25.07.2022 Aufrufe

wina Oktober 2021

Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!

Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.

<strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />

Cheshwan 5782<br />

#10, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

GRAUEN NEU<br />

EINGEORDNET<br />

Vorbei die Opferthese –<br />

die neue österreichische Länderausstellung<br />

in der KZ-Gedenkstätte<br />

Auschwitz-Birkenau<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078 039078W /<br />

JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

10<br />

9 120001 135738<br />

VERLORENE &<br />

VERGESSENE GENERATION<br />

Kunstwerke vertriebener und ermordeter<br />

jüdischer Künstler:innen in Salzburg<br />

WIE WEIBLICH IST<br />

DER HERR<br />

Über G’ttes weibliche Seite spricht<br />

Kuratorin FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />

FREUD UND EIN<br />

AMERIKANER IN WIEN<br />

Autor ANDREW NAGORSKI über<br />

Sigmund Freuds Flucht nach England<br />

TANZ DER<br />

EINSAMKEITEN<br />

Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie –<br />

Gespräch mit SUSANNE F. WOLF


INFORMATION DES BMSGPK<br />

sozialministerium.at<br />

Ich bin geschützt –<br />

ich bin geimpft!<br />

Jetzt mit gratis<br />

Influenza-Impfung!<br />

Impfungen retten Leben! Schutzimpfungen gehören zu den wichtigsten und<br />

wirksamsten vorbeugenden Maßnahmen gegen viele ansteckende Erkrankungen.<br />

Durch das kostenfreie Kinderimpfprogramm können alle in Österreich lebenden<br />

Kinder bis zum vollendeten 15. Lebensjahr gegen gefährliche Krankheiten geschützt<br />

werden.<br />

Über alle empfohlenen Impfungen informieren Sie sich bei Ihrer Ärztin oder Ihrem<br />

Arzt, in Ihrer Apotheke oder unter sozialministerium.at/impfen.


„Ich glaube nicht, dass unsere Spezies<br />

überleben kann, wenn wir das<br />

nicht in Ordnung bringen.“<br />

Editorial<br />

Und die Welt stand still. Für ganze sechs Stunden. Natürlich<br />

nicht die ganze Welt. Nur die virtuelle. Und selbstverständlich<br />

auch nicht die gesamte virtuelle, nur ihre für<br />

uns vermeintlich wichtigen Gegenden – die Social Media. Und die<br />

reale Welt drückte und drückte und drückte herum und nichts hat<br />

sich getan. Klang ein wenig wie: „Hilfe! Ich habe das Internet gelöscht!“<br />

Sechs Stunden Leere später entschuldigte sich Mark Zuckerberg<br />

über seinen Twitter(!)-Account: „Sorry for the disruption today<br />

– I know how much you rely on our services to stay connected<br />

with the people you care about.“ Um mit den Menschen, die Ihnen<br />

wichtig sind, in Verbindung zu bleiben!? Ein Algorithmen-<br />

Netzwerk, das mich mit jenen in Verbindung hält, die mir wichtig<br />

sind?<br />

Nur einige Tage zuvor sah ich mir die „reißerische“ Doku Social<br />

Dilemma auf Netflix an und war dabei, alle Geräte, die sich fürs<br />

Surfen eignen, aus unserer Wohnung, aus unserer Nähe, aus unserem<br />

Leben zu verbannen, mir Kuverts, Papier und<br />

Briefmarken zu besorgen und unsere kleine Höhle wieder<br />

ganz nach old school zu stylen.<br />

„Ich glaube nicht, dass unsere Spezies überleben<br />

kann, wenn wir das nicht in Ordnung bringen. Wir können<br />

keine Gesellschaft haben, in der, wenn zwei Menschen<br />

miteinander kommunizieren wollen, dies nur<br />

möglich ist, wenn es von einer dritten Person finanziert<br />

wird, die sie manipulieren will“, sagt Jaron Lanier, einst<br />

mächtiger Pionier bei der Erschaffung virtueller Realitäten.<br />

Heute ist der ehemalige Schulabbrecher, Universitätsdozent,<br />

Komponist und Sohn von Holocaust-Überlebenden<br />

einer der wichtigsten und klügsten Kritiker<br />

der sozialen Medien und unter anderem Autor von 10<br />

Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen solltest. Er<br />

behauptet, dass es natürlich nicht darum geht, ob wir die Werbeeinschaltungen,<br />

die uns über unsere Accounts angeboten werden,<br />

auch nützen oder nicht. Vielmehr geht es um jene Manipulation,<br />

die unser Verhalten unmerkbar langsam, aber stetig ein<br />

wenig verändert. Große Wahlen, Katastrophen, gesellschaftliche<br />

Großereignisse werden dabei zu unendlich großen Versuchslabors<br />

der Programmierer und Mathematiker bei Google, Facebook, Instagram<br />

& Co. und wir darin zu freiwilligen Versuchstieren. Oder<br />

lesen Sie immer alle Cookie-Bestimmung durch, vertiefen sich<br />

in Nutzungsbedingungen von Suchmaschinen, bevor Sie sich in<br />

den Schlaf surfen, oder überlegen Sie sich ausgeklügelte Passwortkombinationen<br />

