"(Un)Endlichkeit" - Reading Novel
"Es gibt mehr, als die Endlichkeit vorzugeben scheint...!" Als Val nach einem Überfall ihr Gedächtnis verliert, lebt sie als Arthurs Verlobte ein neues, fremdes Leben. Plötzlich bekommt sie Besuch aus ihrer Vergangenheit und auch neugewonnene Vertraute scheinen etwas vor ihr zu verbergen… Es liegt an ihr, sich zu entscheiden, ob sie für ihr altes Leben und denen damit verbundenen Erinnerungen kämpfen will! Aber sie muss sich erinnern - denn ihr sind große Dinge vorherbestimmt, denen sie nicht entkommen kann…!
"Es gibt mehr, als die Endlichkeit vorzugeben scheint...!"
Als Val nach einem Überfall ihr Gedächtnis verliert,
lebt sie als Arthurs Verlobte ein neues, fremdes Leben.
Plötzlich bekommt sie Besuch aus ihrer Vergangenheit
und auch neugewonnene Vertraute scheinen etwas vor ihr zu verbergen…
Es liegt an ihr, sich zu entscheiden,
ob sie für ihr altes Leben und denen damit verbundenen Erinnerungen kämpfen will!
Aber sie muss sich erinnern -
denn ihr sind große Dinge vorherbestimmt,
denen sie nicht entkommen kann…!
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(Un)Endlichkeit
by
Tina Benally
© 2021 Tina Benally Art
Alle Rechte vorbehalten
www.tinabenallyart.com
- 5. November 2021 -
- Teil l -
***
Er wusste nicht, wie lange er sich nun schon
durch den dunklen Wald kämpfte, durch
Gestrüpp und Dornensträucher, die ihm die Haut
aufrissen.
Seufzend lehnte er sich gegen einen Baumstamm
und betastete die breite Wunde, die an seiner
Schulter klaffte und er sich zugezogen hatte, als
er sich in den sperrigen Ästen und Sträuchern
verfing.
Er stöhnte, riss sich einen Teil seines Hemdes ab
und verband sie notdürftig.
Etwas Nasses tropfte auf seine Stirn und er sah
zum Himmel, wo sich eine riesige dunkle
Wolkenfront über ihm auftürmte.
Direkt daneben ein vollkommener Vollmond, der
hell und rein leuchtete und ihn lächeln ließ.
Wie sehr hatte Val diese Augenblicke geliebt.
Zeitlos schön, nannte sie das.
Sie konnte stundenlang damit verbringen,
solchen vermeintlich kleinen Dingen ihre volle
Zuneigung und Aufmerksamkeit zu schenken.
Langsam umschlossen immer mehr und mehr
Wolken den Mond und dämpften seinen Schein,
bis er schließlich vollständig hinter der dunklen
Front verschwand.
Ein weiterer Tropfen fiel auf seine Stirn, gefolgt
von vielen weiteren. Der Regen fühlte sich
erfrischend an, wenngleich er ihn auch frösteln
ließ.
Wieder seufzte er und zog sich mit seinem
gesunden Arm den Baumstamm hoch.
Er warf noch einen letzten Blick zum Himmel, an
die Stelle, wo der Mond versunken war.
Dann drehte er sich um und setzte seinen Weg
weiter fort.
Nichts würde ihn aufhalten.
Er durfte nicht aufgeben.
Nicht bevor er sie gefunden hatte.
Seine Königin.
Val.
***
Kapitel 1
„Loui, deine Haltung ist wirklich außerordentlich
tadellos! Kein Wunder, dass du Arthur ins Auge
gestochen bist!“, sagte Granny und zwinkerte ihr
schelmisch zu.
Loui lachte, warf ihren Kopf nach hinten und
strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Arthur ist ein guter Mann, Granny. Und jetzt
mache ich dir noch schnell einen Tee, bevor ich
gehe!“
Mit diesen Worten raffte sie ihre weiten Röcke
und erhob sich von dem weichen Sessel mit dem
goldig schimmernden Stoffbezug.
Mit geübten Fingern nahm sie ihre hüftlangen,
kupferroten Haare im Nacken zusammen und
steckte sie mit ihren beiden Haarnadeln wieder
sorgfältig am Kopf fest.
Wie schnell die Zeit doch mit Granny immer
wieder verging!
Und wie unbeschwert sie sein konnte! Ohne
Zwang und Forderungen.
Im Nu war ihre wilde Mähne gebändigt und ein
Blick in den Spiegel zeigte wieder die makellose
Louisiana, die Verlobte von Arthur, Mitglied des
Stadtrates.
Ein leises Pfeifen riss sie aus ihren Gedanken und
sie nahm den dunklen Wasserkessel vom Herd,
um den Tee für Granny aufzugießen.
„Ich danke dir, mein liebes Kind“, sagte Granny
und nahm ihr die Tasse aus der Hand.
Nachdenklich musterte sie Loui.
„Ich mache mir Sorgen“, sagte sie schließlich und
Loui setzte sich neben Granny aufs Sofa und
schloss sie in ihre Arme.
„Das musst du nicht, liebste Granny!“, erwiderte
sie liebevoll.
„Fragst du dich denn gar nicht, was du für ein
Leben hattest, bevor Arthur dich vor zwei Jahren
im Wald gefunden hat...?“
Louis Blick verlor sich im Kerzenschein.
Natürlich fragte sie sich das.
Aber ihr Kopf war wie leergefegt.
Nicht die leiseste Erinnerung hatte sie an ihre
Vergangenheit, wer sie war oder woher sie kam.
Da war nur diese gähnende Leere, voller Nichts.
Möglicherweise war die Kopfverletzung bei ihrem
Sturz doch schlimmer gewesen, als zuerst
angenommen.
Die Meinungen der Heiler gingen weit
auseinander.
Von, dass sie ihre Erinnerungen nur verdrängen
möchte, bis dass sie eines Tages aufwachen und
ihr alles wieder einfallen würde.
Oder auch nie mehr.
Ein mulmiges Gefühl beschlich Loui und sie
schlang ihre Arme um ihren Oberkörper.
„Liebst du ihn denn...?“
Loui zuckte zusammen und sah Granny fragend
an.
„Was meinst du?“
-„Arthur meine ich, mein liebes Kind. Ob du ihn
von ganzem Herzen liebst?“
Nachdenklich legte Loui den Kopf schief und
antwortete:
„Ich bin ihm in tiefster Dankbarkeit verbunden.
Schließlich verdanke ich ihm mein Leben und er
kümmert sich gut um mich.“
Der undurchdringliche Blick von Granny verriet
Loui, dass es mehr gab, als das.
Als würde Granny etwas sehen, was ihr noch
verborgen schien.
Auch die Liebe schien für sie ein großes schwarzes
Loch zu sein.
Manchmal überkam sie eine tiefe Sehnsucht, die
sie sich nicht richtig erklären konnte.
Obwohl sie alles besaß, was man sich nur hätte
wünschen können.
Ein Anwesen, einen stattlichen und vermögenden
Mann, der sich ihrer angenommen und um sie
gekümmert hatte.
Im Gegenzug dafür musste sie ihn des öfteren auf
Empfänge begleiten, zu denen er geladen war.
Aber als seine Verlobte, empfand Loui es als ihre
Pflicht, ihn so gut es ging zu unterstützen.
„Ich sollte jetzt wirklich gehen, liebste Granny!“,
brach es aus Loui heraus und sie erhob sich
hastig.
Manchmal war ihr Grannys undurchdringlicher
Blick ein wenig unheimlich, weil sie mehr in
Louis Seele zu sehen schien, als sie selbst es tat.
Als sie sich noch einmal umwand, um Granny
zum Abschied zu winken, fand sie die alte Dame
lächelnd wieder.
„Die Zeit wird dir den richtigen Weg zeigen, mein
Kind! Pass auf dich auf!“
„Das werde ich - mach dir keine Sorgen, ich
komme morgen wieder!“, mit schnellen Schritten
eilte Loui aus dem Haus von Granny und blickte
zu Boden, als sie ein platschendes Geräusch
vernahm.
Sie war durch eine Pfütze gelaufen, ohne es zu
bemerken.
Einen Moment lang verharrte sie in dieser
Position und nahm einen tiefen Atemzug.
