schwarzenbacheffektkorrekt
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Der<br />
Schwarzenbach -<br />
effekt<br />
Wenn Abstimmungen<br />
Menschen traumatisieren<br />
und politisieren<br />
Herausgegeben von Francesca Falk<br />
Mit Fotografien von Michael Züger und Beiträgen von<br />
Francesca Falk, Cenk Akdoganbulut, Melinda Nadj Abonji,<br />
Jelica Popović und Fatima Moumouni<br />
Unter Mitarbeit von Studierenden der Universität Bern<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
7 Einleitung<br />
Francesca Falk<br />
21 Überfremdungs diskurse und migrantischer Widerstand<br />
in der Nachkriegsschweiz<br />
Cenk Akdoganbulut<br />
35 Zeitstrahl<br />
37 Rosanna Ambrosi<br />
44 Gemma Capone<br />
52 Marina Frigerio<br />
59 Alex Granato<br />
66 Guglielmo Grossi<br />
75 Paola Monti<br />
81 Giuseppe Reo<br />
89 Enrique Ros<br />
96 Ödön Szabo<br />
103 «Überfremd»<br />
Melinda Nadj Abonji<br />
112 Ein Brief an Melinda<br />
Jelica Popović<br />
118 Nachwort: Diese Schweiz ist mir fremd –<br />
Beob achtungen einer privile gierten Migrantin<br />
Fatima Moumouni
Einleitung<br />
Francesca Falk<br />
1970 wurde die Schwarzenbach-Initiative von den stimmberechtigten<br />
Männern in der Schweiz knapp verworfen. Rund ein Drittel<br />
der «ausländischen Arbeitskräfte» in der Schweiz – 300 000 Menschen<br />
– war damals von der Ausweisung bedroht, weil sie keinen<br />
Schweizer Pass besassen. 1 Wie haben diese Menschen den Abstimmungskampf<br />
und die Debatten zur sogenannten «Überfremdung»<br />
erlebt? Und welche Spuren haben diese Erfahrungen in ihrem Leben<br />
hinterlassen? 2<br />
In neun Porträts – basierend auf Oral History Interviews und<br />
verfasst von Geschichtsstudierenden der Universität Bern – wird<br />
an ein «Leben im Provisorium» erinnert.<br />
Die Porträtierten berichten von ihrem damaligen Alltag. Sie<br />
sprechen über Arbeitsbedingungen, prekäre Wohnverhältnisse,<br />
zurückgelassene Kinder oder Prügeleien in der Schule. Erzählt wird<br />
von Diskriminierung und Ausgrenzung, aber auch von Freundschaft,<br />
Engagement und Widerstand.<br />
«Überfremdungskampagnen» führen dazu, dass den Betroffenen<br />
eine Gesichts- und Stimmlosigkeit auferlegt wird: Es wird sehr viel<br />
über sie geschrieben und geredet, ihre Stimmen werden hingegen<br />
selten hörbar. Gleichzeitig werden die so Marginalisierten als eine<br />
diffuse Masse wahrgenommen, «die aufgrund dieser Ent-Individualisierung<br />
und der daraus folgenden Generalisierung wie ein bedrohliches<br />
unfassbares Grossindividuum erscheint». 3 Umso wichtiger<br />
war es uns, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Denn diese<br />
Stimmen sind, wie Melinda Nadj Abonji in ihrem Beitrag schreibt,<br />
auch fünfzig Jahre später noch nicht in der Mitte der Gesellschaft<br />
angekommen.<br />
7
Traumatisierung und Politisierung<br />
Die Interviews in diesem Buch zeigen, wie die Schwarzenbach-Abstimmung<br />
einige der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen traumatisiert<br />
und zugleich politisiert hat. Stellvertretend für diese Auswirkungen<br />
steht ein Zitat von Marina Frigerio (geb. 1959), welches sie in Bezug<br />
auf die Schwarzenbach-Abstimmung geäussert hat: «Das war der<br />
Mo ment, als ich auf die Barrikaden gestiegen bin – und ich bin noch<br />
nicht runter.»<br />
Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei der 18-Prozent-, der<br />
Minarett- oder der Ausschaffungsinitiative beobachten. Renzo Loiudice<br />
(geb. 1979) gibt an, dass die 18-Prozent-Initiative bei ihm den<br />
Ausschlag gegeben habe, sich politisch zu engagieren. 4 Er war von<br />
2014 bis 2019 Mitglied im Kantonsrat von Schaffausen. Mohamed<br />
Wa Baile (geb. 1974), Mitbegründer der Allianz gegen Racial<br />
Profi ling, nennt das Plakat der Ausschaffungsinitiative von 2007,<br />
auf welchem weisse Schafe ein schwarzes Schaf aus der Schweiz<br />
raustreten, als ein Auslöser für sein politisches Engagement. Er<br />
habe damals begonnen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. 5<br />
Ähnlich wie Mohamed Wa Baile erging es auch Arber Bullakaj<br />
(geb. 1986) mit der Ausschaffungsinitiative. Seit 2013 ist Arber<br />
Bullakaj Mitglied im Stadtparlament von Wil. Er kam als Kind aus<br />
dem Kosovo in die Schweiz und fühlte sich durch die damalige<br />
Abstimmungskampagne, etwa durch das Plakat «Kosovaren schlitzen<br />
Schweizer auf», persönlich angegriffen. Eine kleine Gruppe<br />
von Menschen sei als etwas dargestellt worden, das den Frieden<br />
der Mehrheitsgesellschaft störe. 6 Emsale Selmani (geb. 1993), Mitglied<br />
im Grossen Gemeinderat von Ostermundigen, schrieb wiederum<br />
im Zu sam menhang mit ihrem Wahlkampf von 2020: «Die<br />
Annahme der Minarettinitiative im Jahr 2009 war es, die mich<br />
zum Politisieren bewegt hat.» 7 In einem Gespräch mit mir führte<br />
sie aus, dass sie eigentlich nicht sehr religiös sei. Dennoch habe<br />
sie sich durch diese Initiative als Muslimin diskriminiert gefühlt:<br />
«Etwas, das zu meiner Kultur gehört, wird verboten.» 8 Dass ein<br />
8
solches Anliegen auch in ihrem erweiterten Freundeskreis nicht<br />
immer abgelehnt wur de, habe sie schlicht nicht nachvollziehen<br />
können.<br />
Prozesse der Politisierung sind komplex und lassen sich nicht auf<br />
einen einzelnen Faktor zurückführen. Dennoch ist es interessant,<br />
dass verschiedene Personen solche Abstimmungskampagnen und die<br />
damit einhergehenden Folgen in Geschichte und Gegenwart als Auslöser<br />
für ihr politisches Engagement bezeichnen. Auch davon – und<br />
