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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>352</strong><br />
<strong>Juni</strong>.22<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
Küstenstadt<br />
Hamburg<br />
Klimawandel: Wenn der<br />
Meeresspiegel steigt
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Unser Autor Jochen<br />
Harberg (Mitte) traf auf<br />
Sylt den Obdachlosen<br />
Matthias (rechts)<br />
und Sozialarbeiter<br />
Jan Klein.<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
Sie können aufatmen: Bei einer Erderwärmung um drei Grad gegenüber<br />
dem vorindustriellen Niveau würde der Michel nicht zum Leuchtturm<br />
degradiert, wie unser Titel suggeriert. Das ist völlig übertrieben.<br />
Unser Wahrzeichen stünde nach wie vor im Trockenen. Allerdings<br />
wäre ein großer Teil der Michel wiese überschwemmt. Das zumindest<br />
geht aus einem Szenario hervor, das ein Forschungsteam der Universität<br />
Princeton (USA) im vergangenen Jahr entworfen hat. Für unseren<br />
Magazinschwerpunkt Küste haben wir daher mal genauer<br />
geschaut was passiert, wenn sich Hamburg nicht besser gegen Hochwasser<br />
wappnet. Denn unser Titelbild ist zwar Satire, aber trotzdem<br />
l eider brandaktuell. Just vermeldet die Genfer Weltwetterorganisation<br />
WMO, dass wir die 1,5-Grad-Marke mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
schon bis 2026 ein Mal im Jahresdurchschnitt reißen werden. Zur<br />
Erinnerung: Das Pariser Klimaabkommen sieht vor, den globalen<br />
Temperaturanstieg um möglichst 1,5 Grad zu begrenzen – bis zum<br />
Jahr 2100! Wenn die Erderwärmung in diesem Tempo weitergeht,<br />
ist ein überfluteter Michel noch unser geringstes Problem.<br />
Nach Wesselburen im Kreis Dithmarschen könnten Sie beim<br />
Erreichen der 3-Grad-Marke übrigens tauchen, und auch Sylt wäre<br />
größtenteils futsch. Beide Orte haben wir für Sie aber nicht in Sachen<br />
Klimawandel besucht: In der 3550-Seelen-Stadt Wesselburen<br />
leben viele Menschen aus Rumä nien. Wir wollten wissen, ob und wie<br />
ihre Integration gelingt. Und auf der „Insel der Reichen“ haben wir<br />
den Obdachlosen Matthias getroffen.<br />
Berührend ist auch die Geschichte über Cornelius Bless. Inzwischen<br />
ist der Mann, der mit einer Laterne und philosophischen Sinn sprüchen<br />
ausgerüstet durch Hamburger Kneipen zog, im Hospiz verstorben.<br />
Vorher durften wir ihn noch auf seiner letzten Reise mit dem<br />
„Wünschewagen“ begleiten.<br />
<br />
Viel Freude beim Lesen!<br />
Ihre Annette Woywode<br />
Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />
FOTOS SEITE 2: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
TITELBILD: CLAUDIODIVIZIA/DREAMSTIME.COM; BILDBEARBEITUNG: CLAASLOGEMANN.DE<br />
2
Inhalt <strong>Juni</strong> 2022<br />
Stadtgespräch<br />
46<br />
Traumwelten von<br />
Animationskünstler<br />
Raman Djafari<br />
06 Wohnen wird Luxus<br />
Was tun gegen explodierende Mieten in Hamburg?<br />
10 Ein Ort von Gewalt und Zwang<br />
Das ehemalige Versorgungsheim Farmsen<br />
15 Abschied von einem Kämpfer<br />
Nachruf: Der Boxer und Kneipier Jürgen Blin ist tot.<br />
32 Keine Hilfe, sondern Gift<br />
Zahlen des Monats: Altkleider in Afrika<br />
34<br />
Cornelius Bless’<br />
letzte Reise mit dem<br />
Wünschewagen<br />
Küste<br />
18 Klimawandel in Hamburg: Wasser kommt!<br />
Wie begegnet die Stadt einem steigenden Meeresspiegel?<br />
24 Zusammen sind wir stark?<br />
In Dithmarschen leben viele Menschen aus Rumänien.<br />
28 Sylt ganz unten<br />
Matthias lebt wohnungslos auf der „Insel der Reichen“.<br />
Lebenslinien<br />
34 Laternenmanns Vermächtnis<br />
Cornelius Bless’ letzte Reise mit dem Wünschewagen<br />
Freunde & Internes<br />
40 „Die Seele von Hinz&<strong>Kunzt</strong>“<br />
Vertriebskollege Sigi Pachan geht in Rente.<br />
42 Den Faden nicht verlieren<br />
Barbara Engelke hilft Frauen in Brasilien und damit Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
10<br />
Einst Versorgungsheim,<br />
bald Wohngebiet<br />
mit Gedenkort<br />
24<br />
Zusammenarbeit in<br />
Dithmarschen<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
46 „Ich bin nicht präzise – ich bin diffus“<br />
Der Animationskünstler Raman Djafari<br />
50 Kurz und bündig<br />
Filme zum Thema „Wohnen und Leben“ beim Kurzfilmfestival<br />
52 Tipps für den <strong>Juni</strong><br />
56 Gartenkolumne: Die feine Frau Wildbiene<br />
58 Momentaufnahme: Hinz&Künztlerin Madina<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
14 Meldungen<br />
44 Buh&Beifall<br />
57 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
FOTO: WALLS CAN DANCE
Ein Herz für Wohnungssuchende<br />
Im März 2021 eröffnete der Verein Jugendhilfe in Harburg ein Wohnhaus<br />
für Menschen, die es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer haben.<br />
Mittlerweile sind 73 sogenannte vordringlich Wohnungssuchende, die<br />
durch eine freiwillige Sozialberatung unterstützt werden, in den Neubau<br />
eingezogen. Dieser wird von nun an mit einem 160 Quadratmeter großen<br />
Street-Art-Gemälde des Künstlers Millo geschmückt. „Für mich öffnet<br />
die Figur auf dem Bild ihr Herz für Wohnungssuchende“, sagt Lukas<br />
Grellmann, einer der Initiator:innen des Urban Art Institute Hamburg.<br />
Damit passe es gut zum Haus mit seinem Ziel, ein Zuhause für Menschen<br />
ohne gesicherten Wohnraum zu schaffen. Street-Artists haben für das<br />
Projekt „Walls can Dance“ schon 13 Harburger Fassaden bemalt. LG<br />
•
Wohnen wird Luxus<br />
Die Mieten in Hamburg steigen weiter – trotz Mietpreisbremse<br />
und Mietenspiegel. Die Politk muss nachbessern.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
6
Der Mietenspiegel als Preisspirale<br />
Alle zwei Jahre wird in Hamburg ein neuer Mietenspiegel erstellt, der je nach Wohnlage und<br />
Baujahr die ortsübliche Vergleichsmiete ausweist. Demnach kann die Kaltmiete für eine gut<br />
ausgestattete und gut gelegene 70-Quadratmeter-Altbauwohnung bis zu 1050 Euro pro Monat<br />
betragen. Für eine gleich große Wohnung aus den 1970er-Jahren zahlt man hingegen<br />
keine 450 Euro. Je nach Baujahr und Lage steigen die Mieten unterschiedlich schnell.<br />
Für ganz Hamburg lässt sich innerhalb der vergangenen 20 Jahre allerdings ein Anstieg von<br />
fast 60 Prozent beobachten. Der resultiert unter anderem daraus, dass der Senat einst<br />
festgelegt hat, keine Bestandsmieten mit alten, teilweise noch sehr günstigen Mieten in die<br />
Erhebung einfließen zu lassen, sondern nur Mieterhöhungen und immer teurer werdende Neuver<br />
mie tungen. Mietervereine sind trotzdem froh, dass es überhaupt einen Mietenspiegel gibt.<br />
Wollten sich Mieter:innen in den 1970er-Jahren gegen zu hohe Mieten wehren, mussten teure<br />
Gutachten erstellt werden, deren Kosten die Verlierer:innen des Verfahrens trugen. JOF<br />
Vorbildlich: die Seestadt Aspern in Wien<br />
FOTO: DANIEL HAWELKA<br />
H<br />
ohe Bauten. Dicht an<br />
dicht. Daneben ein futuristischer<br />
Spielplatz,<br />
Fahrradwege und ein Badesee,<br />
in dem sich die Sonne spiegelt.<br />
Was im ersten Moment einer Werbung<br />
für die Hafencity ähnelt, ist in Wirklichkeit<br />
ein Blick auf Europas größtes<br />
nachhaltiges Neubauprojekt: die Seestadt<br />
Aspern in Wien. 80 Prozent des<br />
Wohnungsbaus werden dort gefördert<br />
– in Hamburg in der Regel ein Drittel.<br />
Die Gewerbeflächen mieten nicht große<br />
Konzerne, sondern die Stadt verpachtet<br />
sie nach den Bedürfnissen der<br />
Bewohner:innen. Diese können sich<br />
jederzeit kostenlos Fahrräder leihen.<br />
Mit diesen Ansätzen und zugleich viel<br />
Grün gilt die Seestadt Aspern als Vorbild<br />
– auch für Hamburg, findet Peter<br />
Tschentscher (SPD). Mitte Mai war<br />
Hamburgs Bürgermeister dort zu Gast<br />
und kündigte an, bei der Planung für<br />
den Grasbrook von Wien zu lernen.<br />
7
Begrünte Fassaden<br />
und breite Fuß- und<br />
Radwege in der<br />
Seestadt Aspern<br />
In Hamburgs neuestem Stadtteil hat die<br />
Verwaltung, wie auch beim Beispiel aus<br />
Wien, weiterhin die Hand am Steuer.<br />
Wie wichtig das ist, zeigt sich in Altona:<br />
Beim Holsten-Quartier ließ die Stadt<br />
vor sechs Jahren ihr Vorkaufsrecht verstreichen.<br />
Das Areal wurde zum Spekulationsobjekt.<br />
Durch mehrere Verkäufe<br />
soll der Preis von 150 auf 320 Millionen<br />
Euro geklettert sein. Am Ende der Preisleiter<br />
steht jetzt ein Investor in finanzieller<br />
Schieflage. Der Bau von rund 1200<br />
Wohnungen droht zu scheitern.<br />
Trotz hoher Preise müsse die Stadt<br />
zuschlagen, wenn sich die Möglichkeit<br />
zum Rückkauf bietet, sagt Rolf Bosse.<br />
Der 46-Jährige ist neuer Vorsitzender<br />
des Mietervereins zu Hamburg. Er sagt:<br />
„Hamburg braucht eine aggressive Zukaufpolitik.<br />
Wir müssen auf dem Wohnungsmarkt<br />
wieder Boden gewinnen.“<br />
Mehr Flächen für den Wohnungsbau<br />
wünscht sich auch der Bundesverband<br />
deutscher Wohnungsunternehmen.<br />
Das Ziel, 10.000 Wohnungen in<br />
Hamburg jährlich zu bauen, sei ansonsten<br />
„absolut illusorisch“, klagt Vorstand<br />
Axel Gedaschko. Der Krieg gegen die<br />
Ukraine habe zu Baupreissteigerungen<br />
und Lieferengpässen geführt.<br />
Rolf Bosse (links) ist neuer Vorstand des Mietervereins zu Hamburg. Der gebürtige Hamburger<br />
Axel Gedaschko vertritt den Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen.<br />
Mietanwalt Bosse fordert, diese Entwicklungen<br />
dürften nicht zu teuren<br />
Mieten führen. Er geht davon aus, dass<br />
die steigenden Energiekosten im Herbst<br />
zu hohen Nachzahlungen führen werden.<br />
Das bereitet Susanne Möller (Name<br />
geändert) Sorgen. Die Rentnerin lebt in<br />
einem Altbau in Eimsbüttel. Weil sie als<br />
Alleinerziehende nicht immer Vollzeit<br />
beschäftigt war, frisst inzwischen allein<br />
die Kaltmiete allmählich ihre Rente<br />
auf. Mit ihrem Vermieter liegt sie im<br />
Rechtsstreit. Gegen dessen regelmäßige,<br />
an den Mietenspiegel angepasste<br />
Mieterhöhungen ist sie aber machtlos.<br />
Deswegen jobbt sie wieder. „Ich hatte<br />
mir das schon anders vorgestellt. Wegen<br />
Mieterhöhungen putzen zu gehen, ist<br />
schon sch…“ Sie macht eine Pause und<br />
schiebt dann ein „schade“ hinterher.<br />
Mietanwalt Bosse fordert deshalb<br />
Transparenz ein. „Es darf ja Geld verdient<br />
werden, aber nicht so, dass Wohnraum<br />
für Spekulanten attraktiv ist.“ Wenn<br />
alle Kosten der Vermie ter:innen von<br />
Versicherungen bis hin zu Baukosten<br />
offenlägen, werde deutlich, ob Mieterhöhungen<br />
gerechtfertig sind oder nicht.<br />
Ein Blick in die Bilanz des börsennotierten<br />
Wohnungskonzerns Akelius<br />
zeigt, dass dessen Hamburger Mieten<br />
innerhalb von drei Jahren um etwa<br />
14 Prozent gestiegen sind. Anschließend<br />
wurde der Bestand an das Unter-<br />
FOTOS: DANIEL HAWELKA (OBEN), IMKE LASS (S. 8 UNTEN LINKS),<br />
NILS HASENAU FOTOGRAFIE (S. 8 UNTEN RECHTS)<br />
8
LiebLingspLätze<br />
Mit AURO<br />
nAtURfARben<br />
gefärbt<br />
Mietpreisbremse ohne Wirkung<br />
Laut der seit 2017 gültigen Mietpreisbremse<br />
dürfen Vermieter:innen bei der Neuvermietung von<br />
Wohnungen die Miete maximal 10 Prozent über die<br />
ortsübliche Vergleichsmiete anheben. Die liegt laut<br />
Mietenspiegel im Schnitt bei 9,29 Euro pro Quadratmeter.<br />
Bei Neuvermietungen kostet der Quadratmeter<br />
allerdings aktuell mehr als 14 Euro kalt. Schuld sind<br />
zahlreiche Lücken in der Regelung: Neubauten und<br />
umfassend sanierte und möblierte Wohnungen<br />
sind ausgenommen. Zudem droht Vermieter:innen<br />
bei einem Verstoß nicht einmal ein Bußgeld. JOF<br />
Stabil, flexibel und echte Hingucker:<br />
Unsere destinature-Möbel gibt’s auf<br />
werkhaus.de/shop<br />
nehmen Heimstaden veräußert. Dass es auch anders<br />
geht, zeigt die städtische Saga. Aktuell liege man im<br />
Schnitt um 30 Prozent unter der erlaubten Summe<br />
des Mietenspiegels, sagt ein Sprecher gegenüber<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>. „Um die Mietentwicklung sozial verträglich<br />
auszugestalten, schöpfen wir die mietrechtlichen<br />
Möglichkeiten nicht aus.“<br />
Auf dem freien Wohnungsmarkt hingegen ergeht<br />
es vielen wie Susanne Möller. Besonders die<br />
Preise bei Neuvermietungen explodieren. Sie liegen<br />
aktuell im Schnitt um mehr als 50 Prozent über dem<br />
Mietenspiegel. Wäre da nicht ein vorübergehender<br />
Verzicht auf Mieterhöhungen eine Lösung?<br />
Heimstaden, der neue große Player auf Hamburgs<br />
Wohnungsmarkt, ist nicht abgeneigt. Man überlege,<br />
eine freiwillige Begrenzung der Miete einzuführen,<br />
teilt ein Sprecher auf Nachfrage mit. •<br />
jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
9
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Ein Ort von<br />
Gewalt und Zwang<br />
Auf dem Areal des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen soll ein<br />
Wohngebiet entstehen – und ein Gedenkort an die Zwangsunterbringung mittelloser<br />
Menschen. Ein Rundgang mit der Historikerin Frauke Steinhäuser.<br />
TEXT: FRANK KEIL<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
45 Jahre hat er im Versorgungsheim<br />
Farmsen leben müssen: der Hafenarbeiter<br />
Willy Böhme, geboren 1899.<br />
Immer wieder ist er arbeitslos, trinkt zu<br />
viel. 1931 wird er von der damaligen<br />
Trinkerfürsorge in Farmsen eingewiesen,<br />
fünf Jahre später – inzwischen regieren<br />
die Nationalsozialisten – wird er<br />
zwangssterilisiert. Als er ein Jahr später<br />
seine Entlassung beantragt, entmündigt<br />
man ihn. Gutachter ist der damalige<br />
Anstaltsarzt Hans Buchta. Als Böhmes<br />
Zwangsunterbringung 1960 gerichtlich<br />
überprüft werden muss, erneuert er sein<br />
Gutachten: Mittelweile ist er leitender<br />
Oberarzt. Eine unabhängige Prüfung<br />
findet nicht statt.<br />
Ein eigenes Leben außerhalb des<br />
Heims kann sich Willy Böhme da<br />
schon nicht mehr vorstellen. Nur<br />
einmal beantragt er einen Gutschein<br />
für einen Ausgehanzug. Zwei Jahre<br />
später erinnert er höflich daran, dass<br />
er noch keine Antwort auf seine Bitte<br />
bekommen habe.<br />
Böhmes Schicksal hat die Historikerin<br />
Frauke Steinhäuser anhand von<br />
Fürsorgeakten sorgsam recherchiert. Ihr<br />
Auftrag: für die Träger „Fördern &<br />
Wohnen“ und „Pflegen & Wohnen“ die<br />
Geschichte der ehemaligen Hamburger<br />
Wohlfahrtsanstalten zu erforschen, zu<br />
denen das Versorgungsheim Farmsen<br />
an der August-Krogmann-Straße gehört.<br />
Denn Fördern & Wohnen hat hier<br />
große Teile seiner Grundstücke mitsamt<br />
denkmalgeschützter Gebäude an das<br />
städtische Wohnungsbauunternehmen<br />
Saga verkauft. Neue Wohnungen sollen<br />
entstehen, vornehmlich für Familien.<br />
Zugleich soll ein Lern- und Erinnerungsort<br />
von der Geschichte der Wohlfahrtsanstalten<br />
im Nationalsozialismus<br />
erzählen. Auch dafür soll Frauke Steinhäuser<br />
konkrete Empfehlungen erarbeiten.<br />
Und so trifft sich seit einigen<br />
Monaten eine kleine Arbeitsgruppe aus<br />
Historiker:innen und Geschichtsinteressierten,<br />
um darüber zu beraten.<br />
Wir queren einen kleinen Park, biegen<br />
in die erste Straße ab: „Im Versorgungsheim<br />
Farmsen lebten nur Menschen,<br />
die Fürsorgezahlungen erhielten.<br />
Viele waren zwangseingewiesen, andere<br />
hätten außerhalb des Heims keine Unterstützung<br />
bekommen“, sagt Frauke<br />
Steinhäuser. „Es waren alles Menschen,<br />
die arm waren.“ Wohnungs- und Arbeitslose,<br />
Bettler:innen, Alkoholkranke<br />
oder Prostituierte – oder wen man dafür<br />
hielt. Es ging um Menschen, die es<br />
aus der Bahn geworfen hatte; um Menschen,<br />
denen man zugleich misstraute.<br />
Farmsen ist damals noch ein Dorf.<br />
„Das Versorgungsheim wird ab<br />
1903 erbaut, als Ableger des ‚Werkund<br />
Armenhauses Barmbek‘ mit Sitz<br />
in der Oberaltenallee bei der Mundsburg“,<br />
berichtet die Historikerin.<br />
Anfangs gibt es zwei mehrstöckige<br />
Männerhäuser und ein Frauenhaus,<br />
doch schnell kommen weitere Gebäude<br />
hinzu. Geplant ist das Heim für rund<br />
400 Personen. Zehn Jahre später sind<br />
bereits 1000 Menschen untergebracht.<br />
Das Gelände ist mit einem zwei Meter<br />
hohen, mit Stacheln bewehrten Eisen<br />
Historikerin Frauke Steinhäuser<br />
erforscht die Geschichte des ehemaligen<br />
„Versorgungsheims Farmsen“ und<br />
er arbeitet Ideen für einen Gedenkort.<br />