Die frische Nachtluft tat ihr gut, um den Kopf
wieder frei zu kriegen.
Das nasse Kopfsteinpflaster schimmerte silbern
im hellen Mondlicht und die Bäume des Waldes,
der sich unmittelbar hinter Grannys abgelegenen
Haus befand, rauschten sanft und friedlich.
Nachdenklich betrachtete sie den Mond, der in
voller Größe über ihr schien und lächelte.
Zeitlos schön!, dachte sie schwärmerisch.
Ein warmes Gefühl durchströmte Loui
und plötzliche Geborgenheit überkam sie, als
wäre es ein kleiner Ruf aus ihrer Vergangenheit.
Schnell schüttelte sie den Kopf.
Granny hatte sie ganz durcheinander gebracht,
mit ihrem Gerede über die Vergangenheit.
Sie fragte sich selbst oft, wie sie sich wohl fühlen
würde, wenn das bereits vergangene Leben
plötzlich wieder auftauchen und ein Teil von ihr
werden würde.
Ein wissentlicher Teil.
Wenn die Leere gefüllt wäre?
Aber mit was?
Möglicherweise war sie unglücklich gewesen in
ihrem früheren Leben.
Vielleicht hatte sie aber auch Menschen, die sie
vermissten, eine Familie, Freunde.
Wie so oft spürte sie in sich hinein.
Auf der Suche nach einem Gefühl, einem kleinen
Erwachen. Aber da war nichts.
Nur die altbekannte Leere.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen wachte Loui mit einem
schwummrigen Gefühl auf und fuhr sich
gedankenverloren durch ihre welligen Haare.
Das Gerede von Granny hatte sie im
Unterbewusstsein noch die ganze Zeit beschäftigt
und nun fühlte sie sich müde und zerstreut.
Manchmal kam es ihr so vor, als würde Granny
mehr wissen, als sie preisgab.
Aber vielleicht irrte sie sich auch.
Ältere Menschen sprachen oft in Rätseln.
Dennoch, ließ sie das Gefühl nicht los, sie noch
mal nach einigen Andeutungen fragen zu
müssen, um noch mehr herauszufinden.
Sie warf sich ihren Morgenmantel über und flocht
ihre Haare zu einem lockeren Zopf zusammen,
bevor sie anschließend zu ihrer Kommode lief
und sich mit einer Karaffe frisches Wasser in eine
dunkelblaue Schale goss. Liebevoll strich sie mit
ihren Fingern über den goldenen Rand, bevor sie
ihre Hände in das erfrischende Nass tauchte.
Sie wusch sich ausgiebig und wurde immer
motivierter!
Ja, sie würde Granny heute einen Besuch
abstatten und hoffentlich noch etwas mehr über
sich und ihre Vergangenheit erfahren.
Loui lief zum Fenster und öffnete die massiven,
weißen Fensterläden.
Sie liebte den zarten Duft der erwachenden Natur
am Morgen!
Einen Augenblick lang lauschte sie noch der Stille,
diesem magischen Moment in dem die Zeit für
einen kurzen Moment stillzustehen schien, bevor
allmählich die Natur zum Leben erwachte.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen ihr ins Gesicht
und sie schloss die Augen und lächelte.
Welch vollkommener Augenblick!
Eine Pferdekutsche riss sie aus ihren Gedanken
und sie lief zu ihrem Kleiderschrank mit den
aufwändigen, goldenen Verzierungen an den
Rändern, um sich ein unauffälliges, schlichtes
Gewand für ihre kleine Reise zu suchen.
Sie entschied sich für ein hellblaues Kleid,
welches an der Borte mit Stickerei versehen war
und je nach Lichteinfall in verschiedenen Farben
schimmerte.
Dezent und schlicht!
Zufrieden schlüpfte Loui hinein und lief zu dem
großen Spiegel, der direkt neben ihrem
Kleiderschrank stand.
Ein kleines Seufzen entfuhr ihr, als sie den Zopf
löste, ihre Haare bürstete und wieder sorgfältig
mit den beiden Haarnadeln am Kopf befestigte.
Wie gern würde sie ihre rote Mähne auch mal
offen tragen.
Sie liebte es, den Wind in ihren Haaren zu spüren.
Ein Blick auf ihr Spiegelbild verriet ihr, dass sie
auf dem ersten Blick zwar ohne Makel schien,
aber ihre Augen hatten eine gewisse Leere und
Traurigkeit in sich.
Schnell schüttelte sie den Kopf und öffnete ihre
Zimmertür.
Auf dem Weg nach draußen kam sie an den
Glastüren des Salons vorbei, wo sich Arthur
immer mit seinen Kollegen zurückzog, um
ungestört geschäftliche Dinge zu besprechen.
Aus Erfahrung wusste sie, dass er empfindlich
reagierte, wenn man ihn dabei störte, also zog sie
es vor, ihm lieber eine Nachricht zu hinterlassen
und sich anschließend auf den Weg zu machen.
Sie beobachtete die Leute auf der Straße und kam
nicht umhin, oft zu winken.
„Das ist die Verlobte von Arthur Lierroy.“ - „ Sind
die beiden nicht ein ganz reizendes Paar?“,
tuschelten die Leute und Loui lächelte höflich,
ganz wie die Etikette es sie gelehrt hatte.
Endlich war sie am Marktplatz angekommen, wo
buntes Treiben herrschte und die Aufmerksamkeit
etwas von ihr ablenkte.
Sie schlenderte durch die Reihen mit den bunten
Ständen, auf der Suche nach einer Kleinigkeit, die
sie Granny mitbringen konnte.
Ihr Blick fiel auf ein kleines Notizbuch, was in
weiße Spitze eingeschlagen wurde und mit einem
hellblauen Satinband als Lesezeichen verziert
war.
Welch liebevolle Gestaltung! , dachte Loui.
„Gefällt es Euch? Das habe ich ganz alleine
gemacht!“, rief eine Stimme neben ihr und sie sah
ein kleines Mädchen mit vielen Sommersprossen
und rotem Haar, genau wie ihres es war.
„Es ist wunderschön! Du hast wirklich Talent!“ ,
lobte Loui und sah das Mädchen an.
Ihre Haare waren ganz verfilzt, aber ihre Augen
sprühten lebendig und freundlich.
„Wie ist dein Name?“, fragte sie und das Mädchen
antwortete: „Isa“.
„Also Isa, was möchtest du für das Buch gern
haben?“
Das Mädchen räusperte sich und antwortete:
“Drei Pens, edle Dame!“
Loui kniete sich hin, um dem Mädchen direkt in
die Augen sehen zu können.
„Du kannst mich Loui nennen, Isa. Drei Pens
erscheint mir etwas wenig für deine schöne
Arbeit. Darf ich dir noch ein Geschenk machen?“
Die Augen des Mädchen strahlten und sie nickte
eifrig, während Loui aus ihrem Geldbeutel drei
Pens herausfischte und Isa gab.
„Warte kurz hier, ich bin gleich wieder zurück!“,
rief Loui und verstaute das Buch in ihrer Tasche.
Ihr Weg führte sie in einen urigen, kleinen Laden,
am Ende des Marktes, wo sie einen aus Holz
geschnitzten Kamm für Isa kaufte.
Schnell lief sie wieder zurück zum Marktplatz
und stürzte sich direkt hinein in die
Menschenmenge,
als sie frontal mit jemandem zusammenstieß und
der Kamm dabei aus ihren Händen fiel.
„Oh verzeiht bitte, ich habe Euch nicht gesehen!“,
rief Loui schnell und sah zu dem Mann auf, mit
dem sie zusammengestoßen war.
Er hatte schulterlanges, blondes Haar ,
türkisfarbene Augen und einen Blick, den sie
nicht recht zu deuten wusste.
Einen kurzen Moment sah sie ihm noch in die
Augen, bevor sie sich zeitgleich mit dem Fremden
bückte, um den Kamm vom Boden aufzuheben.
Ihre Hände berührten sich kurz und Loui
erkannte in seinem Blick einen Funken von
Erwartung, der gleich darauf Enttäuschung wich
und sie stand abrupt wieder auf.
„Ich danke Euch vielmals!“, sagte sie.
