flip-Joker_2022-07-8
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8 KULTUR JOKER Theater
Alles bleibt in der Schwebe
Die neue Oper „The Folly“ des scheidenden Generalmusikdirektors Fabrice Bollon wird am Freiburger Theater uraufgeführt
Liegetöne, die von fallenden
Glissandi getrübt werden.
Eine Klangfläche, die Risse
bekommt. „The Folly“, die
neue Oper von Fabrice Bollon,
beginnt mit einer Verunsicherung,
als würde den Beteiligten
der Boden unter den
Füßen weggezogen. Suggestiv
mischt der scheidende Generalmusikdirektor,
der auch
am Dirigentenpult steht, die
dichten Streicherklänge mit
zarter Elektronik. Die Klänge
des Chores erinnern an frühe
mittelalterliche Mehrstimmigkeit.
Wir sind im Zeitalter der
Reformation. Die Kirchenvertreter
stecken im Gegensatz zu
Petrus (sonor: John Carpenter)
in prunkvollen Gewändern.
Gotische Kirchenbögen umsäumen
auf der Drehbühne
eine mächtige Bibliothek (Bühnenbild:
Stefan Heyne).
Fabrice Bollon und Clemens
Bechtel, der auch Regie führt,
hatten die fünfaktige Oper zum
900-jährigen Stadtjubiläum vor
zwei Jahren geschrieben. Im
Mittelpunkt von „The Folly“:
Erasmus von Rotterdam, der
von 1529 bis 1535 in Freiburg
lebte. Michael Borth verleiht
dem Humanisten viel Kantabilität
und entspannte Tiefe.
Dieser Erasmus ist ein Grübler,
der sich über die Polarisie-
rung der Gesellschaft den Kopf
zerbricht und sich bewusst auf
keine Seite schlägt. Papst Hadrian
(mit mächtigem Bass:
Jin Seok Lee) möchte ihn für
sich gewinnen, Martin Luther
(präsent: Roberto Gionfriddo)
ebenfalls. Und auch Erasmus’
Freund Ulrich von Hutten (Inga
Schäfer) wird von ihm enttäuscht,
weil er keine Position
bezieht. Es wird überhaupt viel
palavert in dieser Oper. Aus
historischen Quellen hat Clemens
Bechtel ein Libretto aus
fünf verschiedenen Sprachen
(lateinisch, englisch, deutsch,
holländisch, baseldütsch) zusammengestellt,
das eine enorme
Textfülle beinhaltet. Die
Mehrsprachigkeit, die durch
den traditionell gehaltenen
Operngesang kaum hörend
verstanden werden kann, sorgt
eher für Verunklarung als für
die beabsichtigte Charakterisierung
der Figuren. Besonders
das Baseldütsch von Erasmus’
resoluter Haushälterin Margarethe
Büsslin (schön dominant:
Anja Jung) verliert an Witz
durch die gehobene musikalische
Sprache. Der textüberladene
Plot wirkt konstruiert. Es
fehlt an Theatralik.
Zumindest musikalisch gelingt
es dem Komponisten
und Dirigenten Fabrice Bollon,
einen Erzählstrom zu erzeugen.
Spannend, wie er im
Orchester akustischen und
elektronischen Klang mischt.
Avantgarde interessiert den
Franzosen nicht – seine eklektizistische
Musiksprache kennt
keine Tabus. Originell ist sie
trotzdem, weil sie Melodien
besonders harmonisiert und
mit delikaten Klangfarben arbeitet.
Im vierten Akt wechselt
zum großen Auftritt der Torheit
(The Folly) Bollons Stil.
Die allegorische Figur, der Zvi
Emanuel-Marial mit seinem
beweglichen Altus und pinkfarbenem
Gewand eine tuntige
Note gibt (Kostüme: Tanja
Liebermann), ist von Erasmus’
Buch „Lob der Torheit“ (1509)
inspiriert. Unterstützt vom
Beat eines E-Drumsets, von
Keyboard, Saxofon, E-Cello
und E-Geige hat die Torheit mit
ihrem durchgeknallten Ensemble
(schön schräg: Karin Bock,
Yeonjo Choi, Bonnie Frauenthal,
José Gonzalez, Charis
Peden, Melissa Serluco) einen
skurrilen Musicalauftritt. „Es
sind die Clowns und Idioten,
die eure Stimmen bekommen“,
singt die Torheit – und plötzlich
fühlt man sich an die unmittelbare
Gegenwart erinnert. Im
letzten Akt ist der Spuk wieder
vorbei und Erasmus möchte
nach Freiburg, was seine Haushälterin
mit einem höhnischen
Lachen quittiert. Die Anfangsklänge
kehren zurück – alles
bleibt in der Schwebe.
