Freiheit und gesamtgesellschaftlichem<br />

Wohlstand gibt.<br />

Wie das?<br />

In Ländern wie Russland, Saudi-Arabien<br />

oder auch in vielen Teilen Afrikas stellen<br />

Rohstoffe diesbezüglich einen Fluch dar.<br />

Hier sind diktatorische Regime durch<br />

den Export von Öl, Gas et cetera reich<br />

geworden, und eine herrschende Gruppe<br />

hat sich jeweils alle wirtschaftlichen<br />

Vorteile gesichert und gibt die Mittel zur<br />

Absicherung ihrer Macht statt zur Entwicklung<br />

des Landes aus.<br />

Wie sich Rohstoffreichtum zum Wohle<br />

aller nutzen lässt, zeigt sich im Gegensatz<br />

dazu in Norwegen. Den Norwegern<br />

ist es durch ihren Staatsfond gelungen,<br />

die Rohstofferlöse der gesamten Bevölkerung<br />

zugutekommen zu lassen.<br />

Das heißt im Umkehrschluss, dass Rohstoffarmut<br />

gesamtgesellschaftlich Vorteile<br />

hat.<br />

Japan und Deutschland etwa sind rohstoffarm.<br />

Beiden Ländern blieb nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg nichts anderes<br />

übrig, als in Menschen durch Bildung<br />

zu investieren und auf dem Weltmarkt<br />

hochfertige Qualitätsprodukte anzubieten<br />

und Marktführerschaft zu erlangen.<br />

In unserem Falle sind das Branchen >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

41


<strong>Globalisierung</strong><br />

wie der Automobilsektor, der Maschinenbau<br />

oder die chemische Industrie.<br />

Und mit unseren Exporterlösen sind wir<br />

in der Lage, die Rohstoffe zu bezahlen,<br />

die wir benötigen.<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> ist mit dem Versprechen<br />

angetreten, dass freie Märkte den<br />

größten Vorteil für alle bringen. Das wird<br />

zunehmend auch in Industrienationen<br />

hinterfragt. Wie muss eine neue Narration<br />

lauten?<br />

Deutschland als Ganzes gehört ganz<br />

klar zu den <strong>Globalisierung</strong>sgewinnern.<br />

Wir generieren Exportüberschüsse in<br />

wichtigen Branchen und haben zahlreiche<br />

„heimliche“ Weltmarktführer im<br />

Mittelstand.<br />

Natürlich hat sich durch die <strong>Globalisierung</strong><br />

und die Digitalisierung die Wirtschaft<br />

strukturell gewandelt. Auch in<br />

Deutschland haben wir einen großen<br />

Niedriglohnsektor, in dem hauptsächlich<br />

zugewanderte Menschen arbeiten.<br />

Wer heute ein Päckchen von Amazon<br />

bekommt, wird meistens von einem<br />

Fahrer mit Migrationshintergrund beliefert.<br />

Darüber hinaus gibt es natürlich auch<br />

Branchen, die durch Billigexporte oder<br />

internationale Konkurrenz bedroht sind<br />

und in denen Menschen ihren Arbeitsplatz<br />

verlieren. Hier liegen dann die Vorteile<br />

der <strong>Globalisierung</strong> hauptsächlich<br />

bei den Konsumenten, die ihre Produkte<br />

günstig auswählen können. Wir können<br />

aber die negativen Auswirkungen durch<br />

sozialen Ausgleich weitestgehend kompensieren.<br />

Das ist in den USA so nicht<br />

passiert: Die schwach ausgestaltete<br />

Regionalpolitik kann dort den Strukturwandel<br />

durch wirtschaftspolitische<br />

oder sozialpolitische Maßnahmen nicht<br />

abfedern. Darüber hinaus hat die Mittelschicht<br />

in den vergangenen 20 bis<br />

30 Jahren keinen Einkommenszuwachs<br />

verzeichnet und ist im Gegensatz zur<br />

deutschen geschrumpft.<br />

Damit spricht vieles für ein Modell der<br />

sozialen Marktwirtschaft auf globaler<br />

Ebene.<br />

Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com<br />

Ja, die Mehrzahl der Ökonomen rechnet<br />

die Vorteile des internationalen Handels<br />

aus, enthält sich aber Werturteilen<br />

zur gerechten Verteilung. Wie die <strong>Globalisierung</strong>sgewinne<br />

verteilt werden,<br />

muss politisch entschieden werden.<br />

Passiert das nicht, können bestimmte<br />

Regionen oder Bevölkerungsgruppen<br />

zu <strong>Globalisierung</strong>sverlierern werden,<br />

finden sich in sozialen Protestbewegungen<br />

wieder und wählen Politiker wie<br />

Donald Trump.<br />

Chinas Aufstieg wird von vielen argwöhnisch<br />

beäugt. Wir gehen davon aus, dass<br />

der Aufstieg des einen den Abstieg des<br />

anderen bedeuten wird. Sind wir in Europa<br />

nachher am Ende doch die <strong>Globalisierung</strong>sverlierer?<br />

China hat ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen<br />

als die meisten europäischen<br />

Länder. Im Vergleich zu Deutschland<br />

hat das Land uns beim Bruttosozialprodukt<br />

nur überholt, weil es 20 Mal so<br />

viele Einwohner hat und deswegen eine<br />

andere Wirtschaftsleistung erbringen<br />

kann. Wachstumsraten von bis zu zehn<br />

Prozent waren zwar beeindruckend,<br />

aber man sollte diese Entwicklung auch<br />

nicht überbewerten, weil die Abstände<br />

im Pro-Kopf-Einkommen zwischen<br />

Deutschland und China nach wie vor<br />

sehr groß sind.<br />

Natürlich versucht China, Unternehmen<br />

wichtiger Schlüsseltechnologien aufzukaufen,<br />

durch massive staatliche Subventionen<br />

und Dumping führender Anbieter<br />

zu werden und andere Länder in<br />

diesen Bereichen abhängig zu machen.<br />

Aber wie groß sind denn beispielsweise<br />

unsere Investitionen dort? Nehmen wir<br />

mal die Automobilindustrie. Jeder namenhafte<br />

Autohersteller betreibt große<br />

Fabriken in China. Gibt es im Gegenzug<br />

einen chinesischen Autobauer in<br />

Deutschland?<br />

42 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


Wie kann die <strong>Globalisierung</strong> darüber hinaus<br />

so gestaltet werden, dass Entwicklungsländer<br />

gleichermaßen an den Gewinnen<br />

beteiligt werden?<br />

Da gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens<br />

muss die interne Struktur in den<br />

Entwicklungsländern für ausländische<br />

Investoren attraktiv sein. Eigene<br />

junge kreative Menschen dürfen am<br />

wirtschaftlichen Engagement nicht gehindert<br />

werden. Komplementär dazu<br />

müssen Infrastruktur und Bildungssysteme<br />

so ausgebaut werden, dass sie<br />

an den wirtschaftlichen Erfordernissen<br />

ausgerichtet sind. Das passiert in vielen<br />

Entwicklungsländern so nicht. Zweitens<br />

müssen die Entwicklungsländer einen<br />

freien Marktzugang ohne Zölle und andere<br />

Handelshemmnisse bekommen.<br />

“<br />

Deutschland<br />

als Ganzes<br />

gehört ganz<br />

klar zu<br />

den <strong>Globalisierung</strong>sgewinnern.<br />

Der Weg, den viele afrikanische Länder<br />

gehen, sich von China Infrastrukturen<br />

et cetera finanzieren zu lassen, um unabhängiger<br />

von US-Amerika und Europa<br />

zu sein, ist gefährlich, weil sie dadurch<br />

in eine Schuldenabhängigkeit gegenüber<br />

China geraten. Viele afrikanische<br />

Länder schauen auf das chinesische<br />

Wirtschaftsmodell, weil es dem asiatischen<br />

Land gelungen ist, mehrere 100<br />

Millionen Menschen aus der absoluten<br />

Armut herauszuführen.<br />

<strong>Globalisierung</strong> bedeutet für die meisten<br />

eine Methode zur Optimierung von Wirtschaftswachstum.<br />

Müssen wir mit Blick<br />

auf Nachhaltigkeit und planetare Grenzen<br />

nicht raus aus dem Hamsterrad?<br />

<strong>Globalisierung</strong><br />

Wir müssen generell so wirtschaften,<br />

dass dauerhaft menschliches Leben auf<br />

unserem Planeten möglich ist und jeder<br />

unter menschenwürdigen Verhältnissen<br />

leben kann. Deswegen sind die Nachhaltigen<br />

Entwicklungsziele der UN für<br />

2030 so wichtig, denn es geht auch darum,<br />

dass wir die absolute Armut überwinden<br />

und die bestehenden globalen<br />

Unterschiede zwischen den Ländern<br />

angleichen. Anderenfalls wird es zu<br />

weiteren Migrationsströmen und gesellschaftlichen<br />

Konflikten kommen. Beim<br />

Wirtschaftswachstum als Indikator für<br />

Wirtschaftsleistung müssen wir wiederum<br />

zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern<br />

unterscheiden.<br />

Denn in Entwicklungsländern ist erhebliches<br />

Wirtschaftswachstum notwendig,<br />

um die materielle Armut zu überwinden.<br />

Dabei müssen die Entwicklungsländer<br />

jene umweltschädlichen Phasen überspringen,<br />

die wir in der industriellen Revolution<br />

durchgemacht haben, um unseren<br />

Planeten nicht weiter zu gefährden.<br />

Das erfordert natürlich einen erheblichen<br />

Technologietransfer. In Industrieländern<br />

wie Deutschland lebt die Bevölkerungsmehrheit<br />

im relativen Wohlstand. Hier<br />

kauft man etwa Kleidungsstücke, weil<br />

man sie haben möchte und nicht, weil<br />

man sie unbedingt benötigt. Oftmals werden<br />

sie dann nach kurzer Zeit entsorgt;<br />

Shoppen wird zum Selbstzweck. Hier<br />

stellt sich zu Recht die Frage, ob weiteres<br />

Wirtschaftswachstum den Menschen<br />

mehr Sinn und Lebensqualität bietet.<br />

Vielleicht wären hier Aspekte wie eine<br />

größere Zeitsouveränität durch eine Reduzierung<br />

der Arbeitszeit und Lohnverzicht<br />

geeigneter, um die Lebensqualität<br />

der Menschen zu steigern. ■<br />

Prof. Dr. Joachim Wiemeyer<br />

war bis März 2021 Lehrstuhlinhaber<br />

für Christliche Gesellschaftslehre<br />

an der Katholisch-<br />

Theologischen Fakultät der<br />

Ruhr-Universität Bochum.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

43


<strong>Globalisierung</strong><br />

Schwachstelle Lieferkette?<br />

Das Zusammenspiel der Drehscheiben in den weltweiten Lieferketten<br />

Textilindustrie<br />

POL<br />

CZE<br />

FRA<br />

PRT<br />

AUT<br />

CHE<br />

HUN<br />

ROM<br />

DEU<br />

ITA<br />

SVK<br />

BGR<br />

LTU<br />

SVN<br />

HKG<br />

MLT<br />

FIJ<br />

BRN<br />

SIN<br />

LAO<br />

MON<br />

PHI<br />

HRV<br />

CYP<br />

MAL<br />

SRI<br />

GRC<br />

TUR<br />

RUS<br />

LUX<br />

ESP<br />

IRL<br />

GBR<br />

AUS<br />

PAK<br />

MDV<br />

BEL<br />

THA<br />

CHN<br />

NPL<br />

NLD<br />

IND<br />

NOR<br />

CAM<br />

TAP<br />

SWE<br />

JAP<br />

DNK<br />

KOR<br />

FIN<br />

LVA<br />

VIE<br />

EST<br />

KAZ<br />

KGZ<br />

BRA<br />

IDN<br />

USA<br />

MEX<br />

CAN<br />

BAN<br />

BTN<br />

Kapazitäten von Containerschiffen<br />

im Weltseehandel in den Jahren<br />

1980 bis 2020 (in Millionen dwt)<br />

207<br />

216<br />

228<br />

244<br />

246<br />

253<br />

266<br />

275<br />

169<br />

98<br />

64<br />

11<br />

20<br />

26<br />

44<br />

1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020<br />

Quellen: UNCTAD; Clarkson Research Services<br />

44 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Güter der Informations- und Kommunikationstechnologie<br />

NOR<br />

CZE<br />

DNK<br />

POL<br />

ESP<br />

ROM<br />

SWE<br />

AUT<br />

GBR<br />

ITA<br />

MLT<br />

CHE<br />

FRA<br />

PAK FIJ SRI BAN<br />

MON<br />

LAO<br />

KAZ<br />

KGZ<br />

HKG<br />

CAM<br />

NLD<br />

IRL<br />

CAN<br />

MEX<br />

FIN<br />

HUN<br />

BEL<br />

DEU<br />

RUS<br />

CYP<br />

TUR<br />

CHN<br />

KOR<br />

USA<br />

BRA<br />

BRN<br />

THA<br />

SVN<br />

PRT<br />

SVK<br />

SVK<br />

LVA<br />

EST<br />

LTU<br />

HRV<br />

LUX<br />

GRC<br />

AUS<br />

NPL<br />

IND<br />

BTN<br />

IDN<br />

JPN<br />

TAP<br />

PHI<br />

MAL<br />

MDV<br />

VIE<br />

Quelle: WTO (2019) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT<br />

Deutschland ist Nummer drei im Welthandel<br />

16<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

China<br />

USA<br />

Deutschland<br />

Japan<br />

Frankreich<br />

Großbritannien<br />

Südkorea<br />

Italien<br />

2000<br />

2020<br />

Quelle: WTO; eigene Berechnungen der WELT<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

45


<strong>Globalisierung</strong><br />

Kaum ein Betrieb hat<br />

mit einem weltweiten<br />

Lockdown gerechnet<br />

“Überschwemmungen, Cyber-Angriffe oder schwere Fabrikunglücke: Gründe<br />

Von Sonja Scheferling<br />

für Geschäftsunterbrechungen gibt es viele. Um diese zu bewältigen, brauchen<br />

Unternehmen ein effektives Business Continuity Management (BCM).<br />

Wie man ein leistungsfähiges Notfallsystem aufbaut, erläutert Beatrice Maier,<br />

Principal Consultant, Lead Trainer, Auditor bei DNV in unserem<br />

UmweltDialog-Interview. Sie ist Expertin in Sachen Krisenmanagement.<br />

46 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: industrieblick / stock.adobe.com<br />