„Es gibt nichts, weswegen Ihr mir danken
müsstet!“, sprach der Fremde leise, ehe sie mit
schnellen Schritten an ihm vorbei lief und nach
Isa Ausschau hielt.
Sie stand tatsächlich noch genau an der selben
Stelle, wo Loui sie stehen gelassen hatte und
überreichte ihr lächelnd den Kamm.
„Damit kannst du deine schönen Haare
kämmen!“, sprach Loui und das Mädchen
strahlte.
„Oh vielen Dank, edle Dame! So etwas Schönes
habe ich noch nie bekommen!“, rief sie
schwärmerisch und strich ehrfurchtsvoll über den
Kamm.
Loui lächelte.
„Ich danke dir für das schöne Buch! Ich muss jetzt
weiter, pass gut auf dich auf, Isa!“
„Ihr auch Loui und nochmals vielen Dank!“
antwortet Isa und sah den Kamm immer noch
verliebt an, als sie an dem kleinen Mädchen
vorbei lief und die laute Menschenmenge des
Marktplatzes hinter ihr ließ.
Welch verrücktes Treiben das doch heute war!
Schnell lief sie die immer leerer werdenden
Straßen und Wege entlang zu Grannys Haus,
welches abgelegen, direkt an dem angrenzenden
Wald lag.
Sie klopfte an dem Tor, als Granny öffnete und
Loui ihr gleich um den Hals fiel.
„Guten Morgen, meine liebste Granny!“ , sagte sie
und stockte, als sie Grannys überraschten Blick
sah.
„Was machst du denn schon hier Kind?“, fragte
Granny verdutzt und ließ sie herein.
„Ich war auf dem Markt und habe dir eine
Kleinigkeit mitgebracht. Sieh nur!“, rief Loui
begeistert und holte das Buch aus ihrer Tasche
hervor.
Granny lächelte und strich über den Buchrücken,
als sich hinter ihr etwas bewegte.
Loui erschrak, als plötzlich der Mann mit den
blonden Haaren auftauchte, mit dem sie
versehentlich zusammengestoßen war.
Mit großen Augen sah sie Granny fragend an.
„Das ist Finyan, mein Kind.“, sagte sie und
schlürfte zu ihrem Regal, um das Buch abzulegen.
Schnell lief Loui ihr hinterher und sprach so leise,
dass nur Granny sie hören konnte:
„Du kennst ihn? Wer ist das? Und was macht er
hier bei dir?“
Granny lächelte immer noch und wand sich um.
„Das sind aber viele Fragen auf einmal. Setzt euch
doch erstmal und ich mache uns zunächst einen
frischen Tee.“
Mit diesen Worten verschwand Granny in ihrer
kleinen Küche und ließ Loui mit dem fremden
Mann allein.
Er stand immer noch in der Mitte des Raumes,
aber er wirkte völlig verändert, verglichen mit der
Begegnung auf dem Markt.
Er sah sie einfach nur an und lächelte, ja er wirkte
beinahe...-
Loui schüttelte schnell den Kopf bei der Idee, dass
Finyan in sie verliebt sein könnte.
Und doch konnte sie nicht anders, als wieder zu
ihm aufzusehen und ihn zu betrachten.
Noch nie hatte sie solch schöne Augen gesehen...!
Sie leuchteten in einem ganz warmen Türkis Ton
mit hellen Sprenkeln.
Wie die Sonnenreflexionen auf dem Wasser -
schoss es Loui durch den Kopf und ihr wurde
schwindelig.
Schnell sprang Finyan auf sie zu und legte einen
Arm um ihre Taille, um sie zu stützen.
„Val?“, fragte er und sah sie mit besorgter Miene
an.
„Geht es Euch gut?“
Loui sah zu ihm auf und ihr Herz klopfte so laut,
dass sie glaubte, jeder hier im Raum könne es
hören.
Verlegen sah sie zu Boden und löste sich sanft aus
seiner Umarmung.
„Ich danke Euch, mir war nur ein wenig
schwindelig“, murmelte sie und sah ihn erneut
an.
Ihr Atem stockte, als sie einen großen Blutfleck
auf seiner Jacke sah, der unter einem notdürftigen
Verband hervorlugte.
„Ihr seid verletzt!“, rief sie aus und griff nach dem
Verband, als sich Finyans Hand auf ihre legte.
Ihr Herz schlug wie wild und sie sah ihm direkt in
die Augen.
Sie konnte das gleiche Feuer erkennen, das auch
sie ergriffen hatte.
„Es ist nicht so schlimm, Val“, sagte er und
lächelte.
Da war es wieder.
Val.
Aber seine Wunde war zu ernst, als dass sie noch
anderen Dingen Aufmerksamkeit schenken
konnte.
„Bitte?“, bat sie und er ließ schließlich langsam
ihre Hand los.
Mit geübten Griffen entfernte sie den Verband
und besah sich die Wunde.
Sie war tief und sollte gereinigt und mit Kräutern
versorgt, sowie mit einem sauberen Verband
behandelt werden.
„Ich werde Euch schnell einen Wickel zubereiten
und Eure Wunde reinigen, damit sie anschließend
wieder verbunden werden kann. Wartet einen
Augenblick hier. Ich bin gleich zurück!“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief in
die Küche, als Granny ihr mit einer Teekanne
entgegen kam.
„Kind, was machst du denn hier...?“, fragte die
alte Dame verwirrt.
„Ich hole nur schnell ein paar Kräuter für Finyans
Wunde!“, antwortete Val und durchstöberte die
verfügbaren Kräuterbestände in der alten Küche
mit dem dunklen Mobiliar.
Arnica, Kamille, Ringelblume…Loui staunte nicht
schlecht, über die riesige Auswahl der
verfügbaren Kräuter und hatte schnell die
richtigen Zutaten für den Wickel gefunden und
mit Wasser übergossen.
Dazu eine Schale frisches Wasser und saubere
Stoffe zum verbinden.
Gerade als sie sich wieder auf den Rückweg
machen wollte, schnappte sie einige Fetzen von
einem Gespräch zwischen Granny und Finyan
auf und hielt inne, um sie etwas deutlicher zu
verstehen.
„...hat sie nichts erkannt...?...was weiß sie?“, hörte sie
Finyan leise reden.
„...die Zeit ist bald gekommen...Geduld...“, glaubte sie
Granny sagen zu hören.
Sie schüttelte den Kopf.
Was sie gehört hatte, ergab für sie keinen Sinn.
Aber sie wurde das ungute Gefühl nicht los, dass
es sich bei dem Gespräch um sie gehandelt haben
könnte.
Beide sahen zu ihr auf, als sie mit der Schale und
dem Kräuterwasser die Stube betrat und sich zu
Finyan auf das Sofa setzte.
Sie tauchte eins der Tücher in die Schale mit
warmen Wasser und begann, seine Wunde
abzutupfen. Sie spürte, dass er Schmerzen hatte,
aber er gab dennoch nicht den leisesten Laut von
sich.
Vorsichtig legte sie ihm einen Verband aus den
Kräutern über seine Wunde und er keuchte kurz
auf, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen
und verband die Wunde anschließend sorgfältig
mit einem sauberen Stoff.
„Loui, seit wann kannst du denn sowas...?“, fragte
Granny verschmitzt und lachte.
Loui kicherte und antwortete:
„Das ist ein uraltes, bewährtes Rezept, was ich
mal...“, sie stockte und ihre Augen wurden groß.
Sie wusste nicht, woher sie das Rezept für die
Kräuter kannte!
Auch nicht, wer sie das gelehrt hatte und auch
nicht, warum sie das konnte.
Sie erstarrte und das Tuch in ihrer Hand fiel zu
Boden.
„Ich danke Euch, Val“, sprach Finyan und lächelte
sie an.
„Mein Name ist Louisiana“, sagte sie mit
wackeliger Stimme und sprang hastig auf.
„Ich muss gehen!“, rief Loui, warf sich schnell
ihren Mantel über und lief aus der Haustür, ohne
sich noch einmal umzudrehen.
Sie musste hier weg!
So schnell wie möglich.
***
Val!
Sie war es wirklich!
Endlich hatte er sie gefunden!
Er zitterte, ob vor Freude, Erschöpfung oder
Schmerzen vermochte er nicht mehr zu sagen.
Aber es spielte auch keine Rolle mehr.