von viel mehr – erzählen die hier versammelten Porträts.<br />
Fokus<br />
Die drohenden Ausschaffungen von 1970 hätten – je nach Aufenthaltsstatus<br />
– die gesamte «ausländische» Bevölkerung betroffen. 9<br />
Die Abstimmungskampagne zielte allerdings vor allem auf die<br />
damals grösste migrantische Bevölkerungsgruppe in der Schweiz,<br />
die Italiener:innen, ab. Dieser Umstand widerspiegelt sich auch in<br />
der Auswahl der hier porträtierten Personen. Der Fokus ist also<br />
gerechtfertigt – und gleichzeitig müssen wir uns dessen Einschränkungen<br />
bewusst sein und ebenfalls fragen: Wie haben mig rierte<br />
Menschen aus anderen Ländern diese Zeit erlebt? Um Anhaltspunkte<br />
für die Antwort auf diese Frage finden zu können, ist es<br />
interessant, die geschilderten Erfahrungen von Enrique Ros und<br />
Ödön Szabo mit den anderen Porträtierten zu vergleichen.<br />
Die Kontakte zu den interviewten Personen sind über verschiedene<br />
Wege entstanden. Auf einige der Porträtierten wurden wir<br />
über meinen Bekanntenkreis und denjenigen der Studierenden aufmerksam,<br />
andere wurden uns von der Unia und vom Archiv für<br />
Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz vermittelt.<br />
Auch bei einem Anlass mit Concetto Vecchio in der Casa d’Italia<br />
in Bern habe ich im November 2019 dieses Projekt vorgestellt, worauf<br />
sich einige Interessierte bei mir gemeldet haben. Unser Fokus<br />
lag auf Menschen, die in der Deutschschweiz leben. 10 Die allermeisten<br />
Interviews wurden deshalb auch auf Schweizer- oder Schrift-<br />
9
deutsch geführt. Ein Grossteil der biografisch-thematischen 11 Interviews<br />
wurden im Frühjahr 2020 durchgeführt, ein weiteres im<br />
September 2020.<br />
Auch wenn wir darauf geachtet haben, Menschen mit verschiedenen<br />
sozialen Hintergründen, unterschiedlichen Berufen und aus<br />
verschiedenen Altersklassen für die hier abgedruckten neun Porträts<br />
auszuwählen und uns ein möglichst ausgeglichenes Geschlechterverhältnis<br />
wichtig war – dieser Ansatz will keine statistisch verstandene<br />
Repräsentativität beanspruchen. 12<br />
Wessen Geschichte zählt?<br />
Oral History zeichnet mündliche Erinnerungen von Zeitzeug:innen<br />
auf und wertet sie aus. 13 Dadurch wird es möglich, die Perspek ti ven<br />
von Menschen sichtbar zu machen, die in der bisherigen Ge schichtsschreibung<br />
wenig berücksichtigt wurden. «Migrantische Erfahrungen»<br />
werden dort meist unzureichend dokumentiert und tauchen<br />
im kollektiven Gedächtnis nur am Rande auf. Durch Oral History<br />
werden folglich Alltagserfahrungen artikuliert, die ansonsten oft<br />
unausgesprochen blieben. 14 Wie und was jemand erzählt, hat dabei<br />
immer sowohl mit der erlebten Geschichte als auch mit der Gegenwart<br />
zu tun. Erzählte Erinnerungen sind immer retrospektiv: Sie<br />
spiegeln ebenfalls wider, wie interviewte Personen ihrem Leben in<br />
der Gegenwart einen Sinn verleihen, indem sie unter anderem auswählen,<br />
was sie in ihren Erzählungen ein- und was sie ausschliessen.<br />
Erzählte Erinnerungen sind zudem subjektiv: Sie zeigen vor<br />
allem, wie jemand etwas erlebt hat. Sie sind deshalb nie einfach<br />
«Abbildungen von Ereignissen», sondern stets «Reproduktionen<br />
von in eine komplexe lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung<br />
eingebetteten Bildern». 15 Gerade darin liegt jedoch ihr besonderer<br />
Erkenntniswert, denn erzählte Erinnerungen geben immer<br />
auch Einblick in das Selbstverständnis, die Sinnbildungsprozesse<br />
und Deutungsweisen der befragten Personen. Gleichzeitig folgen<br />
mündliche Überlieferungen gesellschaftlichen Konventionen;<br />
10
Erinnerungen sind deshalb immer auch an die soziale Zugehörigkeit<br />
eines Menschen gebunden. 16<br />
Übersetzungen<br />
Wir haben uns bemüht, bei den Zitaten der interviewten Personen<br />
nahe am gesprochenen Wort zu bleiben und zugleich eine<br />
gute Lesbarkeit zu ermöglichen. Bereits durch unsere Setzung der<br />
Satzzeichen und der in den meisten Fällen vom Schweizer- ins<br />
Schriftdeutsch erfolgten Übersetzung wurden die Aussagen der<br />
Porträtierten jedoch immer auch von uns interpretiert. Auf Schriftdeutsch<br />
wurden die Gespräche mit Rosanna Ambrosi, Gemma<br />
Capone, Marina Frigerio und Guglielmo Grossi durchgeführt, auf<br />
Schweizerdeutsch jene mit Alex Granato, Giuseppe Reo, Enrique<br />
Ros und Ödön Szabo. Das Interview mit Paola Monti fand auf<br />
Italienisch statt. Bei Giuseppe Reo haben sich die Verfasserinnen<br />
des Porträts entschieden, wörtliche Zitate in der Mundart wiederzugeben,<br />
da sie sonst an Ausdruck verloren hätten. Bei allen anderen<br />
wurde für die Wiedergabe der Zitate meist Schriftdeutsch gewählt,<br />
allerdings finden sich auch da Schweizerdeutsche Satzkonstruktionen<br />
oder Ausdrücke.<br />
Digitales Oral History Archiv<br />
Es war uns wichtig, dass die Porträtierten sich in ihrem Porträt<br />
wiederfinden. So hat Gemma Capone bei ihrem Porträt eine nachträgliche<br />
Ergänzung angebracht, die als solche ausgewiesen ist.<br />
Nicht alles, was die Porträtierten erzählten, konnte in diesem Buch<br />
untergebracht werden. Auch sind bei der hier gewählten Form des<br />
Porträts die Fragen der Interviewenden nicht ersichtlich. Aus diesen<br />
Gründen haben wir die Audio-Dateien der den Porträts zugrunde<br />
liegenden Interviews auf der Website oral-history-archiv.ch veröffentlicht.<br />
Das sich im Aufbau befindende digitale Archiv umfasst<br />