für Ihre Accounts? Ich bin eher von der ungeduldigen<br />

Sorte und will Inhalte schnell konsumieren, meine Recherchen<br />

erledigen und mich über die Postings jener amüsieren, oder<br />

ärgern, die mir wichtig sind. Und dabei nicht darüber nachdenken,<br />

warum Facebook während des Ausfalls pro Stunde allein in<br />

den USA etwa 545.000 Dollar an Werbeeinnahmen ausfielen. Und<br />

was das eigentlich wirklich bedeutet. Nämlich, dass das Unternehmen<br />

mit unserer Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation<br />

zum Mächtigen wurde. Dabei wären Nachdenken und Eigensinn<br />

(auch) in diesem Zusammenhang mehr als angebracht.<br />

Das Lesen unserer aktuellen WINA-Ausgabe fordert zwar keine<br />

so komplizierten Überlegungen. Ich hoffe aber dennoch, das es Ihnen<br />

für zumindest sechs stille Stunden ähnlich viel Freude macht<br />

wie uns.<br />

Julia Kaldori<br />

„Die Dinge, die<br />

wir am meisten<br />

brauchen, sind<br />

jene, vor denen<br />

wir uns am meisten<br />

fürchten, wie<br />

Abenteuer, Intimität<br />

und authentische<br />

Kommunikation.<br />

Wir<br />

wenden unsere<br />

Augen ab und<br />

bleiben bei den<br />

bequemen Themen.“<br />

Charles<br />

Eisenstein<br />

© Kunihiko Miura / AP / picturedesk.com<br />

wına-magazin.at<br />

1


S.40<br />

Susanne F. Wolf hat eine sensible und kämpferische<br />

Bearbeitung von Arthur Schnitzlers<br />

Roman Der Weg ins Freie vorgenommen, die nun<br />

zum 90. Todestag des Dichters am Theater in<br />

der Josefstadt aufgeführt wird.<br />

INHALT<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Grauen neu eingeordnet<br />