Sie war unversehrt und es ging ihr gut - das war
das Wichtigste!
Eine Weile hatte er sie beobachtet, wie sie in
ihrem himmelblauen Kleid durch die Gassen lief.
Anmutig wie eh und je, dachte er und ihm wurde
ganz warm ums Herz.
Er konnte den Moment nicht mehr erwarten,
wenn er sie endlich wieder in seine Arme
schließen konnte!
Schnell wollte er ihr hinterher laufen, um sie nicht
wieder aus den Augen zu verlieren, als er über
etwas auf dem Boden stolperte.
Es war eine Zeitung.
Zuerst wollte er sich schon zum Gehen wenden,
als er noch einmal einen Blick darauf warf und
ein Bild von Val erblickte.
Neben ihr stand ein stattlicher Mann, mit vielen
Orden an seiner Uniform und einen Arm um Val
gelegt.
„Arthur Lierroy mit seiner Verlobten Louisiana“,
stand unter dem Bild und Finyan fühlte sich, als
hätte er einen Schlag mitten ins Gesicht
bekommen.
Nein! - dachte er panisch und besah sich noch
einmal das Bild von seiner Val.
Wie verändert sie aussah.
Konnte das wirklich wahr sein...?
Er lehnte sich gegen eine Hauswand und schloss
für einen Moment die Augen.
Resigniert ließ er den Kopf hängen und der
Gedanke, dass er zu spät gekommen war, raubte
ihm seine letzten Kräfte.
Mit seinen Fingern strich er Val über die Wange,
bevor er das Bild in der Mitte teilte und aus der
Zeitung riss.
Den Teil mit Val verstaute er in der Innentasche
seiner Jacke.
Mit einem letzten Blick auf den Mann neben Val,
der nun nur noch neben einer abgerissenen
Hälfte stand, warf er die Zeitung zu Boden und
lief in die Richtung weiter, in der er Val hatte
davon laufen sehen.
Als er um die Ecke kam, wurde er von den
riesigen Menschenmassen fast erdrückt.
Unglücklich suchten seine Augen die Gesichter
ab, aber von Val keine Spur.
Wie sollte er sie so finden...?
Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln etwas
himmelblaues aufblitzen und erkannte Val, wie
sie in einen kleinen Laden lief.
Er kämpfte sich durch die Menge und verlor
dabei völlig die Orientierung.
Plötzlich stieß er mit jemandem zusammen und
seine Augen begannen zu leuchten, als Val genau
vor ihm stand!
Schnell stammelte sie eine Entschuldigung und
bückte sich zeitgleich mit ihm, um einen Kamm
aufzuheben, der ihr bei dem Zusammenstoß aus
der Hand gefallen war.
Als sich ihre Hände dabei berührten, sah sie ihm
endlich einmal direkt in die Augen
- doch er konnte die liebevollen Funken, die sie
sonst immer hatten, nicht in ihnen erkennen.
Schnell war sie auch schon an ihm vorbei
gehuscht und er sah ihr hinterher.
Sie wusste nicht mehr, wer er war...!
Nicht das leiseste Anzeichen eines Erkennens lag
in ihren Augen!
Da war einfach nur eine unbekannte Fremde.
Eine völlig veränderte Val.
Nicht mehr seine geliebte Val.
Was war nur mit ihr geschehen...?
***
Aufgebracht lief Loui durch die Gassen.
Daran, wie üblich höflich zu lächeln und zu
winken, dachte sie überhaupt nicht mehr.
Zu aufgewühlt waren ihre Gedanken.
Sie erreichte ihr geliebtes Wäldchen und setzte
sich auf einen umgestürzten Baumstamm.
Die Wipfel der Bäume tanzten im Wind und die
Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin.
Loui kam oft hierher, um den Klängen der Natur
zu lauschen und ihren Gedanken nachzuhängen.
Unweit von hier hatte Arthur sie gefunden.
Jedes Mal, wenn sie hier her kam, durchforstete
sie ihre Gedanken, auf der Suche nach einer
kleinen Erinnerung, über sich selbst und ihr altes
Leben.
Woher sie kam und wie sie hier her gekommen
war.
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und
seufzte.
Welch verrückter Tag das doch gewesen war!
Ihr Plan war es gewesen, Antworten zu
bekommen.
Stattdessen stand sie nun vor noch mehr
unbeantworteten Fragen!
Sie erschrak, als es im Dickicht raschelte und ihre
Tasche zu Boden fiel.
So schreckhaft kannte sie sich gar nicht, dachte sie
und wurde sich nur noch mehr bewusst, wie
durcheinander sie doch war.
Gedankenverloren bückte sie sich, um ihre Tasche
vom Waldboden wieder aufzuheben, als sie etwas
Weißes heraus lugen sah.
Erstaunt zog das Buch heraus, welches sie Granny
mitgebracht hatte.
Wie war es wieder in ihre Tasche gekommen...?
Langsam strich sie über den liebevoll gestalteten
Einband und stockte, als sie ein weiteres
Leseband entdeckte.
Ihr Herz schlug schneller vor Aufregung und sie
klappte das Buch an der markierten Stelle auf.
Dort stand etwas geschrieben und sie erkannte
sofort Grannys Handschrift!
„...es gibt mehr, als die Endlichkeit vorzugeben
scheint...!“
Was hatte das zu bedeuten...?
Loui sah zum Himmel und beobachtete die
Wolken, wie sie an ihr vorbeizogen.
Sie hatte so viele Fragen und keine Antworten.
Langsam blätterte sie ein paar Seiten weiter und
zog einen Stift aus ihrer Tasche.
Viele neue Informationen waren heute auf sie
eingeströmt, auch wenn sie noch keinen Sinn
oder Zusammenhang in ihnen erkennen konnte.
Möglicherweise konnte sie sich einen besseren
Überblick über das ganze Chaos verschaffen,
wenn sie alle Informationen bündelte und
aufschrieb.
Sie platzierte ihren Namen in die Mitte und zog
einen Kreis darum.
Von dort aus zog sie eine Linie und notierte
„Wald..?“
Der Ort, an dem sie gefunden wurde und sich
doch keiner erklären konnte, woher sie kam und
wie sie dorthin gelangt sein könnte.
Sie konnte von Glück reden, dass Arthur sie
während eines Jagdausfluges dort gefunden
hatte.
Ans Ende des nächsten Striches schrieb sie:
„Buch...?“
Es war eindeutig Grannys Handschrift, nur was
hatten ihre Worte zu bedeuten und wie kamen sie
in das Buch...?
Wann hatte sie ihr das Buch zurück in ihre Tasche
gesteckt...?
Sie zog einen neuen Strich und vermerkte:
„Granny...?“
Sie hatte die alte Frau so sehr ins Herz
geschlossen.
Bei ihr konnte sie einfach unbeschwert Loui sein
und nicht die perfekte Louisiana aus einem
geordneten Leben, welches überhaupt nicht zu
ihrer zerrütteten Vergangenheit passte.
Doch sie beschlich immer wieder das Gefühl, dass
die alte Dame mehr wusste, als sie vorzugeben
schien.
Auch überraschte sie sie immer wieder aufs Neue,
wie beispielsweise mit den vielen verfügbaren
Kräutern, die sie in ihrer Küche hatte.
Und dann stand da plötzlich dieser Mann bei ihr
in der Stube. Finyan.
Woher kannten sie sich...?
Und was hatte er dort zu suchen...?
Forsch zog sie einen neuen Strich und schrieb:
„Finyan...?“
Mehrfach zog sie die Linien des Fragezeichens
nach.
Welche Rolle er spielte, oder ob überhaupt, war
ihr unerklärlich.
Aber es schien eine Verbindung zwischen ihm
und Granny zu geben.
Also verband sie die beiden Namen mit einem
Strich.
Plötzlich kam ihr wieder dieser Name in den
Sinn, den Finyan ständig gesagt hatte.
Sie setzte einen neuen Strich von Finyan und
notierte:
„Val...?“
Warum hatte er sie immer wieder so genannt...?
Seine Augen waren klar und sie glaubte, sich
sicher sein zu können, dass es sich seinerseits
nicht um eine Verwechslung handelte.
Auch hatte sie das Gefühl, dass sie ihm vertrauen
konnte. Da war etwas zwischen ihnen, auch
wenn sie sich diese tiefe Verbundenheit nicht
erklären konnte.