Wie groß ist die Abhängigkeit von einzelnen<br />

Lieferanten? Können Logistikprozesse<br />

aufrechterhalten werden? Welche<br />

Rohstoffe oder Materialien können<br />

knapp werden? Im Rahmen einer Business<br />

Continuity Impact Analyse müssen<br />

Unternehmen hier vorab kritische Stellen<br />

im Unternehmen und innerhalb der<br />

Lieferketten identifizieren, die zu Unterbrechungen<br />

führen können. Wie sensibel<br />

die Lieferketten sind, auch über die<br />

COVID-Pandemie hinaus, zeigt sich jetzt<br />

wieder anhand der neu entbrannten Diskussion<br />

über ein Lieferkettengesetz.<br />

BCM und ISO 22301 im Fokus<br />

UmweltDialog: Deutschland profitiert<br />

wie kaum ein anderes Land von internationaler<br />

Arbeitsteilung. In der aktuellen<br />

Krisensituation werden nun Stimmen<br />

laut, die den Abbau globaler Lieferketten<br />

fordern und die Produktion ins Inland<br />

zurückholen wollen, um eine kontinuierliche<br />

Versorgung relevanter Produkte zu<br />

sichern. Wie praktikabel ist das?<br />

Beatrice Maier: Aus meiner Sicht kommt<br />

die Industrie heutzutage nicht ohne globale<br />

Lieferketten aus. Es ist wichtig darüber<br />

nachzudenken, in welchem Ausmaß<br />

diese erforderlich sind und wie Unternehmen<br />

sich in Krisenzeiten gegenüber<br />

Produktionsausfällen absichern können.<br />

Das ist generell schon Bestandteil eines<br />

guten Business Continuity Managements.<br />

Laut der ISO 22301 muss dieses<br />

in der Lage sein, die Lieferung von Produkten<br />

und Dienstleistungen innerhalb<br />

eines akzeptablen Zeitraums mit vordefinierter<br />

Kapazität fortzusetzen.<br />

„Mit einem BCM soll sichergestellt werden,<br />

dass die kritischen Geschäftsfunktionen<br />

im Fall interner oder externer<br />

Ereignisse aufrechterhalten oder zeitgerecht<br />

wiederhergestellt werden können.<br />

BCM zielt damit vor allem auf eine Minimierung<br />

der Wirkungen solcher Ereignisse“,<br />

schreibt Risknet. Wie bei jedem<br />

Managementsystem müssen das BCM<br />

in die Unternehmensstrategie verankert<br />

und Verantwortlichkeiten definiert werden.<br />

Ferner gilt es, Krisenszenarien und<br />

deren Auswirkungen zu definieren. Gemäß<br />

einer Business-Continuity-Strategie<br />

müssen Pläne erarbeitet werden, die<br />

„eine Wiederherstellung der geschäftskritischen<br />

Prozesse und Ressourcen in<br />

einer Krisensituation ermöglichen sollen.“<br />

Der ISO-Standard 22301 bündelt die Anforderungen,<br />

ein BCM systematisch >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

47


<strong>Globalisierung</strong><br />

zu implementieren und zu lenken. Auf<br />

diese Weise sind Betriebe auf Krisen<br />

und mögliche Betriebsunterbrechungen<br />

vorbereitet, können auf diese reagieren<br />

und nach einem Störungsfall die<br />

Geschäftstätigkeit fortsetzen. Die ISO<br />

22301 deckt die Bereiche Produktion,<br />

Finanzen, Lieferkette, Gesundheit und<br />

Sicherheit ab und ist auf jede Organisation<br />

und Branche anwendbar.<br />

Wie können Managementsysteme helfen,<br />

Krisen wie die Corona-Pandemie zu steuern?<br />

Gute Managementsysteme basieren generell<br />

darauf, dass Unternehmen ihre<br />

IST-Situation ermitteln. Wie stehe ich<br />

finanziell da? Wie sind meine Organisations-<br />

und Personalstrukturen? Wie<br />

ist es um meine Wettbewerbsfähigkeit<br />

bestellt? Wie sieht es in Sachen Umweltschutz<br />

aus? Es geht immer darum, die<br />

jeweiligen Geschäftsbereiche systematisch<br />

zu analysieren und Maßnahmen<br />

zu planen und regelmäßig zu überprüfen,<br />

mit denen vorab definierte Ziele erreicht<br />

werden.<br />

Dasselbe gilt für Krisensituationen:<br />

Hierbei muss vorab geklärt werden,<br />

welche potenziellen Notfallsituationen<br />

ein Unternehmen treffen können. Welchen<br />

Risiken ist das Unternehmen mit<br />

welcher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt,<br />

welche Konsequenzen haben diese für<br />

die Geschäftstätigkeit und mit welchen<br />

Maßnahmen können die Betriebsunterbrechungen<br />

vermieden werden? Wie<br />

wird im Falle des Eintretens eines Notfalls<br />

durch vorausschauende Planung<br />

betrieblicher Schaden abgewendet?<br />

Überlegungen, wie im Falle einer Pandemie<br />

vorzugehen ist, sollten bereits seit<br />

der Vogelgrippe Bestandteil eines Managementsystems<br />

sein.<br />

Ich denke, dass nicht alle Unternehmen<br />

auf die aktuelle Krise genügend vorbereitet<br />

waren. Aber weniger im Hinblick<br />

auf den weltweiten „Lockdown“ – kaum<br />

ein Betrieb hat eine Krise dieser Größenordnung<br />

in seine Wahrscheinlichkeitsberechnung<br />

aufgenommen – als<br />

vielmehr im Hinblick auf die Weiterführung<br />

der Geschäfte zum Beispiel im Homeoffice<br />

und die entsprechenden Kon-<br />

48 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

“Es geht immer darum, die jeweiligen<br />

Geschäftsbereiche systematisch zu analysieren<br />

und Maßnahmen zu planen und regelmäßig zu<br />

überprüfen, mit denen vorab definierte Ziele<br />

erreicht werden.<br />

sequenzen. Denn aus Sicht von Business<br />

Continuity schließen sich hier wichtige<br />

Fragen an: Sind Hard- und Software verfügbar,<br />

sind die IT- und Datensicherheit<br />

sowie der Schutz vor Cyber-Angriffen<br />

ausreichend?<br />

DNV unterstützt Unternehmen im Bereich<br />

Business Continuity auf unterschiedliche<br />

Arten. Beispielsweise bieten Sie Ihren<br />

Kunden und Kundinnen Remote-Audits,<br />

zahlreiche Informationen über Newsletter<br />

und Webinare an oder führen (online)<br />

Workshops durch. Was machen Sie auf<br />

dem Gebiet außerdem?<br />

Wir führen Zertifizierungen nach ISO<br />

22301 durch. Aufgrund der aktuellen<br />

Situation machen wir das bis zu einem<br />

Foto: Siwakorn1933 / stock.adobe.com<br />

bestimmten Punkt auch online. Je nach<br />

Zertifikat müssen wir die Ergebnisse zu<br />

einem späteren Zeitpunkt dann vor Ort<br />

verifizieren.<br />

Für die Kunden, die wir nicht zertifizieren,<br />

bieten wir außerdem zahlreiche<br />

Assessment-Services an, um die Stabilität<br />

ihrer Krisenmanagements zu beurteilen.<br />

Wo sind Lücken in der Ausführung?<br />

Wo müssen Pläne nachgebessert<br />

werden? Wie kommen die Unternehmen<br />

nach einer Krise wieder in den Normalbetrieb?<br />

Um ein aktuelles Beispiel zu<br />

nennen: Unternehmen müssen sich<br />

aufgrund des Corona-Virus Gedanken<br />

über ihr Infektionsrisikomanagement<br />

machen, um vorschriftsmäßig die Gesundheit<br />

von Mitarbeitern und Kunden<br />

zu schützen und ihre Geschäftstätigkeit<br />

weiterführen zu können. Hierzu bieten<br />

wir mit unserem Service „Reifegradbeurteilung<br />

des Managements von Infektionsrisiken“<br />

eine unabhängige Beurteilung<br />

an. Neben einem ausführlichen<br />

Ergebnisbericht und der Reifegraderklärung<br />

kann das My-Care-Label zur<br />

Kommunikation und zum Aufbau von<br />

Vertrauen mit Kunden und Mitarbeitern<br />

genutzt werden.<br />

Über Ihre Homepage können Interessierte<br />

außerdem ein kostenloses Online-Self-<br />

Assessment machen, das Auskunft über<br />

den Reifegrad ihres BCM gibt. Wie funktioniert<br />

das?<br />

Das Selbstbewertungs-Tool basiert auf<br />

weltweiten Best Practices und den Anforderungen<br />

der ISO 22301. Es ist Teil<br />

unseres Online-Self-Assessment-Portals,<br />

das verschiedene Standards abdeckt. Bei<br />

der Durchführung müssen die User Fragen<br />

zu Themen wie Führung, Risikomanagement,<br />

Produktlebenszyklus, Kommunikation<br />

oder Managementsystemen<br />

beantworten und erhalten dann einen<br />

Statusbericht über ihr BCM. Dieser kann<br />

als PDF ausgedruckt werden. Wer Interesse<br />

hat, kann im Nachgang dazu mit<br />

unseren Experten über Verbesserungspotenziale<br />

für sein BCM sprechen.<br />

Vielen Dank für das Gespräch! ■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

49


Advertorial<br />

<strong>Globalisierung</strong><br />

Weit verzweigt und<br />

nachhaltig integriert –<br />

die globale<br />

Lieferkette<br />

von Symrise<br />

Die Produkte von Symrise schaffen begeisternde<br />

Geschmacks- und Dufterlebnisse, verbessern<br />

die Eigenschaften von Nahrungsmitteln und<br />

tragen zu Gesundheit und Wohlbefinden<br />

bei – in über 150<br />

Ländern weltweit. Konsequente<br />

Kundenorientierung, hohe<br />

Innovationskraft und die<br />

gezielte Expansion in<br />

neue Märkte bilden<br />

die Grundlagen für<br />

nachhaltiges, profitables<br />

Wachstum.<br />

Die rund 34.000 Produkte des Unternehmens<br />

entstehen zum Großteil auf Basis<br />

natürlicher Rohstoffe wie Vanille, Zitrus,<br />

Zwiebeln, Fisch, Fleisch oder Blütenund<br />

Pflanzenmaterialien und stammen<br />

von allen Kontinenten. Diese Aromen,<br />

Wirkstoffe, Parfümöle und sensorischen<br />

Lösungen bilden in der Regel zentrale<br />

funktionale Bestandteile in den Endprodukten<br />

der Kunden. Zu ihnen gehören<br />

Parfüm-, Kosmetik- und Lebensmittelhersteller,<br />

die pharmazeutische Industrie<br />

sowie Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln,<br />

von Heimtierfutter und<br />

Babynahrung. Der Konzern mit Sitz in<br />

Holzminden ist mit mehr als 100 Standorten<br />

in Europa, Afrika und dem Nahen<br />

sowie Mittleren Osten, in Asien, den USA<br />

sowie in Lateinamerika vertreten.<br />

Derart komplexe Lieferketten langfristig<br />

nachhaltig aufzustellen, bringt besondere<br />

Herausforderungen mit sich.<br />

Wesentlichkeit im Fokus: Verantwortungsvolle<br />

Beschaffung<br />

Foto: Nikolaus Urban / Symrise<br />

Ein zentrales Thema der unternehmerischen<br />

Tätigkeit von Symrise bildet die<br />

verantwortungsvolle Beschaffung der<br />

eingesetzten Rohstoffe. Symrise kann<br />

nur so gut agieren wie seine Zulieferer.<br />

Die weit verzweigten Lieferketten beginnen<br />

oft bei Kleinbauern. Umso mehr Bedeutung<br />

besitzen daher die Rahmenbedingungen<br />

für die verantwortungsvolle<br />

Beschaffung der Rohstoffe. Insgesamt<br />

arbeitet Symrise mit mehr als 5.000<br />

Lieferanten zusammen. Das umfasst die<br />

Rohstoffbeschaffung sowie die Nutzung<br />

von Dienstleistungen.<br />

50 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Gleichzeitig ergeben sich für Symrise<br />

