Baumeister 8/2022
Besser groß? Bauen mit Systemen
Besser groß? Bauen mit Systemen
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B8<br />
B A U<br />
August 22<br />
119. JAHRGANG<br />
Das Architektur-<br />
Magazin<br />
MEISTER<br />
4 194673 016508<br />
08<br />
D 16,50 €<br />
A,L 19 €<br />
I 19,90 €<br />
CH 2 4 S F R<br />
Bauen mit Systemen<br />
Besser<br />
groß<br />
?
B8<br />
Editorial<br />
COVERFOTO: HENDRIK LIETMANN/OSTKREUZ<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
„wir müssen mehr Wohnungen bauen!“ Das<br />
ist unter Politikerinnen und Politikern offenbar<br />
Mehrheitsmeinung. Dieses Ziel hat sich<br />
die gar nicht mehr so neue Bundesregierung<br />
auf die Fahnen und groß in den Koalitionsvertrag<br />
geschrieben. „Wir dürfen kaum noch<br />
oder gar nicht mehr bauen“, sagen Klimaforscher<br />
und Umweltaktivisten mit Verweis<br />
auf die ungeheuren Mengen an Energie, die<br />
dabei verbraucht werden. Fest steht: Wenn<br />
die Antwort auf den fehlenden Wohnraum in<br />
den Metropolen, zumal bezahlbaren, nur<br />
Neubau sein kann, dann werden kleine<br />
Wohn- oder gar Einfamilienhäuser keine Option<br />
sein. Es muss in großen Formaten geplant<br />
und gebaut werden. Und es darf dabei<br />
nur so wenig Energie wie möglich aufgewendet<br />
werden. Das geht, indem man nachhaltige<br />
Materialien verwendet und indem<br />
man so effizient wie möglich baut. Industrielle<br />
Bauweisen könnten dabei zukünftig<br />
eine Schlüsselposition einnehmen.<br />
Industrielles Bauen? Da stehen vielen sofort<br />
die Bilder von Großsiedlungen in Ost wie West<br />
vor Augen. In Westdeutschland waren diese<br />
Quartiere Inbegriff für soziale Brennpunkte –<br />
und sind es vielfach bis heute. Inzwischen<br />
konnte durch Quartiersmanagement viel<br />
erreicht werden. Dennoch – ob Chorweiler,<br />
Neuperlach, Gropiusstadt und Märkisches<br />
Viertel, es sind Adressen, denen nach wie<br />
vor ein Stigma anhaftet. Können neue großmaßstäbliche<br />
Wohnbauten dem Schicksal<br />
ihrer Vorgänger aus den Sechzigerund<br />
Siebzigerjahren entgehen? Oder haben<br />
wir in 25 Jahren einen neuen Pruitt-Igoe-<br />
Moment?<br />
Wir haben uns für dieses Heft unterschiedliche<br />
Konzepte für Wohnbau in größeren<br />
Maßstäben angeschaut, haben uns mit Experten<br />
über Technologien und Strategien<br />
unterhalten, schauen auf Projekte und Erfahrungen<br />
in unseren Nachbarländern Frankreich,<br />
Österreich und den Niederlanden. Ob<br />
wir dann zukünftig in Form großmaßstäblichen<br />
Wohnungsbaus weiteren Wohnraum<br />
schaffen wollen und in welchem Umfang –<br />
diese Diskussion müssen wir in den kommenden<br />
Jahren intensiv führen.<br />
Fabian Peters<br />
f.peters@georg-media.de<br />
@baumeister_architekturmagazin
Ideen<br />
Fragen<br />
Lösungen<br />
5<br />
22<br />
Wohnblock<br />
und Wohnhochhaus<br />
in Amsterdam<br />
44<br />
Hofhaus<br />
in Bordeaux<br />
56<br />
Ausbauhaus<br />
in Berlin<br />
68<br />
Stadthaus<br />
in Wien<br />
78<br />
Wie wandelt<br />
sich das<br />
Wohnen in<br />
der HafenCity<br />
Hamburg?<br />
84<br />
Salone del<br />
Mobile <strong>2022</strong> –<br />
jetzt erst recht?<br />
92<br />
Branchenfeature:<br />
Serielle<br />
Sanierung –<br />
die effektivere<br />
Lösung?<br />
98<br />
Modulbau<br />
