Beitrag - MEK
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Helmut Tervooren<br />
setzt deutliche Akzente. Einmal ist die Frequenz der Namen deutlich höher, und sie<br />
wächst noch im Laufe der Zeit. Zum anderen benutzen die Sangspruchdichter in ihren<br />
Vergleichen, in ihren Beweis- und Beglaubigungsverfahren neben höfischer Dichtung,<br />
neben Bibel und antiken Autoren vermehrt Namen aus der Heldendichtung, in<br />
der Regel in affirmativer Form. Das beginnt schon mit Herger, der Fruot (I, 2,1) und<br />
Rüedegêr (I, 4) anführt, Walther setzt die Reihe fort: „ich smecke Sibechen in dem<br />
râte“ (Walther 55, VII, 13).<br />
Reinmar von Zweter nimmt diese Exempelfigur ebenso auf (122, 3; 203, 8) wie Meister<br />
Sigeher Fruote (Str. 8). 12 Ermenrich und Eckehart bemüht der Wilde Alexander<br />
(KLD I, II,24), um seine soziale Lage deutlich zu machen. Die Beispiele ließen sich<br />
mühelos mehren (zumal wenn man den Meistersang hinzu nähme). 13 Ihre performative<br />
Qualität ist abgestuft vom Exempel bis zur Anspielung, wie etwa die auf den<br />
Nibelungenhort beim Marner (XI, 2).<br />
Für Sangspruchdichter – so darf man schließen – ist die Heldendichtung noch aktuell.<br />
Die Gründe sind hier nicht zu diskutieren. Sie könnten jedoch darin liegen, daß<br />
„Spruchdichter als Traditionsträger der spätmittelalterlichen Heldenepik“ zu betrachten<br />
oder zumindest ihre Rezipienten in die Nähe des Publikums der Heldendichtung<br />
zu rücken sind. 14 Darauf deutet auch die bekannte Strophe Marners (XV, 14), die im<br />
Rahmen der Sangspruchdichtung am dichtesten Namen aus der Heldendichtung ausbreitet.<br />
Sie ist oft als Repertoire-Strophe eines Sangspruchdichters interpretiert worden,<br />
d.h. als Beweis dafür, daß der Sangspruchdichter Heldenepik vorträgt – und das<br />
kann auch bei angebrachter Skepsis nicht ausgeschlossen werden.<br />
Es dürfte aus dem, was bisher dargelegt wurde, hinlänglich deutlich geworden sein,<br />
daß die Fragestellung die Betrachtung lohnt. Die Lyriker kannten die zeitgenössische<br />
Epik (zumindest ihre Stoffe) – alles andere wäre auch verwunderlich gewesen – und<br />
nutzten sie in einer ihr angemessenen Weise. Die Helden haben im Sangspruch einen<br />
festen Ort, in dem exklusiven und hochartifiziellen höfischen Sang können sie dagegen<br />
gar nicht oder nur parodistisch verzerrt eindringen. 15<br />
Deutlichere und dichtere Signale sind zu hören, wenn man in der Heldendichtung<br />
nach Spuren des Minnesanges sucht. Die ersten aventiuren des Nibelungenliedes lassen<br />
sich durchaus als Beginn eines mittelalterlichen Minneromanes lesen: Die Handlungsmuster,<br />
in denen Siegfried agiert, sind Inszenierungen von Minnesangmotiven, 16<br />
12 BRODT, HEINRICH PETER: Meister Sigeher. Breslau, 1913 (= Germanistische Abhandlungen, 42).<br />
13 Eine Zusammenstellung bei STACKMANN, KARL: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur<br />
Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg, 1958 (= Probleme der Dichtung, 3), S. 61, Anm. 144.<br />
14 Vgl. zu diesem Komplex CURSCHMANN, MICHAEL: „Sing ich den liuten mîniu liet ...“: Spruchdichter als<br />
Traditionsträger der spätmittelalterlichen Heldendichtung. – In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII.<br />
Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Bd. 8, Tübingen, 1986, S. 184-193; ferner: HAUSTEIN,<br />
JENS: Marner-Studien. München; Zürich, 1995 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur<br />
des Mittelalters, 109), S. 222 ff.<br />
15 In diesem Zusammenhang läßt sich noch ein interessantes Nebenergebnis formulieren: Mit der Wahl eines bestimmten<br />
Helden bestimmt der Autor, in welche Tradition er seinen Text stellen will. Anders formuliert: Über die<br />
Wahl der Exempelfigur erwächst der Gattungsanalyse ein kleines, aber neues Differenzierungsmerkmal zwischen<br />
Lied und (Sang-)Spruch.