Chancen. Denn mit enger und zukunftsgerichteter<br />

Zusammenarbeit lassen sich<br />

Lieferantenbeziehungen nachhaltig stärken<br />

und Partnerschaften langfristig<br />

fördern. Um das sicherzustellen, hat<br />

Symrise die Rahmenbedingungen für<br />

verantwortungsvolle Beschaffung in einer<br />

Beschaffungsrichtlinie und einem<br />

Verhaltenskodex festgelegt, der für alle<br />

Lieferanten gilt. Für diese Einbindung<br />

seiner Lieferanten schaffte es Symrise<br />

2020 erstmals im CDP-Rating auf das<br />

Supplier Engagement Leaderboard.<br />

Sorgfalt walten lassen<br />

Als im Juli 2021 das Sorgfaltspflichtengesetz<br />

in Kraft trat, das die Verantwortung<br />

deutscher Konzerne für Menschenrechte<br />

und Umweltschutz entlang der<br />

globalen Lieferkette regelt, hatte sich<br />

Symrise gut vorbereitet. Denn bereits<br />

im April hatte sich das „Responsible<br />

Sourcing Steering Committee“ (RSSC)<br />

gegründet, in dem die Nachhaltigkeitsabteilung<br />

mit den Einkaufsleitern der<br />

Geschäftsbereiche zusammenarbeitet.<br />

Das Gremium soll Rohstofflieferanten<br />

und die indirekten Zulieferer wie Dienstleister<br />

oder Packmittellieferanten auf<br />

Chancen und Risiken in Sachen Nachhaltigkeit<br />

evaluieren. Es legt die Prozesse<br />

für die Lieferantenbewertungen, die entsprechenden<br />

Maßnahmen sowie die Einbettung<br />

der Bewertungskriterien in die<br />

Unternehmensprozesse fest. Auf diese<br />

Weise lassen sich Lieferketten resilienter<br />

machen und Symrise nimmt seine<br />

Verantwortung in diesem Kontext wahr.<br />

In Sichtweite: 100 % der<br />

Lieferanten nach Nachhaltigkeitskriterien<br />

bewertet<br />

Symrise will seine Lieferketten weiter<br />

und fortlaufend nachhaltiger gestalten –<br />

sozial wie ökologisch. Deshalb hat sich<br />

das Unternehmen zum Ziel gesetzt, bis<br />

2025 alle Lieferanten (Rohstoffe und<br />

Dienstleistungen) nach Nachhaltigkeitskriterien<br />

zu bewerten. Außerdem soll<br />

sich die Zahl der Lieferanten erhöhen,<br />

die sich im Rahmen des „CDP Supply<br />

Chain“-Programms eigene Umweltziele<br />

setzen. Darüber hinaus strebt der Konzern<br />

bis 2025 die 100 Prozent nachhaltige<br />

Beschaffung von strategischen Agrarund<br />

Aquakultur-Rohstoffen an.<br />

Gemeinsam Lieferketten gestalten<br />

Weil sich viele Prozesse in der Beschaffung<br />

nur gemeinsam abbilden lassen,<br />

beteiligt sich Symrise an gemeinsamen<br />

Initiativen für verantwortungsvolle Beschaffung.<br />

Dazu gehört auch die Initiative<br />

für nachhaltige Agrarlieferketten<br />

(INA), in der sich 34 Organisationen<br />

und Unternehmen zusammengeschlossen<br />

haben, um das geplante deutsche<br />

Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz zu<br />

bewerben. Dieses hat der Bund im Jahr<br />

2021 beschlossen, um den Schutz der<br />

Menschenrechte entlang globaler Lieferketten<br />

zu verbessern.<br />

Weiter engagiert sich Symrise seit März<br />

2021 in der internationalen Initiative<br />

AIM-Progress (Association des Industries<br />

de Marque). Dazu gehören Konsumgüterhersteller<br />

und Zulieferer, die sich<br />

für Nachhaltigkeit und die Einhaltung<br />

der Menschenrechte in der Lieferkette<br />

einsetzen. Neben Symrise unterstützen<br />

zahlreiche Unternehmen die Initiative.<br />

AIM-Progress bietet ein Forum für Austausch,<br />

gegenseitige Anerkennung von<br />

Audits, Fortbildungen und Vernetzung.<br />

Mehr und mehr Unternehmen will<br />

Symrise zum kollaborativen Austausch<br />

von Lieferantendaten in die SEDEX- oder<br />

EcoVadis-Plattformen einladen, um einen<br />

immer besseren Überblick über<br />

deren Nachhaltigkeitswirken zu bekommen.<br />

Das RSSC wird darüber hinaus zum<br />

Beispiel die Rohstofflieferanten weiter<br />

auffordern, am CDP-Supply-Chain-Programm<br />

teilzunehmen. Das machen die<br />

Holzmindener schon seit fünf Jahren. Im<br />

Jahr 2021 haben sich so 60 Prozent der<br />

Lieferanten, die Symrise angeschrieben<br />

hat, an den Programmen für den Schutz<br />

von Klima, Wasser und Wald beteiligt.<br />

Mehr als 70 Prozent der Zulieferer haben<br />

bereits Klimaziele definiert, die<br />

damit verbundenen Maßnahmen haben<br />

drei Millionen Tonnen CO 2<br />

eingespart.<br />

Nachhaltig bewertet<br />

Auch Analysten und Investoren achten<br />

verstärkt auf nachhaltig integrierte Lieferketten<br />

im globalen Kontext. Die Ratingagentur<br />

EcoVadis hat Symrise 2021<br />

nach sieben Gold-Medaillen erstmals<br />

den Platin-Status für seine nachgewiesene<br />

Nachhaltigkeitsleistung verliehen.<br />

Mit einem Score von 75/100 gehört es<br />

damit zu den ein Prozent der von Eco-<br />

Vadis am besten bewerteten Unternehmen.<br />

EcoVadis beurteilt Unternehmen<br />

weltweit in den vier Dimensionen Umwelt,<br />

Soziales, Ethik und Nachhaltigkeit<br />

in der Lieferkette. Zudem nutzt Symrise<br />

die EcoVadis-Datenbank zur Bewertung<br />

der Nachhaltigkeitsperformance seiner<br />

Lieferanten. Gemäß seiner Responsible<br />

Sourcing Policy fordert das Unternehmen<br />

seine Geschäftspartner, die EcoVadis<br />

mindestens mit „Bronze“ eingestuft hat,<br />

dazu auf, den Gold-Status anzustreben.<br />

Die Einstufung eines Lieferanten unterhalb<br />

der Bronze-Kategorie kann zur<br />

Beendigung der Geschäftsbeziehung<br />

führen.<br />

Für Herausforderungen gerüstet<br />

Nachhaltig integrierte Lieferketten in<br />

einer globalen Gesellschaft können<br />

auch in Zeiten helfen, in denen sich die<br />

Rahmenbedingungen plötzlich ändern.<br />

So geschehen während der Corona-Pandemie.<br />

Die Lieferketten haben sich in<br />

vielen Bereichen sehr fragil gezeigt, was<br />

Symrise dank seiner jahrelangen Bemühungen<br />

um eine nachhaltige Rückwärtsintegration<br />

seiner wichtigsten Rohstoffe<br />

ausgleichen konnte. Die Produktion lief<br />

weiter, was wiederum allen Beteiligten<br />

entlang der Lieferkette zugutekam.<br />

Die genannten Beispiele belegen, dass<br />

Symrise Nachhaltigkeit zum integralen<br />

Bestandteil seiner unternehmerischen<br />

Tätigkeit gemacht hat. Die Rohstoffbeschaffung<br />

bildet eines der zentralen<br />

Themen, die das Unternehmen über verschiedene<br />

Maßnahmen steuert. ■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

51


<strong>Globalisierung</strong><br />

Was kann ein kleines Unternehmen<br />

schon bewirken?<br />

Fotos: RHJ / stock.adobe.com<br />

Seltene Erden sind wichtiger Bestandteil vieler<br />

moderner Produkte wie Smartphones oder auch<br />

Windräder. In China erfolgt der Abbau allerdings<br />

oft unter eher schlechten Arbeitsbedingungen.<br />

Mit diesen Problemen in seiner Lieferkette wurde<br />

auch das mittelständische Unternehmen Haas &<br />

Co. Magnettechnik konfrontiert – und fand einen<br />

pragmatischen Ansatz zur Lösung.<br />

Von Elena Köhn<br />

Wer ein Smartphone, einen Computer<br />

oder ein Elektroauto sein Eigen nennt,<br />

besitzt auch sogenannte Seltene Erden.<br />

Denn diese Metalle sind essenzielle Materialien<br />

für viele Hightechprodukte. Die<br />

größten derzeit bekannten Vorkommen<br />

der Seltenen Erden liegen in China, berichtet<br />

der Bayerische Rundfunk. Mit<br />

einem Marktanteil von rund 90 Prozent<br />

der globalen Produktion habe das Land<br />

damit eine Monopolstellung. Zwar gebe<br />

es auch in anderen Ländern Vorkommen<br />

Seltener Erden. Diese seien aber<br />

zu gering, weshalb sich der Abbau nicht<br />

lohnt. Der Abbau und die Verarbeitung<br />

der Metalle in China sind allerdings mit<br />

menschenrechtlichen und ökologischen<br />

Risiken verbunden.<br />

52 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Diese Erfahrung machte auch Haas & Co.<br />

Magnettechnik. Dass Menschenrechte in<br />

der Lieferkette auch für den deutschen<br />

Mittelständler ein Thema sind, wurde<br />

Christopher Haas allerdings erst richtig<br />

klar, als das Unternehmen für einen<br />

Kunden ein Nachhaltigkeitsaudit absolvieren<br />

musste. Für die Herstellung der<br />

Magnete, die nicht nur in Smartphones<br />

und E-Autos, sondern auch in Windrädern<br />

zum Einsatz kommen, benötigt<br />

das etwa 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

starke Unternehmen nämlich<br />

das seltene Erdenmetall Neodym. Dieses<br />

wird unter schwierigen Bedingungen gewonnen:<br />

„In den Minen verwenden die<br />

Arbeiter Säuren, um den Rohstoff aus<br />

dem Gestein zu waschen, wodurch radioaktives<br />

Thorium freigesetzt wird“, erklärt<br />

Geschäftsführer Christopher Haas<br />

im Interview mit dem Online-Magazin<br />

Markt und Mittelstand. „Das ist nicht nur<br />

eine Belastung für die Umwelt, sondern<br />

auch für die Arbeiter, da sie oft keine<br />

ausreichende Schutzkleidung haben.“<br />

Große Herausforderungen …<br />

2011 nahm Haas & Co. seine Lieferkette<br />

daher genauer unter die Lupe und identifizierte<br />

zunächst mithilfe eines Mappings<br />

die wichtigsten menschenrechtlichen<br />

Risiken im Zusammenhang mit<br />

seiner Geschäftstätigkeit. Dies bestätigte,<br />

dass die größten Herausforderungen<br />

im Bereich der Lieferketten liegen. Gegenüber<br />

seinen direkten Lieferantinnen<br />

und Lieferanten hat das KMU bereits<br />

die Achtung der Menschenrechte in den<br />

Einkaufsbedingungen festgeschrieben.<br />

Der Mittelständler überprüft zudem<br />

durch regelmäßige Besuche, ob die Anforderungen<br />

auch eingehalten werden<br />

und sucht dabei auch immer den direkten<br />

Austausch mit seinen Geschäftspartnerinnen<br />

und -partnern.<br />

Bei einem seiner chinesischen Zulieferbetriebe<br />

stellte Haas & Co. schließlich<br />

Handlungsbedarf fest. Die mangelhaften<br />

Arbeitsbedingungen machten sich auch<br />

bei der Qualität der Produkte bemerkbar.<br />

So hatte dieser Zulieferbetriebe zeitweise<br />

mit Fluktuationsraten im Bereich Personal<br />

von bis zu 40 Prozent zu kämpfen.<br />

Der Grund: Rund um das chinesische<br />

Neujahrsfest kehren Wanderarbeitende<br />

oft gar nicht zu ihrer alten Arbeitsstelle<br />

zurück, sondern suchen sich eine neue<br />

Anstellung mit besseren Bedingungen.<br />

Hieraus entstanden messbare Qualitätsprobleme<br />

der importierten Waren und<br />

erhöhte Kosten für Reklamationen und<br />

Neuproduktionen.<br />

… pragmatische Lösungen<br />

Haas & Co. musste also Herausforderungen<br />

angehen, die selbst für große Unternehmen<br />

mitunter schwer lösbar sind.<br />

„Es ist zwar im Moment nicht möglich,<br />

bei Magneten eine komplett saubere<br />

Lieferkette zu haben, aber wir können<br />

dennoch einige Dinge umsetzen, um<br />

die Bedingungen zu verbessern“, meint<br />

Haas. Im Falle der chinesischen Fabrik,<br />

die mit hoher Fluktuation zu kämpfen<br />

hatte, regte das mittelständische Unternehmen<br />

zum Beispiel verschiedene<br />

Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes<br />

an. So baute der Lieferant<br />

etwa Notschalter in Maschinen ein und<br />

setzte die Unterkünfte der Wanderarbeiterinnen<br />

und Wanderarbeiter instand.<br />

Außerdem wurde Arbeitsschutzkleidung<br />

zur Verfügung gestellt und den<br />

Arbeiterinnen und Arbeitern angepasst.<br />

Dank der besseren Arbeitsbedingungen<br />

zeigten sich auch schnell Verbesserungen<br />

im Betrieb: Die Fluktuation konnte<br />

auf rund zehn Prozent gesenkt werden.<br />

Dadurch stiegen die Produktivität und<br />

Produktqualität, die Kosten wiederum<br />

sanken. Die Investitionen in bessere<br />

Arbeitsbedingungen lohnten sich also<br />

auch wirtschaftlich für den Zulieferbetrieb,<br />

weiß Haas. „Das war ein wichtiges<br />

Argument für das Unternehmen,<br />

um die Verbesserungen auch wirklich<br />

umzusetzen.“<br />

Um Transparenz gegenüber seinen Kundinnen<br />

und Kunden zu schaffen, spricht<br />

Haas & Co. zudem proaktiv an, wo (noch)<br />

keine Verbesserungen möglich sind.<br />

Damit möchte das mittelständische Unternehmen<br />

entlang der gesamten Wertschöpfungskette<br />

das Bewusstsein für<br />

Menschenrechtsthemen schärfen, um<br />

so langfristig und partnerschaftlich auf<br />

Verbesserungen hinzuwirken. Die Umsetzung<br />

der CSR-Maßnahmen hat aber<br />

auch zahlreiche positive Auswirkungen<br />

auf Haas & Co. selbst. Zum einen wird<br />

das KMU damit seiner gesellschaftlichen<br />

Verantwortung gerecht. Zum anderen<br />

profitiert das Unternehmen finanziell<br />

langfristig durch die Gewinnung von<br />

Neukunden und Neukundinnen, denen<br />

soziale Nachhaltigkeit und Menschenrechte<br />

– nicht zuletzt auch aufgrund<br />

steigender gesetzlicher Anforderungen<br />

– wichtig sind. ■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

53


<strong>Globalisierung</strong><br />

Am Lieferkettengesetz<br />

führt kein Weg vorbei<br />

Von Ulrich Klose und Milena Knoop<br />

Grafik: merklicht.de / stock.adobe.com<br />

54 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz<br />

tritt erst<br />

nächstes Jahr in Kraft, wird<br />

aber bereits intensiv diskutiert.<br />

Kritisiert wird einerseits,<br />

dass es nur für sehr große<br />

Unternehmen gelten soll,<br />

andererseits bemängeln<br />

Wirtschaftsverbände den<br />

bürokratischen Aufwand.<br />

Wenig beachtet wird, dass<br />

Auftraggeber:innen nun auch<br />

in Deutschland intensiver als<br />

bislang auf umwelt- und menschenrechtliche<br />

Risiken bei<br />

ihren Zulieferbetrieben achten<br />

müssen.<br />

Bereits seit 2011 müssen Unternehmen<br />

grundsätzlich auf die Einhaltung<br />

der Menschenrechte in ihren Lieferketten<br />

achten. Dazu verpflichten die<br />

UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und<br />

Menschenrechte (UNLP) ihre Mitgliedsstaaten,<br />

darunter auch Deutschland.<br />

Sonderlich erfolgreich waren die Bemühungen<br />

der Bundesregierung in dieser<br />

Hinsicht aber nicht. Zwar sah der 2016<br />

verabschiedete Nationale Aktionsplan<br />

Wirtschaft und Menschenrechte (NAP)<br />

nach Angaben des Bundesministeriums<br />

für Arbeit und Soziales vor, „dass bis<br />

2020 mindestens die Hälfte aller Unternehmen<br />

in Deutschland mit mehr als<br />

500 Beschäftigten die im NAP beschriebenen<br />

Elemente menschenrechtlicher<br />

Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse<br />

integriert haben.“ Allerdings ergab eine<br />

Befragung zur Umsetzung der NAP-Ziele,<br />

dass nicht einmal 20 Prozent der Unternehmen<br />

dieser Pflicht ausreichend<br />

nachkommen.<br />

Für mehr Verbindlichkeit soll deswegen<br />

nun das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“<br />

sorgen. Es tritt nächstes Jahr für<br />

Betriebe mit mehr als 3.000 Beschäftigten<br />

in Kraft. Laut Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung soll es dazu beitragen,<br />

die Einhaltung grundlegender Menschenrechtsstandards<br />

sowie das Verbot<br />

von Kinderarbeit und Zwangsarbeit in<br />

den globalen Lieferketten durchzusetzen.<br />

Große Unternehmen müssen dann<br />

erkannte Menschenrechtsverletzungen<br />

und Umweltzerstörungen im eigenen<br />

Geschäftsbereich unverzüglich abstellen.<br />

Bei unmittelbaren Zulieferbetrieben<br />

muss wiederum ein Plan zur schnellstmöglichen<br />

Beseitigung und Minimierung<br />

der Verstöße erstellt werden. Bei<br />

mittelbaren Zulieferbetrieben müssen<br />

Auftraggeber:innen anlassbezogen tätig<br />

werden.<br />

Auf die letztendlich etwa 3.000 vom<br />

Gesetz betroffenen Unternehmen – ab<br />

2024 greift es bereits ab 1.000 Mitarbeitenden<br />

– kommen damit neue Aufgaben<br />

zu. Im Wesentlichen bestehen diese laut<br />

Initiative Lieferkettengesetz darin, ein<br />

Risikomanagement einzurichten, regelmäßig<br />

Risikoanalysen zu möglichen<br />

Menschenrechts- und Umweltverstößen<br />

in der Lieferkette zu erstellen, ein Beschwerdeverfahren<br />

einzurichten und<br />

die Sorgfaltspflichtaktivitäten zu dokumentieren.<br />

Wirtschaftsverbände beklagen<br />

bürokratischen Aufwand<br />

Darüber, wie stark die Belastungen für<br />

die Wirtschaft werden und wie groß<br />

der Nutzen des Gesetzes ist, gehen die<br />

Meinungen auseinander. Die Initiative<br />

Lieferkettengesetz, ein Bündnis von<br />

mehr als 125 Organisationen, hebt hervor,<br />

dass zum ersten Mal ein Gesetz in<br />

Deutschland Unternehmen dazu verpflichte,<br />

„Verantwortung für die Menschen<br />

in ihren Lieferketten zu übernehmen“,<br />

wie Koordinatorin Johanna Kusch<br />

sagt. Sie kritisiert aber auch: „Das Gesetz<br />

umfasst zu wenige Unternehmen<br />

und macht zu viele Ausnahmen bei den<br />

Sorgfaltspflichten. Es verweigert Betroffenen<br />

den Anspruch auf Schadensersatz<br />

und setzt leider kein Zeichen für den Klimaschutz<br />

in Lieferketten.“<br />

Skeptischer zeigen sich Unternehmensund<br />

Wirtschaftsvertreter:innen. Das<br />

Gesetz stelle „die Unternehmen unter<br />

Generalverdacht und bürdet ihnen unnötig<br />

Bürokratie auf“, beklagt etwa Thilo<br />

Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des<br />

Maschinen- und Anlagenbauverbands<br />

VDMA. Er spricht sich für eine europäische<br />

Regelung der Problematik aus. Felix<br />

Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des<br />

Zentralverbands Deutsches Baugewerbe<br />

(ZDB), warnt besonders vor Folgen für<br />

die eigentlich gar nicht direkt adressierten<br />

kleinen und mittleren Unternehmen.<br />

Großunternehmen könnten ihre Lieferkettenverantwortung<br />

auf die KMU abwälzen.<br />

Diesen drohe dann durch neue<br />

Dokumentations- und Berichtspflichten<br />

die Überlastung.<br />

In der Tat seien KMU mittelbar durch<br />

das Lieferkettengesetz betroffen, bestätigt<br />

Ceren Yildiz, wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin „Umweltschutz in Lieferketten“<br />

beim BUND, UmweltDialog<br />

auf Nachfrage. Sie unterlägen aber >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

55


<strong>Globalisierung</strong><br />

Internationale Gesetze mit Fokus auf<br />

Menschenrechte<br />

Verschiedene internationale Gesetze regeln bereits<br />

bestimmte Bereiche menschenrechtlicher Sorgfaltspflicht.<br />

Etwa beim Thema Konfliktmineralien.<br />

So ist die EU-Verordnung, die sicherstellen soll,<br />

dass die Mineralien Zinn, Tantal, Wolfram und Gold<br />

aus konfliktfreien Quellen bezogen werden, seit<br />

Januar 2021 in Kraft. In den USA wurde dazu 2010<br />

der „Dodd-Frank Act“ verabschiedet, der ebenfalls<br />

zum Ziel hat, die verantwortungsvolle Gewinnung<br />

von mineralischen Rohstoffen zu fördern.<br />

In Frankreich gibt es mit dem „Loi sur le Devoir de<br />

Vigilance“ bereits seit 2017 ein Gesetz zur Umsetzung<br />

der UN-Leitprinzipien, das bestimmte ökologische<br />

und soziale Sorgfaltspflichten für große Unternehmen<br />

verbindlich regelt. In den Niederlanden gibt<br />

es seit 2019 das „Child Labour Due Diligence Law“,<br />

das Unternehmen dazu verpflichtet, Kinderarbeit in<br />

ihren Lieferketten zu verhindern.<br />

Der 2021 in Norwegen verabschiedete „Transparency<br />

Act“ verpflichtet Unternehmen ebenfalls dazu,<br />

Sorgfaltspflichten im Hinblick auf Menschenrechte<br />

und menschenwürdige Arbeit in der gesamten<br />

Wertschöpfungskette zu erfüllen. Er gilt auch für<br />

nicht in Norwegen ansässige Unternehmen, wenn<br />

diese etwa Produkte oder Dienstleistungen dort<br />

anbieten.<br />

Der britische „Modern Slavery Act“ wiederum ist<br />

seit 2015 in Kraft und verlangt von Unternehmen,<br />

Informationen darüber zu veröffentlichen, wie sie<br />

moderne Sklaverei in ihren Lieferketten vermeiden.<br />

Sofern deutsche Unternehmen einen bestimmten<br />

Anteil ihres Umsatzes durch Aktivitäten in Großbritannien<br />

erwirtschaften, gilt das Gesetz auch für sie.<br />

In Australien gibt es seit 2018 auch einen „Modern<br />

Slavery Act“, der dem britischen Gesetzt ähnelt.<br />

nicht der gleichen behördlichen Kontrolle<br />

und Durchsetzung und müssten<br />

nicht dieselben Auskunfts- und Risikomanagementpflichten<br />

erfüllen.<br />

Mittelständische Unternehmen wünschen<br />

sich Rechtssicherheit<br />

Anders als es die großen Verbände<br />

darstellten, nehme er gerade bei mittelständischen<br />

Unternehmen Unterstützung<br />

für die Ziele des Gesetzes wahr,<br />

merkte dagegen Friedel Hütz-Adams,<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der<br />