106<br />
Licht<br />
M E H R<br />
Z U M<br />
RUBRIKEN<br />
T H E M A<br />
T E<br />
I<br />
.<br />
W E B S<br />
BAU<br />
MEISTER.<br />
DE<br />
U N S E R E R<br />
A U F<br />
I E<br />
S<br />
L E S E N<br />
Jetzt online – die neue <strong>Baumeister</strong>-Themenseite Ziegel:<br />
baumeister.de/theme/ziegel<br />
42<br />
SONDERFÜHRUNG<br />
54<br />
UNTERWEGS<br />
66<br />
KLEINE WERKE<br />
104<br />
REFERENZ<br />
113<br />
IMPRESSUM + VORSCHAU<br />
114<br />
KOLUMNE
12 Einführung<br />
„ Wir haben<br />
keine<br />
Wohnungsnot<br />
in<br />
Deutschland“<br />
Wie schaffen wir Wohnraum in großem<br />
Umfang, ohne dass trostlose Wohnblocks<br />
oder neue soziale Brennpunkte<br />
entstehen? Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender<br />
der Bundesstiftung Baukultur,<br />
sieht da nicht nur die Architekten,<br />
sondern auch die Immobilienentwickler<br />
und Nutzer in der Pflicht. Im Interview<br />
erläutert er, warum großmaßstäblicher<br />
Neubau seines Erachtens nicht<br />
die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen<br />
sein kann.<br />
Interview Fabian Peters
13<br />
BAUMEISTER: Am 9. Juni dieses Jahres hielt die<br />
Bundesstiftung Baukultur eine Veranstaltung zur<br />
„neuen Verantwortung der Immobilienwirtschaft“<br />
im Festpavillon zum 500-jährigen Jubiläum der<br />
Fuggerei in Augsburg ab. Wohl kein zufälliger Ort?<br />
REINER NAGEL: Wir wollten bei der Veranstaltung<br />
auf einen wichtigen Umstand aufmerksam machen:<br />
Architekten und Ingenieure sind durch ihre<br />
Berufsordnungen beziehungsweise ihre Kammergesetze<br />
verpflichtet, ihr Können und Wissen der<br />
Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Das ist ein<br />
wenig vergleichbar mit dem hippokratischen Eid<br />
bei Ärzten. Doch für die wesentlichen Entscheider<br />
im Bereich von Bauen und Wohnen, nämlich die<br />
Akteure in der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft,<br />
fehlt eine solche Selbstverpflichtung. Die<br />
haben sich vielleicht auferlegt, ehrbare Kaufleute<br />
zu sein, aber nicht, als Bauherren gesellschaftliche<br />
Verantwortung zu übernehmen. Mit dem Kodex<br />
Baukultur haben wir eine solche Selbstverpflichtung<br />
zu gesellschaftlicher Verantwortung formuliert.<br />
Im Kern geht es in dem Kodex darum, Verantwortung<br />
für kommende Generationen zu übernehmen.<br />
Und die übernehmen wir nicht, indem wir den<br />
Wohnungsbau unter Renditegesichtspunkten sehen,<br />
sondern ihn unter Qualitätsaspekten diskutieren.<br />
B: Warum sollten gerade die Immobilienentwickler<br />
ins Boot geholt werden?<br />
RN: Etwa ein Drittel des Immobilienmarkts wird<br />
durch Immobilienentwickler und Bauträger bedient.<br />
Und für diese Gruppe zählt vor allen Dingen<br />
die Anfangsrendite. Wir reden hier von mehr als<br />
zehn Prozent Entwicklerrenditen, die mit dem Verkauf<br />
erzielt werden sollen. Das bedeutet natürlich<br />
umgekehrt, dass die Kosten, die später über<br />
den Lebenszyklus des Gebäudes anfallen, für die<br />
Entwickler nachrangig sind. Sie verdienen am<br />
meisten, wenn sie so preiswert wie möglich bauen.<br />
B: Welches Interesse sollte dann aber ein Entwickler<br />
haben, sich freiwillig den Regeln des Kodexes<br />
zu unterwerfen?<br />
RN: Wir hören derzeit von den Unternehmen, die<br />