Links: der historische Wasserturm
In den Kellern des renovierten Backsteinbaus befanden sich Arrestzellen.<br />
zaun gesichert. Ohne Erlaubnis darf<br />
man es nicht verlassen. Es besteht eine<br />
Arbeitspflicht, etwa in der anstaltseigenen<br />
Wäscherei, in der Tütenkleberei, in<br />
der Bäckerei, Schlachterei und in der<br />
300 Hektar großen Gärtnerei. Dabei<br />
bekommen die Menschen von dem,<br />
was sie erwirtschaften, nur einen geringen<br />
Teil als Lohn.<br />
„Die Menschen<br />
waren hier gegen<br />
ihren Willen eingesperrt.“<br />
FRAUKE STEINHÄUSER<br />
In den Jahren der Weimarer Republik<br />
gibt es durchaus zaghafte Ansätze für<br />
Reformen, um das Anstaltsleben angenehmer<br />
zu gestalten: Es gibt einen Festsaal<br />
und ein Kino. Eine Anstaltszeitung<br />
erscheint. Vorsichtige Bemühungen sollen<br />
die Bewohner:innen zurück in den<br />
normalen Arbeitsmarkt führen. „Doch<br />
spätestens ab 1933 will man die Menschen<br />
hier nur noch so kostengünstig wie<br />
möglich aufbewahren, will sie wegsperren;<br />
will ihre Arbeitskraft ausnutzen,<br />
auch um sie zu disziplinieren“, erzählt<br />
Steinhäuser. Die Anlage heißt jetzt offiziell<br />
„Bewahranstalt“, der Anstaltsleiter<br />
bezeichnet die Insass:innen als „bedingt<br />
zurechnungsfähiges Menschenmaterial“.<br />
Für 1938 ist nachge wiesen, dass<br />
hier 2000 Menschen leben mussten.<br />
Wir sind ein Stück weitergegangen,<br />
sind Baufahrzeugen ausgewichen, die<br />
Material zu den entstehenden Geschossbauten<br />
bringen, an denen emsig gewerkelt<br />
wird. Frauke Steinhäuser zeigt auf<br />
einen langgezogenen, mit Sprossenfenstern<br />
verzierten und renovierten Backsteinbau:<br />
„Es soll hier in den Kellern<br />
noch Arrestzellen geben; es gibt Berichte<br />
von in der NS-Zeit hier untergebrachten<br />
Frauen, die erzählen, dass sie<br />
teilweise viele Tage lang auf dem Boden<br />
liegen mussten; im Dunklen, keine<br />
Pritsche, nichts.“ Je öfter sie versuchten<br />
zu fliehen, desto länger habe die Bestrafung<br />
gedauert.<br />
„Die Menschen waren hier von Anfang<br />
an gegen ihren Willen eingesperrt,<br />
sie konnten nicht raus, sie konnten ihre<br />
12<br />
Arbeit nicht kündigen und sich eine andere<br />
suchen, sie wurden entmündigt.<br />
Man erfand medizinische Diagnosen<br />
wie ‚moralischen Schwachsinn‘, oft wurden<br />
sie auch zwangssterilisiert“, erzählt<br />
die Historikerin beim Weitergehen. Sie<br />
ergänzt: „Das Versorgungsheim Farmsen<br />
war ein Ort von Gewalt und Zwang,<br />
dabei war das hier kein KZ, das muss<br />
man klar sagen.“ Obwohl hier ab 1940<br />
das sogenannte Euthanasie-Programm<br />
der Nazis greift. Noch ist nicht abschließend<br />
erforscht, wer und wie viele Menschen<br />
von hier wohin abtransportiert<br />
wurden und dies nicht überlebten.<br />
Als im Mai 1945 das Terrorregime<br />
der Nationalsozialisten auch in Farmsen<br />
endet, kommen die Ärzt:innen und<br />
das Leitungspersonal nahezu unbehelligt<br />
davon. Die meisten von ihnen<br />
setzen ihre berufliche Laufbahn fort<br />
und machen im Nachkriegs-Hamburg<br />
Karriere. Das hat Folgen für die<br />
Bewohner:innen des weiterhin abgesperrten<br />
Areals, das man wie bisher nur<br />
mit Erlaubnis verlassen darf. „Nur<br />
wenige der Bewohner haben versucht,<br />
eine sogenannte Bemündigung zu erreichen<br />
und so ihre Entmündigung auf
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
heben zu lassen. Ganz wenige haben<br />
auch versucht, die Zwangssterilisation<br />
rückgängig zu machen; dabei ging es<br />
weniger um den chirurgischen Eingriff,<br />
sondern es ging ihnen darum, die Diagnose<br />
‚Du bist schwachsinnig, du bist<br />
minderwertig, deswegen bist du sterilisiert.‘<br />
aufzuheben“, erzählt Frauke<br />
Steinhäuser. „Und dann saßen sie den<br />
Ärzten gegenüber, die sie vormals begutachtet<br />
hatten, und mussten sich erneut<br />
von ihnen begutachten lassen.“<br />
Zum Beispiel vom bereits erwähnten<br />
Anstaltsarzt Hans Buchta, der im Frühjahr<br />
1941 mindestens zwei Transporte<br />
in eine „Euthanasie“-Anstalt in Brandenburg<br />
begleitet hatte und wusste,<br />
wohin und worum es ging.<br />
Hat sie eine Erklärung, warum<br />
es diese personelle Kontinuität gab?<br />
Warum niemand nachgeschaut und<br />
niemand gehandelt hat? Hamburg war<br />
doch in der Nachkriegszeit über Jahrzehnte<br />
eine sozialdemokratisch regierte<br />
Stadt, hier agierte das aufgeschlossene<br />
Bürgertum. Frauke Steinhäuser denkt<br />
lange nach. „Im Versorgungsheim lebten<br />
Menschen, die schlicht keine Lobby<br />
hatten, für die sich die Bürger nicht interessierten<br />
und mit denen sie vor allem<br />
nichts zu tun haben wollten“, sagt sie<br />
Noch heute sind historische Beschriftungen<br />
auf den Gebäuden sichtbar.<br />
schließlich. Sie verweist darauf, dass es<br />
schon im Herbst 1945 in Hamburg eine<br />
Kommission gab, die entschied, dass die<br />
Menschen, die zuvor in der Nazi-Terminologie<br />
als „asozial“ im KZ inhaftiert<br />
waren, nicht als Opfergruppe anerkannt<br />
werden sollten. Tatsächlich hat dies der<br />
Deutsche Bundestag erst im Frühjahr<br />
2020 getan und ihnen so 75 Jahre nach<br />
Kriegsende Entschädigungen zugesprochen.<br />
Doch da waren die meisten<br />
Betroffenen nicht mehr am Leben.<br />
Abschließend machen wir Halt<br />
vor einem weithin sichtbaren Turm:<br />
dem Wasserturm, der in der sinkenden<br />
Sonne rötlich schimmert und sehr zentral<br />
in der Mitte des Geländes steht.<br />
Könnte man vielleicht hier den angedachten<br />
Erinnerungs- und Lernort<br />
einrichten? Wie sind überhaupt die<br />
Chancen für ein solches Projekt?<br />
„Der Wille ist klar und auch verbrieft:<br />
Wir möchten, dass die Erinnerung<br />
bleibt, was dieser Ort einmal<br />
war“, sagt Susanne Schwendtke, Sprecherin<br />
des Trägers Fördern & Wohnen<br />
per Telefon. Die Idee entstand 2019,<br />
anlässlich des Jubiläums „400 Jahre<br />
Staatliche Wohlfahrt in Hamburg“ und<br />
„aus dem Bedürfnis heraus, kritisch<br />
auf unsere eigene Geschichte zu schauen“.<br />
Mit im Boot seien sowohl der<br />
mittlerweile private Träger Pflegen<br />
& Wohnen sowie die Hamburger<br />
Sozialbehörde.<br />
„Wir hatten für den Gedenkort erst<br />
an die Remise gedacht, die am Ende des<br />
Geländes liegt“, erzählt Schwendtke.<br />
Doch das recht kleine Gebäude habe<br />
weder einen Strom- noch einen Wasseranschluss.<br />
„Wir tendieren daher zu<br />
einer Lösung in dem wirklich schönen<br />
Wasserturm. Da steht allerdings dessen<br />
künftige Gesamtnutzung noch nicht<br />
fest.“ Vielleicht wird hier eine Kita<br />
einziehen oder ein Begegnungszentrum<br />
eröffnen, dann könnte man sich die<br />
Räumlichkeiten teilen, wenn die Nutzungen<br />
zueinander passen. Und sie sagt:<br />
„Damals prangte am Turm ein riesengroßes,<br />
schmiedeeisernes Hakenkreuz.<br />
Deshalb wäre es schön, wenn nun dort<br />
Raum für die Erinnerung wäre.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
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13
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Meldungen<br />
Politik & Soziales<br />
Obdachlosigkeit<br />
Acht Menschen auf der Straße gestorben<br />
Zwischen Januar und Mitte Mai sind in Hamburg acht Obdachlose auf der Straße<br />
gestorben. Sie wurden unter Brücken, am Bahnhof und in der Innenstadt aufgefunden.<br />
Bei allen Toten handelt es sich um Männer. Das geht aus der Antwort auf eine<br />
Bürgerschaftsanfrage der Linken-Abgeordneten Stephanie Rose hervor. Unter den<br />
Verstorbenen ist auch Hinz&Künztler Paul. Der 36-Jährige wurde im April von einem<br />
Passanten leblos in seinem Rollstuhl in der Nähe des Hauptbahnhofs entdeckt.<br />
Auch im städtischen Winternotprogramm, das zwischen November und April einen<br />
Erfrierungsschutz für Obdachlose bot, kam es zu Todesfällen: Insgesamt fünf Menschen<br />
verstarben in den Unterkünften. Laut einer „nicht qualitätsgesicherten Auswertung“<br />
des Instituts für Rechtsmedizin am UKE ist die Gesamtzahl der verstorbenen<br />
Obdachlosen sogar noch höher: Demnach starben zwischen November und<br />
Mai insgesamt 21 Menschen im öffentlichen Raum. Im gleichen Zeitraum starben<br />
elf Obdachlose in Hamburger Krankenhäusern. Als häufigste Todesursache wurde<br />
eine akute oder chronische Lungenentzündung festgestellt, aber auch Herzerkrankungen<br />
und Infektionskrankheiten wurden bei Obduktionen nachgewiesen. SIM<br />
•<br />
Wohnungsmarkt<br />
Neubauzahlen sinken, Mieten steigen<br />
7461 Wohnungen sind vergangenes Jahr in Hamburg fertiggestellt worden,<br />
33 Prozent weniger als 2020. Das selbst gesteckte Ziel von 10.000 neuen Wohnungen<br />
im Jahr hat der Senat damit verfehlt. 2020 hatte er dieses Ziel mit 11.269<br />
fertiggestellten Wohnungen noch übertroffen. Ärgerlich für Menschen mit wenig<br />
Einkommen: Nur 1895 der gebauten Wohnungen sind Sozialwohnungen. Im<br />
Rekordjahr 2020 waren es noch 3472. Der Mieterverein zu Hamburg spricht<br />
von einem „Neubaudebakel“ und zeigt sich alarmiert. „Das darf kein jahrelanger<br />
Abwärtstrend werden, sondern muss ein einmaliger Ausrutscher bleiben!“, sagt<br />
der Vorsitzende Rolf Bosse. Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) hingegen<br />
verteidigt die Zahlen angesichts gestiegener Grundstückspreise und hoher Baukosten:<br />
„7500 neue, bezugsfertige Wohnungen sind ein stattliches Ergebnis und<br />
ein schöner Erfolg der gemeinsamen Anstrengungen von Freien Wohnungsunternehmen,<br />
Genossenschaften und der Saga sowie der Bezirke.“ Parallel dazu steigen<br />
die Mieten in Hamburg weiter. Laut Untersuchung des Gymnasiums Ohmoor<br />
sind aktuell angebotene Wohnungen um 6,3 Prozent teurer als im Vorjahr. LG<br />
•<br />
Postadressen und Konten<br />
Niedrigschwellige Hilfsangebote sollen ausgebaut werden<br />
SPD und Grüne wollen das Angebot an Postadressen und Geldkonten für<br />
Obdachlose besser bewerben – und überprüfen, ob es weiter ausgebaut werden<br />
muss. Das sieht ein Antrag vor, den die Bürgerschaft mit Mehrheit beschlossen<br />
hat. Für Betroffene ist beides wichtig für den Alltag auf und den Weg runter<br />
von der Straße. Tagesaufenthaltsstätten für obdachlose Menschen bieten<br />
sowohl Postadressen als auch Geldkonten an, kommen aber schon lange an ihre<br />
Grenzen. Im Gespräch sind deshalb zusätzliches Personal und Räumlichkeiten.<br />
Bis Ende Oktober soll der Senat über sein Vorgehen berichten. LG<br />
•<br />
Nahverkehr<br />
HVV umsonst<br />
Hamburger Leistungsbezieher:innen<br />
können vom 1. <strong>Juni</strong> bis zum 31. August<br />
Busse und Bahnen des Nahverkehrs<br />
umsonst nutzen – und das in<br />
ganz Deutschland. Die Sozialbehörde<br />
übernimmt in diesem Zeitraum für<br />
alle Abonnent:innen, die Anspruch<br />
auf den HVV-Sozialrabatt haben, die<br />
Kosten für das Monats ticket. Davon<br />
können alle profitieren, die existenzsichernde<br />
Leistungen erhalten – etwa<br />
Hartz IV oder Leistungen nach dem<br />
Asylbewerberleistungsgesetz. In Hamburg<br />
sind das mehr als 200.000 Menschen.<br />
Derzeit nutzen laut Behörde etwa<br />
46.000 Personen den Sozialrabatt,<br />
überwiegend im Rahmen von Abos.<br />
Alle anderen können gemäß HVV ein<br />
Abo mit Antragsformular und Ausweis<br />
am Schalter abschließen. BELA<br />
•<br />
Infos: www.huklink.de/hvv-umsonst<br />
Inflation<br />
Krisenfeste Grundsicherung<br />
Angesichts von Coronapandemie<br />
und Preisanstiegen bei Energie und<br />
Nahrungsmitteln fordert die Diakonie<br />
Deutschland eine an die Inflation<br />
angepasste Grundsicherung und eine<br />
fest in den Sozialgesetzbüchern verankerte<br />
Regelung für soziale Notlagen.<br />
Einmalzahlungen, wie sie von der<br />
Ampel-Koalition beschlossen wurden,<br />
sieht der Verband kritisch. „Diese<br />
ewigen Einmal- und Bonuszahlungen<br />
haben etwas von Almosen“, sagt<br />
Diakonie-Vorständin Maria Loheide.<br />
Kurzfristig schlägt die Diakonie vor,<br />
Betroffene ein halbes Jahr lang mit<br />
mindestens 100 Euro zusätzlich im<br />
Monat zu unterstützen. LG<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
14
Der Boxer Jürgen Blin ist tot. Für viele Hinz&Künztler:innen<br />
war seine Kneipe wie ein Wohnzimmer.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/JENS RESSING<br />
Legende<br />
im Ring und<br />
hinter seinem<br />
Tresen:<br />
Jürgen Blin<br />
Abschied von einem Kämpfer<br />
Es ist schwierig, ein Foto von Jürgen Blin zu finden,<br />
auf dem er die Hände nicht zu Fäusten geballt<br />
vor den Körper hält. Flossen hoch, das war – frei<br />
nach Showmaster Robert Lembke – seine typische<br />
Handbewegung. Heute würde man wohl von seinem „Signature<br />
Move“ sprechen. Jürgen Blin war Boxer. Ein ziemlich<br />
erfolgreicher sogar: 1962 Hamburger Meister, 1964<br />
Deutscher Amateurmeister im Schwergewicht, 1972 Europameister<br />
bei den Profis. Von 48 Profikämpfen gewann er<br />
30. Berühmt aber wurde Blin durch eine Niederlage:<br />
Am 2. Weihnachtstag 1971 unterlag er in Zürich Muhammad<br />
Ali. „The Greatest“ streckte ihn mit einem K. o. in Runde<br />
sieben nieder. Der Ruhm war Blin trotzdem sicher, als einer<br />
von nur zwei Deutschen, die je gegen Ali angetreten waren.<br />
„Die Geschichte mit Ali durften wir uns täglich anhören“,<br />
erinnert sich Hinz&Künztler Chris, „da war er richtig<br />
stolz drauf.“ Nach seiner Karriere eröffnete der Boxer zwei<br />
Imbisse und eine Kneipe. Die „Jürgen Blins Bier- und<br />
Snackbar“ am Südsteg zur U3 im Hauptbahnhof war Zeit<br />
ihres Bestehens zwischen 1978 und 2012 für viele<br />
Hinz&Künzt ler:innen ein beliebter Treffpunkt. „Das war<br />
mein Wohnzimmer“, sagt Chris, „das war Familie.“ Geknobelt<br />
wurde eigentlich immer. Blin spielte gern gegen seine<br />
Gäste, auch mit hohem Einsatz. Wenn nicht die Würfel rollten,<br />
lockten zwei Spielautomaten. „Sein Lieblingsspruch zu<br />
uns war immer: ‚Der Automat ist heiß.‘“, erzählt Chris.<br />
Ex-Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertriebskollege Frank Belchhaus war<br />
gut mit Blin befreundet. „Er war ein Menschenfreund“, sagt<br />
er, stets auf Augenhöhe. „Bei ihm war jeder willkommen:<br />
vom Kaputtesten bis hin zu Leuten, die Geld hatten.“<br />
Als seine langjährige Servicekraft plötzlich starb, fuhr Blin<br />
bis nach Polen zur Beerdigung. „Er hat nicht einfach einen<br />
Kranz geschickt. Es war ihm wichtig, persönlich die letzte<br />
Ehre zu erweisen“, so Belchhaus.<br />
Obwohl Blin von 6.30 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts in<br />
seiner Kneipe stand, trank er nur ganz selten. Mal einen<br />
Kümmel vielleicht. „Faszinierend, wie er das in der heftigsten<br />
Raucherhöhle hinbekommen hat“, sagt Arne Körner.<br />
Der Hamburger Filmemacher drehte als Student einen<br />
Kurzfilm über Blin. Wichtiger als die Kneipe war Jürgen<br />
Blin aber seine ehrenamtliche Arbeit als Boxtrainer für<br />
sogenannte Problemjugendliche in Jenfeld. Womöglich erkannte<br />
er in den jungen Kerlen sich selbst. Aufgewachsen in<br />
ärmlichen Verhältnissen, musste er schon früh seinem Vater,<br />
einem Melker, bei der Arbeit helfen. Der Vater trank und<br />
schlug ihn. In der Schule wurde Blin gehänselt. Mit knapp 15<br />
Jahren büxte er aus und heuerte in Hamburg als Schiffsjunge<br />
an, machte später eine Metzgerlehre. Nur einem Zufall ist es<br />
zu verdanken, dass Jürgen Blin zum Boxen kam: Gegenüber<br />
der Metzgerei befand sich eine Boxschule. Der Rest ist<br />
Geschichte. Der Boxer Jürgen Blin starb am 7. Mai 2022 im<br />
Alter von 79 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. •<br />
simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
Kurzfilm über Jürgen Blin<br />
„Der Einzelkämpfer“ ist kostenlos zu streamen unter<br />
www.huklink.de/juergen-blin<br />
15
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE
Von Hamburg bis<br />
an die Nordseeküste<br />
Die Küste könnte schon bald näher an Hamburg rücken, als es<br />
heute vorstellbar ist. Doch die Stadt wappnet sich gegen Szenarien,<br />
nach denen Wellen künftig bis auf den Altonaer Balkon schlagen<br />
könnten (S. 18). In Wesselburen, nahe der Nordseeküste, leben viele<br />
Rumän:innen. Wie klappt das Zusammenleben im Ort (S. 24)?<br />
Matthias weiß, was es heißt, nicht zu den „Schönen und Reichen“<br />
zu gehören. Bis vor Kurzem lebte er obdachlos auf Sylt (S. 28).