Sie zögerte, bevor sie den Stift erhob und Val und
Louisiana mit einer Linie verband.
Optisch betrachtet ergaben alle offenen Fragen
zwar immerhin einen nicht ganz runden Kreis,
aber sehr viel weiter brachte sie das Ganze auch
nicht.
Langsam setzte sie den Stift ein letztes Mal an
und schrieb ein großes:
„?“,
hinter ihren Namen:
Louisiana.
Kapitel 3
„Louisiana, Liebste, hörst du mir überhaupt zu?“,
fragte Arthur und Loui zuckte zusammen.
„Ja...ja, natürlich!“, stotterte sie und setze schnell
ihr geübtes Lächeln auf.
„Worüber habe ich gerade gesprochen...?“
Sie räusperte sich.
„Über das Bankett heute Abend, bei welchem ich
dich begleiten soll.“
„Sehr richtig, meine Liebste. Das Bankett ist
wirklich von außerordentlicher Wichtigkeit, denn
es geht um meinen Rang und Namen - somit
natürlich auch um deinen. Es ist daher
unerlässlich, dass wir einen bleibenden Eindruck
hinterlassen und ich erwarte zudem, dass du dich
selbstverständlich gebührend kleidest.“
„Natürlich“, antwortete Loui schnell.
„Ganz wie du es wünschst“.
„Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.
Eine gute Frau hört auf ihren Mann! Ich muss
vorher noch in die Stadt ein paar Besorgungen
erledigen, wir sehen uns dann heute Abend!“,
sagte Arthur und beugte sich nach vorne, um
Loui zum Abschied zu küssen.
Als sich ihre Lippen trafen, schoss ihr kurz der
Gedanke an Finyan durch den Kopf und sie
fühlte sich zutiefst unwohl.
„Ich freue mich schon, dich bald als meine
Ehefrau zu haben“, sagte Arthur lächelnd, wand
sich um und lief zu den Stallungen.
Als Loui die Hufe seines davon galoppierenden
Pferdes vernahm, atmete sie wohl merklich aus
und fiel auf einen freien Stuhl.
Sanft betastete sie ihre Lippen, dort, wo Arthur sie
geküsst hatte.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken und zum
ersten Mal kam ihr die Frage in den Sinn, ob sie
wirklich bereit für ein Leben mit ihm war.
Es hatte sich eben so falsch angefühlt seine
Lippen auf den ihren zu spüren.
Sie seufzte tief, als Herr Miller, die gute Seele des
Hauses, anklopfte.
„Louisiana, darf ich Sie kurz stören...? Eben ist ein
Brief für Sie angekommen.“
„Ich danke Ihnen, legen Sie ihn bitte dort auf die
Kommode“.
„Sehr wohl!“, antwortete Herr Miller und verließ
das Zimmer.
Schnell überschlug Loui die Zeit, die ihr bis zu
dem Bankett blieb und für sie stand fest, dass sie
unbedingt noch einmal mit Granny sprechen
musste.
Um ein paar Antworten auf die vielen Fragen zu
bekommen, die immer mehr und mehr wurden.
Sie stand auf und schlüpfte in ihren Mantel, der
heute schwerer als üblich auf ihren Schultern
lastete.
Sie lief zwischen den Gassen entlang, bis sie
abrupt stehen blieb, als sie eine riesige
Menschenmenge vor dem Eingangstor von
Granny Haus vorfand.
Als sie näher kam, hörte sie die Frauen weinen
und Loui gefror das Blut in ihren Adern, als sich
eine ungeheuere Vermutung in ihr breit machte.
Hastig drängelte sie sich an den Menschen vorbei
hinein in Grannys Haus und ihr Herzschlag setzte
aus, als sie Granny aufgebahrt in ihrer Stube
umringt von unzähligen Blumen liegen sah.
„Granny!“, rief Loui verzweifelt und stürzte
weinend auf sie zu.
„Bitte, mach die Augen wieder auf!
Lass mich nicht alleine, ich brauche dich doch!“,
ihre Stimme war zu brüchig, um weiter zu reden.
Sie weinte unerbittlich und legte ihren Kopf auf
Grannys Brust.
Hinter ihr ertönte ein lautstarkes Räuspern und
sie wurde unsanft weggezogen.
Ein Pfarrer warf ihr einen strengen Blick zu und
wies ein paar Männer an, Granny herauszutragen
und auf einen Anhänger zu verladen.
Loui blieb allein in dem Haus zurück, was ohne
Granny seine ganze Lebendigkeit verloren hatte.
Sie ließ ihren Tränen erneut freien Lauf.
Granny, ihre einzige ihr nah stehende Person,
war tot...?
Einfach weg...?
Niemand mehr, bei dem sie Zuflucht suchen
konnte und der ihr Geschichten erzählte?
Sie einfach Loui sein konnte?
Niemand mehr, der ihr mit Rat und Tat zur Seite
stand...?
Plötzlich glaubte sie ein Geräusch hinter sich zu
hören und fuhr herum.
Resigniert ließ sie den Kopf sinken und verhöhnte
sich gedanklich selbst dafür, dass sie die leichte
Hoffnung gehabt hatte, Finyan würde aus den
Schatten heraus treten und ihr einiges erklären...
Wo war er überhaupt...?
Hatte er etwas mit Grannys Tod zu tun...?
Hastig sprang Loui auf, um die Gedanken
abzuschütteln und stolperte über ihren langen
Rock.
Schnell stützte sie sich an der Kommode ab, als
ihr Blick auf einen Brief fiel, auf dem ihr Name
stand: „Loui“.
Sie zitterte und nahm den Brief an sich.
War das ein Abschiedsbrief oder eine Aufklärung
all ihrer unbeantworteten Fragen...?
Vorsichtig öffnete sie den Umschlag, als ihr etwas
in die Hand fiel.
Es war eine Kette, mit einem großen, dunkelroten
Stein, mit vielen kleinen, glitzernden Funken,
umrahmt von einer goldenen Fassung.
Wie wunderschön sie war!
Loui glaubte, gleich eine besondere Kraft zu
spüren, die von ihr ausging und sie presste die
Kette an ihr Herz.
Nach einem tiefen Atemzug warf sie noch einmal
einen Blick in den Brief und zog ein
beschriebenes Stück Papier heraus:
„Mein liebes Kind, bewahre die Kette sicher auf, sie soll
dich beschützen und dich immer ein wenig an mich
erinnern...! Pass auf dich auf, Granny“
Sie schniefte und packte die Kette zusammen mit
dem Brief wieder zurück in den Umschlag.
Plötzlich wollte sie nur noch weg aus Grannys
Haus und ein paar Atemzüge an der frischen Luft
tun.
Schnell verstaute sie den Brief in ihrer Tasche und
lief aus der Tür, als ihr wieder einfiel, dass sie
nicht viel Zeit hatte, um sich noch für das Bankett
fertig zu machen.
Allein der Gedanke, so vielen Menschen
gegenüber zu stehen und die ganze Zeit über die
lächelnde und glückliche Verlobte von Arthur zu
spielen, graute ihr.
Sie zog es vor, lieber alleine zu sein und zu
trauern, um ihre Granny.
Wieder vernahm sie ein Geräusch und ihr Blick
wanderte in die Richtung, aus der sie meinte, das
Geräusch gehört zu haben.
Doch dort war nichts.
„Finyan...?“, rief sie mit zitternder Stimme, doch
der Wind trug ihre Worte ins Leere.
Da war niemand.
Sie war allein.
Ganz allein.
Laut fiel das schwere, gusseiserne Tor hinter Loui
zu, als sie zurück in Arthurs Haus ankam.
Sie warf einen Blick in den Spiegel im Flur und
besah die vielen Schneeflocken, die sich in ihren
Haaren verfangen hatten.
Sie legte ihren Mantel ab und lief mit
schwankendem Schritt zur Kommode, um sich
ihre Bürste zu holen, als sie den Brief liegen sah,
den Herr Miller ihr heute morgen gegeben hatte.
Sie konnte keinen Absender erkennen und
öffnete mechanisch den Umschlag.
„Triff mich heute Abend bei Sonnenuntergang an den
Ställen.
Ich werde auf dich warten.