sich dem Kodex Baukultur bereits verpflichtet haben<br />
– das sind inzwischen fast 30 –, dass sie von<br />
einer kommenden Marktbereinigung in der Branche<br />
ausgehen. Diejenigen Entwickler, die nur Projekte<br />
aus der Strangpresse produzieren, werden<br />
dann merken, dass ihre Strategie nicht mehr funktioniert.<br />
Einerseits weil es für diese Immobilien keinen<br />
Absatzmarkt mehr geben wird, andererseits<br />
weil sie keine Handwerker mehr zu Niedrigpreis-<br />
Konditionen finden werden und drittens weil die<br />
Rekrutierungsstärke für gute Mitarbeitende sich<br />
zunehmend auch an Sinnfragen festmacht und sie<br />
keine Leute mehr kriegen.<br />
B: Was steckt hinter dem Kodex Baukultur?<br />
RN: Der Kodex fußt auf der Arbeit der Bundesstiftung<br />
und der Davos-Erklärung zur Baukultur. 2018 wurde<br />
am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos die<br />
„Davos Declaration Towards a high Quality Baukultur“<br />
verabschiedet. Darauf aufbauend, hat das<br />
Schweizer Bundesamt für Kultur ein „Davos Quality<br />
System“ mit einem Redaktionsteam erarbeitet. Es<br />
definiert acht Qualitätskriterien, die sich mithilfe<br />
eines Bewertungsbogens überprüfen lassen, von<br />
Funktionalität bis Schönheit. Da werden die Lücken<br />
zwischen Anspruch und Wirklichkeit rasch aufgedeckt.<br />
Wir haben vor einiger Zeit die Immobilienwirtschaft<br />
nach den Zielen des Kodexes befragt. Es<br />
zeigte sich, dass 95 Prozent der Unternehmen zwar<br />
diese Ziele für relevant halten, aber weniger als die<br />
Hälfte sie bereits berücksichtigen.<br />
B: Offenbar hat Jakob Fugger viele dieser Qualitätskriterien<br />
erfüllt, als er vor 500 Jahren die Fuggerei<br />
bauen ließ.<br />
RN: Genau. Jakob Fugger war Bauherr, und es ging<br />
ihm um das Gemeinwohl. Er hat die erste Sozialsiedlung<br />
der Welt explizit als Beispiel für andere<br />
geschaffen. Aber diesem Beispiel sind nur wenige<br />
gefolgt. Und in dieser Radikalität wie in Augsburg<br />
niemand. Es fehlt an sozialverpflichtetem Wohnungsbau.<br />
Wo sind heute die Jakob Fuggers, die<br />
für Bedürftige Wohnungen bauen? In hoher Qualität<br />
und mit solch einer städtebaulich-architektonischen<br />
Schönheit, dass sich die Bewohner mit<br />
ihnen in hohem Maße identifizieren? In der Fuggerei<br />
gibt es ja praktisch keinerlei Vandalismus. Solche<br />
Vorbilder müssen wir wieder diskutieren.<br />
B: Warum gelingt es uns heute kaum noch, bezahlbaren<br />
Wohnbau mit einem solchen Aneignungspotenzial<br />
zu schaffen?<br />
RN: Weil wir den Wohnungsbau dominant unter<br />
Herstellungsgesichtspunkten betrachten, unter<br />
Aspekten wie Kosten, Bauflächenverfügbarkeit,<br />
Ressourcenverbrauch oder Vorfabrikation, und<br />
dabei die Fragen nach Nutzungs-, Eigentums- und<br />
Betriebsformen vernachlässigen. Dabei könnte es<br />
für mich gern weniger um Miete oder Eigentum als<br />
vielmehr um Besitz gehen. Eigentümer kann man<br />
auch von leerstehendem Wohnraum sein – häufig<br />
ist das sogar als Geldanlage lukrativer. Zukunftsweisende<br />
Modelle müssen auf Besitz zielen – etwa<br />
ein genossenschaftliches Dauerwohnrecht, Eigentum<br />
im neuen Erbbaurecht oder ein an der Augsburger<br />
Fuggerei orientiertes kuratorisches System,<br />