18<br />
Mit dem Alsterdampfer<br />
direkt zum Rathaus:<br />
Bei 3 Grad Erderwärmung kein<br />
unrealistisches Szenario
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Küste<br />
Wasser kommt!<br />
Der Meeresspiegel steigt unausweichlich.<br />
Wir werden in Hamburg künftig anders mit dem Wasser<br />
leben müssen. Die Frage ist bloß: Wie?<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />
ILLUSTRATIONEN: WWW.BACHMANN-ILLUSTRATION.DE<br />
Die Nordseewellen branden<br />
an die Steilküste über dem<br />
ehemaligen Fischmarkt,<br />
Gischt spritzt bei Südwind<br />
bis hoch zum Altonaer Balkon. Von<br />
hier aus kann man das gegenüberliegende<br />
Ufer der Elbemündung auch bei<br />
gutem Wetter nur erahnen – bis rüber<br />
zu den Harburger Bergen erstreckt sich<br />
das raue Wasser. Das Alte Land, Finkenwerder,<br />
Wilhelmsburg, die Veddel,<br />
die Vier- und Marschlande, der Hamburger<br />
Hafen – längst von den Fluten,<br />
die der Klimawandel mit sich brachte,<br />
fast komplett verschluckt.<br />
Klingt wie aus einem Science-Fiction-Roman?<br />
Ist aber ein Szenario, dass<br />
ein Forschungsteam der Universität<br />
Princeton (USA) im vergangenen Jahr<br />
aufgestellt hat, für den Fall, dass sich die<br />
durchschnittliche Temperatur wie vorhergesagt<br />
weiter erhöht, das Polareis<br />
schmilzt und die Meeresspiegel entsprechend<br />
ansteigen. Allerdings: Küstenschutzmaßnahmen<br />
sind auf den eindrucksvollen<br />
Karten vom „Climate<br />
Central“ nicht berücksichtigt. Aber<br />
werden die Deiche halten?<br />
Vor 10.000 Jahren konnte man<br />
noch zu Fuß von Hamburg nach London<br />
laufen. Doch nach den Eiszeiten<br />
stieg der Meeresspiegel immer weiter<br />
an – um insgesamt 120 Meter. Mit<br />
ersten Deichen wehrten sich die Menschen<br />
in Nordfriesland seit dem Mittelalter<br />
gegen das steigende Wasser.<br />
Je höher die Deiche wurden und je<br />
mehr man sich hinter ihnen in Sicherheit<br />
fühlte, desto verheerender waren<br />
die Katastrophen, wenn sie brachen:<br />
Sturmfluten wie die „Grote Mandränke“<br />
1362 überfluteten riesige Gebiete<br />
zwischen den heutigen nordfriesischen<br />
Inseln und kosteten Tausende Menschenleben.<br />
Der heutige Küstenverlauf<br />
ist im Wesentlichen das Ergebnis von<br />
Naturkatastrophen und dem Versuch<br />
der Menschen, sich dagegen zu wehren.<br />
Die Forscher:innen aus Princeton<br />
schreiben, dass der weiter steigende<br />
„Man kann<br />
jeden Deich<br />
erhöhen.“<br />
FRANK NOHME<br />
Meeresspiegel nie dagewesene Küstenschutzmaßnahmen<br />
erfordern wird und<br />
Menschen weltweit Großstädte in Meeresnähe<br />
verlassen werden müssen. Für<br />
die Nordsee prognostizieren sie langfristig<br />
einen Anstieg um knapp 3 Meter,<br />
sollte die Temperatur um 1,5 Grad im<br />
Vergleich zum Jahr 1850 ansteigen. Bei<br />
3 Grad könnte es sogar auf fast 6 Meter<br />
hinauslaufen. Das ist das Szenario, auf<br />
dem die Illustrationen zu diesem Text<br />
beruhen – denn dass die Erderwärmung<br />
wirklich auf 1,5 Grad begrenzt<br />
werden kann, gilt als ausgesprochen unwahrscheinlich.<br />
Laut einer aktuellen<br />
19
Küste<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
20<br />
Der „Park Fiction“ vor<br />
der St. Pauli Kirche, wenn das<br />
Wasser um 6 Meter steigt
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Küste<br />
Was der Anstieg des Meeresspiegels<br />
weltweit verursacht<br />
So dramatisch die Prognosen für die Nordseeküste auch sind: Weltweit drohen<br />
noch viel schlimmere Katastrophen. Auf der Liste der 20 Länder, die am stärksten<br />
betroffen sein werden, taucht Deutschland gar nicht auf. Insbesondere in Asien<br />
liegen viele Großstädte unterhalb des künftigen Meeresspiegels. Steigt die<br />
Temperatur um 3 Grad, werden der Prognose zufolge in Vietnam 61 Prozent der<br />
Bevölkerung von Überflutungen betroffen sein. In Bangladesch trifft es 59 Prozent,<br />
in Thailand 34 Prozent. In Europa werden die Menschen in Großbritannien<br />
(11 Prozent), Spanien (8,3 Prozent) und Italien (7,4 Prozent) am meisten unter<br />
dem Meeresspiegelanstieg leiden.<br />
Prognose der UN-Weltwetterorganisation<br />
könnte die Marke sogar schon 2026<br />
gerissen werden. Und selbst wenn es in<br />
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gelänge,<br />
die Temperaturen wieder etwas<br />
zu senken: Der Meeresspiegel würde<br />
trotzdem weiter steigen, und zwar für<br />
Jahrhunderte oder gar Jahrtausende,<br />
warnen Forscher:innen des Weltklimarates<br />
IPCC in ihrem aktuellen Bericht.<br />
Bislang sieht man sich in Hamburg<br />
auf der sicheren Seite – nämlich hinter<br />
dem Deich. Seit der schweren Sturmflut<br />
von 1962 hat die Stadt ihre Schutzwälle<br />
mehrfach erhöht. Bis 2050 will<br />
man bei 8,10 Meter sein – und auch für<br />
das Jahr 2100 werden schon Pläne vorbereitet.<br />
Derzeit geht man davon aus,<br />
dass der Meeresspiegel bis dahin zunächst<br />
um 1 Meter ansteigt. Und danach?<br />
Frank Nohme, Deichexperte aus<br />
dem Hochwasserschutzmanagement in<br />
der Umweltbehörde, hält die Prognose<br />
vom Climate Central durchaus für realistisch.<br />
„Uns beschäftigt das sehr stark,<br />
der Meeresspiegel steigt an, das ist nicht<br />
mehr zu verhindern“, sagt er.<br />
Trotzdem ist Nohme ein Experte,<br />
der zuversichtlich in die Zukunft blickt.<br />
Technisch, sagt er, könne man sich<br />
problemlos gegen den Wasseranstieg<br />
zur Wehr setzen. Selbst ein drohender<br />
Anstieg um 7,60 Meter, wie im Worst-<br />
Case-Szenario der Studie beschrieben,<br />
beunruhigt ihn nicht: „Man kann jeden<br />
Deich erhöhen, wenn man den Platz<br />
hat“, sagt er. Irgendwann könnte es allerdings<br />
eng werden: Ein höherer Deich<br />
muss meist auch um ein Vielfaches<br />
breiter werden. So müsste ein 10 Meter<br />
hoher Deich etwa 60 Meter breit sein.<br />
Schon heute gibt es Konflikte mit den<br />
„Mit dem Wasser<br />
zu leben, kann<br />
attraktiv sein.“<br />
KARSTEN REISE<br />
Menschen, die in Deichnähe Grundstücke<br />
und Häuser besitzen. Und natürlich<br />
würden immer höhere Deiche auch<br />
immer teurer werden.<br />
Die Frage wird also sein, welchen<br />
Preis die Gesellschaft bereit ist, für den<br />
Küstenschutz zu bezahlen. Dass sie sich<br />
irgendwann gegen immer höhere<br />
Deiche entscheiden wird, glaubt der<br />
Sylter Küstenforscher Karsten Reise.<br />
„Wer will schon hinter so einer riesigen<br />
Mauer wohnen?“, fragt er. Insbesondere<br />
an der heutigen Nordseeküste wären<br />
die Kosten irgendwann zudem extrem<br />
hoch. Reise ist schon 2015 für ein Buch-<br />
21
Küste<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Die Nordseeküste, wenn die Temperatur um 3 Grad und der Meeresspiegel wie<br />
vorhergesagt um 6 Meter steigen – und man die Deiche nicht erhöhen würde<br />
projekt mithilfe von Dutzenden Fachleuten<br />
der Frage nachgegangen, wie der<br />
Meeresspiegelanstieg sich auf die Nordseeküste<br />
auswirken wird. Ihr Fazit: Ein<br />
Paradigmenwechsel muss her, weg von<br />
der Hochwasserabwehr hin zum Leben<br />
mit dem Wasser.<br />
Im Gespräch mit Hinz&<strong>Kunzt</strong> zeichnet<br />
Reise das romantische Bild einer Nordseelandschaft,<br />
in der Wasserbüffel<br />
neben Lotusfeldern zwischen Häusern<br />
auf Pfählen grasen. Überflutungen wären<br />
keine Katastrophe mehr, sondern<br />
Teil des Lebensstils. „Es kann auch<br />
22
Küste<br />
abasto<br />
ökologische Energietechnik<br />
attraktiv sein, mit dem Wasser zu leben“, sagt er und<br />
verweist auf Amsterdam und Venedig. Das gelte<br />
auch für Hamburg: Gelegentliche Überflutungen<br />
sollten in den tiefergelegenen Gebieten der Hansestadt<br />
mit einkalkuliert werden, sagt Reise. „Irgendwo<br />
muss das Wasser ja auch hin!“<br />
Hamburg hat bereits vorgemacht, wie das gehen<br />
kann: In der Hafencity wurden Häuser auf Warften<br />
gebaut, viele Erdgeschosse sind unbewohnt und mit<br />
Flutschutztoren gesichert. Wichtige Wegeverbindungen<br />
am Sandtorkai liegen erhöht, sodass sie auch bei<br />
Hochwasser noch genutzt werden können. Ein<br />
Modell für die Zukunft also? In der Behörde für<br />
Stadtentwicklung und Wohnen will man sich dazu<br />
nicht äußern. „Wir vertrauen als Stadt Hamburg auf<br />
den Hochwasserschutz“, sagt ein Sprecher bloß.<br />
Man möchte den Bewohner:innen der tiefgelegenen<br />
Gebiete keine beunruhigenden Signale senden.<br />
Bemerkenswert: Schon 2014 rieten Fachleute<br />
der Metropolregion Hamburg zu einem Paradigmenwechsel.<br />
Außerdem schlugen sie vor, in<br />
überschwemmungsgefährdeten Gebieten keine<br />
neuen Siedlungen mehr zu entwickeln. Offenbar<br />
sind diese Ratschläge im Senat nicht auf fruchtbaren<br />
Boden gefallen. „Wir sind in unserer Gesellschaft<br />
nicht gewohnt, über die Enkelgeneration<br />
hi nauszudenken“, sagt Küstenforscher Reise dazu.<br />
Noch hätten wir genug Zeit, uns auf das Wasser<br />
einzustellen, meint er. „Aber wenn wir erst gegen<br />
Ende des Jahrhunderts damit beginnen, wird es<br />
sehr, sehr aufwendig.“ •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Leichte Sprache:<br />
Es gibt den Text auch in Leichter<br />
Sprache. Scannen Sie den<br />
QR-Code mit dem Handy.<br />
Dann klicken Sie auf den Link.<br />
Der Text in Leichter Sprache öffnet<br />
sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />
Webseite www.hinzundkunzt.de und<br />
suchen dort nach „Leichte Sprache“.<br />
www.huklink.de/<strong>352</strong>-leichte-sprache<br />
23<br />
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Küste<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Die Herausforderung<br />
In Dithmarschen leben viele Menschen aus Rumänien.<br />
Sie erledigen Jobs, für die sich schon lange keine Einheimischen<br />
mehr finden lassen. Ein Gewinn für beide Seiten?<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
Trotz harter Arbeit Zeit für<br />
Scherze: der junge Rumäne<br />
Madalin Duna (links) und<br />
sein Arbeitgeber, Biobauer<br />
York Wollatz<br />
24
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Küste<br />
A<br />
n diesem Donnerstag Anfang<br />
Mai ist Madalin Duna der<br />
Mann für alles. Eine Dachrinne<br />
hat der 22-Jährige neu<br />
angeschlossen, Frühkohl gepflanzt und<br />
dicke Holzpfosten in die Erde gebracht,<br />
die einen Zaun halten sollen. Nun steht<br />
der muskulöse Kerl auf dem Hof des<br />
Biobauern York Wollatz und zögert keine<br />
Sekunde mit der Antwort auf die<br />
Frage, was sein Chef für einer sei. Er<br />
habe schon für viele Bauern gearbeitet,<br />
sagt der Rumäne. „Keiner war so nett<br />
wie er.“ Wollatz, ein herzlicher Mann<br />
mit lautem, ansteckendem Lachen,<br />
kommt hinzu. „Hab ich ihm gut beigebracht,<br />
oder?“, scherzt der 50-Jährige<br />
und grinst. „Madalin, du musst sagen:<br />
,Das ist ein guter Chef!‘ Dann gibt’s<br />
auch mehr Geld!“ Und der gebürtige<br />
Dithmarscher und der Zugezogene aus<br />
der Walachei lachen gemeinsam.<br />
Seit drei Monaten arbeitet Madalin<br />
Duna auf dem Hof des Biobauern.<br />
Sein Onkel, schon länger bei Wollatz,<br />
hat ihn empfohlen. Zuvor war der junge<br />
Rumäne beim Gerüstbau, „ein guter<br />
Job, aber körperlich sehr anstrengend“.<br />
Das sehr einfache Deutsch, das er beherrscht,<br />
habe er dort gelernt. Aufgewachsen<br />
ist Duna in Spanien, wo seine<br />
Eltern auf den Feldern gearbeitet haben.<br />
„Der einzige<br />
Weg gegen<br />
Vorurteile:<br />
persön licher<br />
Kontakt.“<br />
QUARTIERSMANAGERIN CLAUDIA STEINSEIFER<br />
Seit vier Jahren lebt der zurückhaltende,<br />
fast schüchtern wirkende Mann nun in<br />
Dithmarschen. In seiner Heimat, sagt er,<br />
könnte er vielleicht 600 oder 700 Euro<br />
pro Monat verdienen. Hier sind es inzwischen<br />
1800. Duna lebt mit Frau,<br />
dreijähriger Tochter, seinem Bruder<br />
und dessen Familie in einer Wohnung<br />
mit drei Schlafzimmern im einen Kilometer<br />
entfernten Wesselburen und sagt<br />
über das Leben dort: „Manche Einheimische<br />
sind ein bisschen rassistisch. Die<br />
reden manchmal Scheiße. Aber was<br />
kannst du machen?“<br />
Mittagszeit in der 3550-Seelen-<br />
Stadt Wesselburen, gut 100 Kilometer<br />
nordwestlich von Hamburg gelegen:<br />
Kinder schleppen ihre Schultaschen<br />
über den Marktplatz nach Hause,<br />
mal sind es deutsche Grüppchen, mal<br />
rumänische. Ältere, offenkundig gut<br />
situierte Einheimische lassen sich in der<br />
„Ulmenklause“ den Hering schmecken,<br />
der heute mit Bratkartoffeln und Salatbeilage<br />
gereicht wird. Ein paar Meter<br />
weiter blickt eine junge Rumänin aufs<br />
Handy, während ihre beiden Töchter<br />
an einer Wasserpumpe spielen. Wer in<br />
die Seitenstraßen geht, sieht schöne alte<br />
Häuser mit sehr gepflegten Vorgärten.<br />
Vor anderen sitzen rumänische Familien<br />
auf Plastikstühlen und reden laut miteinander.<br />
Eine alte Frau hat sich ihren<br />
Stuhl direkt auf den schmalen Bürgersteig<br />
gestellt und wartet offenbar auf<br />
Unterhaltung. In manchen Hinterhöfen<br />
stehen Autos ohne Nummernschilder,<br />
irgendwo gackern Hühner.<br />
In früheren Jahrhunderten waren<br />
es Süddeutsche, die für die Dithmarscher:innen<br />
die Kohlköpfe ernteten.<br />
Irgendwann kamen Pol:innen. Seit 2015<br />
25<br />
Stadtkern von Wesselburen<br />
sind es zunehmend Menschen aus Rumänien.<br />
700 sollen heute dauerhaft in<br />
Wessel buren leben. Die genaue Zahl<br />
kennt niemand, weil nicht alle gemeldet<br />
sind. Kommen zur Erntezeit die Saisonkräfte<br />
hinzu, könnten die Rumän:innen<br />
ein Drittel der Einwohnerschaft stellen.<br />
Manchen Einheimischen macht das<br />
Angst: „Ich habe nichts gegen Ausländer“,<br />
sagt etwa eine Geschäftsfrau, die<br />
unerkannt bleiben will. „Aber wenn ich<br />
woanders hinziehe, passe ich mich doch<br />
an, oder?“<br />
Um das gegenseitige Verständnis<br />
zu befördern, gibt es im Ort eine<br />
„Quartiersmanagerin“. Als die Stelle<br />
geschaffen wurde, übernahm eine gebürtige<br />
Rumänin den Job, die schon<br />
lange in Deutschland lebt. Weil die<br />
schwanger wurde, sitzt seit einem halben<br />
Jahr Claudia Steinseifer in dem kleinen<br />
Büro über der Tourismuszentrale, telefoniert<br />
für rumänische Familien mit<br />
Ämtern und entwirft Ideen für mehr<br />
Miteinander. Die 55-Jährige hat lange<br />
am Theater und oft mit Menschen verschiedener<br />
Herkunft gearbeitet. Dabei<br />
hat sie gelernt: „Es gibt nur einen Weg,<br />
gegen Vorurteile vorzugehen: den persönlichen<br />
Kontakt.“ 2023, so ihr Plan,<br />
soll Wesselburen ein Jahr lang „Stadt<br />
der Nachbarschaft“ werden. Dann
Küste<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Links: Madalin Duna baut einen neuen Zaun. Rechts oben: Quartiersmanagerin Claudia Steinseifer will das Verständnis zwischen<br />
Einheimischen und Zugezogenen fördern. Rechts unten: Rumänin Lavinia Stancu sieht dabei vor allem ihre Landsleute in der Pflicht.<br />
sollen rumänische Jugendliche bei der<br />
Aufführung eines Werkes von Friedrich<br />
Hebbel (der in Wessel buren auf die Welt<br />
kam) mitwirken, die örtliche Spielmannskapelle<br />
auftreten und ein Fußballturnier<br />
steigen. Vielleicht gelingt es<br />
ihr sogar, Peter Maffay für einen Ausflug<br />
nach Dithmarschen zu gewinnen?<br />
Den Traum hat sie und auch Kontakte.<br />
Die Grenzen ihres Tuns sind ihr aber<br />
immer klar, sagt die Brückenbauerin:<br />
„Ich rechne nicht damit, dass nach dem<br />
Aktionsjahr alle in weißen Kleidern um<br />
die Kirche tanzen, Blumen werfen und<br />
rufen: ,Wir sind im Paradies!‘“ Doch<br />
wenn es ihr gelänge, zumindest einige<br />
miteinander ins Gespräch zu bringen,<br />
die „etwas an einander entdecken“, sei<br />
das „ein Riesenerfolg“.<br />
Erste Pflänzchen der Annäherung<br />
sprießen: Kinder laden einander zum<br />
Geburtstag ein, ungeachtet kultureller<br />
Unterschiede. Ein deutsches Rentner-<br />
Ehepaar trifft sich mit zwei rumänischen<br />
Jungen für gemeinsame Unternehmungen.<br />
Und eine Engagierte hat<br />
einen Verein für mehr Miteinander im<br />
Ort gegründet und sorgte etwa dafür,<br />
dass ein Einheimischer Zugewanderten<br />
sein altes Fahrrad geschenkt hat. Zum<br />
Zusammenwachsen gibt es keine Alternative,<br />
meint Bürgermeister Heinz-<br />
Werner Bruhs (CDU), seit zehn Jahren<br />
im Amt, denn: „Hätten wir die Rumänen<br />
nicht, hätten wir ein großes Problem<br />
– gerade in der Landwirtschaft.“<br />
Wenn die Quartiersmanagerin berät,<br />
hört sie einiges. Dann berichten<br />
Erntehelfer:innen etwa von dubiosen<br />
Arbeitsvermittlern, die Häuser gekauft<br />
haben und für viel Geld an Saisonkräfte<br />
vermieten. Oder dass ihnen der Bauer<br />
keine Arbeitsbescheinigung ausstellen<br />
wolle, den Lohn bar auszahle und versichere:<br />
„Schwarzarbeit ist das nicht!“<br />
Sind das Ausnahmen, „schwarze Schafe“?<br />
Der zuständige Zoll in Itzehoe<br />
weiß es nicht: Wie häufig und mit welchen<br />
Ergebnissen die Behörde Höfe<br />
kontrolliert, könne er leider nicht sagen,<br />
so ein Sprecher. Die „Beratungsstelle<br />
Arbeitnehmerfreizügigkeit“ in Kiel, die<br />
26<br />
landesweit geprellte Arbeiter:innen unterstützt,<br />
teilt mit, sie habe der Stadt<br />
Wesselburen bereits 2017 Hilfe angeboten<br />
und später auch Landwirt:innen der<br />
Region angeschrieben. Eine Einladung<br />