Finyan“
Ihr Herz schlug schneller.
Finyan!
Er war noch da!
Sogar ganz in ihrer Nähe!
Ein erleichterndes Seufzen entfuhr ihrer Kehle,
bevor sie innehielt und ihr das Bankett wieder
einfiel.
Verdammt!
Wie sollte sie Finyan treffen, wenn sie sich auf
dem Weg zum Bankett befand...?
Sie wendete das Papier, auf der Suche nach einem
kleinen Zeichen über seinen Aufenthaltsort.
Aber sie konnte nichts entdecken.
Es klopfte an ihrer Tür und Herr Miller kam
herein.
„Arthur schickt Euch dieses Kleid für das
Bankett.“
Sie nickte und Herr Miller legte das Kleid auf ihr
Bett, bevor er die Tür hinter sich schloss und sie
wieder ungestört nachdenken konnte.
Viel Zeit blieb ihr nicht.
Sie bürstete gedankenverloren ihr Haar und sah
zum Fenster heraus, wie sich ein riesiger
Schneesturm zusammenbraute.
Unzählige Flocken tanzten hinter der Glasscheibe
und normalerweise, hätte Loui ihnen ewig dabei
zusehen können, doch nicht in diesem Moment.
Ihre einzige Gelegenheit Finyan zu treffen,
bestand darin, ihn noch vor ihrer Abreise zu
erwischen.
Sie zog ihr Kleid aus, welches durch den Schnee
ganz durchnässt war und schlüpfte in das,
welches Arthur ihr hatte zukommen lassen.
Es war mit viel Spitze und Perlen besetzt, die
magisch funkelten.
Sie liebte die creme-weiße Farbe und besah sich
im Spiegel, als ihre Hand ihren Hals entlangfuhr
und sie in ihrer Tasche nach dem Umschlag von
Granny suchte.
Eine Weile betrachtete sie die Kette und strich
ehrfürchtig über den Stein, bevor sie sie um ihren
Hals legte.
Ein erneuter Blick in den Spiegel ließ sie lächeln.
Sie sah aus wie eine Königin!
Aufgerichtet und stolz, umringt von ihren langen,
roten, feurigen Haaren, die perfekt zu dem
dunkelroten Stein der Kette passten.
Sie drehte sich einmal um sich selbst und fühlte
sich stark und gewappnet für alles was kam.
Sicherlich hatte Granny einen Schutzzauber auf
die Kette gelegt, der sie beschützen sollte.
Loui musste immer kichern, wenn Granny ihr mit
solchen Dingen kam, die sie nie so ganz glauben
konnte.
Aber dieses Mal meinte sie tatsächlich, sich
beschützt zu fühlen, auch wenn sie sich das
vermutlich nur einredete.
Aber was spielte das auch für eine Rolle?
Granny war auf diese Art bei ihr und das erfüllte
sie mit tiefer Dankbarkeit.
Noch einmal durchfuhr sie mit der Bürste ihr
Haar, bevor sie sie, wie üblich, mit ihren
Haarnadeln an ihrem Kopf feststeckte.
Flink schlüpfte sie in ihre perlenbesetzten Schuhe
und lief leise zur Tür, um sich unbemerkt in den
Innenhof zu stehlen.
Vielleicht konnte sie Finyan noch erwischen, ohne
dass jemand etwas davon mit bekam.
Sie raffte ihre Röcke und lief zu den Stallungen,
als sich plötzlich das schwere Tor aus Metall
hinter ihr öffnete und ein Pferd herein galoppiert
kam.
Sie fuhr herum, als sie Arthur erkannte.
„Louisiana, wie schön, dass du mir schon
entgegen kommst - es freut mich zu sehen,
wie du deinen Pflichten stets so zuverlässig
nachkommst!“
Er stieg ab und machte ein paar Schritte auf Loui
zu, um sie zu küssen, als er innehielt und auf die
Kette starrte.
Seine Augen wurden schmal, als er fragte:
„Woher hast du die?“
„Sie ist ein Geschenk aus dem Nachlass von
Granny. Sie lag heute morgen aufgebahrt in
ihrem Haus.“
Loui schluckte ihre Tränen herunter.
„Das tut mir sehr leid für dich meine Liebste, ich
weiß du mochtest sie sehr“, säuselte er und gab
Loui unerwartet einen Kuss, der sie zurück
stolpern ließ. Sie fühlte sich, als hätte sie einen
unerwarteten Schlag bekommen.
„Aber diese alte Dame hat dir sowieso nur Unfug
eingeredet. Vielleicht tut dir eine Zeit ohne ihre
Gesellschaft ganz gut und du besinnst dich
wieder auf die wirklichen Werte! Du siehst auf
jeden Fall umwerfend aus, die ganze Stadt wird
auf dem Bankett vor Neid erblassen!“
Die Kutsche fuhr vor und Arthur öffnete die Tür.
Loui wand sich noch einmal um, die Augen nach
Finyan Ausschau haltend, aber sie konnte ihn
nirgendwo entdecken und stieg in die Kutsche,
die sich langsam in Bewegung setzte und ihren
Hof immer weiter hinter sich ließ.
„Sie sind also die Verlobte von Arthur Lierroy?“,
fragte eine Loui unbekannte, ältere Dame.
Sie nickte und lächelte, während Arthur neben ihr
stand und ihre Hand hielt.
„Das ist sie, in der Tat! Ist sie nicht bezaubernd?“,
antwortete Arthur ihrer statt und sie sah für einen
kurzen Moment zu Boden, ehe sie wieder ihr
kokettes Lächeln aufgesetzt hatte und Arthur
ansah.
„Oh ja!“, erwiderte die Dame.
„Sie ist wirklich absolut reizend!“
Loui lächelte unentwegt und nickte weiterhin,
ohne der Unterredung direkt zu folgen.
Ihre Gedanken schweiften ab.
Diese oberflächlichen und nahezu perfekten
Menschen und Umstände, standen im
kompletten Gegensatz zu dem, wie sie sich fühlte.
Sie wünschte sich so sehr, mit Granny reden zu
können. Sicherlich hätte sie ein paar
aufmunternde Worte gehabt!
„...Louisiana?“, drang es an ihr Ohr und sie
blinzelte kurz.
„Verzeiht, ich war kurz in Gedanken“, sagte sie
und spürte, wie Arthurs Hand ihre angespannt
umklammerte.
„Das habe ich bemerkt. Vielleicht möchtet Ihr
etwas trinken...? Ihr seht so blass aus!“, meinte die
Dame, bevor sie sich jemand anderem zu wand
und die Unterhaltung damit beendete.
Zornig funkelte Arthur Loui an.
„Was sollte das eben...? Hast du die normalen
Regeln der Etikette vergessen?“, fauchte er
und zog sie mit zu einem freien Tisch, um ihr ein
Glas Wasser einzuschenken.
„Es tut mir so leid Arthur, ich dachte nur kurz an
Granny und-“
Arthur brachte sie mit einer schroffen
Handbewegung zum Schweigen und sah Loui an,
während sie ein paar Schlucke Wasser trank.
„Ich will nichts mehr über diese verrückte, alte
Greisin hören!“, sagte er barsch und Loui hatte
Tränen in den Augen.
„Geht es dir wieder etwas besser...?“, fragte er nun
in einem etwas sanfteren Ton und Loui nickte.
„Ein bisschen blass siehst du aber wirklich aus,“
meinte er naserümpfend, bevor er sich schließlich
vorbeugte und Loui küsste.
Wieder traf sie ein Schlag und sie stolperte Arthur
direkt in die Arme.
„Ich werde gleich Herr Miller nach Dr. Whitmore
aussenden. Er soll schauen, was dir fehlt!“,
seufzte Arthur schließlich geschlagen und führte
Loui aus dem überfüllten Saal nach draußen, wo
er einen Bediensteten anwies, die Kutsche zu
holen.
„Danke“, erwiderte Loui leise, als Arthur ihr
seinen Mantel über die Schultern legte und ihr in
die Kutsche half.
Müde lehnte sie sich ans Fenster und beobachtete,
wie die Nacht und der glitzernde Schnee an ihr
vorbei zogen.
Es schien ihr, als wäre eine Ewigkeit vergangen,
als die Kutsche endlich anhielt und Arthur die Tür
öffnete, um ihr heraus zu helfen.