auch weitere Oral History-Interviews, die im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen<br />
an der Universität Bern entstehen. Ein besonderer<br />
11
Fokus liegt dabei auf Migrationserfahrungen. Gerne laden wir dazu<br />
ein, die mündlichen Interviews mit den in diesem Buch verschriftlichten<br />
Porträts zu vergleichen, um die erfolgte Transformation<br />
selbst beobachten und reflektieren zu können.<br />
Durch Oral History schaffen Historikerinnen und Historiker<br />
gemeinsam mit den von ihnen interviewten Personen neue Quellen,<br />
was in der historischen Forschung eine Besonderheit darstellt. Auf<br />
Seiten der Interviewenden bedarf dies einer Selbstreflexion. Nach<br />
jedem Interview fertigten die Studierenden deshalb Interviewprotokolle<br />
an, um die Interviewsituation und den Gesprächsverlauf zu<br />
dokumentieren und zu reflektieren. Die Interviewprotokolle, die<br />
biografischen Fragebögen und die erstellten Transkripte werden<br />
indes nicht veröffentlicht. Das hat insbesondere mit dem Schutz<br />
der Privatsphäre der Interviewten und Interviewenden zu tun sowie<br />
beim Transkript zusätzlich mit dem Umstand, dass die Interviewten<br />
durch die Überführung eines mündlichen Interviews in<br />
schriftliche Sprache Mühe haben können, sich darin wiederzufinden<br />
und einer Veröffentlichung in dieser Form zuzustimmen. 17<br />
Erinnerungen<br />
In einem Fernseh-Interview von 2005 erzählt Rosmarie Schwarzenbach,<br />
ihr Bruder James sei nie darauf angewiesen gewesen, Geld<br />
zu verdienen. 18 Bei den in diesem Buch porträtierten Personen war<br />
es hingegen oft die Arbeit, die überhaupt erst ihre Daseinsberechtigung<br />
in der Schweiz schuf. Die Arbeit dominierte den Alltag der<br />
Erwachsenen. Besonders Kinder trugen dementsprechend von klein<br />
auf eine grosse Verantwortung, wie folgende Schilderung zeigt:<br />
Alex Granato brachte morgens vor dem Kindergarten seine Geschwister<br />
in die Kinderkrippe und ging dann wieder nach Hause.<br />
Als es Zeit war, sich für den Kindergarten aufzumachen, lief er los.<br />
Vorher ging er aber noch bei seinem Vater vorbei, der nicht weit<br />
entfernt in der Sägerei arbeitete, und brachte ihm den Wohnungsschlüssel.<br />
In einem anderen Interview erwähnt Giuseppe Reo de-<br />
12
mütigende Behördengänge, die er als Kind für seine Eltern übernahm.<br />
An das Gefühl, bei der Fremdenpolizei von oben herab<br />
be handelt zu werden, erinnert er sich heute noch. Als Junge sei es<br />
für ihn jedes Mal «en Gruus» gewesen, die Räumlichkeiten der<br />
Fremdenpolizei zu betreten.<br />
Einige der hier Porträtierten erzählen, wie sie als Kind für einige<br />
Zeit von den Eltern getrennt wurden und bei den Grosseltern<br />
lebten. Die Hasskampagnen, die ab 1964 geführt wurden, hätten<br />
eine veritable Desintegration bewirkt, meint etwa Guglielmo Grossi.<br />
Weil die Familien dachten, sie würden bald nach Italien zurückkehren,<br />
wurden die Kinder dorthin zurückgeschickt oder gleich in<br />
Italien gelassen. Solche Trennungen betrafen Zehntausende Familien.<br />
Und als die Kinder dann wieder in die Schweiz kamen, konnten<br />
sie die Sprache nicht, was in der Schule zu grossen Problemen<br />
führte.<br />
Einige, die ihre Schulzeit in der Schweiz verbracht haben, erzählen,<br />
wie «ausländische» Kinder in der Schule diskriminiert wurden.<br />
Ein Mädchen, das die Umlaute nicht richtig aussprach, wurde<br />
zur Strafe von der Lehrperson in die Ecke gestellt. Enrique Ros<br />
wurde von manchen Lehrkräften nicht mit Namen angesprochen,<br />
er war «der Spanier dort hinten». Alex Granato erzählt, wie er um<br />
die Zeit der Abstimmung häufig Schlägereien hatte. Die Schweizer<br />
Kinder hätten die Diskussionen zu Hause aufgeschnappt und mit<br />
in die Schule getragen. Er sei als «huere Tschingg» beschimpft worden.<br />
Das habe er sich aber nicht bieten lassen und sich gewehrt. Die<br />
Folge war, dass der Lehrer ihn manchmal an den Ohren geholt und<br />
«versorgt» habe. Die «Zündler» blieben hingegen ungestraft. Unterstützung<br />
fand Alex Granato bei der Familie des Arbeitgebers, bei<br />
der er mit den Töchtern spielen und die Hausaufgaben machen<br />
konnte. Giuseppe Reo erzählt, wie ein guter Freund in der Zeit vor<br />
der Schwarzenbach-Initiative nicht mehr mit ihm verkehren durfte.<br />
Die beiden hätten sich dennoch auf dem Schulweg getroffen,<br />
«nicht von Anfang an, aber in der Mitte». Paola Monti berichtet,<br />
13
dass sie in Chur in einem Italiener:innen-Quartier gewohnt habe.<br />
Obwohl ihre Eltern ihr damals versicherten hätten, dass sie eine<br />
Niederlassung in der Schweiz und deshalb keine Ausweisung zu<br />
befürchten hätten, habe sie grosse Angst gehabt. Wahrscheinlich<br />
habe sie auch die Angst der anderen gespürt. Von den Auswirkungen<br />
der «Überfremdungsdebatten» auf das Leben der Kinder berichtet<br />
auch Marina Frigerio. Als Psychotherapeutin für Kinder<br />
und Jugendliche störe es sie heute noch, wenn die Strassen voller<br />
Plakate seien, in denen die Eltern der Kinder als Schmarotzer dargestellt<br />
würden.<br />
Enrique Ros wurde als Kind von den Eltern eingetrichtert, nicht<br />
aufzufallen: «Herunterdämpfen, herunterdämpfen, reinnehmen,<br />
schlucken, still sein». Ähnliches erlebte Paola Monti. Wenn sie mit<br />
einem Schweizer Kind stritt, wies sie ihre Mutter an, den Mund zu<br />
halten, auch wenn sie eigentlich im Recht war. Anders war es bei<br />
Alex Granato. Sein Vater habe ihm mitgegeben, dass er sich nichts<br />
bieten lassen müsse: «Du bist nicht weniger Wert als die.» Geprägt<br />
