8 | Lesen Sie mehr unter zukunftindustrie.info FOTO: SHUTTERSTOCK Das Ende der Flächenversiegelung Wie wir Boden zurückgewinnen können
MEDIAPLANET | 9 Die Vorstandsmitglieder der IG Lebenszyklus Bau, Christoph Müller-Thiede (M.O.O.CON) und Dominik Philipp (Dietrich|Untertrifaller), erarbeiten Ideen für eine neue, umsetzbare Bodenordnung Die Parabel von Tolstois Wieviel Erde braucht der Mensch, in der der Bauer Pachom an seiner Besessenheit nach mehr Landbesitz schließlich zugrunde geht, ist nach wie vor relevant – wie die ungleichmäßige Versiegelung von Flächen zeigt. Solange wir uneingeschränkt bauen, laufen wir Gefahr, uns geradezu in Grund und Boden zu versiegeln. Die Arbeitsgruppe Zukunftsfähige Raum- und Quartiersentwicklung der IG Lebenszyklus Bau erarbeitet konkrete Gegenmaßnahmen. Was aber ist Bodenversiegelung? Boden- oder Flächenversiegelung deckt den Boden luft- und wasserdicht ab, wodurch Regenwasser nicht oder nur erschwert versickern kann, was wiederum den Gasaustausch des Bodens mit der Erdatmosphäre hemmt. Nicht nur Gebäude oder Straßen brauchen versiegelten Boden, sondern auch unbebaute Flächen, die teilweise mit Beton, Asphalt, Pflastersteinen oder wassergebundenen Decken befestigt sind. Regenwasser kann so weniger gut eindringen und die Grundwasservorräte auffüllen. Außerdem steigt das Risiko für Überschwemmungen, da bei starken Regenfällen die Kanalisation die Wassermassen nicht fassen kann. Versiegelte Böden können darüber hinaus kein Wasser verdunsten lassen, tragen im Sommer daher nicht zur Kühlung der Luft bei und beeinträchtigen somit die natürliche Bodenfruchtbarkeit. Grund und Boden sind unsere einzigen nicht erneuerbaren Ressourcen Die Lage in <strong>Österreich</strong> ist besonders sensibel, da nur 37 % unserer Landesoberfläche Dauersiedlungsraum und für Landwirtschaft und als Wohnraum nutzbar sind. 18 % davon haben wir für Gebäude und Infrastruktur verbraucht, wovon etwa 40 % versiegelt sind. Es verlangt also dringenden Handlungsbedarf, denn von allen Ressourcen, die uns beim Bauen zur Verfügung stehen, sind Grund und Boden die einzigen nicht erneuerbaren. <strong>Österreich</strong> braucht eine neue Bodenordnung Ein Lösungsansatz ist, politische Entscheidungsträger:innen hinsichtlich der Flächenwidmungsund Bebauungsplanungen in die Pflicht zu nehmen, um eine sofortige Reform aller in <strong>Österreich</strong> gültigen Bauordnungen und Stellplatzverordnungen einzufordern und das seit Jahrzehnten ungelöste Thema einer neuen Bodenordnung umzusetzen. Grund und Boden als Ware und somit als spekulative „commodity“ endlich aus dem Markt zu nehmen ist schon lange eine Forderung. Wirft man einen Blick auf die Preisentwicklung von Bauland, so sieht man, dass sein Wert in den letzten vier Jahren in <strong>Österreich</strong> im Schnitt um 11,5 % pro Jahr gestiegen ist, während die Inflation bis 2021 bei 2,5 % lag. Diese Wertsteigerung führt zu einer hohen Nachfrage österreichischer Grundstücke, was wiederum zu deren Verknappung führt, die schließlich exorbitant hohe Grundstückspreise zur Folge hat. Die IG Lebenszyklus Bau fordert daher, dass es keinen leistungslosen Profit des bloßen Grundeigentums geben darf. Ortskerne beleben, statt neue Flächen erschließen Die Arbeitsgruppe Zukunftsfähige Raum- und Quartiersentwicklung unter der Leitung von Christoph Müller-Thiede und Dominik Philipp setzt die Diskussion sogar noch früher an, nämlich bei der Vermeidung von Neubauten bzw. der drastischen Reduktion des Neubauvolumens sowie der Vermeidung von Neuversiegelung durch die Aktivierung des Leerstands in <strong>Österreich</strong>s Ortskernen. Durch die Leerstandsaktivierung gelingt es nicht nur, keine neuen Flächen zu versiegeln, sondern auch die bereits vorhandene Infrastruktur zu nutzen. Verdoppelt wird dieser positive Effekt durch die gleichzeitige Erhöhung der Dichte von bestehenden Quartieren. Mithilfe der richtigen multifunktionalen Programmierung der Ortskerne, mit den Themen Wohnen, Arbeit, Freizeit, Einkaufen und ärztliche Versorgung, werden lebendige und atmosphärisch hochwertige Umgebungen geschaffen und die Mobilität reduziert. Entsiegeln statt Neuversiegeln Das Ziel ist eine Netto-Neuversiegelung gleich null. Das bedeutet, dass jeder Quadratmeter, der versiegelt wird, an anderer Stelle entsiegelt werden muss. Das ist weder einfach noch günstig, aber der Rückgewinn ist möglich. Für dieses Vorhaben wird es jedoch politische Anreizsysteme oder Handlungsempfehlungen geben müssen. Die Infrastruktur für neu gewidmete Einfamilienhausgebiete (inklusive Straßen, Kanäle, Leitungen etc.) sollte in Zukunft nicht mehr durch die Allgemeinheit getragen werden, sondern durch die Bauwerber:innen selbst. Diese sollten auch einen Mobilitätsbeitrag zahlen, wenn sie Gebäude in Gebieten entwickeln, die vom öffentlichen Nahverkehr mangelhaft erschlossen sind. Die Bürgermeister:innen und Landeshauptleute müssen über Förderungen und Anreizmodelle zur Programmierung multifunktionaler Quartiere und Dörfer nachdenken. So kann einiges möglich werden – aber wir müssen jetzt damit beginnen! FOTO: LEO HAGEN/IG LEBENSZYKLUS BAU Christoph Müller-Thiede Vorstandsmitglied der IG Lebenszyklus Bau FOTO: LEO HAGEN/IG LEBENSZYKLUS BAU Dominik Philipp Vorstandsmitglied der IG Lebenszyklus Bau