ökumenischen Organisation Südwind<br />

e.V., kürzlich gegenüber der Presse an.<br />

Die Unternehmen forderten vor allem<br />

Rechtssicherheit. Denn derzeit verfügten<br />

sie nicht über ausreichend Möglichkeiten,<br />

ihrerseits ihre Zulieferer zu<br />

kontrollieren. Zu mehr Gelassenheit<br />

rät auch der Unternehmensberater und<br />

ehemalige Menschenrechtsbeauftragte<br />

der Bundesregierung Markus Löning im<br />

Interview mit der taz: „Firmen werden<br />

sich zusammenschließen, um Standardverfahren<br />

zu entwickeln, die dem einzelnen<br />

Unternehmen einen Teil der Arbeit<br />

abnehmen. Branchenverbände arbeiten<br />

an solchen Lösungen, wir ebenso.“<br />

Im Sinne der Rechtssicherheit bringt<br />

das Lieferkettengesetz tatsächlich einige<br />

Verbesserungen, hebt die Initiative Lieferkettengesetz<br />

hervor. Unternehmen,<br />

die von Menschenrechtsverletzungen<br />

56 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

in ihrer Lieferkette erfahren, könnten<br />

nun das zuständige Bundesamt für<br />

Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA)<br />

zum Eingreifen veranlassen. Dieses<br />

kann konkrete Maßnahmen anordnen.<br />

Sogar Zwangsgelder von bis zu 50.000<br />

Euro sind möglich. Bei wiederholten<br />

Verstößen können Betriebe sogar für<br />

drei Jahre von öffentlichen Aufträgen<br />

ausgeschlossen werden.<br />

Auch deutsche Lieferketten müssen<br />

kontrolliert werden<br />

In Deutschland ansässige Unternehmen<br />

müssen sich nun also mehr Gedanken<br />

über ihre Lieferketten machen – und<br />

zwar auch über die inländischen Zulieferbeziehungen.<br />

Denn auch wenn globale<br />

Lieferketten – wie etwa für Kakao,<br />

Aluminium oder Kleidung – in menschenrechtlicher<br />

Hinsicht besonders<br />

problematisch sind, herrscht auch in der<br />

Bundesrepublik keineswegs eitel Sonnenschein.<br />

Die Initiative Lieferkettengesetz<br />

nennt unter anderem die Arbeitsbedingungen<br />

in der Fleischindustrie, die<br />

schlechtere Bezahlung von Frauen sowie<br />

die Arbeitsbedingungen und das Lohndumping<br />

in der Logistikbranche.<br />

Heißt das konkret, dass deutsche Unternehmen,<br />

die für ihre Kantine Lebensmittel<br />

eines Fleischverarbeiters beziehen,<br />

der wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen<br />

ins Gerede gekommen ist,<br />

nun eingreifen müssen? Ja, sagt Ceren<br />

Yildiz zu UmweltDialog: „Menschenrechtsbezogene<br />

Pflicht bedeutet für<br />

Unternehmen, dass sie menschenrechtlichen<br />

Risiken vorzubeugen haben oder<br />

die Verletzung von Menschenrechten<br />

zu minimieren oder zu beenden haben.<br />

Diese Maßgabe gilt für den eigenen Geschäftsbereich,<br />

den der Zulieferer und<br />

bei substantiierter Kenntnis auch für<br />

mittelbare Zulieferer.“ So sei es in Paragraph<br />

2 des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes<br />

geregelt. Sofort abgebrochen<br />

werden muss die Geschäftsbeziehung<br />

gemäß Paragraph 7 nicht. Scheiterten<br />

Verbesserungsbemühungen aber, könne<br />

auch dieser Schritt nötig werden. ■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

57


<strong>Globalisierung</strong><br />

Der existenzsichernde<br />

Lohn: Mehr als der<br />

Mindestlohn<br />

Von Ribhu Singh<br />

Wie viel Lohn ist genug Lohn? Eine brennende<br />

Frage seit den Tagen der industriellen Revolution<br />

um 1700, als Arbeit zu einer Ware wurde.<br />

58 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Fotos: Hyejin Kang / stock.adobe.com<br />

Die Frage, wie viel Lohn für die geleistete<br />

Arbeit angemessen ist, ist seit Jahrhunderten<br />

Gegenstand von Debatten in<br />

Vorstandsetagen und von Gesprächen<br />

beim Abendessen zwischen Arbeitgebern,<br />

politischen Entscheidungsträgern<br />

und Wirtschaftswissenschaftlern. Die<br />

Frage der angemessenen Entlohnung<br />

ist nach wie vor ein klassischer Fall, bei<br />

dem es um die Frage geht, wie lang ein<br />

Stück Schnur wirklich ist.<br />

Die Global Living Wage Coalition (GLWC)<br />

definiert den existenzsichernden Lohn<br />

als „das Entgelt, das ein Arbeitnehmer<br />

an einem bestimmten Ort für eine<br />

normale Arbeitswoche erhält und das<br />

ausreicht, um dem Arbeitnehmer und<br />

seiner Familie einen angemessenen Lebensstandard<br />

zu bieten“. Andererseits<br />

ist der Mindestlohn ein Begriff, der die<br />

niedrigste Vergütung pro Stunde bezeichnet,<br />

die einem Arbeitnehmer nach<br />

den gesetzlichen Bestimmungen gezahlt<br />

werden darf. Er ist lediglich der Ausgangspunkt,<br />

um zu bestimmen, wie viel<br />

einem Arbeitnehmer für seine Arbeit<br />

gezahlt werden kann. Er berücksichtigt<br />

nicht die Art des Lebensstils, den sich<br />

ein solcher Lohn leisten und erhalten<br />

kann. Das Konzept des existenzsichernden<br />

Lohns geht über den Mindestlohn<br />

hinaus. Es geht einen Schritt weiter und<br />

untersucht, ob sich ein Arbeitnehmer<br />

mit dem für seine Arbeit gezahlten Lohn<br />

einen angemessenen Lebensstandard<br />

leisten kann.<br />

Da die Lebensbedingungen in den verschiedenen<br />

Teilen der Welt unterschiedlich<br />

sind, stellt sich die Frage, wie wir<br />

bestimmen können, was ein angemessener<br />

Lebensstil ist, ohne Gefahr zu laufen,<br />

anmaßend zu sein. Richard Anker und<br />

Martha Anker, Wirtschaftswissenschaftler<br />

und Begründer der Anker-Methodik,<br />

argumentieren, dass „Subjektivität kein<br />

Hindernis für die Akzeptanz wirtschaftlicher<br />

Konzepte ist”. Sie behaupten, dass<br />

die meisten wirtschaftlichen Konzepte<br />

teilweise auf Subjektivität beruhen, die<br />

subjektive Faktoren wie das Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP), Arbeitslosigkeit und<br />

Armut berücksichtigen.<br />

Bestimmung des existenzsichernden<br />

Lohns<br />

Der GLWC hat die Anker-Methode als<br />

Standard für die Schätzung des existenzsichernden<br />

Lohns festgelegt. Nach<br />

der Anker-Methode beruht der Test für<br />

den existenzsichernden Lohn auf zwei<br />

Komponenten. Die erste Komponente besteht<br />

in der Schätzung der Kosten einer<br />

grundlegenden, aber angemessenen Lebensweise<br />

für einen Arbeitnehmer und<br />

seine Familie an einem bestimmten Ort.<br />

Zweitens muss festgestellt werden, ob<br />

der geschätzte existenzsichernde Lohn<br />

den Arbeitnehmern auch gezahlt wird.<br />

Um die Kosten für einen grundlegenden,<br />

aber angemessenen Lebensstil für<br />

Arbeitnehmer zu ermitteln, werden die<br />

Lebenshaltungskosten in drei Kategorien<br />

eingeteilt, nämlich Nahrungsmittel,<br />

Wohnung und andere wesentliche<br />

Bedürfnisse. Die Lebensmittelkosten<br />

werden auf der Grundlage einer kostengünstigen,<br />

nahrhaften Ernährung<br />

ermittelt, die den Empfehlungen der<br />

Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />

und den lokalen Lebensmittelpräferenzen<br />

entspricht. Auch die lokalen<br />

Lebensmittelpreise werden berücksichtigt.<br />

Die lokalen Wohnkosten werden<br />

auf der Grundlage internationaler und<br />

lokaler Standards für Anstand und<br />

Würde geschätzt und von den lokalen<br />

Wohnungsbehörden mitgeteilt. Die Ankler-Methode<br />

verwendet eine Extrapolationsmethode,<br />

um die Kosten für andere<br />

Grundbedürfnisse wie Gesundheitsversorgung,<br />

Bildung und Transport zu ermitteln.<br />

>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

59


<strong>Globalisierung</strong><br />

Um den geschätzten existenzsichernden<br />

Lohn zu ermitteln, werden die geschätzten<br />

Gesamtkosten für einen angemessenen<br />

Lebensstandard für eine typische<br />

Familie auf die für diesen Ort typische<br />

Anzahl von Vollzeitbeschäftigten pro Familie<br />

umgelegt.<br />

Das Konzept des existenzsichernden<br />

Lohns befasst sich mit der Frage, ob das<br />

Entgelt ausreicht, um die Haushaltskosten<br />

zu decken und eine Familie zu ernähren,<br />

im Gegensatz zum Mindestlohn,<br />

der lediglich vorschreibt, wie hoch das<br />

Grundentgelt sein sollte, ein rechtliches<br />

Konstrukt mit Gesetzeskraft, so Anker<br />

& Anker. In der Vergangenheit haben<br />

viele Arbeitgeber die Mindestlöhne so<br />

niedrig wie möglich angesetzt, um große<br />

Gewinnspannen zu erzielen und gleichzeitig<br />

die gesetzlichen Bestimmungen<br />

einzuhalten, was jedoch zu Lasten der<br />

Arbeitnehmer ging.<br />

Auseinandersetzung mit<br />

ausbeuterischen Arbeitspraktiken<br />

Der Mindestlohn wird häufig von politischen<br />

Motiven und den Interessen<br />

der politischen Entscheidungsträger<br />

bestimmt. Die Regierungen formulieren<br />

ihn, um konkurrierende Interessen<br />

auszugleichen, die Armut zu verringern<br />

und sicherzustellen, dass die Bedürfnisse<br />

der Haushalte ausreichend gedeckt<br />

sind. Außerdem wollen sie die Beschäftigung<br />

und das Wirtschaftswachstum<br />

ankurbeln. Der existenzsichernde Lohn<br />

ist für Arbeitgeber nicht gesetzlich vorgeschrieben,<br />

so dass die Arbeitnehmer<br />

für ausbeuterische Arbeitspraktiken anfällig<br />

sind.<br />

Das Mindestlohnübereinkommen der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation (IAO)<br />

dient Regierungen, Interessenvertretern<br />

und der Öffentlichkeit als Leitfaden für<br />

Grundlegendes<br />

und oberstes Ziel<br />

ist es, den<br />

Arbeitnehmern<br />

einen Mindestlohn<br />

zu sichern, der<br />

ihnen und ihren<br />

Familien einen zufriedenstellenden<br />

Lebensstandard<br />

ermöglicht.<br />

die Ableitung geeigneter Schätzungen<br />

des existenzsichernden Lohns, wenn<br />

Verhandlungen über die Festsetzung<br />

des Mindestlohns geführt werden. In<br />

Teil (a) des Übereinkommens wird ausdrücklich<br />

darauf hingewiesen, was bei<br />

der Festlegung der Höhe des Mindestlohns<br />

zu berücksichtigen ist: „die Bedürfnisse<br />

der Arbeitnehmer und ihrer<br />

Familien unter Berücksichtigung des<br />

allgemeinen Lohnniveaus im Lande, der<br />

Lebenshaltungskosten, der Leistungen<br />

der sozialen Sicherheit und des relativen<br />

Lebensstandards anderer sozialer<br />

Gruppen“.<br />

Grundlegendes und oberstes Ziel ist es,<br />

den Arbeitnehmern einen Mindestlohn<br />

zu sichern, der ihnen und ihren Familien<br />

einen zufriedenstellenden Lebensstandard<br />

ermöglicht.<br />

Das Streben nach einem existenzsichernden<br />

Lohn ist nicht unproblematisch,<br />

insbesondere in kapitalistischen<br />

Gesellschaften. Im Laufe der Jahre haben<br />

sich Arbeitnehmer gewerkschaftlich<br />

organisiert, um für eine angemessene<br />

Entlohnung zu kämpfen, und sind<br />

oft auf Protest gegangen, um Druck auf<br />

die Arbeitgeber auszuüben, damit diese<br />

die Bedeutung der Arbeitskräfte anerkennen.<br />

In Ländern wie Argentinien, Russland<br />

und Südafrika gab es Proteste wegen<br />

niedriger Löhne und der Notwendigkeit<br />

eines angemessenen Lebensstandards.<br />

Die Ereignisse vom 16. August 2012 in<br />

Marikana, Südafrika, wo 34 Minenarbeiter<br />

von der Polizei erschossen wurden,<br />

während sie für eine Lohnerhöhung protestierten,<br />

bleiben historisch. Der Vorfall<br />

wurde als Marikana-Massaker bekannt<br />

und hat ein Schlaglicht auf die ausbeuterischen<br />

Arbeitspraktiken geworfen, denen<br />

gering qualifizierte und angelernte<br />

Arbeiter ausgesetzt sind. Gemessen am<br />

Gini-Index der Weltbank ist Südafrika,<br />

gefolgt von Namibia und Surinam, nach<br />

wie vor das Land mit der weltweit größten<br />

Ungleichheit, wobei die obersten ein<br />

Prozent der Einkommensbezieher 20<br />

Prozent des Einkommens für sich beanspruchen.<br />

Der Verhandlungsprozess ist nach wie<br />

vor recht schwierig, vor allem wegen<br />

der kapitalistischen Ideale, die multinationale<br />

Unternehmen antreiben. Schätzungen<br />

des Lohnniveaus erfordern eine<br />

gründliche Untersuchung von Arbeitsangebot<br />

und -nachfrage sowie Konsultationen<br />

mit den politischen Instanzen<br />

und den Interessengruppen. Konflikte<br />

sind unvermeidlich, wenn alle Parteien<br />

ihre Interessen wahren wollen.<br />

Die Ethical Trading Initiative (ETI) weist<br />

darauf hin, dass, wenn die Budgets nicht<br />

vollständig aufgestockt werden, wenn<br />

die Löhne für einige Arbeitnehmer erhöht<br />

werden, dies dazu führen könnte,<br />

dass andere entlassen werden, wenn<br />

die Unternehmen sich in einer Situation<br />

befinden, in der sie sich keine großen<br />

Arbeitskräfte leisten können, was zu<br />

Arbeitslosigkeit führt. Dies würde folg-<br />

60 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

lich den Zweck der Forderung nach einem<br />

existenzsichernden Lohn zunichte<br />

machen, da der Lebensstandard einiger<br />

Arbeitnehmer angehoben und der anderer<br />

gesenkt werden würde. In der ETI<br />

heißt es weiter, dass gering qualifizierte<br />

Arbeitnehmer in der Regel Gefahr laufen,<br />

aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu<br />

werden, weil ihre Fähigkeiten nicht als<br />

würdig für die neu festgelegten höheren<br />

Löhne angesehen werden.<br />

Das Streben nach einem existenzsichernden<br />

Lohn ist die eine Seite. Genauso<br />

wichtig ist es, festzustellen, ob ein<br />

existenzsichernder Lohn gezahlt wird.<br />

Die Ankler-Methode trägt dem Rechnung,<br />

indem sie berücksichtigt, wie die<br />

Arbeitnehmer tatsächlich bezahlt werden.<br />

Im Sinne der Methode schließt der<br />

existenzsichernde Lohn die Bezahlung<br />

von Überstunden aus, da diese während<br />

der regulären Arbeitszeit geleistet werden<br />

müssen. Die Arbeitnehmer sollten<br />

nach Abzug der Steuern über ein ausreichendes<br />

Einkommen verfügen, um<br />

einen angemessenen Lebensstil führen<br />

zu können, daher wird dies ebenfalls<br />

berücksichtigt. Produktivitätsprämien<br />

werden bei der Ermittlung des existenzsichernden<br />

Lohns nicht berücksichtigt.<br />

Schließlich bietet das Verfahren einen<br />

Leitfaden zur Ermittlung des Arbeitsniveaus<br />

in verschiedenen Arbeitsstrukturen,<br />

z. B. Standard-, Zeit- und Saisonarbeit.<br />

Der Weg zu einer gleichberechtigten<br />

Gesellschaft, in der die Menschen einen<br />

angemessenen Lebensstandard<br />

oberhalb der Armutsgrenze genießen,<br />

liegt noch weit vor uns. Dazu bedarf es<br />

effizienter Verhandlungen und selbstloser<br />

Kompromisse. So etwas wie ein<br />

ausreichendes Gehalt gibt es nicht. Der<br />

existenzsichernde Lohn ist ein Ansatzpunkt.<br />

■<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

61


<strong>Globalisierung</strong><br />

Wo bleibt die Nachhaltigkeit?<br />

Ressourcenverbrauch,<br />

in Anzahl Erden<br />

Beispiel: Wenn alle Menschen der<br />

Erde den Ressourcenverbrauch der<br />

Deutschen hätten, wären statt einer<br />

2,97 Erden notwendig (berücksichtigt<br />

sind Tierhaltung, Holzproduktion, Fischerei,<br />

Ackerbau, Infrastruktur und<br />

CO 2<br />

-Emissionen; Daten von 2016).<br />

keine Daten<br />

unter 1<br />

1 bis unter 2<br />

2 bis unter 3<br />

3 bis unter 4<br />

4 bis unter 5<br />

5 und mehr<br />

62 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Quelle: DER SPIEGEL; Global Footprint Network<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