wurden diese Kinder auch von den Lebensbedingungen, die oft<br />
alles andere als einfach waren. Giuseppe Reo erzählt, wie seine<br />
Fami lie ein paar Jahre in einer Baracke lebte. Gegessen wurde jeweils<br />
in der Kantine, Bad und Dusche wurden geteilt.<br />
Während die Kinder in solchen Lebenssituationen oft früh selbständig<br />
werden mussten, wurden die Erwachsenen zuweilen wie<br />
Unmündige behandelt. Etwa dann, wenn ihnen das Recht abgesprochen<br />
wurde, eine Person des anderen Geschlechts in die eigene<br />
Wohnung mitzunehmen. Damit die Holztreppe durch ihr «Krickkrack»<br />
nicht zwei Paar Füsse verriet, wurden damals die Partnerinnen<br />
von den Männern geschultert, wie sich Gemma Capone er in nert.<br />
Mit der Initiative von 1970, so Capone, habe alles zu wackeln<br />
begonnen: «Du bist provisorisch», sagte man ihr. Enrique Ros erlebte<br />
diese Zeit ebenfalls als existenzielle Verunsicherung, eine Erfahrung<br />
der «Ausschaffarkeit», die sich damals zuspitzte. Unerhört<br />
gefunden habe er, dass man ihn vom Ort, an dem er sich auf eine<br />
14
Art zu Hause fühlte, rausschmeissen konnte. Dass eine Demokratie<br />
wie die Schweiz ihn in die Franco-Diktatur zurückschicken würde,<br />
habe ihn «wahnsinnig gedünkt» und wütend gemacht.<br />
Giuseppe Reo erinnert sich an die Erlebnisse seines Vaters, eines<br />
Bauarbeiters. Dieser erzählte etwa von einem Arbeitskollegen, der<br />
aus heiterem Himmel in den Baracken mit Beschimpfungen gegen<br />
«ausländische» Mitarbeitende um sich warf: «Sooo heee iär huere<br />
Seck da, jetz chöit der de abfahre.» Und wenn der Vater, der sehr<br />
kommunikativ und belesen war, etwas erwiderte, hiess es jeweils:<br />
«Lehr zersch Dütsch, bevor mit mir redsch!» Wie wichtig der Zugang<br />
zu Büchern und allgemein zu Informationen war, zeigen die<br />
Erzählungen der Porträtierten ebenfalls. Marina Frigerio erinnert<br />
sich, dass ihr Vater, ein Elektriker, eine riesige Bibliothek besass:<br />
«Er war einer, der wahrscheinlich hätte studieren sollen, aber es<br />
war eben nicht möglich.» Ausserdem ist es auffallend, dass viele der<br />
hier porträtierten Frauen selber Bücher verfasst haben. Rosanna<br />
Ambrosi, Gemma Capone und Marina Frigerio haben auf diese Weise<br />
sich und ihrem Umfeld zu einer Stimme verholfen.<br />
Migrierte seien eine Gruppe gewesen, «die man ohne Stimme,<br />
ohne Rechte haben wollte», erinnert sich Giuseppe Reo. In die Abstimmungsdebatte<br />
haben sie sich trotzdem eingemischt. Mit der<br />
Initiative sei der Esel geschlagen, aber der Ritter gemeint gewesen,<br />
erinnert sich Giuseppe Reo. Guglielmo Grossi beschreibt, wie sich<br />
das Comitato d’Intesa bildete, damit linke und katholische Organisationen<br />
sich beim Widerstand gegen die Initiative koordinieren<br />
konnten. Der bereits erwähnte Schwarzenbacheffekt zeigte sich<br />
auch hier. Gerade durch die «Überfremdungskampagnen» wurden<br />
einige der Interviewten politisiert. Sie setzten sich für bessere Arbeitsbedingungen<br />
ein, kämpften etwa für gleiche Entlohnung (was<br />
rechtlich gesehen bereits zwingend gewesen wäre), damit migrantische<br />
Arbeitskräfte nicht für ein Lohndumping missbraucht werden<br />
konnten. Guglielmo Grossi erzählt ausserdem vom schwierigen<br />
Kampf für die doppelte Staatsbürgerschaft.<br />
15
Alle Porträtierten besitzen heute die Schweizer Staatsbürgerschaft.<br />
Alex Granato sieht seine Einbürgerung als Spätfolge von<br />
«Schwarzenbach». Bereits mit Fünfzehn habe er sich gesagt, dass<br />
es so nicht weitergehen könne. «Die Auswirkungen, die das eigentlich<br />
gehabt hat: Dass ich überhaupt Schweizer Bürger geworden<br />
bin, weil ich mitbestimmen wollte.» Auch Enrique Ros wollte sich<br />
bereits als Jugendlicher einbürgern lassen. Als er dem Einbürgerungsbeamten<br />
im zweiten oder dritten Gespräch allerdings auf<br />
Nachfrage hin eröffnete, er werde den Militärdienst verweigern,<br />
sei die Antwort gewesen: «Ja dann werden Sie nicht Schweizer.»<br />
Über einen anderen Weg, nämlich als Enrique Ros seine Schweizer<br />
Frau heiratete, habe er die Schweizer Staatsbürgerschaft später<br />
doch noch erhalten. Rosanna Ambrosis geschildertes Erlebnis zur<br />
Einbürgerung ist ebenfalls filmreif. Ein konsequent Schweizerdeutsch<br />
sprechender «Polizist» besuchte sie damals zu Hause und<br />
machte sich während des Gesprächs immer wieder Notizen. Ambrosi<br />
nahm irgendwann ebenfalls einen Block zur Hand und begann,<br />
sich Dinge zu notieren. Wieso sie das mache, wurde sie von<br />
ihm gefragt. «Weil ich in einer Ausländerkommission der Stadt<br />
Zürich bin», war ihre Antwort. Und sie wolle beweisen und erzählen,<br />
wie eine solche Prozedur vor sich ginge. Da sei sein Verhalten<br />
auf einmal ganz anders geworden, er habe zudem sofort ins<br />
Schriftdeutsche gewechselt. Marina Frigerio kam durch Heirat zur<br />
doppelten Staatsbürgerschaft. Sie sei in der Schweiz geboren und<br />
habe sich immer schon als Tessinerin gefühlt. Deshalb habe sie<br />
das Beantragen eines Schweizer Passes als demütigend empfunden.<br />
Ödön Szabo wiederum war 1970 bereits eingebürgert. 1956 floh<br />
er mit seiner Familie aus Ungarn in die Schweiz. Er nimmt im Kreis<br />
der porträtierten Personen eine besondere Stellung ein. So ist er<br />
der Einzige, der als Geflüchteter in die Schweiz kam. Während heute<br />
Geflüchtete in der Hierarchie unten stehen, sei es damals gerade<br />
umgekehrt gewesen, erinnert er sich. Für seine Familie war es kein<br />
16