Weitere Vorstellungen:
8./16./22. Juli 2022. www.theater.freiburg.de
Georg Rudiger
Michael Borth
Foto: Britt Schilling
Wenn das Scheitern überfordert
Schauspielschüler*innen zeigen im E-Werk das 2007 uraufgeführte Stück „Lieblingsmenschen“ der Bühnenautorin Laura de Weck
Girls like that
Von Evan Placey ⁄⁄ 14 +
9. – 16. Juli 2022
ZUM
LETZTEN
MAL
Infos: www.marienbad.org, 0761 31470
Ein Podest auf leerer, schwarzer
Bühne, darauf zwei junge
Frauen, die unterschiedlicher
kaum sein könnten: Die hippe
Schauspielschülerin Jule post
für Selfies, die brave Studentin
Anna büffelt Philosophie. Als
sie um ein Wiedererkennen
nicht herum kommen, eiern
sie mit viel Situationskomik
durch einen Schlagabtausch
gelangweilter Hilflosigkeit
– voll egal waren sie sich ja
früher schon. Das hat in seiner
Banalität viel Wiedererkennungswert,
in ihrem ebenso
reduzierten wie pointierten Dialogpingpong
lauert das Gift
der Vorurteile. Immerhin kann
die langweilige Büchermaus
Anna punkten, weil sie schon
seit sechs Jahren mit Phillip
zusammen ist. „Wir lieben uns
irgendwie…“, stakst sie herum.
„Macht´s Spaß?“, fragt Jule
sichtlich beeindruckt im seichten
Partytalk-Reflex.
„Lieblingsmenschen“, so der
Titel des 2007 uraufgeführten
und für den Mülheimer Dramatikerpreis
nominierten Debüts
der 1981 in Zürich geborenen
Bühnenautorin, Regisseurin
und Schauspielerin Laura
de Weck. Jetzt ist das rund
achtzigminütige Stück unter
der Regie von Schauspielschul-Leiter
Markus Schlüter
auf der Experimentalbühne
im E-Werk zu sehen. - Fünf
junge Menschen auf der Suche
nach Sinn, Erfolg und Liebe
– unter die Lupe genommen
und seziert in einem schnellgeschnittenen
Szenenreigen,
der zunehmend an Bitterkeit
und Tragik gewinnt und eine
große Verlorenheit offenbart .
Das ist toller Stoff für die
Schauspielschüler*innen, in
dem es Risse und Abgründe
auszuloten gilt. Am Ende stehen
ihre Figuren vor einem
Scherbenhaufen: Einer ist tot,
der andere verrückt geworden
und die Dritte flüchtet ans
Meer…
Es beginnt als Satire mit witzig-entlarvender
Alltagskonversation:
In unterschiedlichen
Konstellationen begegnen sich
Jule (Magdalena Herzberg),
Lili (Franziska Clementi),
Darius (Stefan Kosakiewicz-
Dorer), Anna (Elisa Helferich)
und Sven (Jan F. Saure),
machen Party, baggern, flirten
und vögeln herum, lassen
sich gegenseitig auflaufen und
verletzen einander. Alles easy,
alles super… Schön sei nur,
was wahr ist, referiert Anna
anfangs über ihr Diplom-Sujet
Karl Rosenkranz. „Und wahr
ist es aber nur dann, wenn man
ihm die Gefahr der Vernichtung
ansieht, verstehst du?“ –
Nee, Jule ist das zu hoch und
auch Anna, die wenig später
mit Phillip per SMS Schluss
macht, ist von der Möglichkeit
des Scheiterns völlig überfordert.
Passieren tut es trotzdem.
Katalysator ist ausgerechnet
der coole Darius, der durch
die Jura-Prüfung rasselt, sich
mit Karacho aus jenem behüteten
Spiel des privilegierten
Studentenlebens katapultiert.
Während sein energiegeladener
Kumpel Sven sich pausenlos
um Kopf und Kragen
quatscht, um Jule oder Lili ins
Bett zu kriegen, knallt Darius
jetzt seine passiv-aggressiven
Statements zwischen die lahmen
Freundlichkeiten. Doch
the Show must go on: Immer
wieder stehen die fünf im Handylicht
am dunklen Bühnenrand
und tauschen Textnachrichten.
Viel locker-flockiger
Jugend-Slang und wenig Aufrichtigkeit.
Der Spannungsbogen hängt
dann auch im Mittelteil: Man
kriegt das Kleeblatt etwas über
in seinem blinden Alltagsaktionismus,
sieht überdeutlich
die Bruchstellen, Lügen und
Gefahren. Überraschend bleibt
dagegen das scheinbare Mauerblümchen
Anna: Warum
sie Schluss mit ihrem Freund
macht? Da bleibt sie sprachlosvage…
Interessantes Stück,
tolle Schauspielleistung, dazu
sehr coole Elektro-Musik von
Hannah Schwegler.
Weitere Aufführungen:
1./2./14./16./!7. Juli Experimentalbühne,
E-Werk. 3. Juli ArTik
Freiburg, 15. Juli im Rahmen
des Notstrom-Festivals auf
dem Parkplatz E-Werk.
Marion Klötzer