Österreich hat die Opferthese hinter<br />

sich gelassen. Daher wurde die Länderausstellung<br />

in der KZ-Gedenkstätte<br />

und im Museum Auschwitz-<br />

Birkenau erneuert.<br />

10 Auch das Leid zeigen<br />

Problematische Literatur im Museumsshop<br />

brachte eine Debatte über<br />

die Inhalte des Heeresgeschichtlichen<br />

Museums ins Rollen.<br />

22 Offene Lernorte<br />

Christian H. Stifter und Robert Streibel<br />

erzählen im WINA-Interview über<br />

die Entwicklung der Wiener Volksbildung<br />

in den Jahrzehnten vor dem<br />

Nationalsozialismus.<br />

26 Ein Amerikaner in Wien<br />

Der US-Autor Andrew Nagorski bereitet<br />

ein Buch über Sigmund Freuds<br />

Flucht nach England vor und wer diesem<br />

dabei geholfen hat.<br />

„[...] sie müssten jetzt<br />

den Antisemitismus etwas<br />

einbremsen, weil dann<br />

der jüdische Herr vielleicht<br />

mehr Geld<br />

für die Stadt<br />

Wien springen<br />

lässt.“<br />

Susanne F. Wolf<br />

zitiert Arthur Schnitzler<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

12 Verlorene Generation<br />

Ein Privatmuseum in Salzburg zeigt<br />

vergessene Kunstwerke von 180 in<br />

der NS-Zeit vertriebenen und ermordeten<br />

jüdischen Künstler:innen.<br />

15 Ein jüdisches Leben<br />

Im Alter von weit über 100 Jahren<br />

setzte sich Marko Feingold noch einmal<br />

vor die Kamera. Die beklemmenden<br />

Erinnerungen kommen im <strong>Oktober</strong><br />

in die Kinos.<br />

16 Wenn Steine erzählen<br />

Jeder Stolperstein erzählt ein Leben.<br />

Das europaweite Projekt der Stolpersteine<br />

wird von Daniela Grabe in<br />

Graz verwirklicht.<br />

20 Soldaten und Flaneure<br />

Eli Belovitch gründete Anfang des<br />

letzten Jahrhunderts Belstaff als<br />

Hersteller von wasserfesten Stoffen<br />

für Soldaten.<br />

28 Mit jüdischen Wurzeln<br />

Tony Curtis engagierte sich auf vielfältige<br />

Weise für die Restaurierung jüdischer<br />

Synagogen in Ungarn. Seine<br />

Tochter Jamie Lee Curtis folgt ihm<br />

nun dabei.<br />

30 11 Finger, 15 Gebote<br />

Mel Brooks ist 95. Der amerikanische<br />

Filmemacher steht mit seinem intelligent-brachialen<br />

Humor fest in der Tradition<br />

der Jewish Stand-up Comedy.<br />

„Ich bin so lange nicht<br />

fertig, als es Menschen<br />

gibt, die das,was mir<br />

passiert ist, leugnen.<br />

So lange muss<br />

man diese<br />

Geschichte<br />

erzählen.“<br />

Marko Feingold<br />

S.15<br />

S.34<br />

Sprechstunde<br />

Wir haben Redebedarf: WINA kümmert sich dieses<br />

Monat um das schöne Thema Therapie.<br />

2 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


KULTUR<br />

38 Wie weiblich ist der Herr<br />

Eine Podiumsdiskussion am 7. Dezember<br />

widmet sich dem Thema „G’ttes<br />

weibliche Seite“, das Felicitas Heimann-Jelinek<br />

bereits für zwei große<br />

Ausstellungen aufbereitet hat.<br />

40 Tanz der Einsamkeiten<br />

Das Theater in der Josefstadt bringt<br />

Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins<br />

Freie in der Bearbeitung von Susanne<br />

F. Wolf zum 90. Todestag des Dichters<br />

auf die Bühne.<br />

43 Menschliche Hoffnung<br />

Shira Karmon und Paul Gulda präsentieren<br />

mit The Spirit of Hope eine anspruchsvolle<br />

CD, die am 9. November<br />

im Alten Rathaus vorgestellt wird.<br />

44 Sezierende Analyse<br />

Vor 150 Jahren wurde der große französische<br />

Romancier Marcel Proust geboren.<br />

Seine jüdische Mutter war eine<br />

geborene Weil aus Lothringen.<br />

46 „Nicht das Ende“<br />

Mit Der große Wind der Zeit über hundert<br />

Jahre Geschichte „Erez Israels“<br />

möchte Autor Joshua Sobol sein Opus<br />

Magnum vorlegen.<br />

48 … und seine alten Wurzeln<br />

In Jud, Jahudi oder Zionist – der ausgegrenzte<br />

Feind spürt Raimund Fastenbauer<br />

dem Phänomen des neuen Antisemitismus<br />

nach.<br />

52 Von Aufstieg und Abstieg<br />

Mitglieder der Familie Brunner haben<br />

dem Jüdischen Museum Hohenems<br />

zahlreiche Objekte überlassen. Kurator<br />

Hannes Sulzenbacher fasste ihre<br />

europäisch-jüdische Geschichte zwischen<br />

Hohenems, Triest und Wien nun<br />

in Buchform zusammen.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

18 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Neues Jahr, neue Normalität, neue<br />

Regierung. Von Gisela Dachs<br />

32 Matok & Maror<br />

Ein Ort voller Lebensfreude –<br />

Das Makom in Neubau<br />

33 WINA_kocht<br />

Was ein Judenbraterl ist und woher<br />

der Ausdruck „parve“ kommt<br />

34 WINA_Lebensart<br />

WINA kümmert sich dieses Mal<br />

um das schöne Thema Therapie<br />

50 WINA_Werkstädte<br />

Ein Meisterwerk von Mauricy Gottlieb<br />

zeigt Shylock als frommen und<br />

liebenden Vater<br />

51 Urban Legends<br />

Alexia Weiss über das Phänomen,<br />

dass auf Reisen selten alles wie geplant<br />

läuft<br />

53 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />

Coverfoto: trinity666 / Photocase;<br />

56 Das letzte Mal<br />

Iris Singer berichtet über einen jährlichen<br />

Geburtstagswunsch und den<br />

inspirierenden Marko Feingold.<br />

Einem Börsengewinn<br />

von hunderten<br />

Millionen<br />

Euro, den<br />

ihr Kibbuz<br />

gemacht hat, stehen die<br />

Alten hilflos gegenüber,<br />

ihre Erben können damit<br />

schon mehr anfangen ...<br />

Aus dem Plot von Joshua Sobols<br />

Der große Wind der Zeit<br />

S.46<br />

Joshua Sobol hat mit<br />

Weiningers Nacht 1983 erstmals<br />

die Weltbühne betreten. Mit<br />

seinen epischen Werken war<br />

der israelische Autor jedoch<br />

bisher weniger erfolgreich. Der<br />

Roman Der große Wind der Zeit<br />

soll nun sein Opus Magnum<br />

werden.<br />

wına-magazin.at<br />

3


Bezahlte Anzeige<br />

HIGHLIGHTS | 01<br />

Zitat text hier<br />

Xxxxxx<br />

Manche nennen es Job,<br />

ich nenne es Zukunft.<br />

Bewirb dich jetzt!<br />

Die Elementarpädagog*innen und Pädagog*innen für den inklusiven Bereich der Stadt Wien<br />

begleiten die Kinder aufmerksam bei der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Sie gehen<br />

dabei auf die individuellen Interessen, Begabungen und Bedürfnisse der Kinder ein.<br />