63


<strong>Globalisierung</strong><br />

Was wird<br />

aus der<br />

Agenda<br />

2030?<br />

Von Dr. Elmer Lenzen<br />

Viele Experten sagen, dass die<br />

2020er-Jahre entscheidend<br />

sein werden, um gute Transformationspfade<br />

einzuschlagen.<br />

Klimawissenschaftler des<br />

IPCC etwa warnen, dass wir in<br />

diesem Jahrzehnt wahrscheinlich<br />

einige Kipppunkte des<br />

Erdklimas überschreiten<br />

werden. Diese Folgen sind<br />

dann irreparabel. UN-Generalsekretär<br />

Antonio Guterrés<br />

erklärte die 2020er-Jahre<br />

deshalb zur „Decade of<br />

Action“. Nach COVID-19 und<br />

nun dem Krieg in der Ukraine<br />

ist klar, dass daraus nichts<br />

mehr wird. Besteht die<br />

Zukunft jetzt nur noch aus<br />

lauter schlechten Optionen?<br />

Und müssen wir vielleicht den<br />

Blick schon auf die Zeit nach<br />

der Agenda 2030 werfen?<br />

Corona und Krieg haben einen sehr großen Einfluss<br />

auf den Nachhaltigkeitsdiskurs. Das steht fest. Sei es<br />

nur, weil wir die kostbare Zeit der 2020er-Jahre mit<br />

anderen Problemen nutzen. Aber was diese Veränderung<br />

konkret bedeuten wird, wissen auch die meisten Experten<br />

nicht. In Texten liest man daher meist die unverfänglichen<br />

allgemeinen Hinweise auf Wichtigkeit der Transformation,<br />

Dringlichkeit der globalen Herausforderungen und daraus<br />

abgeleitet die Ansicht, dass wir uns „Nichtstun nicht leisten<br />

können“. Stimmt. Aber was tun?<br />

Fast unser gesamtes Nachhaltigkeitsverständnis basiert auf<br />

Erkenntnissen und Publikationen der letzten 30 Jahre und ist<br />

in der Zeit des Washington Consensus nach 1989 gewachsen.<br />

Die sogenannte Friedensdividende sollte zu guten Teilen in<br />

Wohlstand, Wohlfahrt und nachhaltige Entwicklungsziele in-<br />

64 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: Manuel Elias / UN Photo<br />

vestiert werden. Die UN-Umweltkonferenzen<br />

im Rio-Format waren die ersten<br />

großen multilateralen Ereignisse. Diese<br />

bereiteten den Weg für die internationale<br />

Klimapolitik (ausgehend von Kyoto<br />

1997), internationale Organisationen<br />

wie den WBCSD (1995) und UN Global<br />

Compact (2000) sowie vor allem die<br />

UN-Entwicklungsziele, SDGs (2015).<br />

Wie Nachhaltigkeit ohne den Resonanzboden<br />

der <strong>Globalisierung</strong> und der Hegemonie<br />

des Westens aussehen soll, haben<br />

wir noch nicht ausprobiert. Ansätze<br />

zu CSR aus Indien oder China wurde<br />

meist belächelt und kaum beachtet.<br />

Vieles war der Ehrlichkeit halber auch<br />

nicht so gut. Aber in einer multipolaren<br />

Welt werden wir uns unweigerlich mit<br />

unterschiedlichen Perspektiven auf ein<br />

Thema beschäftigen müssen. Rigorose<br />

Positionen nach dem Motto: „Das ist<br />

so. Darüber brauchen wir nicht mehr<br />

zu diskutieren“ werden wenig Chancen<br />

haben. Gerade beim drängenden Thema<br />

Klimaschutz müssen wir dringend neue<br />

Formate finden, um die Folgeschäden<br />

einzudämmen.<br />

Aber auch in einer multipolaren Welt<br />

gilt: Ein stabiler, offener Handel bringt<br />

Wachstum, Größe, Innovation und<br />

Technologieverbreitung mit sich, die<br />

genutzt werden können, um die Dekarbonisierung<br />

zu beschleunigen und<br />

die Anpassung an den Klimawandel zu<br />

erleichtern. Wie kann dieser Prozess<br />

fortgesetzt werden, wenn der <strong>Globalisierung</strong><br />

die Geschäftsgrundlagen entzogen<br />

wird?<br />

1. Politik<br />

Wir bräuchten jetzt eigentlich so etwas<br />

wie eine globale Klima-Governance, um<br />

den Klimawandel tatsächlich in den<br />

Griff zu bekommen. Die Aussichten sind<br />

schlecht. Der Volkswirt Thieß Peter- >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

65


<strong>Globalisierung</strong><br />

sen glaubt: „Es wird tatsächlich schwierig,<br />

da eine Lösung hinzukommen. Dafür<br />

bräuchten wir eigentlich einen weltweit<br />

geltenden CO 2<br />

-Preis, aber der ist für mich<br />

momentan absolut utopisch. Ein Weg dahin<br />

könnte ein sogenannter Klima-Club<br />

sein, bei dem sich verschiedene Länder<br />

zusammenschließen und sich auf einen<br />

gemeinsamen höheren CO2-Preis einigen.<br />

Dafür braucht man allerdings eine<br />

große Anzahl von Partnerländern. Wenn<br />

jetzt die EU und die USA sagen, wir einigen<br />

uns auf so einen Club, dann könnte<br />

das schon ein starkes Signal sein. Der<br />

Vorteil wäre nämlich, dass die Mitgliedstaaten<br />

ihre Güter und Dienstleistungen<br />

ohne Handelsbeschränkungen tauschen<br />

können. Und Staaten, die nicht Mitglied<br />

des Clubs sind, müssten entsprechende<br />

CO 2<br />

-Importzölle bezahlen.“<br />

2. Unternehmen<br />

Fragen, die künftig im Zentrum unternehmerischer<br />

Überlegungen stehen,<br />

sind: Wo kommen Waren und Bauteile<br />

her? Unter welchen Bedingungen, auch<br />

politisch, wird produziert? Wie viel<br />

Energie könnte bei einer Verlagerung<br />

sofort eingespart werden? Wie sicher ist<br />

investiertes Kapital in nicht-demokratischen<br />

Staaten? Was vor ein paar Wochen<br />

noch Vorreiter-Denken war, ist nun mit<br />

rasanter Geschwindigkeit in der Realität<br />

aktueller Management-Entscheidungen<br />

angekommen. Viele dieser Fragen müssen<br />

jetzt beantwortet werden.<br />

Es gibt für Unternehmen eine klare Verbindung<br />

zwischen Nachhaltigkeit und<br />

dem ökonomischen Erfolg sowie der Zukunftsfähigkeit.<br />

Studien haben gezeigt,<br />

dass die Vernetzung der Transformationsthemen<br />

den größten Effekt hat. Besonders<br />

erfolgreich sind Unternehmen,<br />

die gleichzeitig in Nachhaltigkeit und<br />

Digitalisierung investieren. Man nennt<br />

das die Twin Transformation.<br />

Petersen: „Ich kann mir vorstellen,<br />

dass die Unternehmen oder sogar die<br />

Volkswirtschaften, die die digitale und<br />

die ökologische Transformation erfolgreich<br />

hinbekommen, die Gewinner der<br />

Zukunft sind, weil nicht-erneuerbare<br />

Rohstoffe naturgemäß begrenzt sind,<br />

und irgendwann haben wir die nicht<br />

mehr. Dann werden grüne Produkte<br />

oder klimaneutrale Produkte und Produktionsverfahren<br />

aus meiner Sicht ein<br />

entscheidender Wettbewerbsvorteil für<br />

die Zukunft sein. Länder, die das zuerst<br />

hinbekommen, werden gewinnen. Und<br />

umgekehrt: Länder, deren Wohlstand<br />

darauf basiert, weiterhin fossile Energien,<br />

also Erdöl, Erdgas und Kohle zu exportieren,<br />

werden verlieren.“<br />

3. Investoren<br />

Investoren werden das Thema Nachhaltigkeit<br />

nach dem Krieg stärker aufgreifen.<br />

Klimakrise, Personalmangel und<br />

Lieferkettenprobleme belasten Unternehmensperformances<br />

und damit die<br />

Rentabilitätserwartungen von Investoren.<br />

ESG ist kein „nice to have“, sondern<br />

wird fundamentaler Bestandteil von Anlageentscheidungen.<br />

„ESG ist ein Trend,<br />

der gekommen ist, um zu bleiben“, sagt<br />

Steffen Puhlmann, ESG-Experte bei<br />

FTI-Andersch. „Vor allem Mittelständler<br />

stehen jetzt unter Druck, ESG-konforme<br />

Management-Ansätze zu entwickeln“,<br />

sagt er. „Denn sie waren bisher als zumeist<br />

nicht berichtspflichtige Unternehmen<br />

weniger von Regulatorik in diesem<br />

Feld betroffen. Unternehmen können<br />

nicht mehr warten, bis mögliche gesetzliche<br />

Verpflichtungen greifen.“<br />

4. Entwicklungsländer<br />

Der Ukraine-Krieg bedroht die Ernährungs-<br />

und Energiesicherheit. Die Versorgung<br />

mit Getreide dürfte sich für<br />

viele Entwicklungsländer dauerhaft verschlechtern<br />

und verteuern. Sollten russische<br />

Getreideexporte deutlich fallen,<br />

etwa weil das Land einen Exportstopp<br />

verhängt, stünden einige der ärmsten<br />

Länder wohl vor einer schweren Hungerkrise.<br />

„Russland und die Ukraine zählen<br />

zu den wichtigsten Getreideexporteuren<br />

der Welt. Zahlreiche afrikanische Staaten<br />

sind von den Lieferungen abhängig<br />

und könnten einen Ausfall oder Rückgang<br />

auch langfristig nicht ersetzen“,<br />

sagt Tobias Heidland vom Kieler Institut<br />

für Weltwirtschaft. „Dies kann für einzelne<br />

Länder dramatische Folgen haben,<br />

im schlimmsten Fall drohen Hunger und<br />

soziale Unruhen.“ Bei Energiefragen<br />

sieht es nicht besser aus: Die hohen Kosten<br />

belasten vor allem arme Familien,<br />

die den Großteil des Einkommens für<br />

Energie, Wohnen und Essen ausgeben.<br />

Staatliche Hilfe ist unwahrscheinlich, da<br />

sich die staatliche Schuldenquote während<br />

der COVID-19-Pandemie in vielen<br />

Ländern dramatisch verschlechtert hat.<br />

Staatspleiten sind daher nicht unwahrscheinlich.<br />

5. Beschleunigung der Energiewende<br />

Die politische Bedeutung von Energieversorgung<br />

ist heute jedem klar. Die<br />

Konflikte werden deshalb zu einer<br />

Beschleunigung der Energiewende,<br />

insbesondere in Europa, beitragen. Bisher<br />

machten Investoren ihre Anlageentscheidungen<br />

im Energiesektor von<br />

drei Kriterien abhängig: Erstens Versorgungssicherheit,<br />

zweitens Kosten<br />

und drittens Umweltauswirkungen. Die<br />

ersten beiden Kriterien sprachen bisher<br />

für fossile Energien. Die Sanktionspolitik<br />

gegen Russland stellt diese Bewertung<br />

auf den Kopf. Selbst wenn die<br />

Energiekosten sich beruhigen sollten,<br />

bleibt die Sorge um die Versorgungssicherheit.<br />

Experten glauben, dass der Russlandboykott<br />

der Strategie des EU Green<br />

Deals in die Karten spielt. Maria Elena<br />

Drew vom Vermögensverwalter T. Rowe<br />

Price schreibt: „Interessanterweise gehören<br />

zu den EU-Ländern, die sich am<br />

stärksten gegen die Verabschiedung des<br />

Abkommens gewehrt haben, auch einige<br />

der Länder, die gegenüber Russland<br />

am anfälligsten sind.“ Schon jetzt wird<br />

massiv in den Ausbau von erneuerbaren<br />

Energien investiert und es werden<br />

gesetzliche und bürokratische Hürden<br />

abgebaut. Der deutsche Bundeswirtschaftsminister<br />

Robert Habeck (Grüne)<br />

spricht von „ökologischem Patriotismus“:<br />

„Die erneuerbaren Energien liegen<br />

künftig im öffentlichen Interesse<br />

und dienen der öffentlichen Sicherheit.<br />

Das ist entscheidend, um das Tempo zu<br />

erhöhen.“ ■<br />

66 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


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<strong>Globalisierung</strong><br />

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>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