folgte bislang nicht.<br />
Was alltäglicher Rassismus bedeutet,<br />
kann Lavinia Stancu erzählen: Seit<br />
Monaten sucht sie nach einer neuen<br />
Bleibe für ihre Familie. Die Wohnung,<br />
in der sie mit Eltern, Schwester und einem<br />
befreundeten Ehepaar lebt, ist „in<br />
sehr schlechtem Zustand“, wie die<br />
19-Jährige in perfektem Deutsch sagt.<br />
Doch auch wenn ihre Telefonate wegen<br />
eines Mietangebots oft schnell enden,<br />
sobald sie erwähnt, dass sie Rumänin<br />
ist, sieht Lavinia Stancu ihre Landsleute<br />
in der Pflicht: „Die Deutschen haben<br />
uns Arbeit angeboten und gute Lebensbedingungen.<br />
Und wenn ein Fremder<br />
in ein anderes Land kommt, muss er<br />
sich an die Regeln dort halten.“ Das<br />
aber würden manche nicht tun.<br />
Die ernsthafte junge Frau ist ein<br />
Musterbeispiel gelungener Integration:
Küste<br />
KLEINES FOTO S. 26 UNTEN RECHTS: ULRICH JONAS<br />
In den viereinhalb Jahren in Wesselburen hat sie den<br />
Realschulabschluss geschafft, deutsche Freundinnen<br />
gewonnen und für ihre Eltern Jobs organisiert.<br />
Die Mutter hat zunächst als Küchenhilfe in einem<br />
Büsumer Hotel gearbeitet, seit neun Monaten hat sie<br />
eine Vollzeitstelle bei einem Catering-Unternehmen<br />
im Ort. Der Vater hat sich auf einem Bauernhof um<br />
die Tiere gekümmert – den Job aber verloren, weil er<br />
sich nicht gegen Corona impfen lassen will. Und sie<br />
selbst träumt davon, eines Tages bei der Polizei oder<br />
beim Augenoptiker zu arbeiten. Einen Vertrag für<br />
die Ausbildung zur Bürokauffrau hatte sie schon in<br />
der Tasche – doch wurde der wieder aufgelöst, als ihr<br />
potenzieller Arbeitgeber erfuhr, dass auch sie nicht<br />
gegen Corona geimpft ist. (Viele Rumän:innen sind<br />
nicht geimpft. Die Impfquote in dem EU-Land liegt<br />
bei nur 42 Prozent.)<br />
Nun bewirbt sich die junge Frau weiter, jobbt<br />
halbtags als Betreuerin in der Grundschule, räumt<br />
zudem Waren in Supermarktregale ein und sagt:<br />
„Für mich ist es nicht immer einfach.“ Weil in der<br />
Wohnung nicht viel Platz ist, muss sie sich das<br />
Zimmer mit ihrer zehnjährigen Schwester teilen.<br />
Kürzlich kam auch noch ein Brief vom Stromversorger:<br />
Die Familie muss kräftig nachzahlen. Lavinia<br />
Stancu muss sich kümmern, weil sie diejenige ist,<br />
die die fremde Sprache beherrscht. Es gibt Tage,<br />
sagt sie, da träume sie davon, alleine zu leben. Sie<br />
lächelt verlegen.<br />
Bauer Wollatz sitzt manchmal mit seinen Arbeitern<br />
zusammen und plaudert. Läuft es gut, kommt es<br />
zur Begegnung der Kulturen. Mal ist das lustig, etwa<br />
wenn einer seiner Leute sagt: „Aber Chef, du musst<br />
ein großes Auto fahren! Du kannst dir doch einen<br />
dicken 7er-BMW leisten!“ Und manchmal, erzählt<br />
Wollatz, wird es „sehr schwierig“. Etwa wenn er von<br />
Kindern hört, die nicht zur Schule gehen, oder von<br />
arrangierten Ehen. „Ich kann nicht sagen, ob wir<br />
glücklichere Ehen führen“, meint der Dithmarscher.<br />
„Aber wenn meine Leute erzählen, ihr Sohn solle<br />
eine 15-Jährige heiraten, komme ich an meine<br />
Grenzen.“ Und dennoch: Wollatz ist optimistisch,<br />
dass das Zusammenwachsen gelingen kann. Er<br />
erzählt von einem früheren Mitarbeiter, der heute<br />
in einer nahen Papierfabrik arbeitet. Der habe<br />
ein Haus in einer typisch deutschen Siedlung<br />
gekauft und lebe mit seiner Familie inmitten von<br />
Einheimischen. „Und das war eine ganz bewusste<br />
Entscheidung.“ •<br />
Ulrich Jonas war fasziniert von der<br />
Unterschiedlichkeit der Menschen.<br />
Er möchte bald wieder nach Wesselburen,<br />
um zu sehen, wie sich das<br />
Zusammenleben entwickelt.<br />
ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
27<br />
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Sylt ganz unten<br />
Obdachlose Menschen gibt es auch auf der Insel der Schönen und Reichen.<br />
Der Insulaner Matthias war einer von ihnen. Dass er überhaupt noch lebt,<br />
verdankt er auch dem Sozialarbeiter Jan Klein. Jochen Harberg (Text)<br />
und Mauricio Bustamante (Fotos) haben die beiden besucht.<br />
28
Küste<br />
A<br />
uf dem Weg von Westerland<br />
nach List muss Matthias<br />
noch kurz an einem Supermarkt<br />
halten: „Ich brauche<br />
unbedingt Vogelfutter.“ Wenige<br />
Minuten später ist das Ziel der Fahrt<br />
erreicht – der idyllische Dünenfriedhof<br />
in Deutschlands nördlichster Gemeinde.<br />
Hier will er den Vater ehren, den er<br />
schon mit zwölf verloren hat, an<br />
Herzver sagen. Ein Kerl wie ein Baum,<br />
erinnert sich Matthias, zwei Meter groß,<br />
Metzgermeister, viel zu früh gegangen,<br />
mit gerade mal 38 Jahren. Es ist Matthias’<br />
Initiative gewesen, das schon<br />
dem Verfall preis gegebene Grab wieder<br />
Am Strand von Sylt:<br />
Matthias ist auf der Insel<br />
geboren – und dort lange<br />
obdachlos gewesen.<br />
schön herzu richten – mit dem selbstgebauten<br />
Vogelhäuschen direkt nebenan,<br />
damit hier auch Leben ist. Schweigsam<br />
macht er sich an die Arbeit, es werden<br />
noch Tränen rollen an diesem Frühlingsnachmittag.<br />
Dafür gibt es viele Gründe.<br />
Die wöchentliche Fahrt in seinen<br />
Geburtsort hat Matthias, 41, nicht alleine<br />
angetreten. Erstmals hat ihn Stella<br />
(Name geändert, die Red.) begleitet, seine<br />
Nachbarin, wenn man das so sagen<br />
darf. Und am Steuer des Autos sitzt<br />
beider „Chef“: Jan Klein, 42, Sozialarbeiter<br />
der Gemeinde Sylt, zuständig<br />
für die Obdachlosen der Insel. Und<br />
damit auch für Stella und Matthias.<br />
29<br />
Matthias’ Geschichte ist die eines schleichenden,<br />
aber stetigen Abstiegs auf der<br />
so oft besungenen „Insel der Schönen<br />
und Reichen“. Der Tod des Vaters trifft<br />
ihn, den jüngsten und sensibelsten unter<br />
drei Brüdern, besonders hart.<br />
Haupt- und Realschulabschluss schafft<br />
der stille, introvertierte Junge zwar noch<br />
mit Mühe, bei der anschließenden Arbeit<br />
als Koch in einem Lister Restaurant<br />
macht er aber deutlich mehr Bekanntschaft<br />
mit Alkohol, als gut für ihn<br />
ist – ein gar nicht seltenes Phänomen in<br />
der Gastronomie. Auch Insulanerin<br />
Stella, 52, rutschte so ab in die Sucht<br />
auf Sylt.<br />
Mit seiner damaligen Freundin Pia<br />
bekommt Matthias einen Sohn. Doch<br />
Pia ist drogensüchtig, gibt das Baby<br />
direkt zu ihren Eltern, geht irgendwann<br />
mit Punks aus Hamburg fort und<br />
stirbt in der großen Stadt. Den Sohn<br />
hat Matthias bis heute nicht gesehen.<br />
Eine weitere Verlobung endet ebenfalls<br />
in einer Schwangerschaft, die Mutter<br />
aber zieht sehr bald nach der Geburt<br />
fort. Und so verschwindet auch die<br />
Tochter früh aus seinem Leben.<br />
Das sind zu viele Schläge für Matthias,<br />
der nun nach und nach Job, Wohnung<br />
und den Boden unter den Füßen<br />
verliert.<br />
„Dass Matthias euch seine Geschichte<br />
überhaupt erzählt, zeigt, wie<br />
weit er schon gekommen ist auf dem<br />
Weg zurück ins Leben“, sagt Jan Klein,<br />
als wir uns im Aufenthaltsraum der<br />
Obdachlosenunterkunft am Sjipwai in<br />
Westerland mit ihm und Matthias auf<br />
einen tiefschwarzen Kaffee treffen. Der<br />
Tisch ist liebevoll gedeckt mit Brötchen,<br />
Obst und allerlei Süßigkeiten,<br />
„das ist hier bei uns Standard“, sagt<br />
Jan. Seit 2010 arbeitet er auf der Insel,<br />
Matthias kennt er quasi von Tag eins<br />
an. In einem kleinen Bildband hat er<br />
die Zustände des damaligen Lebens der<br />
Obdachlosen an nicht genehmigten<br />
Lebens- und Schlafplätzen festgehalten,<br />
es ist ein Dokument des Grauens.<br />
Jan Klein, ein kräftiger, energetischer,<br />
wortgewaltiger Typ mit strahlend hellblauen<br />
Augen, ist beseelt von dem<br />
Gedanken, „jedem Menschen Liebe zu<br />
geben“. Und beschließt: „Das muss<br />
hier anders werden.“
Heute lebt Matthias in<br />
der Obdachlosenunterkunft<br />
der Insel. Unten: Besuch<br />
am Grab seines früh<br />
verstorbenen Vaters<br />
Wohnen auf Sylt<br />
Die üblichen Nettokaltmieten auf Sylt liegen zwischen 15 und 20 Euro pro<br />
Qua dratmeter und gehören damit zu den teuersten in Deutschland. Das ist das<br />
Ergebnis einer Studie des Instituts für Stadtentwicklung und Wohnen (ALP)<br />
aus dem Jahr 2020. Besonders knapp sind demnach günstige kom munale und<br />
geförderte Wohnungen. Verschärft wird die Lage durch Umwand lungen in<br />
Ferienwohnungen. Laut Studie wurden 2018 rund 40 Prozent der 16.746<br />
Sylter Wohnungen als Feriendomizile genutzt. Insgesamt stehen 62.500<br />
Gäs tebetten zur Verfügung. Im Vorpandemiejahr 2019 gab es fast 5 Millionen<br />
Übernachtungen. Dauerhaft leben auf der Insel knapp 20.000 Menschen. LG<br />
Auch Matthias haust damals im baufälligen<br />
„Pionierlager“ in Tinnum,<br />
einer verlassenen Soldatenunterkunft.<br />
„Das war ein runtergekommenes<br />
Loch“, erinnert sich Jan Klein. Dessen<br />
stetig wiederkehrende Hilfsangebote<br />
weist Matthias immer und immer<br />
wieder zurück. Einige Jahre macht<br />
er anschließend tagsüber Platte in Westerland,<br />
kleines Geld vom Zeitungsaustragen<br />
geht oft direkt in weiteren<br />
Alkohol. Die Nächte verbringt er mit<br />
einem Kumpel auf dem Friedhof, selbst<br />
im strengsten Winter. Er spürt, es könnte<br />
mit ihm zu Ende gehen, „ich war nur<br />
noch Haut und Knochen.“ Und, sagt<br />
Sozialarbeiter Jan, „er lag oft betrunken<br />
draußen rum und war völlig verbrannt<br />
von der Sonne.“ Aber irgendetwas ist<br />
da noch, was sich in Matthias wehrt:<br />
„Dann habe ich doch Kontakt aufgenommen<br />
zu Jan.“<br />
Der hat inzwischen ein völlig neues<br />
Konzept der Obdachlosenbetreuung<br />
installiert. Aus den heruntergekommenen<br />
Löchern und Wohnungen, die<br />
über die Insel verteilt sind, wird mit<br />
den Jahren eine neue, liebevoll hergerichtete<br />
zentrale Unterkunft mit zwei<br />
sich gegenüberliegenden Gebäuden<br />
30
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Küste<br />
nahe an der Inselverwaltung. „Für<br />
mich ist Prävention der Schlüssel“, sagt<br />
Jan, „und dafür will ich so viel und so<br />
nah dran sein an den Menschen, die<br />
ich betreue, wie es nur geht. Da kann<br />
ich nicht noch unterschiedliche Standorte<br />
auf der Insel betreuen und dabei<br />
Kraft vergeuden. Ich möchte immer<br />
sofort helfen können, wenn es jemandem<br />
schlecht geht.“ Dafür muss er bei<br />
der Gemeinde dicke Bretter bohren,<br />
aber er ist überzeugt: „Jeden Euro, der<br />
hier investiert wird für menschenwürdige<br />
Betreuung und Unterkunft, musst<br />
du später nicht an anderer Stelle doppelt<br />
und dreifach ausgeben.“ Die Zahlen<br />
sprechen für sich: Etwa 40 Insel-<br />
Obdachlose gibt es, als er seinen Job<br />
antritt – heute sind es noch fünf, die in<br />
der Obdachlosenunterkunft leben:<br />
Stella, Thomas, Robert, die 90-jährige<br />
Alice. Und Matthias.<br />
Der trägt heute einen braunen Kapuzenpullover<br />
mit kreisrundem Logo:<br />
„Die Toten Hosen – Bis zum bitteren<br />
Ende“. Treffer, versenkt. Jahre habe er<br />
gebraucht, um sich dem Sozialarbeiter<br />
Stück für Stück zu öffnen und zu erzählen,<br />
was alles zu erzählen ist. Heute<br />
weiß er: „Ich hätte viel früher zu ihm<br />
gehen sollen.“ Seit 2014 lebt Matthias<br />
in der Obdachlosenunterkunft am<br />
Sjipwai, und all die Jahre habe er<br />
wirklich benötigt, um sich so zu stabilisieren,<br />
dass ein Rückfall in ganz schlimme<br />
Zeiten derzeit wenig wahrscheinlich<br />
scheint. Wie es ihm heute gehe auf<br />
einer Skala von eins bis zehn? „So fünf<br />
bis sechs, würde ich sagen.“ Ob das<br />
nicht toll sei, fragt Jan mit einem Strahlen.<br />
Und man ahnt, wie schwer es fällt,<br />
sich dessen permanenten Motivationsoffensiven<br />
zu widersetzen. Fünf Minijobs<br />
auf 450-Euro-Basis darf der Sozial<br />
arbeiter auf Sylt in Absprache mit der<br />
Verwaltung vergeben, auch das ein Teil<br />
seines Konzepts zur Reintegration.<br />
Stella und Matthias haben je einen<br />
solchen und erledigen dafür kleine<br />
Aufträge im Rahmen des Hausprojekts<br />
und der Betreuung.<br />
Gleichwohl sieht Jan auf Sylt ständig<br />
wiederkehrende, hausgemachte<br />
Probleme: „Wo so viel Licht ist, gibt es<br />
auch ganz viel Schatten.“ Etwa Saisonarbeiter:innen,<br />
oft Ausländer:innen, die<br />
über Nacht gekündigt werden und<br />
schäbige Personalwohnungen ganz<br />
schnell verlassen müssen. Saison-Punks<br />
von überallher, die während der Sommermonate<br />
kommen, tagsüber betteln<br />
und oft am Strand schlafen. Oder auch<br />
Zwangsräumungen – gerade im Moment<br />
klemmt Jan hinterm Telefon, um<br />
mit einem Kollegen der Gemeinde die<br />
aktuell drohende Obdachlosigkeit einer<br />
ganzen Familie noch zu verhindern.<br />
Aber wenn alle Stricke reißen, steht in<br />
seiner Unterkunft das Familienzimmer<br />
schön aufgeräumt bereit.<br />
Matthias wiederum hat die Unterkunft<br />
jetzt für drei Wochen verlassen –<br />
er geht zur Entgiftung in eine Einrichtung<br />
aufs Festland. In den Häusern auf<br />
Sylt dürfen die Bewohner:innen zwar<br />
nach selbst gegebenen Regeln nichts<br />
trinken, besiegt ist der Alkohol damit<br />
freilich nicht: „Was ich tagsüber in der<br />
Stadt mache, ist meine Sache“, sagt<br />
Sozialarbeiter<br />
Jan Klein<br />
(rechts) hat die<br />
Zustände an<br />
ehemaligen<br />
Schlafplätzen<br />
von Obdachlosen<br />
auf der<br />
Insel dokumentiert<br />
(unten).<br />
31<br />
Matthias freimütig. Und doch will er es<br />
nun ernsthaft angehen, denn er hat<br />
neue Ziele. Ein gemeinsames Weihnachten<br />
mit der Mutter und den Brüdern<br />
hat es nach jahrelanger Funkstille<br />
inzwischen schon wieder gegeben,<br />
dem großen Sohn will er bald mal einen<br />
Brief schreiben, der ist 16 und hat<br />
damit Anrecht auf Auskunft und Kontakt.<br />
Und wer weiß, vielleicht wird ja in<br />
einigen Jahren doch noch sein verbliebener<br />
Lebenstraum wahr: „Ein eigener<br />
Foodtruck hier auf Sylt, das wäre<br />
schon geil!“ • Jochen Harberg hat eine<br />
lange Beziehung zu Sylt:<br />
Seit 1988 leben seine Mutter<br />
und seine Schwester auf<br />
der Insel, er selbst hat dort<br />
seitdem jeden Sommerurlaub verbracht.<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Altkleider in Afrika<br />
Keine Hilfe,<br />
sondern Gift<br />
30 Prozent<br />
der Altkleider, die als Secondhand-Ware von Europa nach Ostafrika<br />
verschifft werden, landen auf Mülldeponien, in Flüssen oder werden unter<br />
freiem Himmel verbrannt. Das zeigen Greenpeace-Recherchen. Der Grund:<br />
Viele der Kleidungsstücke sind zerrissen, verschmutzt oder für das örtliche<br />
Klima ungeeignet und haben deshalb auch in Afrika keinen Marktwert<br />
mehr. Die Folgen: Gefährliche Chemikalien und Mikroplastikfasern werden<br />
permanent freigesetzt und vergiften schleichend Menschen und Umwelt.<br />
Allein in Deutschland werden jährlich gut eine Million Tonnen Altkleider<br />
gesammelt – von Hilfsorganisationen, aber auch von Händler:innen, die<br />
damit Geld verdienen. Sie exportieren rund die Hälfte aller gespendeten<br />
Kleidungsstücke, meist nach Afrika und zum Nachteil der Textilwirtschaft<br />
dort. Der Rest werde oft zu Putztüchern, Isoliermaterial oder Füllstoff für<br />
andere Industrien verarbeitet oder weggeworfen, heißt es in dem neuen<br />
Greenpeace-Bericht mit dem Titel „Vergiftete Geschenke“.<br />
Wer sicher sein will, dass Kleiderspenden in gute Hände kommen, spendet<br />
sie lokal und an gemeinnützige Einrichtungen wie Kleiderkammern oder<br />
Hanseatic Help. „Bei uns gibt es die Garantie, dass die Sachen bedarfsgerecht<br />
ausgegeben werden“, sagt Michael Wopperer von Hanseatic Help.<br />
Dafür melden Obdachlosenprojekte, Geflüchteteninitiativen oder Frauenhäuser<br />
konkrete Wünsche an. Um zerrissene oder verschmutzte Kleidung<br />
möglichst nicht wegwerfen zu müssen, bietet der Verein einen Materialpool –<br />
für Filmschaffende, Upcycling-Werkstätten oder auch Kindergärten.<br />
Vor allem wegen der sogenannten Fast Fashion – billige Modekollektionen,<br />
die in immer kürzeren Zeitabständen auf den Markt geworfen werden –<br />
wächst der Berg alter Kleider beständig: Jedes Jahr produzieren internationale<br />
Konzerne weltweit 2,7 Prozent mehr Kleidungsstücke, so Greenpeace.<br />
Nicht mal 1 Prozent aller Textilien wird zu neuer Kleidung verarbeitet.<br />
Greenpeace fordert, den Export von Textilabfällen zu verbieten und Modefirmen<br />
für Umwelt- und Gesundheitsschäden ihrer Kleidung weltweit<br />
haftbar zu machen. Was jede:r Einzelne tun kann, erklärt die Verbraucherzen<br />
trale: „Wir empfehlen euch, weniger Kleidung zu kaufen und auf<br />
Qualität und Nachhaltigkeit zu achten.“ •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos: www.huklink.de/greenpeacereport, www.huklink.de/kleiderspenden und www.hanseatic-help.org<br />
33
Laternenmanns<br />
Vermächtnis<br />
Fast 20 Jahre lang zog Cornelius Bless mit seiner<br />
Laterne durch Hamburger Kneipen und verkaufte<br />
„Geistesblitze“. Hinz&<strong>Kunzt</strong> hat ihn auf seiner<br />
letzten Fahrt mit dem Wünschewagen begleitet.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: IMKE LASS
Letzte Reise zu seiner Mutter:<br />
Schweigend lässt Cornelius Bless<br />
den Blick durch die Weite der<br />
holsteinischen Landschaft schweifen.