Du hast eine entsprechende Ausbildung? Dann bewirb dich jetzt auf unserer Jobplattform!<br />

Du möchtest dich beruflich in diese Richtung verändern? Dann informiere dich über die<br />

Ausbildung an der bafep21!<br />

© Xxx<br />

4 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />

jobs.wien.gv.at


WINA KOMMENTAR<br />

Ich halte jetzt mal eine Sonntagsrede<br />

Ausschnitte aus Cornelius Obonyas* Eröffnungsrede bei den 30. Jüdischen<br />

Filmwochen. Die vollständige Rede lesen Sie online unter www.<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

ch halte jetzt einmal eine Sonntagsrede! Eine dieser Reden,<br />

die immer gehalten werden bei solchen Anlässen. Die<br />

immer zu hören sind und gleich wieder vergessen werden.<br />

Von denen dann hinterher gesagt wird, „… dass man<br />

das alles ja immer hören würde, in Sonntagsreden, aber<br />

man müsse doch endlich wirklich einmal ... !“, usw. usf ...<br />

Trotzdem … ich halte so eine Sonntagsrede trotzdem. Man<br />

hat mich gebeten – das ist sehr ehrend. Anlässlich von 30<br />

Jahren Jüdisches Filmfestival Wien, Jewish Film Festival Vienna<br />

– sehr, sehr ehrend. Ich bin – und in Österreich ist das<br />

ja so unendlich wichtig – immerhin Präsident! Präsident der<br />

„Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich“.<br />

Ich durfte das werden. Auch das ehrend. Meine Mutter –<br />

Kammerschauspielerin Elisabeth Orth – war bis vor einem<br />

Jahr die Präsidentin. Sie folgte Erika Weinzierl nach. Und mit<br />

84 Jahren suchte sie nun langsam nach einer Nachfolge. Es<br />

durfte auch ein Mann sein. Ich habe mich getraut, sie zu fragen,<br />

ob sie dächte, dass ich das könnte. Sie dachte.<br />

Und dann wurde ich von dieser kleinen Gruppe wunderbarer<br />

Menschen der „Aktion“ tatsächlich gewählt.<br />

Und da stehe ich nun.<br />

Meine Mutter hat 2014 dieses Festival eröffnet. Ich habe<br />

sie um ihre Rede von damals gebeten, weil ich dachte, da<br />

schau ich mir was ab. So wie ich mir beruflich schon immer<br />

was von ihr abgeschaut habe. Es hat geholfen – beruflich.<br />

Dass es auch beim Schreiben und Halten von Reden<br />

helfen würde, war nur eine Vermutung.<br />

Also: Vor sieben Jahren hielt sie ihre Rede. Sie hatte<br />

Glück, sie konnte damals auf einen Film verweisen, der<br />

einzigartig war und ist – Schindlers Liste von Steven Spielberg,<br />

damals schon 20 Jahre alt. Aber er wurde beim Festival<br />

gezeigt. Und Sie schrieb damals: „Die alte kranke und<br />

krankmachende Giftpflanze Antisemitismus hat sich nach 1945 anscheinend<br />

nur ein bisschen geduckt, hat aber überlebt. Wabert<br />

mal unter und dann über diversen Stammtischen, in einschlägigen<br />

Kellern und Publikationen, manifestiert sich ganz mit oder ganz<br />

ohne Juden, spielt ein bisschen mit der Auschwitzlüge, vermischt<br />

sich mit Neonazismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und<br />

lässt sich erbärmlicherweise nicht ausrotten. Aufklärer und Differenzierer<br />

haben es schwer gegen diesen Kochtopf, in dem man<br />

so lustvoll alles zusammenschmeißen kann – Israel und Gaza, die<br />

Muslime mit oder ohne Kopftuch, die eigenen Benachteiligungsängste<br />

und die fremde Bedrohung, Frustrationen von Rechts und<br />

Links und in der Mitte und die Demokratie verkocht in diesem Gebräu.<br />

Und die scheinbar unkontrollierbare vernetzte Hetze im Internet<br />

streut noch anonymes Scharfmachersalz drüber und hält<br />

das Ganze am Köcheln.“<br />

„Gewisse Dinge sind einfach nicht<br />

tragbar. Mitmarschieren mit Neonazis im<br />

Jahre <strong>2021</strong> ist nicht tragbar. In keinem Jahr.<br />

In keiner Pandemie. Niemals!“<br />

Besser könnte ich und möchte ich es nicht ausdrücken.<br />

Was hat sich verändert in diesen sieben Jahren? Wo stehen<br />

wir heute?<br />

[...] Trauen wir uns doch bitte wieder, einfach nur Tacheles<br />

zu reden! Es wird noch viele Gespräche, Debatten und Sonntagsreden<br />

brauchen, in denen wir Klartext reden müssen. Gewisse<br />

Dinge sind einfach nicht tragbar. Mitmarschieren mit Neonazis<br />

im Jahre <strong>2021</strong> ist nicht tragbar. In keinem Jahr. In keiner Pandemie.<br />