Er legte seinen Arm um Loui und brachte sie in
ihre Gemächer.
„Dr. Whitmore wird sicher bald hier sein. Ruh
dich so lange noch etwas aus.“, sagte Arthur und
nahm ihr seine Jacke von den Schultern, bevor er
die Tür hinter sich schloss.
Schnell lief Loui zu ihrem Fenster und öffnete es.
„Finyan?“, rief sie leise.
„Finyan, bist du da...?“
So angestrengt sie auch lauschte, sie konnte nichts
wahrnehmen.
Keine Antwort und auch kein Finyan.
***
Sie sah so wunderschön aus!
Die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte,
damals wie heute, auch wenn sie sich nicht mehr
an ihn erinnern konnte.
Aber Finyan erinnerte sich an sie.
An jede einzelne Sekunde ihrer Vollkommenheit!
Ihm wurde so warm ums Herz und er konnte
nicht anders, als ihr voller Erwartung
entgegenzulaufen.
Sie war wirklich gekommen um ihn zu treffen!
Plötzlich öffnete sich das große Metall-Tor und
dieser Mann, der mit seiner Val auf dem Bild in
der Zeitung abgebildet war, galoppierte auf den
Hof.
Er erkannte ihn sofort und er versteckte sich zur
Sicherheit hinter einer der Wände der Stallungen.
Er war zu weit entfernt, um mit anhören zu
können, worüber sie redeten.
Aber als er sah, wie sich dieser Mann zu Val
hinunter beugte, um sie zu küssen, wäre er am
liebsten auf ihn los gestürmt und hätte ihn
niedergeschlagen!
Val taumelte und der Mann - ihr Verlobter -
umfing sie.
Überwältigende Eifersucht traf ihn und er fühlte
sich so klein und machtlos!
Als ob Val es bemerkt hätte, drehte sie sich um
und sah direkt in seine Richtung.
Aber die Dunkelheit gab ihm genügend
Sichtschutz, als dass sie ihn hätte erkennen
können.
Als sie in die Kutsche stieg und vom Hof fuhr, war
ihm ganz elend zu Mute.
Es fühlte sich für ihn so an, als wäre sie
meilenweit von ihm entfernt.
Finyan lehnte sich an eine der Wände der
Stallungen und zeichnete ein „V“ in den Schnee,
welches er aber gleich darauf wieder verwischte.
Er hatte so lange gebraucht, um sie zu finden und
jetzt wo er sie endlich wieder hatte, würde er sie
auch nicht mehr so leicht gehen lassen.
„Val...“, murmelte er, bevor ihn allmählich der
Schlaf überkam.
Er schreckte auf, als sich das Tor erneut öffnete
und die Kutsche wieder auf den Hof fuhr.
Wie lange hatte er geschlafen...?
Finyan fuhr sich kurz über die Augen, als er in
seiner Bewegung innehielt und sah, wie der
Mann Val stützte.
Dass sie seine Jacke um ihre Schultern trug,
versuchte er so gut es ging auszublenden.
Vielmehr sah er besorgt zu Val herüber.
Offensichtlich ging es ihr nicht gut.
Was war mit ihr...?
War sie noch stark genug für alles, was ihr noch
bevor stand...?
Er fluchte vor sich hin und wünschte, er wäre der
Mann, an Vals Seite und würde sie stützen.
Plötzlich sah er etwas funkeln und eine Welle
Wärme traf ihn mit ungeheurer Wucht.
Er schnappte nach Luft und seufzte glücklich, als
er die Kette an Vals Hals erkannte.
Ja, dachte er sich.
Sie war bereit und stark genug.
Seine Königin.
Val.
***
„Sie scheint wohlauf zu sein“, beruhigte Dr.
Whitmore Arthur und erhob sich.
„Ein bisschen Ruhe und ihr Zustand wird sich
schnell wieder normalisieren.“
„Vielen Dank, Dr. Whitmore!“, sagte Arthur und
begleitete den Mann zur Tür.
Loui sank in ihr Kissen und schloss die Augen.
Ein bisschen Ruhe wäre in diesem Moment
wirklich ganz angenehm.
Sie döste ein wenig, als ihr ein brenzliger Geruch
in die Nase stieg und sie setzte sich abrupt auf.
War das -
„Feuer!“, hörte sie plötzlich viele Stimmen
durcheinander schreien und sie war im Nu
wieder auf den Beinen.
Ihre Zimmertür flog auf und Arthur stürmte
herein.
„Schnell! Wir müssen hier raus! Die Bibliothek
steht in Flammen und das Feuer breitet sich
immer weiter aus!“
Er packte Loui an ihrem Arm und zog sie mit sich
nach draußen, als ihnen ein brennendes Stück
Holz direkt vor die Füße viel.
Schnell stieß er Loui beiseite und brachte sie zu
dem Weg, der vom Hof weg führte, bevor er sich
wieder durch den Rauch zurück kämpfte, um
weitere Dinge vor dem Feuer zu bewahren.
Loui hustete und wischte sich über ihre
brennenden Augen.
Angsterfüllt beobachtete sie, wie die Flammen
sich immer weiter ausbreiteten.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nur im
Nachtgewand war und barfuß im Schnee stand.
Sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und
begann zu zittern.
Ein Schatten bewegte sich aus den Flammen
hervor und sie konnte Arthur erkennen,
wie er mit seinem aufgebrachten Pferd an seinen
Zügeln kämpfte.
Loui stolperte ein paar Schritte in seine Richtung,
als sie plötzlich jemand am Arm packte und sie
sich hastig umdrehte.
„Val!“, sagte Finyan liebevoll.
Eine große Welle Wärme traf sie und brachte sie
völlig aus dem Gleichgewicht!
Finyan umfing sie und sie lag für einen Moment
sicher in seinen starken Armen, bevor sie sich
wieder aufrichtete und ihn ansah.
„Es gibt mehr, als die Endlichkeit vorzugeben
scheint...Komm mit mir. Ich bringe dich zurück
nach Hause!“, sprach er lächelnd und hielt ihre
Hand fest in seiner.
Louis Herz schlug wild.
Sie konnte das Spiegelbild der Flammen in
Finyans Augen sehen und doch verspürte sie
nicht den leisesten Hauch von Angst.
Da war nur diese überwältigende Verbundenheit.
„Vertrau mir bitte...“, bat Finyan und hielt ihre
Hand noch ein wenig fester.
Sie wusste nicht, woher diese Verbundenheit und
Vertrautheit kam.
Aber sie wusste, dass sie ihren Gefühlen trauen
konnte und es fühlte sich so richtig an, wie er ihre
Hand hielt und sie liebevoll ansah.
Als wären ihre Seelen bereits über eine Ewigkeit
hinweg miteinander verbunden.
"Val...?“, fragte Finyan und sie konnte die
aufkommende Panik in seinen Augen erkennen.
Endlich löste sie sich aus ihrer Starre und lächelte:
„Ja. Ich vertraue dir!“, flüsterte sie und Finyans
Augen begannen wieder genau so hell zu
funkeln, wie bei ihrer ersten Begegnung.
Er lächelte erleichtert und strich ihr mit seinem
Daumen über ihren Handrücken, bevor sie
gemeinsam in der Dunkelheit der Nacht
verschwanden.
Kapitel 4
Er lief gemeinsam mit Val durch den Wald, wobei
sie immer wieder stolperte und er sie auffangen
musste.
„Wir sind gleich da!“, sagte er und legte seinen
Arm um ihre Schultern, als sie sich erschöpft
gegen seine Brust lehnte.
Er strich ihr mit eeiner Hand mehrfach
beruhigend über den Kopf, mit der anderen
stützte er sie.
„Ich weiß, das ist gerade alles etwas viel auf ein
Mal, aber du wirst bald alles verstehen. Zuerst
brauchst du aber etwas zum anziehen.
Komm mit!“
Er sah Val an, wie sie dort halb erfroren in ihrem
Nachthemd stand, seine Jacke um die Schultern
gelegt.
Selbst in dieser Verfassung strahlte sie noch, so
wie er es von ihr kannte.
Endlich lichtete sich der Wald und der
Hintereingang einer Hütte kam zum Vorschein.