67


<strong>Globalisierung</strong><br />

Ist Klimapolitik<br />

ohne Sicherheitspolitik<br />

denkbar?<br />

Von Sonja Scheferling<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> ist<br />

erschöpft, sagt der renommierte<br />

Wirtschaftswissenschaftler<br />

Michael Hüther im<br />

Gespräch mit uns. Weiter<br />

gehe es nur, wenn wir<br />

künftig Nachhaltigkeit nicht<br />

nur empathisch, sondern<br />

auch militärisch denken.<br />

UmweltDialog: Wir erleben gerade einen<br />

geopolitischen Zeitenwechsel. Welche Auswirkungen<br />

ergeben sich für die industriellen<br />

Beziehungen und den Welthandel?<br />

Professor Hüther: Wir haben mit dem<br />

Weg in eine neue bipolare Struktur –<br />

transatlantischer Westen mit demokratischen<br />

Staaten auf der einen und China<br />

und Russland, die für Menschenrechtsverletzungen<br />

und Diktatur stehen, auf<br />

der anderen Seite – in der Tat einen<br />

Rückschritt in der <strong>Globalisierung</strong> vor<br />

uns.<br />

Im Grunde genommen gehen wir in der<br />

Entwicklung 30 bis 40 Jahre zurück.<br />

Das wird sich auf unseren gesamten<br />

Wertschöpfungsprozess auswirken: Die<br />

Selbstverständlichkeit, mit der wir internationale<br />

Märkte genutzt haben, wird<br />

es so nicht mehr geben. Denn internationaler<br />

Handel und internationaler<br />

Austausch setzen ja ein gegenseitiges<br />

Vertrauen in bestimmte Rahmenbedingungen<br />

voraus. Das hat Russland durch<br />

seinen Angriff auf die Ukraine zerstört<br />

und China durch sein Schweigen mindestens<br />

unterminiert.<br />

Sie haben einmal an einer Studie unter<br />

dem Titel „Geschäftsmodell Deutschland<br />

auf dem Prüfstand“ mitgewirkt. Wie fällt<br />

Ihr Urteil angesichts der aktuellen Entwicklungen<br />

aus?<br />

Das „Geschäftsmodell Deutschland“ ist<br />

industriebasiert mit einem hohen Anteil<br />

an industrieller Differenzierung,<br />

ergänzt durch einen breiten Dienstleistungssektor.<br />

Deswegen besetzen wir<br />

wichtige Positionen in internationalen<br />

Märkten und sind Exportweltmeister.<br />

Die deutsche Wirtschaft ist hoch flexibel.<br />

Insofern ist sie auch in der Lage,<br />

sich diesen Veränderungen zu stellen<br />

und sie zu meistern. Dennoch ändert<br />

sich durch die aktuelle Entwicklung<br />

die Perspektive, und wir müssen uns<br />

fragen, wie und wo wir uns künftig engagieren.<br />

Das ändert ein Stück weit die<br />

gewohnte Geschäftsgrundlage des deutschen<br />

Modells, <strong>Globalisierung</strong> überall<br />

nutzen zu können.<br />

Mit Ihrem Hinweis auf die neue bipolare<br />

Struktur haben Sie bereits den Systemkonflikt<br />

unterschiedlicher Herrschaftsformen<br />

angesprochen, der sich auf die Globali-<br />

68 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

sierung auswirkt. Francis Fukuyama hat<br />

kürzlich in der NZZ geschrieben, dass eine<br />

russische Niederlage „eine Wiedergeburt<br />

der Freiheit“ ermögliche und den „Blues“<br />

vom Niedergang der globalen Demokratie<br />

vertreiben werde. Teilen Sie die Ansicht?<br />

Putin hat der ganzen Welt verdeutlicht,<br />

dass er kein verlässlicher Partner ist,<br />

sondern das Völkerrecht missachtet und<br />

Kriegsverbrechen begeht. Ich stimme<br />

Fukuyama zu, möchte aber die normativen<br />

Grundlagen unserer westlichen Tradition<br />

konkretisieren. Diese beruhen auf<br />

einem Dreiklang aus demokratischer<br />

Selbstermächtigung des Menschen,<br />

zivilgesellschaftlicher Teilhabe und<br />

marktwirtschaftlicher Innovationsfähigkeit.<br />

Die Paradigmen, die ich in meiner<br />

Arbeit über die erschöpfte <strong>Globalisierung</strong><br />

aufgestellt habe, sind aktueller<br />

denn je. Sie sind der Ausdruck eines<br />

unterschätzten normativen Konfliktes,<br />

der sich jetzt deutlich durch die bipolare<br />

Systemstruktur zeigt und auf den wir<br />

uns zurückbesinnen müssen, wollen wir<br />

die <strong>Globalisierung</strong> zukunftsfähig gestalten.<br />

Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com<br />

Wir setzen auf unveräußerliche Menschenrechte,<br />

Rechtsstaatlichkeit und<br />

Gewaltenteilung. Bei der Wahl unserer<br />

Handelspartner sehen wir das nicht so<br />

eng, wie unser neuer Energielieferant<br />

Katar zeigt.<br />

Wenn man in einer globalen Struktur tätig<br />

sein möchte, muss man Kompromisse<br />

eingehen. Das muss man ganz nüchtern<br />

betrachten. Versucht man ständig<br />

den eigenen ethischen Kodex durchzusetzen,<br />

handelt man am Ende nur noch<br />

mit sich selbst. Im Augenblick sind wir<br />

auch in einer gewissen Notsituation,<br />

weil wir von russischem Gas unabhängig<br />

werden wollen und weil der Zielkorridor<br />

einer ausgebauten Infrastruktur<br />

aus erneuerbaren Energien noch weit<br />

entfernt ist. Da haben wir nicht so viele<br />

Auswahlmöglichkeiten.<br />

Für Unternehmen sind Menschenrechtsrisiken<br />

in dieser Form schon lange >><br />

>><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

69


<strong>Globalisierung</strong><br />

ein Thema, denn ihr nachhaltiger Erfolg<br />

ist auch von der Reputation abhängig.<br />

Kunden können und wollen Druck auf<br />

die Unternehmen ausüben, indem sie<br />

bestimmte Produkte boykottieren, die<br />

in Regionen unter menschenrechtswidrigen<br />

Umständen hergestellt wurden.<br />

Außerdem haben wir das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz,<br />

das unternehmerisches<br />

Handeln reglementiert. Ob<br />

dieses in der aktuellen Situation so noch<br />

durchführbar ist, ist aber fraglich.<br />

Warum?<br />

Wir benötigen von den Unternehmen<br />

jetzt eine hohe Anpassungsfähigkeit<br />

und Flexibilität, die nicht von strikten<br />

Regulierungen verhindert wird.<br />

Sie können einem Mittelständler nicht<br />

erklären, warum er die Daten seiner<br />

Lieferkette transparent darlegen muss,<br />

während die Bundesregierung Energie<br />

aus Katar bezieht. Auch die Verabschiedung<br />

eines Lieferkettengesetzes auf europäischer<br />

Ebene halte ich in der jetzigen<br />

Phase nicht für sinnvoll. Wichtig ist<br />

es, bestimmte rote Linien zu definieren,<br />

die nicht überschritten werden dürfen.<br />

Beispielsweise muss das strikte Verbot<br />

von Kinderarbeit und Zwangsarbeit<br />

gelten.<br />

Herr Professor Hüther, lassen Sie uns konkret<br />

über Nachhaltigkeit sprechen. Für<br />

viele sind Nachhaltigkeit und die ökosoziale<br />

Transformation unserer Gesellschaften<br />

angesichts der veränderten Weltlage<br />

wichtiger denn je. Wie sehen Sie das?<br />

Nachhaltigkeit ist immer wichtig, weil<br />

das bedeutet, dass wir die Ressourcen, die<br />

wir haben, nicht überdehnen, sondern so<br />

nutzen, dass auch künftige Generationen<br />

daraus eine Möglichkeit ableiten können.<br />

Mit Blick auf Klimaneutralität versuchen<br />

wir nach 200 Jahren das Zeitalter fossiler<br />

Energie zu beenden. Das ist eine gewaltige<br />

Herausforderung, die gesellschaftlich<br />

begleitet und moderiert werden muss,<br />

um eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung<br />

zu erreichen. Man muss immer wieder<br />

testen, welche Ansätze funktionieren<br />

70 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

und welche nicht, und lernend Neues<br />

ausprobieren.<br />

Im Augenblick ist die Situation so, dass<br />

wir auch gar keine andere Möglichkeit<br />

haben. Wir müssen uns energetisch autonomer<br />

versorgen und unsere Energieversorgung<br />

diversifizieren, um unsere<br />

Gasabhängigkeit zu reduzieren. Auch<br />

das bedeutet, dass wir den Weg in eine<br />

klimaneutrale Energieproduktion beschreiten<br />

müssen.<br />

Für Sie hängen Klimapolitik und Sicherheitspolitik<br />

zusammen. Wie das?<br />

In den letzten Jahrzehnten haben wir<br />

wichtige Themen in den Bereichen Außen-<br />

und Sicherheitspolitik nicht ausreichend<br />

benannt und dafür gestritten,<br />

sondern nur die wirtschaftliche Dividende<br />

eingestrichen. Diese Verantwortungslosigkeit<br />

fällt uns jetzt auf die Füße. Wollen<br />

wir international eine führende Rolle<br />

in der Klimapolitik einnehmen, müssen<br />

wir auch eine eigene Sicherheitsarchitektur<br />

aufbauen und uns verteidigen<br />

können. Nur so nehmen uns andere<br />

Staaten ernst und sind bereit, klimapolitische<br />

Forderungen unsererseits zu<br />

akzeptieren.<br />

Für einen nachhaltigen Wandel ist aber<br />

nicht nur die globale Perspektive entscheidend,<br />

sondern auch die Einführung technischer<br />

Innovationen. Ist das nicht eine<br />

Wette mit vielen Unbekannten, da wir weder<br />

die Lösungen kennen noch absehbar<br />

ist, ob und wann sie kommen?<br />

Das ist aber immer so. Wir gehen ständig<br />

Wetten auf die Zukunft ein, da wir<br />

ja davon ausgehen, weiterzuleben und<br />

unseren Beitrag zu leisten. Die Menschheitsgeschichte<br />

hat gezeigt, dass die<br />

Welt ein Innovationsstandort ist. Wir<br />

können diese Herausforderungen meistern<br />

und sind in der Lage, die notwendigen<br />

Lösungen für eine nachhaltige<br />

Transformation zu finden.<br />

Vielen Dank für das Gespräch! ■<br />

Prof. Dr. Michael Hüther<br />

ist Direktor und Mitglied des<br />

Präsidiums beim Institut der<br />

deutschen Wirtschaft Köln.<br />

Zukunftsgestalter?<br />

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Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

71


<strong>Globalisierung</strong><br />

Folgen<br />

Foto: Mike Mareen / stock.adobe.com<br />

unterlassener<br />

Nachhaltigkeit<br />

In Kriegszeiten rutschen<br />

Themen wie der<br />

Klimawandel unweigerlich<br />

in den Hintergrund.<br />

Das wird sich rächen,<br />

warnt Werner Widuckel.<br />

Für einen Kurswechsel<br />

fehlen uns aber<br />

leistungsfähige<br />

Institutionen.<br />

Von Dr. Werner Widuckel<br />

UmweltDialog: Kanzler Scholz spricht<br />

angesichts des Ukraine-Krieges von einer<br />

Zeitenwende. Was macht das mit der <strong>Globalisierung</strong>?<br />

Prof. Dr. Werner Widuckel: Die Frage<br />

der <strong>Globalisierung</strong> wird künftig sicherlich<br />

sehr viel stärker auch unter dem<br />

Gesichtspunkt von globalen geostrategischen<br />

Abhängigkeiten diskutiert werden.<br />

Handel wird auch als Machtinstrument<br />

zur Durchsetzung politischer und<br />

geostrategischer Ziele eingesetzt. Dieses<br />

Denken ist eine ganze Weile in den Hintergrund<br />

getreten, weil mit dem Fall des<br />

Eisernen Vorhangs 1990 die Vorstellung<br />

einer zunehmenden Konvergenz der<br />

politischen Systeme und der Werteordnung<br />

in der Welt vorgeherrscht hat. Das<br />

hat sich letztendlich als eine Illusion<br />

herausgestellt.<br />

Wir erleben stattdessen jetzt eine beschleunigte<br />

Aufrüstung. Das Stockholmer<br />

Friedensforschungsinstitut SIPRI<br />

weist schon seit einer Weile darauf hin,<br />

dass die Militärausgaben stark wachsen.<br />

Zugleich erleben wir eine Zunahme von<br />

militärischen Auseinandersetzungen.<br />

Ich habe mir heute Morgen im Vorfeld<br />

des Interviews mal die Mühe gemacht,<br />

die ganzen Krisenherde aufzuzählen,<br />

die wir gegenwärtig haben. Ich bin weltweit<br />

auf zwölf gekommen – wir leben in<br />

alles andere als friedlichen Zeiten, und<br />

das wirkt sich auch auf die <strong>Globalisierung</strong><br />

aus.<br />

Kriege gab und gibt es, zynisch gesagt,<br />

immer. Warum glauben Sie, dass die Veränderung<br />

diesmal tiefer geht?<br />

Es geht deshalb tiefer, weil die Auseinandersetzung<br />

auch eine Frage von<br />

Hegemonie ist. Hegemonie bedeutet<br />

Vorherrschaft. Es geht also um die Frage,<br />

wer letztlich als Macht oder Machtblock<br />

geostrategisch bestimmt, wie<br />

eine Weltordnung aussieht bzw. welche<br />

Werteorientierung letztlich herrscht.<br />

Hier wird sichtbar, dass das Modell von<br />

westlicher Demokratie, Menschenrechten<br />

und Rechtsstaatlichkeit sich nicht<br />

automatisch durchsetzt, sondern auch<br />

alternative Ordnungen dem entgegenwirken<br />

– insbesondere seitens Chinas<br />

72 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

und Russlands. Das Ganze geht einher<br />

mit einem zunehmend aufgeladenen Nationalismus,<br />

der im Übrigen durchaus<br />

auch ein Problem westlicher Demokratien<br />

ist. Das haben wir beispielsweise in<br />

den USA unter Trump gesehen.<br />

Wie wird sich das auf multilaterale Vorhaben<br />

auswirken?<br />

Es wird sicherlich zunehmend schwieriger<br />

werden, globale Standards für Nachhaltigkeit<br />

umzusetzen. Wir sehen das<br />

bei internationalen politischen Abstimmungsprozessen,<br />

die die Erderwärmung<br />

begrenzen sollen. Bestimmte Staaten<br />

haben hier massive Vorbehalte, weil sie<br />

Wohlstandsverluste und auch entsprechende<br />

soziale Unruhen und Auseinandersetzungen<br />

befürchten. Wir verlieren<br />

hierdurch wertvolle Zeit, die Klimakrise<br />

zu bewältigen.<br />

Viele sehen in Nachhaltigkeit und einer<br />

öko-sozialen Transformation, gerade jetzt<br />

auch vor dem Hintergrund der Energieabhängigkeit,<br />

einen Ausweg aus dem derzeitigen<br />

Krisenmodus. Teilen Sie das?<br />

Wir werden letztlich um das Beschreiten<br />

eines nachhaltigeren Pfads gar nicht<br />

umhinkommen, weil wir anders die Frage<br />

der Erderwärmung nicht in den Griff<br />

bekommen, und wenn wir die Frage der<br />

Erderwärmung wiederum nicht in den<br />

Griff bekommen, werden auch lebensnotwendige<br />

Ressourcen zunehmend<br />

knapper. Das heißt, letztendlich haben<br />

wir zu einem globalen Konsens für eine<br />

nachhaltige Entwicklung gar keine Alternative,<br />

weil andernfalls alle die Verlierer<br />

wären.<br />

Haben wir aus Ihrer Sicht die passenden<br />

Institutionen und auch die Kraft, all diese<br />

Herausforderungen gleichzeitig zu stemmen?<br />

Ich gebe Ihnen recht, das ist sicherlich<br />

die größte Herausforderung, und man<br />

kann manchmal Zweifel haben, ob wir<br />

die Kraft bzw. die passenden Institutionen<br />

haben, diese zu bewältigen. Wenn<br />

wir uns die reale Klimaentwicklung anschauen,<br />

dann sehen wir, dass der Prozess<br />

sehr viel schneller vonstatten geht,<br />

als das Klimamodelle vor 20 Jahren prognostiziert<br />

haben. Wir bräuchten jetzt<br />

eigentlich so etwas wie eine globale Klima-Governance,<br />

um den Klimawandel<br />

tatsächlich in den Griff zu bekommen.<br />

Und gleichzeitig brauchen wir einen<br />

geostrategischen Interessenausgleich,<br />

der uns von der Aufrüstungsspirale herunterbringt.<br />

So gesehen fehlen uns globale Institutionen,<br />

hier ein entsprechendes Regime<br />

mit geeigneten Regeln auch tatsächlich<br />

umzusetzen. Nach wie vor haben wir<br />

eine Sichtweise, die von nationalen bzw.<br />

Blockinteressen geprägt ist. Und solange<br />

wir das nicht auflösen – Gorbatschow<br />

hat das „Neues Denken“ genannt – und<br />

wir den Gedanken eines europäischen<br />

Hauses in ein globales Haus übersetzen,<br />

werden wir es nicht schaffen.<br />

UN-Generalsekretär António Guterres hat<br />

die 2020er-Jahre eine Dekade der Aktion<br />

genannt, in der wir Weichen stellen müssen,<br />

weil uns sonst unwiederbringliche<br />

Kipppunkte drohen. Ich habe allerdings<br />

das Gefühl, dass wir uns in den 20ern mit<br />

allem möglichen beschäftigen, wie Pandemien<br />

und Kriegen, aber nicht mit den<br />

anderen globalen Herausforderungen.<br />

Rennt uns die Zeit davon?<br />

Die Gefahr besteht in der Tat und das<br />

wird dann auch zu wachsenden gesellschaftlichen<br />

Auseinandersetzungen<br />

führen – sowohl zwischen den Generationen<br />

als auch zwischen Menschen,<br />

die von diesen Entwicklungen sozial<br />

unterschiedlich betroffen sein werden.<br />

Das macht sich heute bereits bemerkbar<br />

bei der Frage „Wie gleichen wir den Benzinpreis<br />

aus?“. Angesichts der Folgen<br />

unterlassener Nachhaltigkeit werden<br />

wir über ganz andere Fragen als bezahlbare<br />

Benzinpreise reden müssen, zum<br />

Beispiel auch über bezahlbares Wasser<br />

oder bezahlbare Nahrungsmittel.<br />

Wir danken Ihnen herzlich für das<br />

Gespräch! ■<br />

Dr. Werner Widuckel<br />

ist Professor für<br />

Personalmanagement und<br />

Arbeitsorganisation in<br />

technologieorientierten<br />

Unternehmen an der<br />

Friedrich-Alexander-Universität<br />

Erlangen-Nürnberg.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

73


<strong>Globalisierung</strong><br />

Geschichte der <strong>Globalisierung</strong><br />

Jahr 1 1000 1500 1600 1700 1820 1850 1870<br />

1. Indien Indien China China Indien China China China<br />

2. China China Indien Indien China Indien Indien Indien<br />

3.<br />

Römisches<br />

Reich<br />

Türkei Italien Frankreich Frankreich Russland Großbritannien Großbritannien<br />