Cornelius Bless ist startklar. Der 65-Jährige hat seine<br />
Strickjacke an, eine Lederjacke und darüber noch<br />
eine Thermofleece-Jacke, auf dem Kopf einen<br />
bunten Strohhut. Blumen stehen bereit, seine<br />
Tasche ist gepackt: Handy, Notizbücher, die „Mundorgel“.<br />
Das Liederbuch darf nicht fehlen an diesem Tag Ende<br />
Februar. Cornelius Bless fährt nach Albersdorf in Schleswig-<br />
Holstein, ins Haus seiner Kindheit, um mit seiner Mutter<br />
gemeinsam zu singen – ein letztes Mal.<br />
Nun sitzt er in seinem Rollstuhl am Eingang des Diakonie-Hospizes<br />
in Volksdorf und späht durch die Scheibe nach<br />
draußen. Vor der Tür steht der „Wünschewagen“, ein mit<br />
Sternen beklebter Transportwagen des Arbeiter-Samariter-<br />
Bundes. Er wird Bless nach Albersdorf bringen. „Letzte<br />
Wünsche wagen“ steht auf der Hecktür, durch die zwei junge<br />
Frauen eine rollbare Transportliege mit Sternchen-Plumeau<br />
auf die Einfahrt wuchten. Cornelius Bless schiebt das<br />
Kinn vor, seine Mundwinkel zucken. „Da soll ich jetzt rein?“<br />
Er ächzt. Im Sitzen zu fahren wäre ihm lieber.<br />
Gestern sei er noch Taxi gefahren, nach Eppendorf, mit<br />
dem Rollstuhl. „Das war eigentlich ganz easy“, argumentiert<br />
er. Eine Pflegerin des Hospizes hält sanft dagegen: Albersdorf,<br />
das seien fast anderthalb Stunden Fahrt. Wenn er läge,<br />
bliebe ihm mehr Kraft für das Treffen mit seiner Mutter.<br />
Bless, schwer krebskrank, geschwächt und abgemagert von<br />
der Chemotherapie, bläst die Wangen auf und gibt nach.<br />
Es gibt Wichtigeres. Als er ins Freie geschoben wird, schaut<br />
er in den Himmel. Die Frage der Pflegerin, ob er bei einem<br />
Notfall unterwegs wünsche, reanimiert zu werden, hatte er<br />
mit einem langgezogenen „Nööö“ beantwortet.<br />
Früher war es Cornelius Bless, der Menschen dazu einlud,<br />
sich auf etwas einzulassen. Er war der „Laternenmann“,<br />
36
Lebenslinien<br />
Abfahrt vom Hospiz Volksdorf: Behutsam überzeugen die Pflegerinnen<br />
den Passagier von einer Wünschewagen-Fahrt im Liegen.<br />
Als der Wünschewagen vor Bless’<br />
Elternhaus hält, klart der Himmel auf.<br />
Alle, die mitgefahren sind, werden im<br />
Hause Bless herzlich empfangen.<br />
ein Philosoph der Straße, dem man mit Glück nachts in<br />
den Kneipen und Bars in der Schanze, in Eimsbüttel oder<br />
auf dem Kiez begegnete. Dann stand er plötzlich in der<br />
Tür, in der Hand seine Laterne, beklebt mit Bildern von<br />
Gandhi, Sophie Scholl, Albert Einstein, Hermann Hesse.<br />
Oder er saß am Tresen, drapierte bunte Kärtchen darauf,<br />
sah sich im Lokal um – und wartete ab. Früher oder später<br />
würde jemand mit „einem Fragezeichen im Gesicht“ auftauchen,<br />
wie Bless es nennt. Viele wussten auch schon<br />
Bescheid: Beim Laternenmann gibt es „Geistesblitze“ zu<br />
kaufen, handverlesen, auf Tauglichkeit erprobt, Kaufpreis<br />
nach eigenem Ermessen.<br />
„Dieser innere Sonnenschein, den ein jeder in sich trägt,<br />
der macht goldene Brücken.“ Den Spruch von Paula Modersohn-Becker<br />
finde er besonders gut, erzählt Bless. Zum Gespräch<br />
im Hospiz hat er drei Notizbücher dabei, er blättert<br />
und zieht ein Kärtchen mit dem Zitat der Künstlerin hervor.<br />
Menschen in schwierigen Lebenslagen habe der Spruch<br />
meist besonders angesprochen, sagt Bless. Was er denn selbst<br />
darüber denke – diese Frage kam oft in den Kneipennächten.<br />
Der Straßenphilosoph nimmt sich Zeit für seine Antwort,<br />
auch diesmal. „Der innere Sonnenschein … kann durch<br />
Wolken verdeckt sein. Trotzdem ist er da. Und kann … das<br />
Miteinander stärken.“ Er sucht die Luft ab und reckt das<br />
Kinn, als hingen die passenden Wörter wie Früchte an einem<br />
Ast über ihm. „Er kann einen gemeinsamen Nenner im<br />
Miteinander freilegen. Zum Leuchten bringen.“ Bless staunt<br />
dem Gedanken nach wie einer Sternschnuppe.<br />
Von oben herab zu dozieren läge ihm fern. „Ich will ja<br />
nicht primär Antworten geben, sondern Fragen wecken,<br />
Fühl- und Denkprozesse in Gang bringen“, erklärt er. Seine<br />
Sammlung an „Geistesblitzen“ entstand bei der eigenen<br />
Sinnsuche. Bless hat Philosophie studiert, etwa 20 Semester<br />
lang, und nie wirklich aufgehört. Er las einfach weiter, auch<br />
die Nebenwerke, auch Briefe, die große Denker:innen<br />
an Freunde und Frauen schrieben. Es gebe in der Philosophie<br />
einen Hang zur Besserwisserei, auch zur „Vielwisserei“,<br />
sagt Bless. „Und eine Tendenz, den Blick zu verlieren für<br />
das, was wirklich zählt: Worauf kommt es an in meiner<br />
Lebensgestaltung?“<br />
37
Lebenslinien<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Intimer Moment: Ein letztes Mal mit seiner Mutter zu singen war Bless’ Herzenswunsch. Seine Schwester Martina assistiert.<br />
„Jetzt schüttle ich alles ab, was nicht zu mir gehört: Menschen,<br />
Gewohnheiten, Bücher.“ Das Zitat von Nietzsche<br />
habe er nachts selten dabei gehabt, sagt Bless. Für ihn als<br />
jungen Mann aber war es wegweisend.<br />
Cornelius Bless war der Zweitgeborene von sechs<br />
Geschwistern, die Eltern „frommer als fromm“, so erinnert<br />
sich seine jüngste Schwester Renate Reinhardt. Am Sonntag<br />
durften die Kinder nicht mit anderen spielen. Gebetet wurde<br />
Die „Geistesblitze“, die Bless nachts in Kneipen anbot, waren auch<br />
eine Hommage an die klugen Frauen und Männer, die er zitierte.<br />
jeden Morgen, jeden Abend, vor und nach dem Essen. Lieder<br />
aus dem evangelischen Gesangbuch gehörten zum Alltag.<br />
Er sei von dieser Frömmigkeit sehr geprägt gewesen, sagt<br />
Bless. Auch in Jugendgruppen habe er oft zu hören bekommen:<br />
Wahr sei, was in der Bibel stehe. Das stieß ihm damals<br />
schon auf, doch Freidenker wurde er erst im Studium. „Es<br />
dauerte eine Zeit zu erkennen, dass diese Meinungen ein sehr<br />
schmales Fundament haben“, sagt Bless.<br />
Der Wünschewagen hält vor einem kleinen Haus am<br />
Waldrand, eine Frau läuft auf die Straße. „Mensch, Conny!<br />
Was hast du denn für ein Scheißwetter mitgebracht!“ Renate<br />
Reinhardt ähnelt ihrem Bruder wie ein Zwilling. Aufgeregt<br />
nimmt sie ihn in Empfang, begleitet ihn und das Wünschewagen-Team<br />
in ihr Elternhaus, wo die zweite Schwester<br />
Martina bei der Mutter wartet. Frau Bless ist 94 Jahre alt, an<br />
Demenz erkrankt, die Schwestern pflegen sie gemeinsam.<br />
Behutsam wird Cornelius mit dem Rollstuhl ins Wohnzimmer<br />
geschoben. Die Mutter weint, als sie ihren Sohn erkennt.<br />
„Das ist so was von schön!“, sagt sie immer wieder.<br />
Bless blieb seiner Familie immer nah, auch mit dem<br />
Christentum brach er nicht – er schrieb sogar eine Bibelübertragung<br />
für Nicht-Gläubige, „Schlüsselsätze für Schätze“, die<br />
er im Copyshop binden ließ und 2018 in der Mathilde-Bar in<br />
Ottensen vorstellte. Aber das Ziel, endgültige Antworten zu<br />
finden – davon verabschiedete er sich für immer. „Ich bin ein<br />
Spurensucher“, sagt er am Ende seines Lebens.<br />
38
Lebenslinien<br />
Der Wünschewagen<br />
Der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes erfüllt<br />
letzte Herzenswünsche von Menschen, die nicht mehr lange<br />
l eben. Ein Team aus jeweils zwei Ehrenamtlichen begleitet<br />
die Fahrt und kann im Notfall medizinische Hilfe leisten.<br />
Für die Passagiere ist die Wunschfahrt kostenlos. In Hamburg<br />
ist der Wünschewagen seit Oktober 2017 unterwegs.<br />
Infos unter www.wuenschewagen.de/hamburg<br />
Anker<br />
des Lebens<br />
Wünschen Sie<br />
ein persönliches<br />
Gespräch?<br />
Kontaktieren Sie<br />
unseren Geschäftsführer<br />
Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84<br />
03 oder E-Mail: joern.<br />
sturm@hinzundkunzt.de<br />
Was er fand, wollte er teilen: „Ich achte darauf, was den<br />
Leuten weiterhilft“, sagt Bless. Weit mehr als 100 Sprüche<br />
umfasste seine Standardsammlung, je nach Anlass und<br />
Stimmung kamen weitere dazu. Die Kundschaft in den<br />
Kneipen zog auf gut Glück ein Kärtchen, anfangs noch<br />
für eine Mark, später für 50 Cent, am Ende ließ er die<br />
Leute selbst entscheiden und bekam, so erinnert sich seine<br />
Schwester, oft deutlich mehr.<br />
Einen geregelten Job hatte Cornelius Bless nicht mehr,<br />
nachdem er seine Nachtschichten in einer Druckerei, die<br />
sein Studium finanzierten, zugunsten der Laternenrunden<br />
aufgegeben hatte. Eine Weile versuchte er sich als Verleger<br />
von Postkarten, brachte es aber nicht weit. „Ich bin kein<br />
Geschäftsmann“ – mehr hatte der Philosoph zur Frage<br />
nach seiner Erwerbsarbeit nicht zu sagen. Er habe von der<br />
Hand in den Mund gelebt, sagt seine Schwester. Bless<br />
brauchte nicht viel: Wohnen konnte er bei seiner Freundin,<br />
er pflegte sie jahrelang und durfte mietfrei bleiben, als sie<br />
gestorben war. In seinem großen Freundeskreis war immer<br />
jemand, der ihn zum Fußball einlud oder ihn mit dem<br />
Auto mitnahm – Bless war glühender St.-Pauli-Fan.<br />
Als er im Februar ins Hospiz zog, besuchten sie ihn dort,<br />
oft mehrere Gäste an einem Tag.<br />
Er werde bestimmt noch einmal nach Albersdorf zur<br />
Mutter fahren, kündigt Bless beim ersten Gespräch nach<br />
der Tour mit dem Wünschewagen an. Einige Tage später<br />
hat er den Plan geändert. Er wolle seiner Mutter keinen<br />
erneuten Abschied zumuten, erklärt er. Er müsse nun üben,<br />
Dinge zu lassen. „Ich lerne auch, das Wörtchen ‚gelassen‘<br />
ganz neu durchzubuchstabieren“, sagt Bless langsam.<br />
„Und dass es mit all diesen Facetten zu tun hat: zurücklassen,<br />
loslassen, sein lassen.“ Leicht fällt ihm das nicht.<br />
Da sei noch so vieles, was sein Herz erfreut. Fehlt etwas in<br />
seinem Leben? Bless denkt nach und sagt: „Im Nachhinein<br />
sehe ich, dass es alles total stimmig war.“<br />
Am 10. April 2022 starb Cornelius Bless im Hospiz. In<br />
der kleinen Kirche in Albersdorf verabschiedeten ihn seine<br />
Freund:innen und Angehörigen mit einer „Shalom-Feier“.<br />
Alle Gäste trugen bunte Kleider. •<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />
für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />
Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie<br />
uns in Ihrem Testament! Als Testamentsspender:in wird Ihr Name<br />
auf Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert.<br />
Ein maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial<br />
Benachteiligten mit Ihrer Spende geben.<br />
<br />
<br />
Annabel Trautwein hat auch einen<br />
„Geistesblitz“ gezogen: „Suche das Eine,<br />
nicht das Viele.“ Sie denkt seitdem<br />
darüber nach, was er bedeutet.<br />
annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
39
Intern<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Kaum wegzudenken:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Urgestein<br />
Sigi geht nach<br />
28 Jahren in Rente.<br />
„Sigi ist die Seele von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>“<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> ohne Vertriebsmitarbeiter Sigi?<br />
Eigentlich nicht vorstellbar! Doch unser Urgestein geht<br />
im <strong>Juni</strong> in Rente. Ein Rückblick mit Wehmut.<br />
TEXT: SYBILLE ARENDT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
N<br />
a, Amigo mio!“ So begrüßt<br />
Sigi Pachan gerne und laut die<br />
Verkäufer:innen im Vertriebsraum<br />
von Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Seine Stimme<br />
übertönt sogar die ratternde Kleingeldzählmaschine.<br />
Sowieso kommt niemand<br />
an Sigis Platz vorbei: direkt hinter<br />
dem Tresen am Eingang. Kernige<br />
Sprüche sind so typisch für ihn wie die<br />
Lederweste mit Fransen. Ohne die ist<br />
Sigi gar nicht vorstellbar. Deshalb auch<br />
sein Spitzname „Vertriebsindianer“.<br />
40<br />
Seit April 1994 gehört er zu<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Sigi erinnert sich genau<br />
an den Tag, als er seinen Arbeitsvertrag<br />
unterschrieb. Damals lebte er noch auf<br />
der Straße. „Ich habe hier und dort<br />
Platte gemacht, im Müllcontainer
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Intern<br />
gepennt und auch mit einer Gruppe in<br />
einem Zelt in Finkenwerder.“<br />
Ursprünglich kommt Sigi aus dem<br />
Schwarzwald. „Ich bin im Heim aufgewachsen,<br />
wurde dort gequält und geschlagen“,<br />
sagt er knapp. „Mit 15 bin<br />
ich abgehauen.“ Er absolviert zwar eine<br />
Lehre als Radio- und Fernsehtechniker,<br />
arbeitet aber nie richtig in dem Beruf.<br />
„Ich habe zwischen Tür und Angel<br />
gelebt, Dinge angefangen und immer<br />
wieder hingeschmissen.“ Er schläft<br />
bei Kumpels, trinkt. „Anfangs aber<br />
noch moderat.“<br />
Zugleich trägt er Sehnsucht nach<br />
Beständigkeit in sich. Sigi verliebt<br />
sich und heiratet. Seine Frau und er bekommen<br />
zwei Kinder. „Ich erinnere<br />
mich noch, wie ich meinen Kleinen das<br />
erste Mal in der Hand hielt.“ Aber die<br />
Sucht und seine Unbeständigkeit sind<br />
schlecht fürs Familienleben; gut verdientes<br />
Geld ist schnell wieder weg.<br />
„Sparen war nie mein Ding: Geld ist<br />
zum Ausgeben da“, sagt Sigi. Doch das<br />
größte Problem: „Ich war Alkoholiker,<br />
habe meiner Frau das Blaue vom<br />
Himmel erzählt.“ Ohne Bitterkeit sagt<br />
er: „Wir könnten sicher heute noch<br />
zusammen sein, wenn ich nicht so viel<br />
getrunken hätte.“<br />
Aber damals konnte er nicht anders.<br />
Nach zehn Jahren reicht seine Frau die<br />
Scheidung ein. „Sie hat sich bemüht, ich<br />
habe mir alles verbaut.“ Sigi macht sich<br />
auf Richtung Hamburg: „Ich wollte<br />
1000 Kilometer zwischen uns legen.<br />
Solange ich am Saufen war, hatten Ehe<br />
und Familie keinen Sinn.“ Vor zwei<br />
Jahren gab es erstmals wieder Kontakt<br />
zwischen Sigi und seinen Kindern. Sogar<br />
ein Wiedersehen war geplant. „Leider<br />
kam dann Corona dazwischen.“<br />
In Hamburg wird alles zunächst<br />
noch schlimmer. Sigi trinkt mehr Alkohol,<br />
landet auf der Straße. Sieben Jahre<br />
schläft er draußen. „Das Schlimmste<br />
war eine Nacht bei minus 23 Grad. Und<br />
ich lag auch noch am Wasser“, erinnert<br />
er sich. 1993, nach der Gründung von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>, erzählen ihm Kumpels<br />
vom Straßenmagazin. Sigi bekommt<br />
einen Verkäuferausweis. „Den habe ich<br />
noch heute.“ Er mag das Verkaufen und<br />
die Gespräche mit den Kund:innen.<br />
Schon nach wenigen Monaten bekommt<br />
er eine feste Anstellung im Vertrieb.<br />
Sigi hört auf zu trinken, entgiftet<br />
und macht eine Therapie. „Ich wollte es<br />
unbedingt, und ich bin ein Sturkopf.“ Es<br />
gibt Rückfälle, aber das ist die Regel bei<br />
einer schweren Suchterkrankung. Sigi<br />
bekommt eine Wohnung und wird bald<br />
zu einer Vertrauens- und Respektsperson<br />
im Vertrieb – bis heute.<br />
Seine raue, aber herzliche Art mögen<br />
einfach alle. Die Verkäufer:innen,<br />
weil sie wissen, dass er mal einer von<br />
ihnen war. Die Kolleg:innen, „weil<br />
man mit Problemen immer zu ihm<br />
kommen kann“, wie Marcel sagt. Silvia<br />
ergänzt schlicht: „Sigi ist die Seele von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>.“ Nur wenn ihm etwas<br />
nicht gefällt oder jemand sich nicht<br />
korrekt verhält, ist schnell Schluss mit<br />
der Freundlichkeit. „Ich mache vor<br />
niemandem einen Bückling“, sagt Sigi.<br />
Alkoholrückfälle und zwischendurch<br />
Geldsorgen sind nun auch schon<br />
länger her. Sigi hat eine Schuldenberatung<br />
beim Diakonischen Werk und<br />
eine Privatinsolvenz hinter sich. Er ist<br />
zufrieden: „Ich bereue keine einzige<br />
Sekunde. Ich habe mein Leben genossen<br />
und mir alles selbst beigebracht.“<br />
Einsam fühlt er sich indes schon manchmal:<br />
„Richtig viele Freunde habe ich<br />
nicht.“ Auch gesundheitliche Probleme<br />
zeigen sich. „Altersgerecht: Die Beine<br />
schmerzen, die Pumpe ist im Arsch“,<br />
meint der 65-Jährige trocken.<br />
„Ich bereue<br />
keine einzige<br />
Sekunde.“<br />
Insofern ist es gut, dass nun Schluss ist<br />
mit der Arbeit. Aber nach dem geplanten<br />
Urlaub wird Sigi Hinz&Künztler:innen<br />
am Verkaufsplatz besuchen<br />
und sie wie immer herzlich mit<br />
„Na, Amigo mio“ begrüßen. •<br />
sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />
Sigi, immer und überall: Die Bilder zeigen ihn (v. l. oben n. r. unten) mit Ausgabe<br />
Nr. 5/1994, auf der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Reise zum Papst nach Rom 2016, mit Verkäufer- und<br />