Leben im Provisorium, sondern in der Permanenz: Es war von<br />
Anfang an klar, dass sie von nun an in der Schweiz bleiben würden.<br />
Szabo empfindet seine damalige Situation im Vergleich zu jener<br />
der sogenannten «Gastarbeiterfamilien» allgemein als privilegiert.<br />
Die italienischen Saisonniers hätten in einer sehr schwierigen Situation<br />
gelebt und sich dabei sehr «konform» verhalten. Vieles habe<br />
er damals aber nicht mitbekommen, etwa die Situation der verborgenen<br />
Kinder. Diese Kinder lebten in den 1970er-Jahren illegal und<br />
versteckt in der Schweiz, weil sie keine Aufenthaltsbewilligungen<br />
erhielten. 19<br />
Die ungarische Gemeinschaft sei gegen die Schwarzenbach-Initiative<br />
gewesen. In Ödön Szabos Augen wäre es allerdings gelogen,<br />
zu sagen: «Wir sind dort bewegt gewesen». Als «ehemalige ungarische<br />
Flüchtlinge» hätten sie vor allem gegen die aufkommende Linke<br />
gekämpft und sich gleichzeitig gegen jegliche Ausländerfeindlichkeit<br />
starkgemacht. Ob die Abstimmung von 1970 für ihn noch<br />
irgendwie nachgewirkt habe? Die Antwort von Ödön Szabo nach<br />
längerer Überlegung lautet: Er habe irgendwann angefangen, differenziert<br />
sein linkes Herz zu entdecken. Zu sagen, es sei direkt<br />
Schwarzenbach zu verdanken, wäre geblufft. Aber er habe schon<br />
gemerkt, «grundsätzlich gefallen mir die linken Ideen».<br />
Die «Demokratie» bleibt im Kommen<br />
Die porträtierten Personen erzählen von Gemeinschaften, die sich<br />
organisiert und für ihre Rechte gekämpft haben. Viele der porträtierten<br />
Personen waren und sind noch immer in Vereinen, Parteien<br />
oder Gewerkschaften engagiert. Sie haben das gesellschaftliche<br />
Leben geprägt. Sie haben Strassen, Spitäler und Schulen ge baut.<br />
Und sie haben den öffentlichen Raum «geöffnet». Auch die «Einheimischen»<br />
haben sich im Laufe der Zeit in diese «neue Schweiz»<br />
integriert. Sie haben gelernt, dass man Tische draussen aufstellen<br />
und die Kinder abends zum Essen und Ausgehen mitnehmen kann.<br />
Die Schweiz ist gerade auch durch Migration zu dem Land ge-<br />
17
worden, das sie heute ist. Wären Menschen mit und ohne «Migrationserfahrung»<br />
dabei nicht immer wieder «auf die Barrikaden<br />
ge stiegen», gäbe es viele unserer politischen und sozialen Errungenschaften<br />
nicht. 20<br />
Aber angekommen sind wir alle noch nicht: Die «Demokratie»<br />
bleibt im Kommen. 21 Davon zeugten im Gedenkjahr der Schwarzenbach-Initiative<br />
besonders die globalen Black Lives Matter Proteste. 22<br />
1 Es ist wichtig zu wissen, dass es bei<br />
der Schwarzenbach-Initiative nicht<br />
nur darum ging, die Anzahl der «ausländischen<br />
Arbeitskräfte» zu reduzieren.<br />
Die Situation der Italiener:innen<br />
in der Schweiz hatte sich durch<br />
das 1964 unterzeichnete Ein wanderungsabkommen<br />
mit Italien verbessert.<br />
Dies war vielen ein Dorn im<br />
Auge – und ein wichtiger Mobilisierungsfaktor<br />
für die Initiative. Wie die<br />
Schwarzenbach-Initiative die Rechte<br />
von Migrant:innen beschränken wollte,<br />
schildert Cenk Akdoganbulut in<br />
seinem Beitrag. Er zeigt auch die Wirkungen<br />
auf, die die Initiative trotz<br />
ihrer Ablehnung entfaltete.<br />
2 Die hier porträtierten Personen<br />
haben im Laufe ihres Lebens verschiedene<br />
Bewilligungsformen durchlaufen.<br />
Der Status «Niedergelassene»<br />
entspricht der C-Bewilligung, «Jahresaufenthalt»<br />
der B-Bewilligung und<br />
das Saisonnierstatut der A-Bewilligung.<br />
3 Maiolino, Angelo: Als die Italiener<br />
noch Tschinggen waren. Der Widerstand<br />
gegen die Schwarzenbach-<br />
Initiative. Zürich 2011, S. 25.<br />
4 Hunziker, Peter: Wochengespräch.<br />
In: Schaffauser AZ. 1.6.2006, S. 4–5.<br />
5 Vgl. die digitale Diskussion vom<br />
22.9.2020 mit Melinda Nadj Abonji,<br />
Mohamed Wa Baile, Arber Bullakaj,<br />
Francesca Falk und Kaspar Surber auf<br />
youtu.be/YCtYBA_augk (23.9.2020).<br />
6 Das Bundesgericht bestätigte 2017 das<br />
Urteil der Vorinstanz, dass das Plakat<br />
gegen die Anti-Rassismuss-Strafnorm<br />
verstosse.<br />
7 Selmani, Emsale. In: Bantiger Post,<br />
11.8.2020.<br />
8 Gespräch zwischen Emsale Selmani<br />
und Francesca Falk vom 15.8.2020.<br />
9 In den letzten Jahren sind wichtige<br />
und inspirierende Bücher zum Thema<br />
erschienen. Siehe etwa Maiolino 2011;<br />
Vecchio, Concetto: Jagt sie weg! Die<br />
Schwarzenbach-Initiative und die<br />
italienischen Migranten. Zürich 2020.<br />
Angelo Maiolino möchte die Ereignisse<br />
aus der Sicht derjenigen<br />
schildern, die damals mit dem Etikett<br />
«Tschingg» diskreditiert wurden.<br />
Eine ähnliche Absicht verfolgt auch<br />
Concetto Vecchio. Den Ansatz der<br />
Oral History haben allerdings beide<br />
Autoren nur sehr begrenzt in<br />
Anschlag gebracht. Die Arbeit mit<br />
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus<br />
der französischsprachigen Schweiz<br />
steht hingegen im Zentrum des 2010<br />
erschienen Films «Les années Schwarzenbach»<br />
von Katharine Dominice<br />
18
und Luc Peter. Weitere Bücher zum<br />
Thema werden in Kürze erscheinen,<br />
so etwa die von der italienischen<br />
Botschaft initiierte Publikation:<br />
Mig nano, Silvio / Riccardi, Toni: Più<br />
Svizzeri, sempre italiani. Mezzo<br />
secolo dopo l’iniziativa Schwarzenbach.<br />
Rom 2022.<br />
Zu James Schwarzenbach und<br />
allgemein zum «Überfremdungsdiskurs»<br />
zu dieser Zeit siehe etwa<br />
Skenderovic, Damir: The Radical<br />
Right in Switzerland. Continuity and<br />