das Bedürftigen hilft. All das sind Modelle, die<br />
dämpfend auf die Grundstücks- und Immobilienpreisentwicklung<br />
wirken und dadurch Spielräume<br />
schaffen – für gestalterische Qualität, aber auch<br />
gemeinschaftliche Identität. Denn wenn ich das<br />
WEITER
18 Einführung<br />
„ Das Ausloten<br />
von Grenzen<br />
ist wichtig,<br />
um systematisierte<br />
Bauweisen<br />
voranzubringen“<br />
Jutta Albus, Junior-Professorin für<br />
Ressourceneffizientes Bauen an der<br />
TU Dortmund, hat mit ihren Studierenden<br />
ein Seminar zum Thema Modulbau<br />
durchgeführt. Aufgabe war ein<br />
mehrstöckiges Wohnhaus vom Entwurfskonzept<br />
bis zur Ausführungsreife.<br />
Ein Gespräch mit Jutta Albus und<br />
Michael Lauer vom Modulbauer Alho,<br />
der das Projekt unterstützt hat<br />
Interview Fabian Peters
19<br />
BAUMEISTER: Frau Albus, wie sind Sie auf das Thema<br />
Modulbau gestoßen?<br />
JUTTA ALBUS: Während meiner Zeit an der Universität<br />
Stuttgart war es Stefan Behling, Partner bei<br />
Foster + Partners, der mein Interesse für nachhaltiges<br />
Bauen weckte. Damals bin ich im Zusammenhang<br />
mit Plus-Energiehäusern auch mit dem<br />
Thema Fertighaus in Kontakt gekommen. Allerdings<br />
konnte ich mit den typischen Einfamilien-<br />
Fertighäusern weder ästhetisch noch konzeptionell<br />
etwas anfangen. Ich habe dann immer wieder<br />
Fertighaus-Produzenten gefragt: Warum bietet Ihr<br />
nicht auch Mehrfamilienhäuser an? Doch Resonanz<br />
habe ich damit nicht erzielt. Irgendwann<br />
habe ich schließlich angefangen, das Thema Modulbau<br />
und Vorfabrikation mit meinen Studierenden<br />
anzugehen. Auch um Vorurteile abzubauen.<br />
Denn trotz vieler Vorteile dieser Bauweise sagen<br />
Architektinnen und Architekten viel zu schnell: Für<br />
mich funktioniert das nicht.<br />
B: Woran liegt die Skepsis vieler Architekten gegenüber<br />
Modulbau und seriellem Bauen?<br />
JA: Das liegt sicherlich darin begründet, dass in<br />
dieser Bauart ausgeführte Projekte oft den architektonisch-ästhetischen<br />
Ansprüchen vieler Planenden<br />
nicht genügen. Allerdings hat inzwischen<br />
eine Reihe namhafter Architekturbüros, etwa Sauerbruch<br />
Hutton oder Werner Sobek, bewiesen,<br />
dass mit der Modulbauweise auch anspruchsvolle<br />
Architektur gebaut werden kann. Uns ging es darum,<br />
mit unseren Studierenden zu erforschen, wie<br />
man einen Systembau in eine Architektursprache<br />
übersetzen kann, die nicht nach „aufeinandergestapelten<br />
Kisten“ aussieht und die sowohl Planerinnen<br />
wie Nutzer überzeugt. Das ist nämlich dringend<br />
notwendig, denn unsere Baustellenlogistik<br />
ist heute zumeist ineffizient – und das bedeutet<br />
gleichzeitig klimaschädlich, weil Ressourcen nicht<br />
optimal ausgenutzt werden.<br />
B: Warum hat sich die industrielle Produktionsweise<br />
beim Bauen nie durchsetzen können?<br />
MICHAEL LAUER: In den 23 Jahren, die ich im Bereich<br />
des industriellen Bauens gearbeitet habe,<br />
konnte ich eine deutliche Verbesserung des Images<br />
dieser Bauweise beobachten – auch wenn wir hier<br />
immer noch von einem Nischenprodukt sprechen.<br />
Gerade zu Beginn meiner Tätigkeit hingen uns<br />
noch die unrühmlichen Beispiele aus den Siebziger-<br />
und Achtzigerjahren an. Immer waren wir<br />