Vertriebskollegen Weihnachten 2015 und 2016 als „Koch des Monats“ in einer Serie.<br />
SIGI<br />
41
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Barbara Engelke:<br />
„Engagement für<br />
andere gibt meinem<br />
Leben Sinn.“<br />
Den Faden nicht<br />
verlieren<br />
Eine brasilianische Legende brachte Barbara Engelke auf die Idee:<br />
Ihr Verein Costura hilft Frauen in Brasilien, auf eigenen Füßen zu stehen.<br />
Für den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop haben diese Frauen nun Taschen genäht.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
42<br />
Einer guten Geschichte kann<br />
Barbara Engelke nur schwer<br />
widerstehen. „Ich bin eine<br />
Frau der Worte“, sagt die<br />
Hamburger Drehbuchautorin – und<br />
den Worten lässt sie Taten folgen. In<br />
Brasilien erfuhr sie von einer Legende,<br />
die sie nicht mehr losließ. „Sie erzählt<br />
von einem Mann, der seine zweite<br />
Frau nicht heiraten kann oder will –<br />
so ganz klar wird das nicht. Als sie<br />
schwanger wird, kauft er ihr eine Nähmaschine,<br />
damit sie sich und ihre<br />
Kinder ernähren kann.“<br />
Nähmaschinen wurden der Grundstein<br />
für ihren gemeinnützigen Verein<br />
Costura im nordbrasilianischen Maragogi.<br />
Costura heißt auf Portugiesisch<br />
„nähen“ – und genau darum geht es.<br />
Der Verein finanziert eine Nähschule,<br />
in der Frauen in einer kostenlosen<br />
Ausbildung das Nähen lernen, während<br />
ihre Kinder dort betreut werden. Die<br />
meisten der Frauen sind alleinerziehend,<br />
haben viele Kinder, oft von<br />
unterschiedlichen Vätern, manche sind<br />
Analphabetinnen. „Costura soll ihnen<br />
eine Perspektive bieten.“ Dabei sei das<br />
Nähen viel mehr als ein Handwerk:<br />
„Viele der Frauen glauben nicht, dass<br />
sie etwas können. Wenn sie dann zum<br />
ersten Mal ein selbstgeschneidertes<br />
Kleid in den Händen halten, sind sie<br />
stolz und ihr Selbstbewusstsein wächst.“<br />
Auch Taschen oder Spielzeug<br />
werden bei Costura gefertigt, oft sind
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
die Materialien recycelt. So erhalten<br />
Fahrradschläuche oder Sonnenschirme<br />
ein zweites Leben – wie die Tasche, die<br />
nun im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Shop erhältlich ist<br />
(Anzeige S. 23). Der Erlös wird zwischen<br />
Costura und Hinz&<strong>Kunzt</strong> geteilt.<br />
Dass man mit seinen Herausforderungen<br />
wächst, hat Barbara Engelke im<br />
Leben selbst erfahren. Per Zufall landete<br />
sie bei Studio Hamburg, zuerst als<br />
Sekretärin, später als Regieassistentin.<br />
Doch ihr Herz schlug fürs Schreiben, ein<br />
ZDF-Stipendium für Serienautor:innen<br />
brachte die Wende: Barbara Engelke<br />
wurde Drehbuchautorin, entwickelte ab<br />
den 1990ern Serien wie „Im Tal der wilden<br />
Rosen“ und andere Serienformate,<br />
schrieb Drehbücher fürs „Traumschiff“<br />
und für die „Kreuzfahrt ins Glück“.<br />
Auf einer Reise verliebte sie sich in<br />
einen brasilianischen Landschaftsarchitekten.<br />
1992 heirateten sie und<br />
bauten in Maragogi ein Haus. Heute sei<br />
Maragogi in ganz Brasilien bekannt,<br />
viele Prominente hätten dort Häuser.<br />
„Wir waren damals Pioniere. Es gab<br />
nichts, nur uns.“ Unter abenteuerlichen<br />
Bedingungen entstanden dort ihre<br />
Adaptionen der Rosamunde-Pilcher-<br />
Romane – Fantasien über das kühle<br />
Cornwall in der brasilianischen Hitze.<br />
Freunde<br />
Als ihre Ehe zerbrach, fand sich Barbara<br />
Engelke mit einem schwer kranken<br />
kleinen Kind in einem fremden Land<br />
wieder. „Ich habe damals so viel emotio<br />
nale Unterstützung von den Frauen<br />
dort erfahren, dafür wollte ich etwas<br />
zurückgeben“, sagt die 62-Jährige. „So<br />
entstand Costura.“ Manchmal frage sie<br />
sich, was Helfen eigentlich bedeute:<br />
„Helfe ich dabei mir oder anderen? Ich<br />
verdanke dem Verein mindestens<br />
genauso viel wie er mir“, findet sie.<br />
Dass Hinz&<strong>Kunzt</strong> Menschen Hilfe zur<br />
Selbsthilfe gibt, imponiert ihr, deshalb<br />
wurde sie auch Mitglied im Freundeskreis.<br />
„Dieses Engagement für andere<br />
gibt meinem Leben Sinn.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Praktisch und nachhaltig:<br />
Die Umhängetasche Maragogi urbana<br />
aus dem Selbsthilfeprojekt Costura! e. V.<br />
können Sie für 20 Euro im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Shop erwerben:<br />
www.hinzundkunzt.de/shop,<br />
siehe auch die Anzeige auf Seite 23.<br />
Mehr Infos zum Projekt unter<br />
www.costura-ev.de<br />
JA,<br />
ich werde Mitglied<br />
im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Freundeskreis.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
Dankeschön<br />
IBAN<br />
Wir danken allen, die uns im Mai 2022<br />
unterstützt haben, sowie allen Mitgliedern im<br />
Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Ausdrücklich<br />
danken wir allen Spender:innen –<br />
wir freuen uns über kleine und große Beträge!<br />
Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />
Facebook: ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• wk-it-consultants GmbH<br />
• die Hamburger Tafel<br />
• Produktionsbüro<br />
Romey von Malottky GmbH<br />
• Obstmonster GmbH<br />
• Hanseatic Help<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• die Hamburger Kunsthalle<br />
• Passage gGmbH<br />
• die Blindenwerkstatt H. Sieben<br />
• Lot 1, faire Kunstauktionen für Berlin<br />
• Neal und Helge Henke<br />
• Robert Half GmbH<br />
• die Geburtstagsfeier Flottbek<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Martina Allam<br />
• Hilke und Jürgen Diederichs<br />
• Stephanie Dreier • Kim Ferner<br />
• Christian Grigo • Jörn-Peter Hinz<br />
• Thomas Kloppe • Gerhard Palder<br />
• Gisela Reich • Lorenz Ritter<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
43<br />
HK <strong>352</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Dem Senat die Schuld zu geben, ist absurd“<br />
Senat nicht schuld<br />
H&K online: „Wohnungsneubau in Hamburg<br />
eingebrochen“<br />
Jeder weiß um die stark gestiegenen<br />
Preise für Baumaterialien und Grundstücke,<br />
um die durch Corona verursachten<br />
weltweiten Lieferengpässe und<br />
um den Fachkräftemangel im Handwerk.<br />
Dem Hamburger Senat die<br />
Schuld daran zu geben, dass das Ziel<br />
von 10.000 neuen Wohnungen nicht<br />
erreicht wurde, ist absurd und weltfremd.<br />
<br />
ANDREA STABENOW<br />
Tote können nicht helfen<br />
H&K 351, Schwerpunkt: Wie geht Frieden?<br />
„Ich gehöre diesem Land nicht“<br />
Nicht jeder ist ein guter Soldat.<br />
So wie der Kriegsdienstverweigerer<br />
selbst sagt: Er möchte anders helfen,<br />
ein toter Mann könnte das nicht. <br />
<br />
ERICH HEEDER<br />
Versorgen statt fordern<br />
H&K 351: Leserbrief: Demütigung bei der Tafel<br />
Das man sich über einen Leserbrief bei<br />
Ihnen aufregen muss, hätte ich nicht gedacht!<br />
Ein Ukrainer in Deutschland und<br />
dazu noch Jurist (!) muss anstehen wie<br />
alle Deutschen, die trotz der eigenen Not<br />
versuchen, Hunderte von Ukrainer:innen<br />
zu versorgen, solange die Spenden reichen.<br />
Vielleicht kann die Schreiberin ihn<br />
versorgen statt zu fordern! MARIA KUHLI<br />
Wir sind begeistert!<br />
H&K allgemein<br />
Wir in der Schweiz sind eifrige Leser<br />
Ihres Magazins. Sind immer wieder<br />
begeistert. PETER UND BÉATRICE SCHMITZ-HÜBSCH<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />
an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />
Wir trauern um<br />
Emmanuel A. Oppöng<br />
6. <strong>Juni</strong> 1982– <strong>Juni</strong> 2021<br />
Emmanuel war nicht lange Verkäufer. Er verstarb<br />
schon im vergangenen Jahr in seiner Heimat Ghana.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
Wir trauern um<br />
Janosz Cybulski<br />
18. Mai 1951– 14. April 2022<br />
Janosz hat zuletzt im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus gewohnt.<br />
Dort ist er friedlich vor dem TV eingeschlafen.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
Wir trauern um<br />
Paul Viktor Muletz<br />
3. November 1985 – 6. April 2022<br />
Paul wurde leblos in seinem Rollstuhl<br />
in der Innenstadt aufgefunden.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
Der etwas andere<br />
Stadtrundgang<br />
Wollen Sie<br />
Hamburgs City<br />
einmal mit<br />
anderen Augen<br />
sehen? Abseits<br />
der glänzenden<br />
Fassaden zeigen wir<br />
Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen:<br />
Bahnhofsmission<br />
statt Rathaus und<br />
Tagesaufenthaltsstätte<br />
statt Alster.<br />
Sie können mit<br />
unserem Stadtführer<br />
Chris zu Fuß auf<br />
Tour gehen, einzeln<br />
oder als Gruppe mit<br />
bis zu 25 Personen.<br />
Auch ein digitaler<br />
Rundgang ist<br />
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www.sued-nord-kontor.de<br />
Öffnungszeiten: Dienstag - Freitag 10.00 - 19.00 Uhr<br />
Samstag 10.00 - 14.00 Uhr
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Kreativ: Raman Djafari lässt Elton John und Dua Lipa in Traumwelten tanzen (S. 46).<br />
Kino: Das Hamburger Kurzfilmfestival widmet sich dem Thema „Wohnen und Leben“ (S. 50).<br />
Kämpferin: Hinz&Künztlerin Madina steht wieder auf eigenen Beinen (S. 58).<br />
Die „Millerntor Gallery“ geht in die<br />
10. Runde. Besucher:innen<br />
können sich vom 23. bis 26. <strong>Juni</strong><br />
auf außergewöhnliche Kunst in<br />
Stadion atmosphäre freuen.<br />
Tagesticket: 19 Euro.<br />
Weitere Infos und Programm:<br />
www.millerntorgallery.org<br />
FOTO: STEFAN GROENVELD
Hat ein Faible für<br />
unheimliche Wesen:<br />
Raman Djafari vor seinem<br />
Wilhelms burger Atelier
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
„Ich bin nicht<br />
präzise – ich<br />
bin diffus“<br />
Wer an Animationsfilme denkt, hat meist Pixar-Werke<br />
wie „Toy Story“ vor Augen. Die Videos von Raman Djafari<br />
sind anders: dunkel, traumartig und poetisch.<br />
Der Hamburger Filmemacher über die Qualität<br />
des Zweifelns, das schwierige Berufsfeld Animationskünstler<br />
und die Zusammenarbeit mit Elton John.<br />
D<br />
a ist dieser Typ in Grün. Grüne<br />
Melone, grüne Schlaghose,<br />
grüne Jacke mit goldenen<br />
Sternen. Es ist die Cartoon-<br />
Version von Elton John, wie er Mitte der<br />
1970er-Jahre zuweilen auftrat. Zusammen<br />
mit einer animierten Dua Lipa durchtanzt<br />
Johns Avatar die quietschbunten Landschaften<br />
im Musikvideo zu „Cold Heart“,<br />
zwischen Blumenblüten mit Augen, fliegenden<br />
Fischen, einem Kometen in Menschengestalt<br />
und Rolltreppen, die in die<br />
Milchstraße führen. All das entstammt der<br />
Fantasie von Raman Djafari. „Cold Heart“<br />
war die langersehnte Comeback-Single des<br />
britischen Superstars Elton John, ein perfekter<br />
Ohrwurm für den Sommer 2021,<br />
und das Video überließ man einem 28 Jahre<br />
alten Master- Studenten der Hochschule<br />
für Angewandte Wissenschaften Hamburg<br />
(HAW). Doch beinahe hätte Djafari das<br />
Projekt gar nicht erst begonnen.<br />
Acht Monate nach dem Erscheinen<br />
von „Cold Heart“ sitzt der Illustrator und<br />
Filmemacher in der hinteren Ecke eines<br />
großen Atelierraumes, mit Blick auf den<br />
Veringkanal in Hamburg- Wilhelmsburg.<br />
Hier, im ersten Stock im Atelierhaus 23,<br />
arbeitet Djafari an seinen wunderlichen<br />
Krea turen. Der Mann braucht dafür weder<br />
Staffelei noch Pinsel, noch nicht einmal gute<br />
Malstifte. Zwischen Grünpflanzen und<br />
alten Sofas balanciert Djafari ein kleines<br />
schwarzes Notizbuch auf den Knien. Mit<br />
TEXT: JAN PAERSCH<br />
FOTOS: MIGUEL FERRAZ; FILMSTILLS: RAMAN DJAFARI<br />
47<br />
blauem Kugelschreiber zeichnet er hinein.<br />
„Ich sitze herum und hab’ Wolken im<br />
Kopf“, sagt der gebürtige Berliner über die<br />
Inspirationen, die sein Skizzenbuch füllen.<br />
Raman Djafari hat ein Faible für<br />
unheimliche Wesen. Seine mensch lichen<br />
Figuren haben große Köpfe, überdimensionale<br />
Augen, üppige Lippen und bunte<br />
Fingernägel, genau wie ihr Schöpfer, dessen<br />
Nägel links rot und rechts hellblau<br />
lackiert sind.<br />
Wie alle Djafari-Kreaturen strahlen<br />
die Tanzenden in „Cold Heart“ eine<br />
gewisse Traurigkeit aus. „Mir gefällt<br />
die Stop-Motion-Technik von Filmemacher:innen<br />
wie Wes Anderson“, sagt<br />
der Künstler. „Weil sie Puppen sind, haben<br />
die Figuren eine große Verletzlichkeit und<br />
eine physische, nahbare Präsenz. Das<br />
macht etwas mit mir, und das wollte ich<br />
auch für meine Filme.“<br />
Djafaris 3-D-Gestalten sehen nach abgefilmten<br />
Knetfiguren aus, entstehen aber<br />
mit seinem Hauptwerkzeug, dem Computer.<br />
Mit der Software Blender („Ich habe<br />
mir das per Youtube raufgeschafft. Wenn<br />
du das Handbuch liest, schläfst du ja ein.“)<br />
baut er virtuelle Räume, in denen er Kameras<br />
und Licht platzieren und nach seinen<br />
Vorstellungen filmen kann. Dann programmiert<br />
er grafische Elemente und<br />
gestaltet die Oberflächenstruktur der Figuren,<br />
macht sie beispielsweise rauer oder<br />
glatter. Zusätzlich legt er auf die Gesichter
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Djafaris Ideen entstehen mit Kugelschreiber und Skizzenbuch. Unten: Am Computer<br />
werden sie zu Bewegtbildern. Hier ein Entwurf für das Musikvideo „Pamphlets“ von Squid.<br />
handgemalte Oberflächen – so bleibt ein<br />
zeichnerisches Element stets präsent.<br />
Wir sitzen vor dem Atelierhaus am<br />
Kanal in der Sonne. Raman Djafari, die<br />
dunkelblonden Haare zum Dutt hochgebunden,<br />
trinkt Kaffee und erzählt,<br />
wie eine Leidenschaft zu seinem Beruf<br />
wurde. Aufgewachsen in Berlin-Charlottenburg,<br />
trifft er sich schon früh mit<br />
Freunden zum Malen, erstellt bereits im<br />
Kindergarten eine ganze Mappe mit<br />
Pokemon-Motiven. Auf dem Gymnasium<br />
gibt es Lehrer:innen, die es aufgeben,<br />
ihn vom heimlichen Kritzeln unter<br />
dem Pult abzuhalten.<br />
„Das Zeichnen gab mir Sicherheit<br />
und ein starkes Gefühl von Geborgenheit.<br />
Das war eine kleine Welt, in die ich<br />
kriechen konnte. Cartoons, Animes und<br />
Mangas haben mich geprägt, auch<br />
Graffiti. Ich hatte aber immer Schiss,<br />
nachts raus zu gehen und Züge zu<br />
besprühen. Ich war nicht heiß genug<br />
auf den Adrenalinkick.“ Mit 19 Jahren<br />
geht er nach Hamburg und beginnt ein<br />
Illustrations-Studium an der HAW.<br />
Mit Animationen für Videospiele<br />
finanziert er sich sein Studium, es folgen<br />
Editorials, Illustrationen für Magazine.<br />
„Das mache ich nur noch selten“, sagt<br />
Djafari. „Ich brauche zu viel Zeit, um<br />
eine Idee gären zu lassen. Bei Editorials<br />
geht es um eine konkrete Idee, man<br />
muss präzise sein. Ich bin aber nicht<br />
präzise – ich bin diffus; meine Bilder<br />
sind emotional und poetisch. Ich hatte<br />
lange Zeit Angst vorm Scheitern, aber<br />
irgendwann habe ich ein Gefühl für die<br />
Qualität des Zweifelns bekommen.<br />
Mein Hauptmotiv ist Unsicherheit.<br />
Jedes Projekt hat einen unsicheren<br />
Beginn. Ich taste in alle Richtungen, bis<br />
etwas Klick macht.“<br />
An seinem ersten Musikvideo arbeitet<br />
er ein halbes Jahr lang, auch an<br />
Wochenenden. Und bekommt dafür<br />
2000 Euro. „Es ist ein prekäres Berufsfeld“,<br />
meint Djafari. „Bei Animation<br />
werden oft die Preise gedrückt. An einer<br />
Bewerbung, einem Pitch, arbeitest du<br />
eine Woche lang – und wenn du nicht<br />
großes Glück hast, bekommst du dafür<br />
gar nichts. Das ist nicht okay. Es braucht<br />
eigentlich so etwas wie eine Gewerkschaft<br />
der Kreativbranche.“<br />
Raman Djafari ist ein offenherziger<br />
Gesprächspartner, der viel lächelt. Auf<br />
der für bildende Künstler:innen so wichtigen<br />
Plattform Instagram hat er mehr<br />
als 70.000 Follower und zeigt dort ganz<br />
unverblümt, woher seine Ideen stammen.<br />
Für den menschlichen Kometen in<br />
„Cold Heart“ lässt er sich von Kostümen<br />
und Bühnenbildern des Stummfilm-<br />
Pioniers Georges Méliès inspirieren.<br />
Wer heute an Animationsfilme<br />
denkt, hat fast immer Disney oder Pixar<br />
vor Augen. Doch Djafaris Videos haben<br />
nichts von dem auf alle Altersgruppen<br />
zugeschnittenen Hollywood-Glanz von<br />
„Soul“ oder der „Toy Story“-Reihe,<br />
zwei Erzeugnissen der weltbekannten<br />