Change, 1945–2000. New York<br />
2009; Skenderovic, Damir / D’Amato,<br />
Gianni: Mit dem Fremden politisieren.<br />
Rechtspopulistische Parteien und<br />
Migrationspolitik in der Schweiz seit<br />
den 1960er-Jahren. Zürich 2008;<br />
Drews, Isabel: «Schweizer erwache!».<br />
Der Rechtspopulist James Schwarzenbach<br />
(1967–1978). Frauenfeld 2005;<br />
Buomberger, Thomas: Kampf gegen<br />
unerwünschte Fremde. Von James<br />
Schwarzenbach bis Christoph Blocher.<br />
Zürich 2004.<br />
10 Eine Porträtierte ist im Tessin aufgewachsen,<br />
eine weitere lebt heute da.<br />
11 In der Forschungsliteratur wird<br />
zwischen Expert:inneninterviews,<br />
thematischen und biografischen Interviews<br />
unterschieden. Die Grenzen<br />
zwischen verschiedenen Formen der<br />
Gesprächsführung sind allerdings<br />
oft fliessend. Uns interessierten die<br />
Lebensgeschichten der interviewten<br />
Personen und im Speziellen ihre<br />
Erinnerungen an die Schwarzenbach-<br />
Initiative. Aufgrund dieser von uns<br />
vorgenommenen Relevanzsetzung<br />
und der Kombination von erzählgenerierenden<br />
und themenzentrierten<br />
Fragen haben wir den Begriff des<br />
«biografisch-thematischen Interviews»<br />
gewählt.<br />
12 So sind bei den hier porträtierten<br />
Personen beispielsweise keine dabei,<br />
die 1970 über einen Aufenthaltsstatus<br />
als Saisonnier oder Saisonnière verfügten.<br />
Einige Interviews mit Saisonnières<br />
und Saisonniers finden sich auf<br />
der Website oral-history-archiv.ch<br />
(12.1.2022).<br />
13 An den Universitäten herrschte lange<br />
Zeit eine grosse Skepsis gegenüber<br />
Oral History. So stellte 1994 Gregor<br />
Spuhler fest, dass in der Schweiz<br />
kaum Veranstaltungen stattfinden, «in<br />
denen Studierende über die historische<br />
Forschung mit Interviews und<br />
die Besonderheiten dieser Arbeitsweise<br />
etwas erfahren könnten». Spuhler,<br />
Gregor: Oral History in der Schweiz.<br />
In: Ders.: Vielstimmiges Gedächtnis.<br />
Beiträge zur Oral History. Zürich<br />
1994, S. 7–20. S. 11. In den letzten<br />
Jahren wurde die Bedeutung von Oral<br />
History allerdings aufgewertet. Beispielsweise<br />
wurde 2013 der Verein<br />
Oralhistory.ch gegründet, siehe dazu<br />
oralhistory.ch/web/ (2.8.2021).<br />
14 In Bezug auf die Migration aus Italien<br />
in die Schweiz siehe in diesem Zusam<br />
menhang etwa Barcella, Paolo: Per<br />
cercare lavoro. Donne e uomini<br />
dell’emigrazione italiana in Svizzera.<br />
Roma 2018.<br />
15 Wierling, Dorothee: Oral History. In:<br />
Maurer, Michael: Aufriss der historischen<br />
Wissenschaften. Neue Themen<br />
und Methoden der Geschichtswissenschaft.<br />
Stuttgart 2001, S. 81–148.<br />
S. 96.<br />
16 Ebd., S. 82. Zwischen individuellen<br />
Erinnerungen und hegemonialen<br />
Erinnerungsdiskursen kann zuweilen<br />
allerdings auch ein Spannungsverhältnis<br />
bestehen. Siehe dazu Dejung,<br />
Christof: Oral History und kollektives<br />
Gedächtnis. Für eine sozialhistorische<br />
Erweiterung der Erinnerungsgeschichte.<br />
In: Geschichte und Gesellschaft<br />
34 (2008), S. 96–115.<br />
19
17 Siehe dazu Chiquet, Simone: Wem<br />
gehört die Geschichte? Ein Arbeitsbericht.<br />
In: Spuhler, Gregor: Vielstimmiges<br />
Gedächtnis. Beiträge zur Oral History.<br />
Zürich 1994, S. 49–55.<br />
18 Die Passage des Interviews findet sich<br />
auch im Dokumentarfilm von 2014<br />
«Gegen das Fremde – Der lange<br />
Schatten des James Schwarzenbach»:<br />
srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/<br />
wochenende-gesellschaft/dok-film-gegen-das-fremde-der-lange-schattendes-james-schwarzenbach,<br />
13:52<br />
(18.9.2020).<br />
19 Frigerio, Marina: Verbotene Kinder.<br />
Die Kinder der italienischen Saisonniers<br />
erzählen von Trennung und<br />
Illegalität. Zürich 2014; Frigerio,<br />
Marina / Burgherr, Simone: Versteckte<br />
Kinder. Zwischen Illegalität und<br />
Trennung. Saisonnierkinder und ihre<br />
Eltern erzählen. Luzern 1992; Khan,<br />
Muhammad Benyamin: Unsichtbare<br />
Kinder. Der Umgang der Behörden<br />
mit versteckten Kindern von<br />
ArbeitsmigrantInnen in der Schweiz<br />
(1950er–1970er-Jahre). Bern 2019<br />
(unveröffentlichte Masterarbeit);<br />
Khan, Muhammad Benyamin: Leben<br />
im Versteck. In: NZZ Geschichte 31<br />
(2020) S. 86–93. Siehe dazu auch das<br />
laufende Projekt an der Universität<br />
Neuchâtel «Une socio-histoire des<br />
gens qui migrent: Les ‹enfants du placard›»:<br />
unine.ch/histoire/home/recherche-1/une-socio-histoire-desgens-qui.html<br />
(13.11.2020).<br />
Ein wichtiger Aufruf zur Aufarbeitung<br />
dieser Geschichte stellt folgende<br />
Intervention dar: De Martin,<br />
Paola: Brennende Unschärfe. Offener<br />
Brief an Bundesrätin Simonetta<br />
Sommaruga. 21.9.2018: institutneueschweiz.ch/De/Blog/176/De_Martin_<br />
Brennende_Unschrfte (1.12.2020).<br />
Siehe dazu auch das Projekt «Schwarzenbach-Komplex»:<br />
schwarzenbachkomplex.ch/cms/<br />
(1.12.2020).<br />
20 Wie die Geschlechtergerechtigkeit<br />
in der Schweiz durch Migration<br />
vorangetrieben wurde, thematisiere<br />
ich in Falk, Fancesca: Gender Innovation<br />
and Migration in Switzerland.<br />
Cham 2019.<br />
21 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft.<br />
Frankfurt am Main 2002.<br />
22 Siehe dazu Jain, Rohit: Schwarzenbach<br />
geht uns alle an! Gedanken zu<br />
einer vielstimmigen, antirassistischen<br />
Erinnerungspolitik. Blogeintrag vom<br />
26.6.2020: institutneueschweiz.ch/<br />
De/Blog/249/ Schwarzenbach_geht_<br />