Er öffnete einen kleinen Seiteneingang und schob
Val hindurch, bevor er die Holztür wieder
verriegelte.
„Wo sind wir hier?“, fragte Val müde und ihre
Zähne klapperten.
„Sieh selbst!“, erwiderte er und öffnete eine
weitere Tür, die direkt zu einem bekannten
Wohnraum führte.
„Grannys Wohnstube!“, stieß Val verdutzt aus und
sah ihn mit großen Augen an.
Er nickte und lächelte, bevor er eine Decke nahm
und sie Val um die Schultern legte.
***
Sie konnte nicht glauben, was innerhalb dieser
kurzen Zeit passiert war.
Und jetzt stand sie auch noch inmitten von
Grannys Wohnstube!
Wie konnte es sein, dass sie diesen Seiteneingang
vorher noch nie bemerkt hatte…?
Finyan zündete eine Kerze an und stellte sie auf
den Kaminsims, wo sie nicht von außen gesehen
werden konnte.
Sie zitterte erbärmlich und setzte sich auf das
Sofa, wo sie früher immer mit Granny gesessen
hatte.
Finyan lief gezielt zu einer Kiste, die er öffnete
und mehrere Bündel herauszog.
Eins davon reichte er ihr und sie schluckte, als sie
Grannys Handschrift auf einem kleinen Zettel
wieder erkannte.
„Die Zeit hat Zeichen gesendet...! Alles Liebe- Granny“
Tränen liefen ihr über die Wangen und sie drückte
den Zettel an ihre Brust.
Finyan lief auf sie zu und setzte sich neben sie
aufs Sofa, bevor er seine Arme um sie legte, was
keinesfalls unangenehm war.
Ihr wurde augenblicklich warm und sie hob den
Kopf, um Finyan anzusehen und lächelte, als ihre
Blicke sich trafen.
Sein Blick wurde ganz weich und er hob seine
Hand, um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht
zu streichen und dabei seine Hand etwas länger
als notwendig auf ihrer Wange verharren ließ.
Seine Augen waren ein flüssiges Blau und
goldene Funken leuchteten im Kerzenschein.
Liebevoll sah er sie an und sein Gesicht kam
ihrem langsam näher, als er sich plötzlich abrupt
abwand und aufsprang.
Fahrig fuhr er sich durch seine Haare und sah
verlegen zu Boden.
„Verzeiht!“, murmelte er.
Louis Herz schlug ihr bis zum Hals und sie sah
ihn an.
„Es gibt nichts zu verzeihen“, sagte sie leise, aber
Finyan schüttelte nur traurig den Kopf, bevor er
sich mit den Worten:
„Zieht Euch bitte um, wir müssen weiter!“,
von ihr abwand, die Tür hinter sich schloss und
sie mit tausend umherschwirrenden Gedanken
alleine ließ.
Die Sachen passten verblüffend gut und Loui
besah sich für einen kurzen Moment in dem
Spiegel, vor dem sie immer ihre Haare wieder
zusammengesteckt hatte, um wieder die
makellose Louisiana zu sein.
Jetzt stand sie dort, in einem alten, verschmutzten
Rock mit einer Kittelbluse und hatte sich noch nie
so frei gefühlt.
Sie lächelte.
Kein Vergleich mit dem sonst so perfekten Abbild.
Sie löste gerade ihre Haare, als Finyan wieder die
Stube betrat, in der Hand eine Tasse mit heißem
Tee.
Er blieb stehen, um sie kurz anzusehen, wich aber
ihrem direkten Blick aus.
„Wie eine Königin!“, sagte er und sah wieder
verlegen zu Boden.
Loui wollte die Tasse Tee entgegen nehmen, aber
stattdessen berührten sich ihre Hände und
wieder durchströmte diese ungeheurere Wärme
ihren Körper.
Finyan schien es ebenso zu spüren, denn sofort
hob er den Blick und sie sahen sich direkt in die
Augen.
Das Blau seiner Augen zuckte unruhig und sie
legte den Kopf schief, ohne jedoch den Blick in
seine Augen zu verlieren.
„Habe ich etwas falsch gemacht...?“, fragte sie
schließlich leise.
Das Funkeln in Finyans Augen kehrte zurück und
er lächelte.
„Als ob Ihr das jemals könntet, Val“, und reichte
ihr die Tasse Tee.
„Trinkt das, dann wird Euch wieder warm“, sagte
er und zog etwas aus seiner Jackentasche.
„Das gehört Euch“, murmelte er und überreichte
ihr etwas, das in ein weißes Tuch eingeschlagen
war.
Loui stellte die Tasse auf die Kommode unter dem
Spiegel und öffnete das Tuch.
Ein leiser Schrei entfuhr ihrer Kehle, als sie die
Kette wieder erkannte, die sie von Granny
geschenkt bekommen hatte.
„Woher hast du die?“, fragte Loui überrascht und
strich liebevoll über den vergoldeten Anhänger.
Finyan schwieg, nahm behutsam die Kette in
seine Hände und fragte:
„Darf ich...?“
Loui nickte, drehte sich mit dem Rücken zu
Finyan und hielt ihre Haare mit einer Hand nach
oben, damit er ihr die Kette um den Hals legen
konnte.
Sie spürte für einen kurzen Augenblick seinen
warmen Atem an ihrem Hals und schloss ihre
Augen.
In einem Schnelldurchlauf liefen die Ereignisse
der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge ab und
sie schüttelte unmerklich den Kopf.
Granny, Arthur, das Feuer, Finyan...sie seufzte, bevor
sie ihre Augen wieder öffnete und das Spiegelbild
ansah.
Finyan stand direkt hinter ihr und betrachtete sie
mit besorgter Miene.
Langsam wand sie sich zu ihm um und sagte:
„Danke.“
***
Finyan hätte auf ewig mit ihr in dieser kleinen,
verlassenen Hütte bleiben können und er musste
sich selbst sehr beherrschen, um dieser
verlockenden Versuchung zu widerstehen.
Er war schon zu weit gegangen.
Viel zu weit.
Damit hatte er Val verwirrt und er selbst ärgerte
sich darüber, sich diese Schwäche erlaubt zu
haben.
Besser, er hielt von nun an einfach Abstand.
Er war nicht gut für sie, das wusste er.
„Danke“ hatte sie gesagt und gelächelt.
Verstohlen beobachtete er Val, wie sie ihre Haare
hinten zu einem Zopf flocht und die Kette unter
ihrer Kittelbluse versteckte.
Wie wunderschön sie war!
Selbst jetzt, in diesen Lumpen, die ihrer absolut
nicht würdig waren.
Langsam machte er ein paar Schritte auf sie zu
und sprach:
„Verzeiht Val, aber wir müssen los. Euer Verlobter
hat sicher schon Männer ausgeschickt, nach Euch
zu suchen. Die Dunkelheit der Nacht bietet uns
den nötigen Schutz und der Weg ist noch weit.“
Sie sah ihn mit großen Augen an und sagte nichts.
Er sah, wie sie nachdachte und schon fürchtete er,
sie könnte es sich anders überlegt haben und
wieder zurückkehren in ihr altes Leben - zu ihrem
Verlobten.
Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu und er
beugte sich schnell nach unten, um zwei der
Bündel aufzunehmen, die Essen, Kleidung und
allerlei andere nützliche Dinge beinhalteten.
Als er nach dem letzten Bündel greifen wollte,
kam ihm jemand zu vor.
Die zierliche Hand von Val schnappte sich das
Bündel und hängte es sich über ihre Schultern.
Nun war er es, der verdutzt war.
„Ihr müsst nichts tragen, Val!“, sagte er schnell
und streckte seine Hand nach dem Bündel auf
ihren Schultern aus.
Stattdessen griff Val nach seiner Hand und sah
ihn mit entschlossener Miene an:
„Gemeinsam, oder nicht...?“, fragte sie und ihre
Hand lag ruhig in seiner.
Da war sie wieder, seine Val und für einen kurzen
Augenblick fühlte er sich, als hätte er sie wieder.
Die rebellische Frau mit den kupferroten Haaren.
„Gemeinsam!“, antwortete er und sie nickte
zufrieden, bevor sie ihm ihre Hand entzog, zum
Kamin lief und die Kerze ausblies.
- Fortsetzung folgt -