Animationsstudios.<br />
„Dieser perfekte Style ist nichts für<br />
mich“, so Djafari. „Ich finde es toll,<br />
wenn Leute emotional und ohne Angst<br />
vor Kitsch Kunst machen. Das kann in<br />
die Hose gehen – aber das will ich mich<br />
trauen.“<br />
Djafaris Werke sind detailverliebt,<br />
dunkel und traumartig, MC Escher und<br />
René Magritte lassen sich darin erkennen.<br />
Er selbst nennt den Filmemacher<br />
Andrei Tarkowski und den Musiker<br />
Nick Cave als Inspirationsquelle.<br />
„Ich zweifle an mir, weil ich so<br />
sehr wie mein Vater bin“, heißt es<br />
in dem einminütigen Animationsfilm<br />
„I Want to Be the Ocean“, in dem<br />
Djafaris 3-D-Wesen etwas verloren herumstehen,<br />
in die Kamera blicken und<br />
bekennen, warum sie sich infrage stellen.<br />
Der Film mit den zerknautschten Knetfiguren<br />
vor farbgesättigten Hintergründen<br />
begründet so etwas wie eine Trilogie.<br />
Die englische Rockband Squid<br />
wird auf den Kurzfilm aufmerksam und<br />
beauftragt den Hamburger mit einem<br />
Video für ihren Song „Pamphlets“.<br />
„Eigentlich mag ich keine Rätselspiele“,<br />
sagt Djafari über sein beein druckendes,<br />
achtminütiges Werk, in dem Fliegen,<br />
48
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
blaue Äpfel und eine zum Himmel emporschwebende<br />
Teufels figur vorkommen.<br />
„Ich will Metaphern vermeiden. Aber bei<br />
dem Projekt hat sich das so gefügt. Der<br />
Song hat so einen Druck! Also wollte ich<br />
auch visuell wuchtig arbeiten.“<br />
Auf „Pamphlets“ folgt „Cold<br />
Heart“, Elton Johns erste Nummer-Eins-<br />
Single nach 16 Jahren. Das Video zum<br />
Song hat, Stand Anfang Mai, mehr als<br />
255 Millionen Klicks. „Fast hätte ich an<br />
dem Pitch gar nicht teilgenommen. Ich<br />
dachte: Die fragen bestimmt 150 Leute.<br />
Als ob ich da eine Chance hätte! Ich habe<br />
es dann doch gemacht. Die Vorgaben<br />
waren: Disco, Sommer, Spaß; das war es<br />
eigentlich. Dann haben die noch mit<br />
dem Design gehadert, meine Figuren<br />
waren ihnen ein bisschen zu hässlich.<br />
Aber ich durfte dann einfach mein Ding<br />
machen.“<br />
Djafari hat gut, aber nicht übermäßig<br />
an „Cold Heart“ verdient<br />
(„Es war keine lebensverändernde Summe.<br />
Du hast keine Hunderttausend<br />
auf dem Konto.“), bedauert aber, die<br />
Künstler:innen nicht persönlich gesprochen<br />
zu haben. Doch er weiß: mehr geht<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Raman Djafari,<br />
geboren 1993 in Berlin, ist Filmemacher,<br />
Illustrator und Animationskünstler<br />
mit Atelier in Hamburg-Wilhelmsburg.<br />
Viele seiner Arbeiten veröffentlicht<br />
er auf der Plattform Vimeo:<br />
vimeo.com/ramandjafari<br />
nicht. „Größer als Elton John und Dua<br />
Lipa wird’s nicht werden.“ Das Video<br />
hat ihm neue Aufmerksamkeit verschafft,<br />
beinahe mehr, als ihm lieb ist. Für 2022<br />
musste er einigen potenziellen Auftraggeber:innen<br />
absagen. „Ich hoffe, dass ich<br />
bald mehr Klarheit habe, ,Nein‘ zu sagen.<br />
Ich brauche eine Pause. Es sei denn,<br />
Kendrick Lamar benötigt ein Video für<br />
sein neues Album.“ Raman Djafari lacht,<br />
wenn er an den Rap- Superstar denkt,<br />
und wird dann wieder ernst.<br />
„Ich hätte nie gedacht, dass es so gut<br />
laufen würde. Das ist nicht die Norm.<br />
Die meisten Leute haben nicht so viel<br />
Glück.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
STADTPARK<br />
OPEN AIR<br />
2022<br />
DIGGING FOR NUTS<br />
SINCE 1975<br />
04.06. EROBIQUE<br />
05.06. NIEDECKENS BAP<br />
09.06. BEATSTEAKS<br />
12.06. LÜTT IM PARK<br />
13.06. THE NATIONAL<br />
14.06. GIANNA NANNINI<br />
15.06. KALEO<br />
01.07. THE WAR ON DRUGS<br />
02.07. MELISSA ETHERIDGE<br />
09.07. DANGER DAN<br />
14.07. JESSIE J<br />
21.07. JOE JACKSON<br />
22.07. THE GIPSY KINGS<br />
23.07. MAX MUTZKE<br />
27.07. TOTO<br />
Eine Veranstaltung<br />
von Semmel Concerts<br />
Das Kindermusik<br />
Open Air<br />
spec. guest:<br />
NILS WÜLKER<br />
49<br />
Für das Video<br />
zu ihrem Song<br />
„Cold Heart“<br />
pflanzte Raman<br />
Djafari Cartoons<br />
von Dua Lipa<br />
und Elton John<br />
in seine<br />
Traumwelten.<br />
02.08. HERBIE HANCOCK & BAND<br />
03.08. OMD<br />
04.08. FAT FREDDY‘S DROP<br />
06.08. BEST OF STAND UP SLAM<br />
07.08. DIE GROSSE COMEDY-GALA<br />
13.08. BEST OF POETRY SLAM<br />
15.08. JOSS STONE<br />
16.08. BIFFY CLYRO<br />
18.08. WINCENT WEISS<br />
25.+ 26.08. HELGE SCHNEIDER<br />
31.08. RUSS<br />
01.09. HUBERT VON GOISERN<br />
02.09. 10 JAHRE – DEINE FREUNDE<br />
08.09. GROSSSTADTGEFLÜSTER<br />
11.09. STEFAN GWILDIS<br />
TICKETS: (0 40) 4 13 22 60 \ KJ.DE \ TICKETS@KJ.DE<br />
VERANSTALTER<br />
STADTPARKOPENAIR.DE<br />
KARSTEN<br />
JAHNKE<br />
KONZERTDIREKTION<br />
GMBH<br />
Eine Veranstaltung von FKP Scorpio Konzertproduktionen GmbH<br />
03. + 04.09. AUSVERKAUFT<br />
GEFÖRDERT VON<br />
#stadtparkopenair<br />
MEDIENPARTNER
Nacht über<br />
Kepler 452b<br />
Hafenstraßenkonflikte<br />
als Kurzdokumentation<br />
Kurz und bündig<br />
Das diesjährige Hamburger Kurzfilmfestival widmet sich dem<br />
Thema „Wohnen und Leben“ und bietet dabei cineastische<br />
Impressionen sowie nüchterne Zeitdokumente – eine Auswahl.<br />
Am Hauptbahnhof<br />
eine Rose gekauft<br />
INNdependence<br />
TEXT: FRANK KEIL<br />
FILMSTILS: KONRAD WALDMAN (OBEN), DIE AUGEN SCHLIESSEN, UM BESSER ZU SEHEN (ZWEITE VON OBEN),<br />
AM HAUPTBAHNHOF EINE ROSE GEKAUFT (ZWEITES VON UNTEN), NACHTSCHWÄRMERFILM (UNTEN)<br />
50
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<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
INNdependence:<br />
Trotz Corona öffnet im Sommer 2020<br />
das Mainzer Hotel INNdependence:<br />
Für zwei Monate ziehen hier Wohnungslose<br />
ein. Drei von ihnen gewähren<br />
in der Kurzdoku „INNdependence“<br />
von Michael Schwarz Einblick<br />
in ihr Leben: „36 Jahre war ich auf der<br />
Rolle, weißt du, was das bedeutet?“,<br />
fragt Paul Michael Wagner, der seine<br />
Weißwein-Kartons stets ordentlich<br />
f altet, wenn sie leer sind. „Ich habe niemandem<br />
erzählt, was los ist“, sagt Jasmin<br />
Stock, die Linguistin, die, nach<br />
einer Erkrankung mittellos geworden,<br />
verdeckt obdachlos lebte. Der Flur wird<br />
gesaugt, die Betten werden gemacht,<br />
das Personal ist ausgesprochen zugewandt:<br />
Zwei Welten treffen aufeinander,<br />
für eine kurze Zeit. Die Frage, wie<br />
es mit den dreien weitergeht, bleibt.<br />
Nacht über Kepler 452b:<br />
„Da liegt einer, der bewegt sich nicht“,<br />
sagt die junge Frau am Telefon. Nein,<br />
angefasst hat sie ihn nicht, sie kommt<br />
gerade aus dem Club, entsprechend<br />
spät ist es, tief in der Nacht. Wir schauen<br />
sehr nah auf Matzes Gesicht, der<br />
ihr sagt, dass sie kommen, sobald sie<br />
Zeit dafür haben, er und seine Mitstreiter:innen<br />
vom Kältebus der Berliner<br />
Stadtmission. Ihre Liste ist noch lang.<br />
Die Stadt rauscht, die Großstadtlichter<br />
verschwimmen, der Kleinbus fährt von<br />
Ort zu Ort. Eine erzählt, dass sie nicht<br />
gerne träumt. Ein anderer, dass er trotz<br />
allem aufwachen will, jeden Tag wieder,<br />
im Hellen. „Nacht über Kepler 452b“<br />
hat der Fotograf und Filmregisseur Ben<br />
Voit seine splitterhaften Beobachtungen<br />
genannt, nach einem Exoplaneten,<br />
1400 Lichtjahre von der Erde entfernt.<br />
„Nicht weinen“, sagt Matze zu dem<br />
Mann, der vor ihnen liegt, offenbar<br />
schwer verprügelt. Alles werde gut.<br />
Wenigstens für diese eine Nacht.<br />
Am Hauptbahnhof<br />
eine Rose gekauft:<br />
Der Blutdruck ist 132/77. Die Wellensittiche<br />
wollen nicht fressen. Jürgen hat<br />
sich einer kommunistischen Gruppe angeschlossen.<br />
Alleine spazieren gegangen,<br />
abends Streit, lautet eine nächste Notiz.<br />
Dazu Blicke aus dem Fenster, schlurfende<br />
Schritte, die sich entfernen; Wellen<br />
kräuseln sich auf dem See. „Am Hauptbahnhof<br />
eine Rose gekauft“ der Hamburger<br />
Filmemacherin und Kamerafrau<br />
Julia Küllmer beruht auf den meist wortkargen<br />
Einträgen in den Tagebüchern<br />
ihres Großvaters von 1968 bis 2003.<br />
Entstanden ist der poetische Schwarz-<br />
Weiß-Film während der ersten, harten<br />
Coronamonate, als Küllmer ohne Arbeit<br />
und Einkommen auskommen musste.<br />
Und als andererseits Raum entstand für<br />
eine eigensinnige filmische Meditation<br />
über die Einsamkeit, der wir uns alle<br />
irgendwann mal stellen müssen.<br />
Hafenstraßenkonflikte als<br />
Kurzdokumentation:<br />
Zwei nüchterne Zeitdokumente: „Die<br />
Augen schließen, um besser zu sehen“<br />
geht zurück ins Jahr 1986. Die Hafenstraße<br />
ist besetzt, die Räumung droht.<br />
Eine monotone Off-Stimme erklärt die<br />
Lage: Dort stehen die bösen „Bullen“,<br />
hier warten die aufrechten Kämpfer.<br />
Das hat von heute aus gesehen eine<br />
manchmal fast unfreiwillige Komik.<br />
Schon anders „Bambule in der Hafenstraße“:<br />
die Momentaufnahme einer<br />
Demonstration von Bauwagen-Bewohner:innen<br />
im Jahr 2004 in eben der<br />
Hafenstraße. Damals wollte die Stadt<br />
alle Bauwagenplätze auflösen. Flott geschnitten,<br />
mit Kurzinterviews versehen<br />
und mit Musik der Band „Die Goldenen<br />
Zitronen“ unterlegt, spürt man<br />
gleich den Einfluss der MTV-Ästhetik<br />
jener Jahre. In beiden Fällen wundert<br />
man sich, wie vergangen diese Zeiten<br />
mittlerweile wirken. Noch etwas fällt<br />
beim Schauen auf: Frauen spielten<br />
damals so gut wie keine Rolle. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
„Wohnen und Leben“<br />
beim Kurzfilmfestival:<br />
„INNdependence“ und „Nacht über<br />
Kepler 452b“ laufen in der Sektion LAB/<br />
Programm 1: Mi, 1.6., 19 Uhr, 3001-Kino,<br />
Schanzenstraße 75. Im Anschluss an die<br />
Filme stehen unter anderem die Filmemacher<br />
und Sybille Arendt, Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Öffentlichkeitsarbeit, für einen<br />
Austausch zur Verfügung. Beide Filme<br />
laufen außerdem am So, 5.6., 17 Uhr,<br />
Zeise Kino, Saal 1, Friedensallee 7–9.<br />
„Am Hauptbahnhof eine Rose gekauft“<br />
sowie die Hafenstraßendokus laufen<br />
in der Sektion LAB/Programm 2:<br />
Mittwoch, 1.6., 21.30 Uhr, 3001-Kino;<br />
Sonntag, 5.6., 19 Uhr, Zeise Kino, Saal 1.<br />
Eintritt jeweils 8 Euro/ermäßigt 7 Euro.<br />
Gesamtes Festivalprogramm:<br />
www.festival.shortfilm.com<br />
JUNE 18 — SEPTEMBER 25, 2022<br />
DOCUMENTA<br />
FIFTEEN<br />
Kassel<br />
Hanging out,<br />
telling stories.<br />
www.documenta-fifteen.de
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>Juni</strong>:<br />
subjektiv und<br />
einladend<br />
Fotokunst<br />
Triennale in der ganzen Stadt<br />
„Donyale Lula Silver Dress“, das Foto von Charlotte March, ist<br />
in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu sehen.<br />
Der <strong>Juni</strong> steht ganz im Zeichen der<br />
Fotokunst. Seit 1999 feiert Hamburg<br />
alle drei Jahre die Triennale, die F. C.<br />
Gundlach ins Leben gerufen hat. Die<br />
künstlerische Leiterin 2022 ist Koyo<br />
Kouoh, sie stammt aus Kamerun, hat<br />
Bankwesen und Kulturmanagement<br />
studiert und stellt die Triennale mit<br />
ihrem Kurator:innenteam unter das<br />
Motto „Currency“: Die Macht der<br />
Bilder, die über große Distanz hinweg,<br />
zeitlich sowie räumlich, Kultur und<br />
Politik prägt. In zwölf Museen der<br />
Stadt sind die Hauptausstellungen bis<br />
zum 18.9. zu sehen. Beim Highlight, dem<br />
Festival über Pfingsten, zeigen bei der<br />
„Triennial Expanded“ mehr als 50 Galerien<br />
lokale Satellitenausstellungen. •<br />
Diverse Kunstorte, Deichtorhallen,<br />
Buce rius Kunst Forum u. v. m., 2.–6.6.,<br />
Tages ticket 29 Euro, www.phototriennale.de<br />
52
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<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Auf Tuchfühlung<br />
mit<br />
frischem<br />
Kraut und<br />
weisen alten<br />
Bäumen<br />
Klassik<br />
Orgelmatinée zu Pfingsten<br />
Der Komponist Olivier Messiaen<br />
wird auch der Bach des 20. Jahrhunderts<br />
genannt. Domorganist Eberhard<br />
Lauer spielt dessen Pfingstmesse<br />
„Messe de la Pentecôte“ und den<br />
Himmelfahrtszyklus „L’Ascension“. •<br />
St. Marien-Dom, Am Mariendom 1,<br />
Mo, 6.6., 12 Uhr, Tickets 10/7 Euro,<br />
www.mariendomhamburg.de<br />
FOTOS: CHARLOTTE MARCH, DEICHTORHALLEN HAMBURG/FALCKENBERG<br />
COLLECTION (S. 52), PIXABAY (OBEN), HEIMAT 2050<br />
Kontakt zu Pflanzen<br />
Guten Tag, Herr Baum!<br />
Bäume, Kräuter und Pilze des Waldes verständigen sich untereinander über<br />
Wasserknappheiten, drohende Schädlinge, sie helfen ihren Nachbarn, wo sie können.<br />
Das ist wissenschaftlich erwiesen. Auch wir Menschen können mit ihnen in<br />
Verbindung treten – wenn wir ihre Sprache lernen. Man muss nur ein bisschen<br />
Bereitschaft oder Neugier in sich spüren, sich von der Natur Tipps und Inspirationen<br />
geben zu lassen. Chrissi Breyer ist geübte Pflanzendolmetscherin und bietet<br />
verschiedene Kurse an, die uns ins Grüne führen. Das ist spannend und löst den<br />
einen oder anderen Knoten im Kopf! •<br />
Niendorfer Gehege, Treffpunkt wird nach der Anmeldung bekannt gegeben, Fr, 10. und<br />
24.6., jeweils 17.30 bis 19 Uhr, 30 Euro pro Monat. Wanderungen auch im Sachsenwald.<br />
Weitere Kurse und alle Termine unter www.chrissis-kraeuterwelt.de<br />
Benefizkonzert<br />
Bäume statt Beton<br />
Im vergangenen Herbst haben<br />
Stefan Gwildis und sein Produzent<br />
und Pianist Tobias Neumann ihr<br />
Publikum in der Elbphilhar monie<br />
ziemlich überrascht. Statt großem<br />
Big-Band-Sound nur vier Hände,<br />
ein Klavier und Gwildis unverwechselbare<br />
Soulstimme. Das war ein<br />
echtes Gänsehaut-Erlebnis! Nun<br />
bringen die beiden das Programm<br />
noch mal auf die Bühne, und zwar<br />
im charmanten Brakula – da<br />
kommt Wohnzimmeratmosphäre<br />
auf! Der Konzerterlös geht an die<br />
Bürgerinitiative „Bramfeld 70“,<br />
die sich für den Erhalt eines Waldes<br />
und Biotops nahe der Bramfelder<br />
Chaussee einsetzt. •<br />
Brakula, Bramfelder Chaussee 265,<br />
Fr, 10.6., 20 Uhr, Eintritt 47 Euro,<br />
Weitere Infos: www.brakula.de<br />
Stefan Gwildis<br />
Kinder & Eltern<br />
Last Night of the Stars<br />
Im Planetarium stehen alle Zeichen<br />
auf glänzende Sommerabende!<br />
Ab dem 11.6. steht jeden Abend ein<br />
anderer Star auf der Bühne des Sternensaals:<br />
Rolf Zuckowski, der just 75<br />
wurde, etwa am 15.6. Er liest aus<br />
seiner Autobiografie „Ein bisschen<br />
Mut, ein bisschen Glück“, musiziert<br />
wird auch. Techno, Chill-out und Comedy<br />
gibt’s an anderen Terminen. •<br />
Planetarium Hamburg, Linnering 1,<br />
Mi, 15.6., 20 Uhr, Tickets 25 Euro,<br />
www.planetarium-hamburg.de<br />
Indie-Party<br />
Tanz’ dich happy<br />
Unter dem schönen Motto „Fick Dich<br />
ins Knie, Melancholie!“ sticht die Frau<br />
Hedi in See, an Bord legt Alexis (Indie<br />
Army Now) Indie-Pop-Perlen auf. Und<br />
was macht ihr? Ihr müsst eigentlich<br />
nur tanzen. Ahoi! •<br />
Barkasse Frau Hedi, Bei den Landungsbrücken<br />
10 (Innenkante), Fr, 17.6., 20–24<br />
Uhr, Vvk 14 Euro zzgl. Vvk-Gebühr, AK 16<br />
Euro, ab 22 Uhr 10 Euro, www.frauhedi.de<br />
Lesung<br />
Wolf Haas<br />
Auf einem Wiener Mistplatz (oder<br />
auch Altstoffsammelzentrum) taucht<br />
eine Leiche auf. Klar, dass der Brenner,<br />
Ex-Kommissar und jetzt Mistler<br />
auf eben jenem Müllplatz, ganz fix<br />
tief im Schlamassel steckt. Der Autor<br />
liest selbst, mit Wiener Schmäh. •<br />
Schanzenzelt, im Schanzenpark,<br />
Di, 21.6., 20 Uhr, Eintritt: 23 Euro,<br />
www.schanzenzelt.de<br />
53
Art mit AR<br />
Hallo Heiniverse!<br />
Der Maler Thomas Heinlein lädt in<br />
sein Universum: das Heiniverse. Seine<br />
gleichnamige Pop-up-Ausstellung ist<br />
so bunt wie raumgreifend. Denn seine<br />
Werke sind hybrid, vereinen die virtuelle<br />
und analoge Welt. Mittels eines iPads<br />
– oder dem eigenen Smartphone –<br />
tauchen wir beim Betrachten der Bilder<br />
in seinen Kosmos ein. Thematisch ist<br />
der breit gefächert. Wie ist das, wenn<br />
man selbst stehen bleibt, das Tempo<br />
verweigert, die Welt sich aber immer<br />
weiterdreht? Mit seiner zeitgenössischen<br />
Malerei erzählt Heinlein Geschichten<br />
aus dem urbanen Leben oder aus der<br />
Natur. Immer spielerisch, immer gibt es<br />
etwas zu entdecken. Klar, denn mittels<br />
Augmented Reality stehen Betrachter:innen<br />