uns_alle_an_Gedanken_ zu_einer_<br />
vielstimmigen_antirassistischen_Erinnerungspolitik<br />
(1.12.2020); Dos<br />
Santos Pinto, Jovita / Boulila, Stefanie:<br />
Was Black Lives Matter für die<br />
Schweiz bedeutet. 23.6.2020: republik.ch/2020/06/23/was-black-livesmatter-fuer-die-schweiz-bedeutet<br />
(1.12.2020); Espahangizi, Kijan: Wer<br />
waren die N***** Europas? Der<br />
50. Jahrestag der «Schwarzenbach-<br />
Initiative gegen Überfremdung»<br />
in der Schweiz und die antirassistische<br />
Protestbewegung in den USA.<br />
7.6.2020: geschichtedergegenwart.ch/<br />
wer-waren-die-n-europas-der-50-<br />
jahrestag-der-schwarzenbach-initiative-gegen-ueberfremdung-in-derschweiz-und-die-antirassistische-protestbewegung-in-den-usa/<br />
(1.12.2020).<br />
20
«Für mich war<br />
er natürlich ein<br />
Faschist»<br />
Rosanna Ambrosi<br />
37
Rosanna Ambrosi,<br />
geboren 1944<br />
1970: Niederlassung (C-Bewilligung)<br />
Rosanna Ambrosi wurde 1944 in Verona geboren und wuchs dort<br />
mit ihrer Mutter und Grossmutter in einem grossen Haus mit Garten<br />
auf. Mit ihrem Vater konnte sie in ihrer frühen Kindheit nur<br />
wenig Zeit verbringen, da dieser nach 1945 sieben Jahre lang im<br />
Gefängnis war. Er war «leider Faschist», wie Rosanna Ambrosi<br />
kommentarlos bemerkt. Ihre Familie zog später nach Padua um,<br />
wo sie die Mittelschule besuchte und die Matura abschloss: «Und<br />
irgendwo zwischendrin habe ich meinen ersten Mann kennengelernt,<br />
der in Zürich arbeitete.»<br />
So machte sich Rosanna Ambrosi auf den Weg in die Schweiz,<br />
genauer nach Zürich. Es sollte ein neuer Lebensabschnitt werden.<br />
«Aus Liebe» sei sie in die Schweiz gekommen, meint sie lachend.<br />
Der Umzug im Jahr 1964 war eine Erleichterung und ein Schritt<br />
in Richtung persönliche Freiheit. Dieses Streben nach Freiheit<br />
zieht sich wie ein roter Faden durch Rosanna Ambrosis Leben. Sie<br />
sagt über Zürich: «Ich war hier natürlich sehr frei, was ich in Italien<br />
nicht war. Das war mir alles sehr eng. Auch die Stadt Verona war<br />
sehr eng für mich. Ich hatte keine Freiheit. Und hier in der Schweiz<br />
konnte ich machen, was ich wollte, (…) ich war endlich frei!» Sie<br />
fühlte sich in Zürich sehr wohl und auch akzeptiert – nicht zuletzt,<br />
weil sie Französisch sprechen konnte: «Die Leute dachten, ich sei<br />
Schweizerin, Welsche.» Als sie schliesslich Deutsch lernte, reagierten<br />
die Menschen weniger wohlwollend: «Ich habe gemerkt, dass<br />
die Reaktionen anders waren.» Zu Beginn besuchte Rosanna Ambrosi<br />
an der Töchterschule in Zürich einen Deutschkurs. Sie fühlte<br />
sich wie eine Schülerin, ja gar, als sei sie «in den Ferien». «Und das<br />
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war grossartig. Ich musste nicht arbeiten, ich musste kein Geld<br />
verdienen. Ich war natürlich in einer privilegierten Situation, das<br />
ist klar.» Allerdings wurde Rosanna Ambrosis Maturitätsabschluss<br />
erst nach zehn Jahren in der Schweiz anerkannt. Für sie bedeutete<br />
das, dass sie erst mit dreissig das Romanistikstudium beginnen<br />
konnte, das sie schliesslich mit dem Lizenziat abschloss. Doch dieser<br />
Weg war ein mühsamer: «Ich war dreissig, dann waren beide<br />
Kinder da, und ich hatte meine Familiensituation gewechselt, ich<br />
war weggegangen von meinem ersten Mann.» Allen Schwierigkeiten<br />
zum Trotz ist Rosanna Ambrosi heute froh, dass sie studiert<br />
hat. Kämpferisch meint sie: «Ich habe zurückerobert, was mein<br />
Recht war.»<br />
Auf die Frage, wann sie ihre Kinder bekommen hätte, antwortet<br />
Rosanna Ambrosi: «Früh, früh, sehr früh. Zu früh.» Die Freiheit,<br />
die sie in Zürich geniessen konnte, nahm schlagartig ein Ende, als<br />
sie bereits mit zweiundzwanzig ihr erstes Kind bekam. Ihr Leben<br />
veränderte sich komplett: «Dann ist die Situation gekippt. Früher<br />
war ich frei, ich konnte eben irgendwo hingehen oder nicht. Ich<br />
hatte schon angefangen, privat ein wenig Unterricht zu geben. Aber<br />
dann, mit dem Kind, war ich allein. Ich hatte keine Hilfe. Und meine<br />
Freiheit war beendet.» Schonungslos und ehrlich erzählt Rosanna<br />
Ambrosi, wie schwierig es für sie war, plötzlich Mutter und an<br />
ein Kind gebunden zu sein. Die Rollenverteilung in der Familie<br />
schien klar: Als Mutter war sie dazu verpflichtet, zu Hause zu bleiben<br />
und die Kinderbetreuung zu übernehmen. Von ihrem ersten<br />
Ehemann, dem Vater ihrer Kinder, wurde sie in der Betreuung wenig<br />
unterstützt. Er war bei den Colonie Libere, einer der grössten<br />
Migrant:innenorganisationen der Schweiz, politisch sehr aktiv und<br />
wollte sich und seine politische Karriere nicht einschränken lassen.<br />
«Er war nicht bereit, zu Hause zu bleiben», sodass Rosanna<br />
Ambrosi auch einmal abends hätte ausgehen können. Als sie sich<br />
schliesslich von ihrem ersten Mann trennte und ihren zweiten<br />
Mann kennenlernte, wurde vieles einfacher. «Er war nicht politisch<br />
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tätig, er war gern zu Hause am Abend, und er hatte kein Problem<br />
mit den Kindern.»<br />
Ein Leben geprägt vom Nicht-Akzeptiert-Werden, von der Ungleichheit:<br />
Das war für viele Menschen, die in den 60er-Jahren in<br />
die Schweiz migrierten, eine Lebensrealität. Rosanna Ambrosi, die<br />
eine C-Bewilligung besass, fühlte sich allerdings im Vergleich zu<br />
anderen italienischen Migrant:innen immer als Bildungs-Privilegierte:<br />
«Ich konnte auch mit der Zeit relativ gut Deutsch sprechen.<br />