4. Türkei<br />

Gebiet der<br />

spät. UDSSR<br />

Frankreich Italien Japan Großbritannien Frankreich Russland<br />

5. Ägypten Frankreich<br />

Gebiet der<br />

spät. UDSSR<br />

Gebiet der<br />

spät. UDSSR<br />

Gebiet der<br />

spät. UDSSR<br />

Frankreich Deutschland Deutschland<br />

Bei diesen Daten handelt es sich um Schätzungen, da Maddison<br />

nur bis zum Jahre 2008 Daten erfasst hat. SPIEGEL ONLINE hat<br />

die BIP-Werte für 2012 und 2030 auf Basis der von der Weltbank<br />

prognostizierten BIP-Zuwachsraten hochgerechnet.<br />

Jahr 1900 1913 1950 1970 1990 2008 2012 2030<br />

1. USA USA USA USA USA USA USA China<br />

2. 2. China China Sowjetunion Sowjetunion Japan China China USA<br />

3. Großbritannien Deutschland Großbritannien Japan China Indien Japan Japan<br />

4. Indien<br />

Gebiet der<br />

spät. UDSSR<br />

Deutschland Deutschland Sowjetunion Japan Deutschland Indien<br />

5. Deutschland Großbritannien China China Deutschland Deutschland Frankreich Deutschland<br />

Quellen: Historical Statistics of the World Economy, Angus Maddison, Stand: März 2013<br />

74 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: Benjamin Haas / stock.adobe.com<br />

Auszüge aus einem Essay von Ulrich Menzel<br />

Kleine Geschichte<br />

der <strong>Globalisierung</strong><br />

und ihrer Kritik<br />

Der Begriff der <strong>Globalisierung</strong> meint keine<br />

aktuelle Periode der Weltgeschichte, sondern<br />

einen Prozess, der wellenförmig verläuft und von<br />

tiefen Einbrüchen unterbrochen wird. Die Aufschwungphasen<br />

sind durch ein exponentielles<br />

Wachstum gekennzeichnet, bis Kipppunkte<br />

erreicht werden. Parallel dazu verläuft ein<br />

Prozess der Fragmentierung, der einzelne Länder,<br />

Großregionen oder Teile einer Gesellschaft<br />

betrifft, weil es immer Gewinner und Verlierer der<br />

<strong>Globalisierung</strong> gibt.<br />

Der Einbruch im Prozess der <strong>Globalisierung</strong><br />

reichte vom Ausbruch<br />

des Ersten bis zum Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs. Die Weltwirtschaftskrise<br />

der 1930er-Jahre im Anschluss<br />

an den Schwarzen Freitag an der<br />

Wallstreet, als Kipppunkt vergleichbar<br />

mit der Lehmann-Pleite von 2008, sorgte<br />

dafür, dass nach einer kurzen Phase<br />

der erneuten Blüte des Welthandels in<br />

den 1920er-Jahren das Internationale<br />

Öffentliche Gut „Stabilität“ nicht mehr<br />

gewährleistet war. Großbritannien war<br />

dazu nicht mehr in der Lage, in den USA<br />

fehlten in den folgenden Jahren der >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

75


<strong>Globalisierung</strong><br />

„Great Depression“ sowohl die Mittel als<br />

auch der politische Wille. Die Massenarbeitslosigkeit<br />

wurde mit dem New Deal<br />

bekämpft und das keynesianische Denken<br />

(Keynes 1936) gegenüber der Neoklassik<br />

hegemonial: Dem Staat wurde<br />

anstelle des Marktes wieder eine wichtige<br />

Steuerungsfunktion beigemessen.<br />

Die neuerliche Wende, um der <strong>Globalisierung</strong><br />

wieder freie Bahn zu verschaffen,<br />

wurde erst auf der Bretton-Woods-Konferenz<br />

1944 eingeleitet, als die USA das<br />

Zepter in die Hand nahmen und sich<br />

bereit zeigten, als internationale Ordnungsmacht<br />

nicht nur für Sicherheit,<br />

sondern auch für Stabilität zu sorgen.<br />

Die auf amerikanische Initiative gegründeten<br />

Organisationen Weltwährungsfonds,<br />

Weltbank und GATT, woraus<br />

später die WTO hervorging, lieferten die<br />

institutionellen Rahmenbedingungen,<br />

die mit dem „Washington Consensus“<br />

von US-Administration und in Washington<br />

ansässigen internationalen Organisationen<br />

auch paradigmatisch zum<br />

Ausdruck kamen. Seit den 1970er-Jahren<br />

war es der von Milton Friedman<br />

und seiner Chicago School propagierte<br />

Neoliberalismus, der zunächst die Hegemonie<br />

des Keynesianismus durchbrach,<br />

um daraufhin das Handeln der Politik<br />

zu bestimmen. Die neoliberale Politik<br />

der Haushaltskonsolidierung, der Deregulierung<br />

der Märkte, der Privatisierung<br />

der Öffentlichen Dienste (bzw. der<br />

Öffentlichen Güter) und Staatsbetriebe<br />

wie Bahn und Post und der immer neuen<br />

Zollsenkungsrunden, der Deregulierung<br />

der Finanzmärkte, des Mediensektors<br />

und anderer Dienstleistungen verschaffte<br />

der später so genannten zweiten Welle<br />

der <strong>Globalisierung</strong> freie Bahn. Waren<br />

die Staaten in der ersten Welle noch die<br />

Antreiber, so wurden sie in der zweiten<br />

Welle zu den Getriebenen.<br />

Damit sind wir in der Gegenwart, die<br />

Ende der 1990er-Jahre begonnen hat.<br />

Has globalization gone too far?, das<br />

schmale Buch des hochdekorierten Ökonomen<br />

Dani Rodrik (1997), markierte<br />

den Auftakt der <strong>Globalisierung</strong>sskepsis.<br />

Hier nämlich meldete sich eine renommierte<br />

und fachlich hochkompetente<br />

Stimme zu Wort. 2011 legte Rodrik<br />

(2011) mit Das <strong>Globalisierung</strong>s-Paradox<br />

nach, in dem er auf das Trilemma aus<br />

Demokratie, nationaler Souveränität<br />

und Hyperglobalisierung verwies. Damit<br />

avancierte der türkische Ökonom<br />

zur Leitfigur migrationsskeptischer linker<br />

Brexit-Befürworter, die sich auch<br />

in der Labour Party finden. Auf Rodrik<br />

folgten aus unterschiedlichen Perspektiven<br />

globalisierungskritische Beiträge<br />

von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf<br />

(1997), Joseph Stiglitz (2002) oder Walden<br />

Bello (2005). Aus der frühen <strong>Globalisierung</strong>skritik<br />

wurde der Antiglobalisierungsdiskurs,<br />

der 2018/19 zu einer<br />

regelrechten Welle anschwoll. Genannt<br />

seien nur die Bücher Heiner Flassbecks<br />

und Paul Steinhardts (2018) respektive<br />

Michael Hüthers, Mathias Diermeiers<br />

und Henry Goeckes (2018) für den<br />

deutschsprachigen sowie Colin Crouchs<br />

(2018) und Michael O’Sullivans (2019)<br />

für den angelsächsischen Bereich. Die<br />

zitierten Bücher sind wohlgemerkt alle<br />

vor Ausbruch der Corona-Krise verfasst<br />

worden und entstanden eher unter dem<br />

Eindruck der Finanz- und Flüchtlingskrise.<br />

Eine tiefe Bresche in die große Erzählung<br />

schlägt nicht zuletzt der Klimawandel,<br />

der seit 2019 dank der „Fridays<br />

for Future“-Bewegung ins Bewusstsein<br />

einer breiten Öffentlichkeit gedrungen<br />

ist. Dessen Folgen in Form von Dürren,<br />

Waldbränden, Starkregen, abschmelzenden<br />

Gletschern und dem Schwund des<br />

Polareises, Überschwemmungen und<br />

Stürmen werden zunehmend auch für<br />

Laien erfahrbar. Hier wird aber nicht<br />

in erster Linie das populistische, sondern<br />

das kosmopolitische Milieu globalisierungskritisch<br />

mobilisiert. Der<br />

massenhafte Verbrauch von Rohstoffen<br />

und fossilen Energieträgern und damit<br />

die Emission von CO 2<br />

durch globalen<br />

Handel, Massentourismus und Fleischkonsum<br />

rücken den Zusammenhang<br />

von <strong>Globalisierung</strong> und Klimawandel<br />

in den Blick. Begriffe wie „Flugscham“,<br />

die Kritik an Kreuzfahrten, Inlandsflügen<br />

und SUVs, an Brandrodungen des<br />

Tropenwalds – um Flächen für den Sojaanbau<br />

zu schaffen, der die Massentierhaltung<br />

hierzulande ermöglicht, die wiederum<br />

die „Vorprodukte“ liefert für die<br />

mit osteuropäischen Wanderarbeitern<br />

„bestückten“ Schlachtbetriebe, um die<br />

Kühlschiffe für den Schweinefleischexport<br />

ausgerechnet nach China zu beladen<br />

– prägen diesen globalisierungskritischen<br />

Diskurs.<br />

Sortiert man die <strong>Globalisierung</strong>sliteratur,<br />

so lassen sich grob fünf Positionen<br />

unterscheiden. Erstens der frühere<br />

neoliberale Mainstream, der <strong>Globalisierung</strong>sprozesse<br />

für grundsätzlich po-<br />

76 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Foto: M-SUR / stock.adobe.com<br />

sitiv hält und deshalb alles empfiehlt,<br />

was diese fördert. Dieses Denken, das<br />

jahrelang die Politik bestimmte, ist in<br />

die Defensive geraten, auf jeden Fall ist<br />

es nicht mehr hegemonial. Zweitens die<br />

neoidealistische Position, die unterstellt,<br />

dass die weitere <strong>Globalisierung</strong> zwar<br />

nicht aufzuhalten ist, der Staat jedoch<br />

als regulierende Instanz auf eine neue<br />

Ebene gehoben werden muss, um unter<br />

den Begriffen „Global Governance“<br />

bzw. „Weltregieren ohne Weltregierung“<br />

dem entfesselten Markt Paroli<br />

bieten zu können. Bei diesem Ansatz<br />

spielt die Durchsetzung internationaler<br />

Normen, um die Macht durch das Recht<br />

in den internationalen Beziehungen<br />

zu ersetzen, eine zentrale Rolle. Diese<br />

Position ist in der Debatte nahezu verstummt.<br />

Drittens die neorealistische Position, die<br />

behauptet, dass die <strong>Globalisierung</strong> nicht<br />

auf multilaterale, sondern nur auf hegemoniale<br />

Weise in geordnete Bahnen gelenkt<br />

werden kann. Entscheidend ist für<br />

sie die Weltordnungspolitik des „benevolenten<br />

Hegemons“, der die Internationalen<br />

Öffentlichen Güter bereitstellt und<br />

dabei nicht nur sein Eigeninteresse, sondern<br />

auch das Interesse der Gefolgschaft<br />

der Freerider im Auge behält. Diese Position<br />

hat derzeit mit der Problematik des<br />

hegemonialen Übergangs umzugehen:<br />

Der alte Hegemon schwächelt und verweigert<br />

sich, der neue Anwärter ist noch<br />

nicht bereit. Viertens die linken <strong>Globalisierung</strong>sgegner,<br />

die durch die Rückkehr<br />

des Staates in die Politik bzw. die<br />

Renaissance des Keynesianismus eine<br />

zumindest partielle Deglobalisierung<br />

erzwingen wollen. Und schließlich fünftens<br />

die rechten <strong>Globalisierung</strong>sgegner,<br />

die zwar noch über kein stimmiges theoretisches<br />

Konzept verfügen, aber bereit<br />

sind, jede populistische Ad-hoc-Forderung<br />

nach dem Motto „Man bräuchte<br />

doch bloß …“ zu unterstützen. ■<br />

Quelle: Prof. Dr. Ulrich Menzel: Corona und die<br />

gefesselte <strong>Globalisierung</strong>, Berliner Journal für<br />

Soziologie, Juli 2021.<br />

Dieser Artikel wird unter der Creative Commons<br />

Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht.<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

77


<strong>Globalisierung</strong><br />

Geschichte und Grundlagen des<br />

Freihandels<br />

Waren, die Grenzen überqueren, kosten<br />

Geld: Zölle. Auf der<br />

ganzen Welt. Seit<br />

Jahrtausenden.<br />

Lange erhoben<br />

Landesfürsten<br />

und Herrscher<br />

in Europa Gebiets-<br />

und Wegzölle<br />

– eine Art<br />

Maut – für die<br />

Nutzung eines<br />

Hafens oder<br />

einer Straße.<br />

Noch Ende<br />

des 18. Jahrhunderts wurde allein bei<br />

einem Transport von Köln nach Königsberg<br />

eine Ware etwa achtzig Mal kontrolliert.<br />

Foto: Calado / stock.adobe.com<br />

Jahrhundertelang hat das niemanden<br />

groß gestört – bis auf die Händler natürlich.<br />

Wer Zölle erhob, hatte Macht.<br />

In der Zeit des Absolutismus zwischen<br />

dem 16. und 18. Jahrhundert nutzten<br />

Herrscher, aber auch freie Städte das<br />

aus: Sie schützten die heimischen Handwerker<br />

und Manufakturen vor Konkurrenz<br />

aus dem Ausland – zum Beispiel<br />

78 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

durch besonders hohe Zölle auf die Einfuhr<br />

von Wein oder Tuch.<br />

Es war das Zeitalter des Merkantilismus,<br />

in dem die Herrschenden erstmals<br />

systematisch versuchten, ihre heimische<br />

Wirtschaft zu lenken, um Hof und<br />

Militär finanzieren zu können.<br />

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begann<br />

sich ein anderes Prinzip durchzusetzen,<br />

das wir heute „Freihandel“<br />

nennen.<br />

Wegweisend waren dafür Ökonomen wie<br />

Adam Smith. Der Schotte entwickelte in<br />

seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“<br />

bereits 1776 die These, dass jedes<br />

Land im besten Fall nur die Güter herstellen<br />

soll, die es günstiger oder schneller<br />

produzieren kann als andere Länder.<br />

Damit der Außenhandel angeregt wird<br />

und der Wohlstand aller Länder steigt,<br />

müssten gleichzeitig Handelshemmnisse<br />

wie Zölle wegfallen.<br />

Ohne Einfuhrhindernisse kommt in der<br />

Theorie mehr Kundschaft aus dem Ausland.<br />

Es gibt mehr Aufträge für Händler<br />

und Handwerker – das führt zu mehr<br />

Wohlstand und mehr Steuern für die<br />

Staatskasse.<br />

Eine ähnliche Idee hatte Anfang des 19.<br />

Jahrhunderts der britische Wirtschaftswissenschaftler<br />

David Ricardo mit seiner<br />

Theorie der komparativen Kostenvorteile.<br />

Demnach hilft es allen Staaten, wenn<br />

sie Handel treiben – und sich die Produktion<br />

bestimmter Waren aufteilen.<br />

Ricardo begründete dies damit, dass<br />

ein Land immer das Produkt herstellen<br />

wird, bei dem sein Vorteil am größten<br />

ist. Dadurch blieben auch für Länder mit<br />

Kostennachteilen Bereiche übrig, auf die<br />

sie sich spezialisieren könnten.<br />

Ricardos Modell ist bis heute die theoretische<br />

Grundlage für den weltweiten<br />

Warenaustausch.<br />

Gegenpart des Freihandels ist der Protektionismus.<br />

Darunter versteht man<br />

Maßnahmen von Ländern, die heimische<br />

Wirtschaft zu schützen. So beschloss<br />

Großbritannien Ende des 19. Jahrhunderts,<br />

auf Waren müsse das Herkunftsland<br />

angegeben sein. Damit sollten britische<br />

Firmen vor Billig-Konkurrenz aus<br />

dem Ausland geschützt werden – auch<br />

aus Deutschland.<br />

So entstand „Made in Germany“ – heute<br />

ein Qualitätssiegel für deutsche Waren.<br />

Die USA und andere Länder führten<br />

nach dem Börsencrash von 1929 hohe<br />

Einfuhrzölle ein. Sie wollten so ihre<br />

Wirtschaft vor Konkurrenz durch Importe<br />

schützen.<br />

Viele dieser Bestimmungen gibt es heute<br />

nicht mehr. Die Bundesrepublik Deutschland<br />

und die Länder der damaligen Europäischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft gründeten<br />