quasi mittendrin im Gemälde<br />
und können sich selbst auch in diesem<br />
Kunst mit 3-D-Effekt: Thomas Heinleins buntes Universum<br />
fotografieren. Das ist ein kleines Abenteuer<br />
für die Sinne, das Spaß macht<br />
und neue Perspektiven auf die Malerei<br />
bietet. Wer neugierig ist, wie das Ganze<br />
funktioniert, kann den Künstler übrigens<br />
vor Ort befragen. Heinlein wird<br />
anwesend sein. •<br />
Pop-up-Galerie Heiniverse, Bismarck -<br />
straße 88, Fr–So, 24.–26.6., 11–19 Uhr,<br />
Eintritt frei, www.heinlein-thomas.de<br />
54
FOTOS: THOMAS HEINLEIN (S. 54), KLAUS LEMKE/BERND FIEDLER (OBEN), PRIVAT<br />
Film<br />
Dreckiges Hamburg<br />
Festival<br />
Grenzenlos<br />
Die achte Festivalausgabe von<br />
„Hauptsache frei“ legt in diesem Sommer<br />
ihren Schwerpunkt auf das Thema<br />
Beziehungen. Corona hat uns auf<br />
Abstand gehen lassen, jetzt soll der<br />
Vernetzung Raum gegeben werden –<br />
und zwar zwischen Kunstschaffenden<br />
unterschiedlicher Sparten und der<br />
Stadtgesellschaft. Geschehen soll<br />
dieses mittels zeitgenössischem Tanz,<br />
Theater und Performancekunst, die<br />
die Hamburger Freie Szene auf verschiedenen<br />
Bühnen und an spannenden<br />
Off-Locations in Hamburg präsentieren<br />
wird. Auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist<br />
dabei: Als „Beste Gäste“ besuchen<br />
Hinz&Künztler:innen gemeinsam mit<br />
Theaterleuten ausgewählte Vorstellungen<br />
und diskutieren anschließend<br />
darüber. •<br />
Hauptsache frei. Festival der Darstellenden<br />
Künste Hamburg, div. Spielstätten, Mi–Sa,<br />
22.6.–2.7., www.hauptsachefrei.de<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
2016 feierte das Gemeinschaftsprojekt „Eine Stadt sieht einen Film“ seine Premiere.<br />
In den Hamburger Arthouse- und Programmkinos wurde damals Sebastian<br />
Schippers „Absolute Giganten“ gezeigt. Die Idee dieser Aktion ist so simpel wie<br />
gut: Die teilnehmenden Lichtspielhäuser präsentieren einen ganzen Sonntag lang<br />
einen Hamburger Kultfilm in Anwesenheit des Filmteams. In diesem Jahr ist das<br />
„Rocker“. Aus gutem Grund: Klaus Lemkes Milieufilm feiert 50. Geburtstag! •<br />
Eine Stadt sieht einen Film, in 16 Hamburger Kinos, So, 19.6., 11–21 Uhr,<br />
Vvk in den beteiligten Kinos, www.eine-stadt-sieht-einen-film.de<br />
55<br />
Teenager<br />
Mark lernt<br />
Rocker Gerd<br />
und das Leben<br />
jenseits<br />
der Spießbürgerlichkeit<br />
kennen.<br />
Festival<br />
Kunst satt<br />
Foodsharing, „Die 2 Chefs“, die<br />
Hamburger Tafel, Hinz&<strong>Kunzt</strong> und<br />
freiwillige Kunstschnibbler:innen<br />
eröffnen im Rahmen der Altonale<br />
die Kulturfutter-Küche. Gemeinsam<br />
kochen, verweilen – und beim Futtern<br />
mit Schnack nicht nur das Essen,<br />
sondern auch den kulturellen Diskurs<br />
genießen. Im Open-Air-Kino läuft<br />
„Dear Future Children“, Musik gibt’s<br />
unter anderem von „Duolonchello“<br />
oder „Die Letzte Generation“. •<br />
Festivalzentrum, Park am Platz der Republik,<br />
Altona, Mi–So, 22.–26.6., kein Ticket<br />
erforderlich. Anmeldung fürs Mitmachen:<br />
kulturfutter@altonale.de, www.altonale.de<br />
Über Tipps für Juli freut sich<br />
Annabel Trautwein. Bitte bis zum<br />
10.6. schicken an:<br />
kult@hinzundkunzt.de<br />
Kinofilm des Monats<br />
Filme im<br />
Snackformat<br />
Hat in Zeiten leicht verdaulicher<br />
Serienhäppchen, Youtube-Content<br />
und Handyvideos<br />
der abendfüllende<br />
Spielfilm seine besten Zeiten<br />
hinter sich? Sicher nicht!<br />
Trotzdem hat sich die Aufmerksamkeitsspanne<br />
des Publikums<br />
wahrscheinlich verändert.<br />
Kaum ein Film<br />
kommt heute ohne den Big<br />
Bang in den ersten Minuten<br />
aus, ein ausführlicher Aufbau<br />
der Geschichte, ein filigranes<br />
Einführen der Charaktere<br />
lässt den Filmerfolg flutschen<br />
wie Rollsplitt auf der Curlingbahn.<br />
Also, dem Kurzfilm<br />
gehört die Gunst der Stunde!<br />
Wer die neuesten Kurzfilmtrends<br />
und die Menschen<br />
dahinter einmal aus nächster<br />
Nähe kennenlernen möchte,<br />
der sollte noch bis 6. <strong>Juni</strong> Veranstaltungen<br />
des Kurzfilmfestivals<br />
Hamburg besuchen<br />
(Programm: www.festival.shortfilm.com).<br />
Unter unterschiedlichen<br />
Namen hat sich das No-<br />
Budget-Festival seit 1985 von<br />
einer kleinen Initiative von<br />
und für Filmfans zu einem<br />
auch international beachteten<br />
Branchenfestival gemausert.<br />
Das Motto in diesem<br />
Jahr: „Echoes from the Near<br />
Future“. Es geht um Kultur<br />
und wie diese die Zukunft<br />
maßgeblich gestalten kann.<br />
Neben verschiedenen Wettbewerbsfilmen<br />
laufen Sonderprogramme<br />
unter dem<br />
Titel „Labor der Gegenwart“,<br />
die zusammen mit Gäs ten<br />
und Künstler:innen einen<br />
genaueren Blick auf ausgewählte<br />
Themen lenken. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.
klein<br />
gartenlife<br />
#9<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Beratung von Nabu-<br />
Fachfrau Katharina<br />
Schmidt im Kleingarten<br />
von Benjamin Laufer.<br />
Wildbienen, wie diese<br />
Mauerbiene, werden<br />
es ihnen danken.<br />
Die feine<br />
Frau Wildbiene<br />
Wer im Garten etwas für bedrohte Insekten tun will,<br />
hat es nicht leicht – denn was sich<br />
bienenfreundlich schimpft, ist es oft nicht.<br />
Eigentlich wollte ich in dieser Kolumne<br />
über schnöselige Wildbienen schreiben,<br />
die sich zu fein sind, in meinen Garten<br />
einzuziehen. Das Insektenhotel an meiner<br />
Gartenlaube blieb nämlich lange<br />
leer. Doch bald dämmerte mir, dass<br />
vielleicht nicht die Bienen, sondern der<br />
Gärtner an der Misere schuld sein<br />
könnte. Also habe ich mir eine Expertin<br />
eingeladen, die es wissen muss: Katharina<br />
Schmidt, Referentin für Stadtnatur<br />
beim Nabu.<br />
Ein bisschen Bammel hatte ich ja<br />
vor ihrem Urteil, aber nach einem<br />
Rundgang durch den Garten konnte<br />
ich aufatmen: „Strukturreich“ findet sie<br />
mein Werk und meint damit, dass es<br />
hier für Insekten viel zu holen gibt. Totholz<br />
etwa, Blumenwiese und Kräuterrasen,<br />
eine Benjeshecke und einen Miniteich.<br />
Und auch das Insektenhotel an<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER; FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
meiner Gartenlaube hat inzwischen zumindest<br />
einige Bienen angelockt.<br />
Ich habe also viel richtig gemacht,<br />
aber leider nicht alles. Denn am Insektenhotel<br />
hat Schmidt dann doch etwas<br />
auszusetzen: Einige der ins Holz gebohrten<br />
Löcher sind ausgefranst, sodass<br />
die Bienen daran ihre Flügel verletzen<br />
könnten. Und das Fach mit Holzwolle<br />
ist für sie gar nicht von Nutzen. Sieht<br />
irgendwie nett aus, bringt aber nix.<br />
Im Vergleich zu so manchem<br />
Schrotthotel, das etwa Baumärkte anbieten,<br />
kann es sich aber sehen lassen.<br />
Denn die traurige Wahrheit ist: Um<br />
an das hart erarbeitete Geld von uns<br />
Gärtner:innen zu kommen, wird vieles<br />
als bienenfreundlich angepriesen, was es<br />
gar nicht ist. Aldi zum Beispiel versuchte<br />
kürzlich, den invasiven Kirschlorbeer,<br />
den der Nabu gar als „ökologische Pest“<br />
tituliert, unter diesem Label zu verkaufen.<br />
Deswegen kommen hier die Tipps<br />
von der Fachfrau, wie man wirklich<br />
etwas für die Artenvielfalt tun kann.<br />
Insektenhotels, sagt Katharina<br />
Schmidt, baut man sich am besten<br />
selbst. Anleitungen dafür gibt’s im Netz,<br />
zum Beispiel beim Nabu. Auf unnütze<br />
Bestandteile wie Holzwolle oder Kiefernzapfen<br />
kann man getrost verzichten.<br />
Auch Pflanzen holt man lieber<br />
nicht aus dem Baumarkt, denn die<br />
haben häufig nichtheimische Pflanzen<br />
oder solche mit gefüllten Blüten und<br />
dafür ohne Nektar im Angebot, mit denen<br />
die hiesigen Insekten wenig anfangen<br />
können. Leider gibt es die richtigen<br />
Wildstauden nur in ausgewählten Gärtnereien<br />
– oder im Internet. Ähnlich<br />
sieht es mit Samenmischungen für<br />
Blumenwiesen aus: Nur weil die schön<br />
blühen, haben die bedrohten Wildbienen<br />
davon noch lange nichts. Wenn<br />
nicht mal draufsteht, was in der Mischung<br />
drin ist, besser Finger weg.<br />
Und wenn alles nichts hilft, hilft vielleicht<br />
Zeit: Man muss Geduld haben,<br />
sagt Katharina Schmidt. Die Bienen<br />
müssten auch erst mal den Weg in den<br />
Garten finden. Ich bau ihnen dann mal<br />
ein Schild. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
56
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
Verlobter<br />
Vorrichtung<br />
am Reitstiefel<br />
nachtaktiver<br />
Vogel<br />
Heiz-,<br />
Treibgas<br />
Frau<br />
Adams im<br />
Alten Testament<br />
Persönlichkeitsbild<br />
(engl.)<br />
witziger,<br />
effektvoller<br />
Einfall<br />
Route<br />
Speise<br />
in Gelee<br />
8<br />
2<br />
1<br />
7<br />
2<br />
9<br />
1<br />
2<br />
2<br />
3<br />
6<br />
9<br />
5<br />
heftig<br />
verlaufend<br />
(Krankh.)<br />
boshaft,<br />
hämisch<br />
3<br />
7<br />
9<br />
5<br />
Inselgruppe<br />
im<br />
Pazifik<br />
englisch:<br />
Ladengeschäft<br />
2<br />
9<br />
6<br />
7<br />
4<br />
9<br />
8<br />
2<br />
Heilpflanze<br />
Speisefisch<br />
der<br />
Meere<br />
Stadt am<br />
Kanal<br />
(Frankreich)<br />
5<br />
3<br />
10<br />
4<br />
2<br />
6<br />
3<br />
Soße<br />
zum Eintunken<br />
Singvogel,<br />
sprechen Schwarzdrossel<br />
unbeherrschte<br />
Wut,<br />
Raserei<br />
Hochschulabsolvent<br />
italienischer<br />
Name der<br />
Etsch<br />
Eichhörnchenpelz<br />
Name<br />
Attilas<br />
in der<br />
dt. Sage<br />
süddt.:<br />
Weizenbrötchen<br />
1<br />
AR0909-1219_4sudoku<br />
griechischer<br />
Buchstabe<br />
Lokomotive<br />
bei Jim<br />
Knopf<br />
vielseitig<br />
Insekt,<br />
Zweiflügler<br />
persönliches<br />
Fürwort<br />
Rabenvogel,<br />
Turmkrähe<br />
Mittel gegen<br />
Körpergeruch<br />
(Kurzwort)<br />
umgangssprachl.:<br />
dürftig,<br />
schlecht<br />
Sammlung<br />
altnord.<br />
Dichtungen<br />
Skarabäus<br />
gitterartiges<br />
Gewebe f.<br />
Vorhänge<br />
Teil<br />
eines<br />
Baumes<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 27. <strong>Juni</strong> 2022. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />
drei Jugendbüchern „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ von Kirsten Boie<br />
(Oetinger Verlag).<br />
Das Lösungswort des Mai-Kreuzwort rätsels war: Armbanduhr.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 387 296 541.<br />
6<br />
9<br />
3<br />
5<br />
4<br />
6<br />
8<br />
7<br />
Dotter<br />
8<br />
8<br />
Heiligenbild<br />
der Ostkirche<br />
Kurzmitteilung<br />
(Kurzw.)<br />
9<br />
7<br />
Feldertrag<br />
altgermanische<br />
Waffe<br />
in<br />
Richtung,<br />
nach<br />
(veraltet)<br />
1<br />
10<br />
Stadt<br />
an der<br />
Weißen<br />
Elster<br />
6<br />
12194 – raetselservice.de<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Annette Woywode (abi, CvD, V.i.S.d.P. für Titel und Editorial,<br />
Lebenslinien, Freunde, Intern, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult, Momentaufnahme),<br />
Lukas Gilbert (lg, stellv. CvD; V.i.S.d.P. für Gut&Schön, Stadtgespräch),<br />
Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats), Benjamin Laufer<br />
(bela, V.i.S.d.P. für den Schwerpunkt), Jonas Füllner (jof),<br />
Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />
Anna-Elisa Jacob (aej), Frank Keil (fk), Misha Leuschen (leu),<br />
Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr), Annabel Trautwein (atw)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
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Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />
Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />
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Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
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www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter:innen<br />
unterstützen die Verkäufer:innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 2. Quartal 2022:<br />
55.000 Exemplare<br />
57
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>352</strong>/JUNI 2022<br />
„Ich stehe wieder<br />
auf eigenen Beinen“<br />
Madina, 40, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> vor Netto in Barmbek.<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Madina ist ein Großstadtmensch, und<br />
einst war Hamburg für sie die schönste<br />
Stadt von allen. Sie mochte die vielen<br />
Menschen und ihre Gespräche, alles<br />
hier gefiel ihr besser als in ihrem<br />
Heimatdorf in Tadschikistan. Mal arbeitete<br />
sie in einer Bäckerei, mal in<br />
einem Sonnenstudio, stressig sei es<br />
immer gewesen. Sie hatte wenig<br />
Geld, doch damals noch viele Träume:<br />
Schauspielerin wollte sie werden oder<br />
Musikerin. Mit 22 lernte Madina in einer<br />
Disco auf der Reeperbahn ihren<br />
Mann kennen. „Meine große Liebe“,<br />
sagt sie, immer noch.<br />
Nun ist Madina 40 Jahre alt, doch<br />
Hamburg hat für sie all seine Schönheit<br />
verloren. Ihr Mann wurde suchtkrank,<br />
irgendwann trennte sie sich von ihm.<br />
Sie fand allein keine Wohnung und<br />
lebte auf der Straße, fünf Jahre lang.<br />
Dort begann Madina selbst jeden Tag<br />
zu trinken. „Früher habe ich Hamburg<br />
geliebt, aber hier ist zu viel passiert“,<br />
sagt sie. Wenn sie jetzt noch träumt,<br />
dann von einer anderen Stadt: Sie<br />
würde so gerne nach New York gehen.<br />
Dort wohnen wohl einige ihrer<br />
Verwandten; mit ihrer Familie in der<br />
Heimat hat sie schon seit Jahren keinen<br />
Kontakt mehr. Sie weiß nicht mal, ob<br />
sie noch in Tadschikistan leben. „Das<br />
Dorf vermisse ich nicht, aber meine<br />
Familie fehlt mir sehr“, sagt sie.<br />
Madina sitzt an diesem Nachmittag auf<br />
einer Bank im Grünen, in einem Park<br />
mitten in St. Georg. Über die Lehne<br />
läuft eine kleine grüne Spinne. „Pauk“,<br />
ruft Madina entzückt, weil man Spinnen<br />
so auf Tadschikisch nenne – und<br />
Glück würden sie auch bringen. Madina<br />
sagt, ihr Glück sei, dass sie mittlerweile<br />
in der Wohnung eines Bekannten wohnen<br />
könne. Und auch, dass ihr eine<br />
Freundin von Hinz&<strong>Kunzt</strong> erzählt hat.<br />
Seit zwei Monaten verkauft sie<br />
vor Netto in Barmbek und vor Penny<br />
an der Dehnhaide. Einige Stammkund:innen<br />
hat sie schon: „Alte und<br />
junge, intelligente und freundliche<br />
Menschen, viele fangen ein Gespräch<br />
mit mir an.“ Solche Begegnungen freuen<br />
sie. Zu ihrem Mann hat sie mittlerweile<br />
keinen Kontakt mehr. „Ich stehe<br />
wieder auf eigenen Beinen“, sagt sie.<br />
Von ihren Einnahmen aus dem<br />
Magazinverkauf besorgt Madina sich<br />
Lebensmittel und auch mal eine andere<br />
Kleinigkeit für sich selbst. Zum Beispiel<br />
ihren Taschenspiegel, den fand sie für<br />
einen Euro auf dem Flohmarkt. Eigentlich<br />
schminkt sie sich nicht mehr, ist ihr<br />
zu anstrengend – aber heute, für den<br />
Fototermin mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>, ist das etwas<br />
anderes. Madina stellt sich in die<br />
Sonne von St. Georg, hinter ihr spielen<br />
junge Männer Basketball. Sie trägt eine<br />
tiefsitzende Jeans, ihre Cap hat sie lässig<br />
nach hinten gedreht. Mit einem geübten<br />
Pinselstrich umrandet sie ihre<br />
Augen und trägt etwas Lippenstift auf.<br />
Ein kritischer Blick in den Spiegel, dann<br />
lacht sie. Ob sie die Ausgabe mit ihrem<br />
Foto denn auch irgendwo in New York<br />
bekommen könne? •<br />
annaelisa.jakob@hinzundkunzt.de<br />
Madina und alle anderen<br />
Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />
am Verkaufsausweis.<br />
58
Was Obdachlose<br />
wirklich brauchen,<br />
wissen Obdachlose<br />
am besten!<br />
Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Insiderwissen<br />
Spezial 2022: ab sofort bei den<br />
Hinz&Künztler:innen Ihres Vertrauens.<br />
Neu!
Foto: Katharina Lotter<br />
Das ist<br />
nicht egal!<br />
Gerechtigkeit entsteht nicht, wenn<br />
uns alles gleich ist, sondern indem<br />
wir Unterschiede anerkennen.<br />
Wolf Lotters Essay ist ein Lob dieser<br />
Unterschiede, die unser Leben um<br />
Vielfalt und Freiheit bereichern.<br />
328 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag | € 20,– (D)<br />
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