Ich war nicht die Fremdarbeiterin in dem Sinn, und ich musste nicht<br />
neun Stunden pro Tag in einer Fabrik arbeiten.» Die Ungleichheiten<br />
zwischen ausländischen und Schweizer Beschäftigten waren jedoch<br />
offensichtlich. Einerseits wurde migrantischen Arbeitnehmenden<br />
weniger Lohn gezahlt, andererseits wurden sie gesellschaftlich<br />
nicht akzeptiert: «Die Akzeptanz war nicht da. Ich meine, die Italie<br />
ner, oder allgemein die Ausländer, waren Menschen zweiter<br />
Klasse oder dritter Klasse.» In diesem Zusammenhang erinnert sich<br />
Rosanna Ambrosi auch an die Schwarzenbach-Initiative: «Das war<br />
grässlich.» Auch wenn sie meint, nur wenige Erinnerungen zur Zeit<br />
der Schwarzenbach-Initiative zu haben, so erinnert sie sich doch<br />
lebhaft an den Eindruck, den Schwarzenbach selbst auf sie machte.<br />
Trocken und kompromisslos meint sie: «Für mich war er natürlich<br />
ein Faschist.» Seine Initiative war eine «grässliche Idee, eine faschistische<br />
Idee». Rosanna Ambrosi macht im Gespräch auch auf<br />
folgende Diskrepanz rund um die Initiative aufmerksam: diejenige<br />
zwischen der wirtschaftlichen Nachfrage nach Arbeitskräften aus<br />
dem Ausland auf der einen Seite und dem fremdenfeindlichen Narrativ<br />
der «Überfremdung», das allgegenwärtig war, auf der anderen.<br />
Die Schweizerinnen und Schweizer seien auch ein wenig überfordert<br />
gewesen. Denn eigentlich habe die Schweiz diese Menschen<br />
gebraucht: «Sie hat sie kommen lassen, sie hat sie akzeptiert, sie<br />
hat sie angestellt. Das heisst, man hat sie gebraucht.» Persönlich<br />
wären Rosanna Ambrosi und ihre Familie nicht von den Folgen der<br />
Schwarzenbach-Initiative betroffen gewesen: «Für meinen Mann<br />
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und für mich wäre das kein Problem gewesen. Weil wir eben schon<br />
die Niederlassung hatten.» Mit dem Ausländerausweis C, der sogenannten<br />
Niederlassungsbewilligung, war es nicht möglich, aus<br />
der Schweiz ausgewiesen zu werden. Erneut bezeichnet Rosanna<br />
Ambrosi sich deshalb selbst als «privile giert». Andere Italienerinnen<br />
und Italiener seien sogar freiwillig nach Italien zurückgegangen<br />
– aus Angst davor, zurückgeschickt zu werden, erinnert sie sich.<br />
Unglaublich und furchtbar hätte sie das gefunden. Für Rosanna<br />
Ambrosi selbst sei es nie eine Option gewe sen, nach Italien zurückzukehren,<br />
daran hält sie bis heute fest: «Es gibt kein Zurück. Für<br />
mich war davon nie die Rede gewesen.» Zürich ist ihr Zuhause. Sie<br />
schätzt die gute Atmosphäre der Stadt, die Theater und Kinos, die<br />
Freiheit, die sie in Zürich ausleben kann. «Ich hätte keine Lust, nach<br />
Italien zu gehen. (...) Nach fünfzig Jahren kann man nicht zurück.»<br />
Politisch interessiert und engagiert war Rosanna Ambrosi schon<br />
immer. Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Zürich wurde sie Mitglied<br />
bei den Colonie Libere. Sie war auch Mitorganisatorin des<br />
Frauenkongresses, den diese Organisation 1977 in Zürich veranstaltete.<br />
Im kleineren Rahmen organisierte sie Kinoabende für die<br />
Mitglieder der Colonie Libere, an welchen man zusammenkam und<br />
diskutierte: «Man hat versucht, Auswege zu finden, indem sich die<br />
Leute versammelten, diskutierten und dadurch das Gefühl bekamen,<br />
dass sie auch da sind, dass sie auch etwas zählen.» Mit Schweizerinnen<br />
und Schweizern in Kontakt zu treten war schwierig: «Es<br />
herrschte leider eine Art Trennung. Wenige von uns hatten Beziehungen<br />
mit den Schweizern.» Nicht nur der fehlende Kontakt,<br />
sondern auch die sprachlichen Unterschiede erschwerten das Zu sammenleben<br />
zwischen Italiener:innen und Schweizer:innen enorm.<br />
«Und dann kam das Schweizerdeutsch noch dazu, (...) damals habe<br />
ich sie nicht realisiert, aber heute merke ich diese Trennung, diese<br />
riesige Kluft.» Rosanna Ambrosi kommt auf das Einbürgerungsver<br />
fahren in der Schweiz zu sprechen, welches sie und viele weitere<br />
Migrant:innen durchliefen. Es verdeutlicht diese Kluft, welche<br />
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Ro sanna Ambrosi schildert: «Als ich Schweizerin geworden bin,<br />
ist einmal ein Polizist zu mir nach Hause gekommen», erinnert sie<br />
sich schmunzelnd. Es sei wie im Film «Die Schweizermacher» gewesen.<br />
Der Polizist habe auf ihrem Sofa gesessen, Schweizerdeutsch<br />
gespro chen und sich immer wieder Notizen gemacht. Ruppig und<br />
ange spannt sei er gewesen. Als dann Rosanna Ambrosi selbst begann,<br />
sich Notizen zu machen, war der Polizist verblüfft. Was sie<br />
denn da mache, wollte er von ihr wissen. Sie antwortete, dass sie<br />
sich aufschreibe, wie so ein Besuch im Einbürgerungsverfahren<br />
ablaufen würde. Sie arbeite für die Ausländerkommission Zürich<br />
und man wolle beweisen und festhalten, wie solch eine Prozedur<br />
vor sich gehe. Auf diese Erklärung hin änderte der Polizist sofort<br />
seine Haltung: Er wechselte ins Hochdeutsche und war plötzlich<br />
ganz nett und freundlich zu ihr. Schmunzelnd bemerkt Rosanna<br />
Ambrosi zum Schluss dieser Geschichte: «Das war sehr spannend.<br />
Ja, wenn man so etwas erlebt, und ich habe viele solcher Episoden<br />
erlebt, bleibt man, was man ist. Ich bin beides, ich bin Schweizerin,<br />
aber ich bin sicher hauptsächlich Italienerin.»<br />
Das Interview geführt und transkribiert hat Anna Schenk. Verfasst<br />
wurde dieser Beitrag von Anna Schenk und David Schenker.<br />
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