Niemals!<br />

Die daraus resultierende Freund-Feind-Verschiebung, wenn<br />

man es tut, ist nicht abzuschätzen und führt – früher oder später<br />

– auf direktem Wege zu einer Situation, die Erich Kästner beschrieben<br />

hat mit „Man darf nicht warten bis aus dem Schneeball<br />

eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball<br />

zertreten – die Lawine hält keiner mehr auf!“<br />

[...] Und Trotzdem! Die gute Nachricht ist, es gibt mehr, viel<br />

mehr sichtbares jüdisches Leben, als vor sieben Jahren, mehr<br />

sichtbare jüdische Kultur denn je! Das ist gut so. Denn es ist immer<br />

die Kultur von Österreicherinnen und Österreichern. Es ist<br />

europäische Kultur. Es ist Weltkultur. Es ist eines von vielen wahren<br />

Weltkulturerben. Wir dürfen Erben sein dieser Weltkultur!<br />

Doch schon zu Zeiten der Rede meiner Mutter hieß es: „Vielleicht<br />

ist es doch besser, wenn man in gewissen Gegenden, im<br />

Moment, keine Kippa trägt …“ Das war in Berlin.<br />

„Ich habe meinen Magen David, den ich an einer Kette um den<br />

Hals trage, jetzt Mal unter den Pullover getan, das ist einfach besser<br />

im Moment …“<br />

Das war in … – wo auch immer das war, es ist egal.<br />

Aber wir stehen immer noch so da! Sieben Jahre später und<br />

wahrscheinlich werden wir auch noch in sieben Jahren so da<br />

stehen. Immer wieder das Zurückzucken vor der Gefahr. Vor der<br />

Tatsache, dass Kultur, Kultus, Ausdruck von Kunst, oder von Leben,<br />

oder von was auch immer, doch noch Gefahr laufen kann,<br />

im freien, so wunderbar freien Europa von heute, ver- oder missachtet<br />

zu werden. Immer noch!<br />

Immer noch sehen wir die Berichte über ansteigenden Antisemitismus.<br />

Anstatt einmal final das Gegenteil davon.<br />

[...] Schaffen wir es dennoch – nein – trotzdem! – einen Diskurs<br />

aufrecht zu erhalten? Ja! [...]<br />

* Cornelius Obonya ist u. a. seit 2019 Präsident der „Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich“. Diese Rede hielt<br />

er bei der Eröffnung der Jüdischen Filmwochen. Wir danken für die Abdruckrechte! jfw.at<br />