1968 die Zollunion. Damit begann<br />

das Ende der Zölle in Westeuropa.<br />

Bis 1992, der Einführung des europäischen<br />

Binnenmarktes, fielen auch andere,<br />

sogenannte „nichttarifäre“ Handelshemmnisse<br />

– wie nationale Normen,<br />

Einfuhrquoten oder Kontingente, also<br />

Mengenbeschränkungen – weg, die den<br />

Austausch von Waren behinderten –<br />

auch die Grenzkontrollen in weiten Teilen<br />

Europas.<br />

Wer Zölle<br />

erhob,<br />

hatte<br />

Macht.<br />

Der Warenaustausch innerhalb der EU<br />

wuchs, vielerorts auch der Wohlstand.<br />

Zölle gibt es aber noch immer. Und sie<br />

sind nicht der einzige Weg für Staaten,<br />

um Konkurrenz aus dem Ausland abzuwehren.<br />

Auch staatliche Zuschüsse, also<br />

Subventionen, dienen dazu, die heimische<br />

Wirtschaft zu stützen.<br />

Die EU bezuschusste zum Beispiel lange<br />

den Verkauf von Milchpulver, Rindfleisch<br />

oder Weizen auf den Weltmärkten<br />

– dort verfielen in Folge die Preise.<br />

Gerade im globalen Süden hatten es viele<br />

Bauern schwer, auf den heimischen<br />

Märkten ihre Erzeugnisse zu verkaufen.<br />

Ein weiteres protektionistisches Mittel<br />

sind Produktstandards, die die ausländische<br />

Konkurrenz nicht erfüllt. Zum<br />

Beispiel das Reinheitsgebot, das deutsche<br />

Brauereien einst vor Bier aus dem<br />

Ausland schützen sollte.<br />

Lange hatte es so ausgesehen, als würde<br />

der Protektionismus eine immer geringere<br />

Rolle spielen. Der grenzüberschreitende<br />

Warenaustausch wurde intensiver<br />

und erfasste immer mehr Regionen auf<br />

der Welt.<br />

Nationale Regeln rückten in den Hintergrund,<br />

globale und kontinentale Märkte,<br />

auf denen große Unternehmen agierten,<br />

wuchsen.<br />

Die Welthandelsorganisation WTO arbeitet<br />

seit 1995 mit ihren heute 164 Mitgliedsstaaten<br />

am Abbau noch existierender<br />

Handelsschranken.<br />

Der Begriff <strong>Globalisierung</strong> hat sich in<br />

den 1990er Jahren für diese Entwicklungen<br />

durchgesetzt. Ermöglicht wurde sie<br />

nicht nur durch eine Liberalisierung des<br />

Welthandels, sondern auch durch rasante<br />

Fortschritte bei Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien.<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> bringt Vor- und<br />

Nachteile mit sich. So können Un- >><br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

79


<strong>Globalisierung</strong><br />

ternehmen Marktanteile in einem Land<br />

verlieren, wenn ein ausländischer Konkurrent<br />

auf ihren Markt kommt. Das<br />

kann Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

Jobs kosten.<br />

Außerdem hat die <strong>Globalisierung</strong> die<br />

unterschiedliche Entwicklung reicher<br />

und armer Länder in den vergangenen<br />

Jahrzehnten teilweise verstärkt. Ungleichheiten,<br />

die vielfach schon seit der<br />

Kolonialzeit existieren, wurden größer.<br />

Vielen Schwellen- und Entwicklungsländern<br />

hat der Handel mit der westlichen<br />

Welt Nachteile gebracht: Multinationale<br />

Firmen breiteten sich aus, die<br />

Entstehung eigener Industrien wurde<br />

gebremst. Eine nachhaltige Entwicklung<br />

war unter diesen Bedingungen<br />

schwierig.<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> bereitet heute aber<br />

auch den westlichen Staaten zunehmend<br />

Probleme: Der Wettlauf um besonders<br />

günstige Preise geht oft zu Lasten<br />

staatlicher, sozialer und ökologischer<br />

Standards.<br />

Dies belastet auch Teile der Bevölkerung<br />

in den Industrienationen, die<br />

teilweise Lohneinbußen hinnehmen<br />

müssen.<br />

Die <strong>Globalisierung</strong> hat in ihrer heutigen<br />

Ausprägung also Gewinner – aber auch<br />

Verlierer.<br />

<strong>Globalisierung</strong> unter neuen<br />

Vorzeichen<br />

Smartphones aus China, Bananen aus<br />

Ecuador, Kaffee aus Kenia, T-Shirts aus<br />

Bangladesch, Autos aus Japan, Suchmaschinen<br />

und Streaming-Dienste aus den<br />

USA …<br />

Viele der Produkte und Dienstleistungen,<br />

die wir täglich nutzen, haben eine<br />

lange Reise hinter sich. Oder sie werden<br />

an einem tausende Kilometer entfernten<br />

Ort bereitgestellt.<br />

Manche sehen darin die Ursache für den<br />

Aufstieg populistischer und nationalistischer<br />

Bewegungen und Politiker. Befür-<br />

Jahrzehntelang<br />

kannte<br />

der Güteraustausch<br />

nur<br />

ein Ziel:<br />

Zuwachs.<br />

Das sind die Auswirkungen der <strong>Globalisierung</strong><br />

– der weltweiten Verflechtung<br />

von Politik, Kultur, Arbeitswelt – und<br />

vor allem der Wirtschaft. Manche sagen,<br />

die <strong>Globalisierung</strong> begann bereits vor<br />

über 500 Jahren, mit der Ankunft von<br />

Christoph Kolumbus in Amerika.<br />

Verstärkt wurde sie später durch die<br />

Erfindung von Dampfschiff, Eisenbahn,<br />

Verbrennungsmotor, Düsenflugzeug,<br />

Container, Telefon und Internet.<br />

Geringere Transportkosten, bessere<br />

Kommunikation und immer weniger<br />

Handelshemmnisse führten seit den<br />

90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts<br />

noch einmal zu einer Beschleunigung<br />

dieser Entwicklung.<br />

Für viele ist die <strong>Globalisierung</strong> eine Erfolgsgeschichte.<br />

Sie hat das Leben von<br />

Millionen Menschen in Industrienationen<br />

und Schwellenländern gravierend<br />

verändert – und viele Jobs weltweit geschaffen.<br />

Beispiel Europa: Exporte in Länder außerhalb<br />

der EU sicherten im Jahr 2000<br />

etwa 22 Millionen Arbeitsplätze. 2017<br />

waren es rund 36 Millionen, also über<br />

zwei Drittel mehr.<br />

In Deutschland hingen zuletzt fast acht<br />

Millionen Jobs vom Export in Länder außerhalb<br />

Europas ab – also jeder Fünfte<br />

und fast doppelt so viele wie zur Jahrtausendwende.<br />

In anderen EU-Ländern – so etwa Frankreich,<br />

Spanien, Italien oder Polen – war<br />

die Entwicklung ähnlich.<br />

Doch die <strong>Globalisierung</strong> bringt auch gravierende<br />

Probleme mit sich. So verstärkt<br />

sie die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen<br />

Ländern des Nordens und des globalen<br />

Südens.<br />

Während die sich entwickelnden Länder<br />

vorwiegend Rohstoffe wie Bananen,<br />

Kaffee, Kobalt oder Erdöl exportieren,<br />

stellen die Industrieländer und die aufstrebenden<br />

Volkswirtschaften vor allem<br />

hochspezialisierte Konsumgüter wie<br />

Computer oder Autos her.<br />

Die Entstehung weltweiter Lieferketten<br />

hat zwar auch im globalen Süden neue<br />

Fabriken – und neue Jobs – entstehen<br />

lassen. Und die Ausfuhr von Industriegütern<br />

ist dadurch auch in einigen dieser<br />

Länder gestiegen. Doch Millionen<br />

Arbeiter und Arbeiterinnen stellen<br />

dort für sehr niedrige Löhne und unter<br />

widrigen Bedingungen Kleider oder<br />

Smartphones her. In Ländern, wo die<br />

Arbeitsbedingungen besonders schlecht<br />

sind, versuchen Menschen teilweise woanders<br />

ihr Glück – und verlassen ihre<br />

Heimatländer.<br />

Auch im wohlhabenden Norden sorgt<br />

die <strong>Globalisierung</strong> für Verwerfungen: Einige<br />

der Produkte, die in den Schwellenländern<br />

zu geringen Löhnen hergestellt<br />

werden, sind wettbewerbsfähiger als die<br />

aus den Industrieländern.<br />

Vielfach sind neue weltweite Konkurrenzen<br />

entstanden. Das hat Jobs im globalen<br />

Norden gekostet. Gewerkschaften beklagen<br />

geringe Lohnzuwächse. Zunehmende<br />

Ungleichheit sorgt für Instabilität.<br />

80 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


<strong>Globalisierung</strong><br />

Die weltweiten Lieferketten hatten lange<br />

für einen Boom der Wirtschaft gesorgt.<br />

Nun gibt es in der Fertigung immer weniger<br />

zu globalisieren. Die Herstellung<br />

wird zunehmend von der Automatisierung<br />

bestimmt, Produktionsprozesse –<br />

aber auch Absatzmärkte – werden wieder<br />

regionaler. Zuletzt hing das auch mit<br />

den wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie<br />

zusammen.<br />

Gleichzeitig ist ein rasantes Plus beim<br />

weltweiten Austausch digitaler Dienstleistungen<br />

zu beobachten – anders als<br />

bei Industriegütern und beim Kapitalverkehr.<br />

Nicht zuletzt ist China, lange nur Produktionsstätte<br />

des Westens, zu einem<br />

bedeutenden Wettbewerber auf dem<br />

Weltmarkt geworden.<br />

Foto: aerial-drone / stock.adobe.com<br />

Dabei halfen dem Land eine gezielte<br />

Strategie im Hightech-Bereich und die<br />

Seidenstraßen-Initiative – der Versuch<br />

der Regierung in Peking, die Wirtschaftsregionen<br />

des Landes mit Teilen<br />

Asiens, Europas und Afrikas zu integrieren.<br />

Außerdem seine 1,4 Milliarden<br />

Einwohner und Einwohnerinnen, also<br />

potentielle Konsumenten und Konsumentinnen<br />

– sowie Hunderte Millionen<br />

weiterer auf Absatzmärkten im asiatisch-pazifischen<br />

Raum.<br />

worter protektionistischer Maßnahmen<br />

haben auf der ganzen Welt Zulauf bekommen.<br />

<strong>Globalisierung</strong>skritische Bewegungen<br />

protestieren gegen den Abschluss von<br />

Handelsabkommen. Und Handelskonflikte<br />

haben weltweit zugenommen.<br />

Experten und Expertinnen sprechen bereits<br />

von Deglobalisierung. Noch hängen<br />

aber weiter Millionen Arbeitsplätze weltweit<br />

von Ein- und Ausfuhren ab, gerade<br />

in Deutschland, wo sich die Im- und Exporte<br />

seit der Jahrtausendwende mehr<br />

als verdoppelt haben.<br />

Wohin geht die Zukunft? Mehrere Faktoren<br />

ändern derzeit das Gesicht der <strong>Globalisierung</strong>.<br />

Jahrzehntelang kannte der<br />

Güteraustausch nur ein Ziel: Zuwachs.<br />

Vor allem zwischen den Industrienationen<br />

und Ländern wie China oder Indien.<br />

Doch das rasante Wachstum der vergangenen<br />

Jahre stockt.<br />

Der internationale Warenaustausch<br />

wächst bereits seit einiger Zeit langsamer<br />

als die Produktion.<br />

Wie sich der Welthandel angesichts der<br />

jüngsten Verwerfungen weiterentwickelt,<br />

ist schwer absehbar.<br />

Wenn die globale Rezession überstanden<br />

ist, könnte China die USA jedoch irgendwann<br />

als größte Wirtschaftsmacht<br />

der Welt überholen. Nicht zuletzt –<br />

aufgrund der <strong>Globalisierung</strong>. ■<br />

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz<br />

„CC BY-SA 4.0 - Namensnennung - Weitergabe<br />

unter gleichen Bedingungen 4.0 International“<br />

veröffentlicht. Autor/-in: Kai Schöneberg für bpb.de<br />

Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de<br />

81


<strong>Globalisierung</strong><br />

guter<br />

Letzt<br />

Zu<br />

Kleidung: Überproduktion<br />

landet auf Müllhalden<br />

IMPRESSUM<br />

UmweltDialog ist ein unabhängiger Nachrichtendienst<br />

rund um die Themen Nachhaltigkeit und Corporate Social<br />

Responsibility. Die Redaktion von UmweltDialog berichtet<br />

unabhängig, auch von den Interessen der eigenen Gesellschafter,<br />

über alle relevanten Themen und Ereignisse aus<br />

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.<br />

Grafik: strichfiguren.de / stock.adobe.com<br />

Die Überproduktion der Fast-Fashion-Industrie verursacht<br />

immer größere Müllberge im globalen Süden. Das<br />

ist das Ergebnis einer Vor-Ort-Recherche von Greenpeace<br />

Deutschland, die im Rahmen der „Fashion Revolution<br />

Week“ veröffentlicht wurde.<br />

Allein in Deutschland werden jährlich mehr als eine Million<br />

Tonnen Altkleider gesammelt. Weniger als ein Drittel<br />

wird in Deutschland als Secondhandware weiterverkauft.<br />

Der Großteil wird nach Osteuropa und Afrika exportiert.<br />

Doch viele Kleidungsstücke haben keinen Marktwert<br />

mehr, weil sie defekt, verschmutzt oder für das örtliche<br />

Klima ungeeignet sind. Die Recherchen haben ergeben,<br />

dass 30 bis 40 Prozent der Importe nicht mehr verkauft<br />

werden können. Sie landen gemeinsam mit der Überproduktion<br />

auf Mülldeponien, in Flüssen oder werden unter<br />

freiem Himmel verbrannt: weltweit eine LKW-Ladung pro<br />

Sekunde.<br />

„Es reicht nicht aus, das Wort ‚nachhaltig‘ auf Textilien zu<br />

schreiben, ohne das Geschäftsmodell zu verändern“, sagt<br />

Viola Wohlgemuth, Expertin für Ressourcenschutz von<br />

Greenpeace. „Wir brauchen wie beim Klima ein internationales<br />

Abkommen, das den Export von Textilmüll verbietet,<br />

recyclefähiges Produktdesign vorschreibt und eine globale<br />

Steuer, die das Verursacherprinzip mit einbezieht. Das<br />

heißt, die Hersteller werden für die Kosten der Beseitigung<br />

der verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden in der<br />

gesamten Lieferkette finanziell verantwortlich gemacht.“ ■<br />

Herausgeber:<br />

macondo publishing GmbH<br />

Dahlweg 87<br />

48153 Münster<br />

Tel.: 0251 / 200782-0<br />

Fax: 0251 / 200782-22<br />

E-Mail: redaktion@umweltdialog.de<br />

Redaktion dieser Ausgabe:<br />

Dr. Elmer Lenzen (V.i.S.d.P.), Sonja Scheferling,<br />

Elena Köhn, Milena Knoop, Ulrich Klose<br />

Bildredaktion:<br />

Marion Lenzen<br />

Gestaltung:<br />

Gesa Weber<br />

Lektorat:<br />

Marion Lenzen, Milena Knoop<br />

Klimaneutraler Druck, FSC ® -zertifiziertes<br />

Papier, CO 2<br />

-neutrale Server<br />

© 2022 macondo publishing GmbH<br />

© Titelbild: mattkusb / stock.adobe.com<br />

ISSN<br />

Digital: 2199-1626<br />

Print: 2367-4113<br />

82 Ausgabe 17 | Mai 2022 | Umweltdialog.de


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erscheint am 14.11.2022.


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