mit den Bedenken konfrontiert: Entsteht hier vielleicht<br />
ein Plattenbau 2.0? Und natürlich fehlte es<br />
lange Zeit an Positivbeispielen. Das ändert sich nun<br />
glücklicherweise langsam. Schließlich spricht man<br />
überall von Industrie 4.0, nur das Baugewerbe tritt<br />
auf der Stelle – mit all den Unwägbarkeiten, die wir<br />
auf der Baustelle haben. Man denke etwa an die<br />
Witterungsabhängigkeit und die teilweise unkoordinierten<br />
Abläufe. Inzwischen sieht man aber zunehmend<br />
die Vorteile der industriellen Fertigung.<br />
JA: Einerseits tun sich viele Architekten mit industriellen<br />
Bauweisen schwer und beklagen, dass die<br />
traditionelle Handwerkskunst droht, verloren zugehen.<br />
Andererseits bedienen sich Architekten<br />
und Handwerker natürlich selbst ununterbrochen<br />
industrieller Erzeugnisse beim Bauen. Meines Erachtens<br />
wollen sich viele Architektinnen und Architekten<br />
mit dem Thema schlicht nicht auseinandersetzen.<br />
Baukunst ist meines Erachtens nicht abhängig<br />
von der Bauweise.<br />
B: Sie haben an Ihrer Hochschule, der TU Dortmund,<br />
mit großem Erfolg ein Seminar zum Thema „Modulares<br />
Bauen“ veranstaltet. Dabei diente die Modulbauweise<br />
der Firma Alho als Grundlage für die Studierendenentwürfe.<br />
Was waren Ihre Erkenntnisse?<br />
JA: Unsere Studierenden sind an das Thema sehr<br />
unvoreingenommen herangegangen. Das Gute<br />
war, dass die Veranstaltung über zwei Semester<br />
lief: Im ersten Semester haben wir die Studierenden<br />
gepusht, kreativ mit der Aufgabe umzugehen.<br />
Zu schauen, was man aus dieser Konstruktionsweise<br />
konzeptionell herausholen kann. Im zweiten<br />
Semester sollte das eigene Konzept zur Konstruktionsreife<br />
weiterentwickelt werden. Dabei hat sich<br />
bei den Entwürfen natürlich noch einiges geändert.<br />
Aber vieles war auch machbar. Dieses Ausloten<br />
von Grenzen ist enorm wichtig, um systematisierte<br />
Bauweisen, wie etwa das Bauen mit dreidimensionalen<br />
Raumzellen, voranzubringen.<br />
ML: Wir haben die Lehrveranstaltung dadurch unterstützt,<br />
dass wir einen kleinen Wettbewerb mit<br />
einem Preisgeld für die Seminarteilnehmer ausgelobt<br />
haben. Natürlich haben wir den Studierenden<br />
erklärt, wie unser Modulraster funktioniert. Das<br />
Stahlskelett, mit dem wir arbeiten, hat den Vorteil,<br />
dass man große geometrische Einheiten mit<br />
Spannweiten bis zu 20 Metern herstellen kann.<br />
Dennoch war ich ein wenig skeptisch, als es im<br />
zweiten Teil des Seminars an die Ausführungsplanung<br />
ging, denn wir wissen um die Komplexität<br />
dieser Aufgabe. Aber wir waren wirklich alle überrascht<br />
von der Qualität der Ergebnisse.<br />
B: Wie lautete die Aufgabenstellung?<br />
ML: Die Studierenden sollten ein mehrstöckiges<br />
Wohnhaus entwerfen. Dafür haben wir uns ein Baufenster<br />
aus dem Bebauungsplan des ehemaligen<br />
Flughafens Berlin-Tegel ausgesucht. Die Vorgaben<br />
für den Block lauteten hier: eine vier- bis fünfgeschossige<br />
Bebauungsstruktur mit Innenhof, deren<br />
größter Anteil dem Wohnen und im Weiteren einer<br />
Mischnutzung im Erdgeschoss zugewiesen wurde.<br />
WEITER
22<br />
Ideen<br />
Balkone mit IJsselmeerblick. Diagonalen prägen die Gestalt<br />
des „Sluishuis“ von Barcode Architects und BIG in Amsterdam.