wına-magazin.at<br />

5


Österreich & Auschwitz<br />

Mehr als zehn Jahre später wird<br />

nun im <strong>Oktober</strong> die neu gestaltete<br />

österreichische Schau eröffnet.<br />

Die Neukonzeption er-<br />

folgte prozesshaft unter Einbindung zweier<br />

Beratungsgremien – einem wissenschaftli-<br />

chen Beirat und einem gesellschaftlichen<br />

Beirat, der die Anliegen betroffener Interessenvertretungen,<br />

Opferverbände und Religi-<br />

onsgemeinschaften vertrat – und wurde vom<br />

Nationalfonds koordiniert.<br />

Bei der Ausschreibung konnte sich das Ku-<br />

ratoren- und Kuratorinnenteam unter der<br />

Gesamtleitung von Hannes Sulzenbacher<br />

und der wissenschaftlichen Leitung von Al-<br />

bert Lichtblau durchsetzen, dem Birgit Johler,<br />

Christiane Rothländer und Barbara Staudin-<br />

ger – sie wird im Sommer 2022 Direktorin des<br />

Jüdischen Museums Wien – angehören. Für<br />

die architektonische Ausstellungsgestaltung<br />

zeichnet Martin Kohlbauer verantwortlich.<br />

Titel der neuen Ausstellung ist Entfernung.<br />

Österreich und Auschwitz. . Sie setzt sich mit den<br />

Schicksalen österreichischer Opfer im KZ<br />

Auschwitz auseinander, zeigt aber auch die<br />

Mittäterschaft und Verantwortung von Österreichern<br />

an den Verbrechen des National-<br />

sozialismus. Sichtbar wird dabei der Bruch<br />

zwischen der damaligen Realität von Leben<br />

und Sterben in Auschwitz-Birkenau und<br />

dem vorher und außerhalb des Lagers gel-<br />

tenden Bezugssystem in Österreich. Was im<br />

KZ passierte, ist nun im Museum in Form realer<br />

Objekte präsentiert, was damals in Ös-<br />

terreich passierte, erfahren die Besucher in<br />

einem virtuellen Ausstellungsraum. So werden<br />

das „Hier“ und „Dort“ miteinander ver-<br />

knüpft.<br />

Die folgenden Fotos beleuchten den Pro-<br />

zess der Neukonzeption und zeigen, was den<br />

Besucher in der neu gestalteten Ausstellung<br />

erwartet. WINA bat zudem Menschen, die an<br />

diesem Prozess der Neupositionierung Öster-<br />

reichs an diesem historisch so wichtigen Ort<br />

beteiligt waren, um ihre Gedanken zu den<br />

hier gezeigten Aufnahmen.<br />

Das Grauen<br />

neu eingeordnet<br />

„Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“<br />

stand auf der Eingangsgrafik der 1978 eröffneten<br />

österreichischen Länderausstellung in der KZ-Gedenkstätte<br />

und Museum Auschwitz-Birkenau. In-<br />

zwischen hat Österreich die Opferthese hinter sich<br />

gelassen. 2009 beschloss die Regierung daher, die<br />

Ausstellung zu erneuern.<br />

Zusammenschau: Alexia Weiss<br />

6 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Mittäterschaft & Verantwortung<br />