23<br />
Text:<br />
Fabian<br />
Peters<br />
Tor zum<br />
IJsselmeer<br />
1/3<br />
Fotos:<br />
Ossip van<br />
Duivenbode<br />
Architekten:<br />
Barcode/BIG<br />
BIG und Barcode<br />
Architects haben den<br />
bereits mit Spannung<br />
erwarteten Wohnkomplex<br />
„Sluishuis“ in<br />
Amsterdam fertiggestellt.<br />
Das Ergebnis<br />
hält mit den spektakulären<br />
Renderings<br />
Schritt. Ein gewaltiges<br />
Tor öffnet den Wohnblock<br />
zum IJsselmeer,<br />
Bootsanlegesteg<br />
im Innenhof inklusive.
24<br />
Dirk Peters, Partner des Rotterdamer Architekturbüros<br />
Barcode, brauchte nicht länger als ein Telefongespräch,<br />
um BIG-Gründer Bjarke Ingels zu<br />
überzeugen, gemeinsam am Wettbewerb für das<br />
heutige „Sluishuis“ teilzunehmen. Beide Architekten<br />
haben früher bei OMA gearbeitet, wenn auch<br />
nicht gleichzeitig. „Mit diesem gemeinsamen Hintergrund<br />
fühlte sich die Zusammenarbeit immer<br />
wie ein sehr fließender Prozess an, in dem sich beide<br />
Büros gegenseitig stärken“, erinnert sich Peters.<br />
Das ausgeschriebene Projekt besaß einen ganz<br />
besonderen Reiz: Sein Bauplatz lag im Wasser vor<br />
der künstlichen Insel Steigereiland im neuen Stadtteil<br />
IJburg, der sich etwa fünf Kilometer östlich der<br />
Amsterdamer Innenstadt im Buiten-IJ befindet. Ein<br />
zehnköpfiges Team, das je zur Hälfte aus Mitarbeitern<br />
von BIG und Barcode bestand, arbeitete einen<br />
Wettbewerbsentwurf aus – und war siegreich. Ende<br />
Juni <strong>2022</strong> wurde das Sluishuis nach rund sechsjähriger<br />
Planungs- und Bauzeit fertiggestellt und von<br />
seinen ersten Bewohnern bezogen.<br />
Mit seinen elf Stockwerken besitzt der Bau eine unübersehbare<br />
Präsenz – sichtbar ist er sowohl von<br />
der nahegelegenen Amsterdamer Ringautobahn<br />
als auch von der Hauptstraße, die die drei künstlichen<br />
Inseln von IJburg erschließt. Das Sluishuis<br />
markiert die Grenze des neuen Stadtteils, der in<br />
den letzten Jahren durch Aufspülung im Buiten-IJ<br />
entstanden ist. Und natürlich bildet der Bau von der<br />
Wasserseite aus einen neuen Fixpunkt in der Stadtsilhouette.<br />
Doch den Architekten ist es gelungen,<br />
dass der Bau weder monumental noch erdrückend<br />
für seine Nachbarschaft wirkt. Das ist dem spiegelnden<br />
Fassadenmaterial ebenso zu verdanken<br />
wie der Formgebung des Blocks. „Wir haben versucht,<br />
dass die Großform des Baus einen Übergang<br />
schafft zur niedrigen Nachbarbebauung.“ Denn<br />
vis-a-vis des Sluishuis bilden zierliche Pontonhäuser<br />
eine kleine Siedlung im Wasser. Also treppten<br />
die Architekten ihren Entwurf an einer Ecke des<br />
Hofcarrés ab und milderten so den Maßstabssprung<br />
merklich.<br />
Diese Abtreppung bildet eines der gestalterischen<br />
Kernelemente des Konzepts. Als Gegenbewegung<br />
haben BIG und Barcode an der gegenüberliegenden<br />
Ecke des Gevierts die Baumasse „hochgezogen“:<br />
Ein neunstöckiges dreieckiges Portal öffnet<br />
den Block mit einer großen Geste zum Wasser. Im<br />
Innenhof entsteht dadurch ein kleiner Hafen.<br />
Gleichzeitig schaffen die Architekten so auch für<br />
die landseitig gelegenen Wohnungen Wasserblick.<br />
WEITER
Ideen<br />
25<br />
Hof-Hafen-Einfahrt. Wer will, kann bis vor<br />
die Haustür segeln.