Hannes Sulzenbacher,<br />

Leiter des Kuratoren- und Kuratorinnenteams<br />

Die neue österreichische Ausstellung in der Gedenkstätte<br />

von Auschwitz-Birkenau trägt den<br />

Titel Entfernung. Österreich und Auschwitz.<br />

Entfernung bedeutet in diesem Zusammenhang<br />

erstens die räumliche Distanz<br />

zwischen Österreich und Auschwitz, die<br />

Teil der nationalsozialistischen Verheimlichungsstrategie<br />

des Massenmordes war.<br />

Zweitens findet sich das Prinzip der Entfernung<br />

in der Geschichte, die in der Ausstellung<br />

erzählt wird: Die Anfänge dieser<br />

Geschichte liegen in Österreich, sie endet<br />

in Auschwitz. Damit erschließt sich<br />

die dritte Dimension der Entfernung: Sie bedeutete für<br />

die Verfolgten des NS-Regimes ihre Entfernung aus Österreich,<br />

aus dem Leben und schließlich aus dem Bewusstsein<br />

der Bevölkerung.<br />

Um die „Entfernung“ nicht nur intellektuell begreifbar,<br />

sondern auch visuell und sinnlich erfahrbar<br />

zu machen, besteht der Hauptteil der historischen<br />

Ausstellung im Block 17 der Gedenkstätte<br />

Auschwitz-Birkenau aus zwei einander bedingenden<br />

und miteinander verbundenen Visualisierungs- und<br />

Inhaltsebenen: „Hier“ (Auschwitz) und „Dort“ (Österreich).<br />

Im „Hier“ werden reale Gegenstände aus<br />

Auschwitz, Zeugnisse nationalsozialistischer Verfolgungs-<br />

und Vernichtungspolitik in großen Vitrinen,<br />

gezeigt. Sie sind eingebettet in ihren unmittelbaren<br />

räumlichen Zusammenhang – also im „Hier“, dem<br />

Ort des Terrors. Mit ihnen wird von den österreichischen<br />

Opfern und Täter*innen ab dem Zeitpunkt ihrer<br />

Ankunft in Auschwitz erzählt.<br />

Die zweite Ebene der Ausstellung widmet sich den<br />

Inhalten, die den Nationalsozialismus in Österreich,<br />

seine Vorgeschichte, den „Anschluss“, den Aufbau und<br />

die Struktur des Terrorregimes, die darin eingebundenen<br />

Akteurinnen und Akteure sowie das Schicksal der<br />

Verfolgten vor ihrer Deportation nach Auschwitz betreffen.<br />

Dieser Ausstellungsteil „Dort“, der ebenfalls<br />

durch Objekte in Vitrinen präsentiert wird, ist nicht<br />

real vorhanden, sondern wird als Film auf vier Wänden<br />

gezeigt. Die Dokumente und Gegenstände auf diesem<br />

Film sind also nicht real vorhanden. Dies soll verdeutlichen,<br />

dass die politischen Entwicklungen in Österreich,<br />

aber auch alle persönlichen Beziehungen, alle<br />

Dinge, die einmal persönlich von Bedeutung waren,<br />

für die nach Auschwitz Deportierten nicht mehr greifbar<br />

und im Zusammenhang mit dem täglichen Überlebenskampf<br />

ohne Bedeutung waren. Alles, was für sie<br />

einmal Österreich war, war nun nur mehr Erinnerung.<br />

Nur mehr, was Auschwitz war, war von Bedeutung.<br />

Thema Entfernung. Aus<br />

Österreich, aus dem Leben und<br />

schließlich aus dem Bewusstsein<br />

der Bevölkerung.<br />

© Vad Vashem<br />

Die Transportkarte<br />

ihrer<br />

Großmutter, die<br />

Hannah Lessing<br />

lange vergeblich<br />

gesucht hatte.<br />

© Hannes Sulzenbacher<br />

Sichtbar wird dabei<br />

der Bruch zwischen<br />

der damaligen Realität<br />

von Leben und<br />

Sterben in Auschwitz-Birkenau.<br />

Hannah Lessing,<br />

Generalsekretärin des Nationalfonds<br />

Viele Jahre habe ich bei meiner Arbeit im Nationalfonds<br />

Geschichten über die Schicksale anderer<br />

gehört. Bis ich dann eines Tages eine Transportkarte<br />

gefunden habe – die Transportkarte meiner Großmutter<br />

von Theresienstadt nach Ausschwitz.<br />

Davor hatte ich in Theresienstadt oft nach Hinweisen<br />

gesucht – vergeblich. Ich hatte immer diesen<br />

Traum, dass ich mit den Archiven, die uns zur Verfügung<br />

standen, herausfinden würde, dass meine<br />

Großmutter noch lebt, dass ich sie meinem Vater<br />

zurückbringen könnte.<br />

Nun, mit der Transportkarte, versuchte ich, in<br />

Auschwitz mehr über ihr Schicksal und die Umstände<br />

in Erfahrung zu bringen: Doch sie war nirgendwo<br />

als Häftling registriert<br />

worden. So wurde mir<br />

klar, dass meine Großmutter<br />

– falls Sie die Deportation<br />

überlebt hatte – direkt nach<br />

ihrer Ankunft in Auschwitz<br />

in der Gaskammer ermordet<br />

wurde.<br />

In den vergangenen Jahren<br />

habe ich viele Berichte<br />

über diese Transporte von<br />

Theresienstadt nach Ausschwitz<br />

gelesen. 2005 besuchte ich schließlich zum<br />

ersten Mal das heutige Museum Ausschwitz-Birkenau.<br />

Ich musste mir vorstellen: Dies ist der Ort, an<br />

dem irgendwo die Asche meiner Großmutter ruht.<br />

Seit der Nationalfonds die Koordinierung der<br />

Neugestaltung der Österreich-Ausstellung übernommen<br />

hat, habe ich viele weitere Reisen nach<br />

Ausschwitz gemacht. Jedes Mal lege ich an einem<br />

anderen Platz einen Stein für meine Großmutter<br />

nieder und sage für sie Kaddish, das Totengebet.<br />

Margit Lessing, meine Großmutter. Möge ihre Erinnerung<br />

immer ein Segen sein.<br />

wına-magazin.at<br />

7


Entferntes Auschwitz<br />

© Archive of the Auschwitz-Birkenau State Museum, Oświęcim<br />

Vielfältige Freizeitgestaltung.<br />

Für SS-Angehörige<br />

fanden regelmäßig<br />

Theateraufführun-<br />

gen und andere<br />

Veranstaltungen<br />

statt. Zum Wiener<br />

Abend kamen<br />

Künsterlinnen und<br />

Künstler der Wiener<br />

Staatsoper, des<br />

Burgtheaters und<br />

des Volkstheaters.<br />

Claire Fritsch,<br />

Leiterin der Koordinierungsstelle im Nationalfonds<br />

Man würde heute intuitiv die Entfernung<br />