34<br />
Postanthropozentrische<br />
Archi-<br />
Fotos:<br />
Max Hart<br />
Nibbrig<br />
tektur<br />
Text:<br />
Fabian<br />
Peters<br />
3/3<br />
Architekten:<br />
Olaf Gipser<br />
Architects<br />
Der Architekt Olaf<br />
Gipser hat im<br />
Amsterdamer Stadtteil<br />
Buiksloterham<br />
ein Wohnhochhaus<br />
errichtet, das zu<br />
großen Teilen als Holzbau<br />
ausgeführt ist –<br />
einer der Gründe,<br />
warum Gipser und<br />
seine Mitstreiter hier<br />
bauen durften. Denn<br />
das ehemalige Hafenareal<br />
soll eine Vorreiterstellung<br />
bei der<br />
nachhaltigen Entwicklung<br />
der Stadt<br />
einnehmen.
Ideen<br />
35<br />
Als „tiefe Fassade“ bezeichnet Olaf Gipser die<br />
Außenstruktur des Wohnhauses „Stories“.
44<br />
Ideen<br />
Eine Reminiszenz an den Karl-Marx-Hof in Wien? MVRDV haben für Bordeaux eine große<br />
Wohnanlage um einen Hof herum geplant – in Bordeauxrot.
45<br />
Modellvor-<br />
Text:<br />
Leonardo<br />
Lella<br />
haben<br />
Architekten:<br />
MVRDV<br />
Fotos:<br />
Ossip<br />
van Duivenbode<br />
Seit 2007 steht das<br />
historische Zentrum<br />
von Bordeaux auf der<br />
Unesco-Weltkulturerbeliste.<br />
Nun sollte<br />
auf der gegenüberliegenden<br />
Flussseite<br />
ein größeres Wohngebiet<br />
entstehen.<br />
MVRDV entwickelte<br />
dafür modellhaft den<br />
Typus einer großen<br />
Hofanlage für 308<br />
Wohnungen, darunter<br />
163 Sozialwohnungen,<br />
dazu Läden und<br />
ein Dachrestaurant.
68<br />
Ideen<br />
Im Wettbewerb lag der Fokus auf dem Potenzial der industriellen Vorfertigung von<br />
Bauteilen in Bezug auf Baukosten und Bauzeit. Die Architekten entwickelten einen Bau<br />
mit sichtbarem konstruktiven Raster, das sich beliebig erweitern lässt.
69<br />
Serienunikat<br />
Text:<br />
Franziska<br />
Leeb<br />
Fotos:<br />
Paul Ott<br />
Architekten:<br />
heri&salli<br />
„Modular“ lautet das<br />
Zauberwort, wenn<br />
es schnell und billig<br />
gehen soll. Nicht<br />
immer erfüllen sich<br />
diese profanen Ziele,<br />
dann ist es aber fein,<br />
wenn wie bei diesem<br />
Haus in der Wiener<br />
Seestadt Aspern die<br />
vorgefertigten Räume<br />
mehr als pragmatische<br />
Kisten sind.