zwischen Wien und Auschwitz als ziemlich<br />

groß einschätzen. Das stimmt auch mit dem<br />

Konzept der Nationalsozialisten überein, dass<br />

der Massenmord möglichst abgeschirmt von<br />

der Welt stattfinden sollte. Doch besteht diese<br />

Distanz mehr im Kopf als auf der Karte – zwischen<br />

den beiden Orten liegen nur knapp 400<br />

Kilometer. Die Ausstellung mit dem Titel Entfernung.<br />

Österreich und Auschwitz erinnert daran,<br />

dass die beiden Orte durchaus miteinander verknüpft<br />

waren. Während die Häftlinge – manchmal<br />

auch nur zur Belustigung der Wachen – gepeinigt,<br />

gedemütigt, ausgehungert und getötet<br />

wurden, erfreute sich die SS an einem vielseitigen<br />

Unterhaltungsprogramm, unter anderem<br />

auch aus Wien. So gaben etwa am 23. Mai 1944<br />

Mitglieder der Staatsoper, des Burgtheaters und<br />

des Volkstheaters ein Gastspiel für die SS. Dieser<br />

„Wiener Abend“ beendete einen Tag, an dem<br />

Selektionen der Transporte aus Italien, Ungarn<br />

und Frankreich stattgefunden hatten. So „entfernt“<br />

war Auschwitz.<br />

Herta Neiß,<br />

Vorsitzende des gesellschaftlichen Beirats<br />

Das für mich zentrale Objekt in unserer<br />

neuen Länderausstellung ist der Zyklus der<br />

Sussmann-Fenster. Heinrich Sussmann, selbst<br />

Auschwitz-Überlebender, hat mit den Glasfenstern<br />

Von Rauch und Flammen geschwängerter Himmel,<br />

In Flammen betender Jude, Gaskammer, Schreiende<br />

Not und Das bittere Ende das Unbegreifliche in<br />

Form dieser Fenster darzustellen versucht. Für<br />

uns als Lagergemeinschaft bleiben sie als Teil<br />

der ersten Ausstellung, die 1978 eröffnet wurde,<br />

erhalten, was wir sehr begrüßen.<br />

Es waren die Überlebenden des Konzentrationslagers<br />

Auschwitz, die Mitglieder der<br />

Lagergemeinschaft, die an der ersten Ausstellung<br />

noch maßgeblich mitgearbeitet und<br />

auch Objekte ihr persönliches Schicksal betreffend<br />

eingebracht haben. Die Sussmann-<br />

Fenster stellen dabei ein Bindeglied zwischen<br />

diesen beiden Ausstellungen dar und beziehen<br />

damit meinem Empfinden nach symbolhaft<br />

die ehemaligen Häftlinge ein.<br />

Die Sussmann-Fenster zeigen, ohne dass<br />

es viele Worte braucht, was für die Häftlinge<br />

Auschwitz bedeutete. Und letztlich soll dieser<br />

Ort neben der Wissensvermittlung auch jener<br />

sein, an dem Überlebende und deren Familien<br />

der Opfer gedenken.<br />

Sussmann-Fenster. Heinrich Sussmann<br />

war selbst Auschwitz-Überle-<br />

bender. Seine Fenster zeigen, was für<br />

die Häftlinge Auschwitz bedeutete,<br />

ohne dass es viele Worte braucht.<br />

© BF/MINICH<br />

8 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Das Unbegreifliche darstellen<br />

Martin Kohlbauer,<br />

Architekt<br />

Das komplementäre Bespielen<br />

zweier Ausstellungsorte, das<br />

„Hier“ (Auschwitz) und das „Dort“<br />

(Österreich), hier physisch und dort<br />

virtuell, ist der Ausgangspunkt<br />

für den minimalistischen<br />

Gestaltungsansatz.<br />

Mit einem<br />

sehr klaren und einfachen<br />

Raum-im-Raum-<br />

Konzept habe ich den<br />

inhaltlichen Vorgaben<br />

und Ideen wie auch<br />

dem gänzlich unfassbaren<br />

Ort mit seinen<br />

mannigfachen Bezügen Rechnung<br />

getragen.<br />

Barbara Staudinger,<br />

Co-Kuratorin<br />

Das ehemalige Konzentrationsund<br />

Vernichtungslager Auschwitz<br />

ist heute Friedhof, Gedenkstätte<br />

und Museum. Die ehemaligen Häftlingsblocks<br />

im so genannten Stammlager<br />

Auschwitz I wurden durch Umund<br />

Einbauten in museale Räume<br />

umgestaltet. Auch im Block 17 wurden<br />

die Einbauten der alten österreichischen<br />

Ausstellung entfernt, ein<br />

„originaler“ Zustand wiederhergestellt,<br />

um schließlich durch den Einbau<br />

einer inneren Verschalung eine<br />

Distanz zur Außenwelt<br />

und damit einen Museumsraum<br />

zu schaffen.<br />

Diese Metamorphose,<br />

der Übergang<br />

von einem Zustand in<br />

den anderen, wurde<br />

als künstlerische Forschung<br />

durch Ruth Anderwald<br />

und Leonhard<br />

Grond begleitet. Baustelle<br />

Erinnerung lautet<br />

der Titel.<br />

Gedenkbereich. Das<br />

„Hier“ (Auschwitz) und das<br />

„Dort“ (Österreich) sind<br />

der Ausgang für den minimalistischen<br />

Gestaltungsansatz.<br />

Karteien von<br />

Hermann Langbein<br />

(1912–1995)<br />

zu ehemaligen<br />

KZ-Häftlingen und<br />

zum KZ-Personal.<br />

Fenster in der Baustelle. Die<br />

Metamorphose von Lager zu<br />

Museum wurde als künstleri-<br />

sche Forschung begleitet.<br />

© Ruth Anderwald + Leonhard Grond<br />

Was im KZ passierte, ist nun<br />

im Museum in Form realer<br />

Objekte präsentiert, was damals<br />

in Österreich passierte,<br />

erfahren die Besucher in einem<br />

virtuellen Ausstellungsraum.<br />

Brigitte Halbmayr,<br />

Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats<br />

Hermann Langbein war politischer Häftling<br />

im „Stammlager“ Auschwitz I,<br />

Schreiber des SS-Standortarztes Eduard<br />

Wirths sowie Mitglied des internationalen Lagerwiderstands.<br />

Nach 1945 sammelte er systematisch<br />

Berichte von<br />

ehemaligen Häftlingen<br />

und Informationen<br />

über das KZ-Personal.<br />

Diese Karteien<br />

bildeten eine wichtige<br />

Grundlage für<br />

Langbeins jahrzehntelange<br />

Arbeit an der<br />

Dokumentation der<br />

Verbrechen in Auschwitz.<br />

Er unterstützte damit wesentlich die Justiz<br />

bei der Verfolgung von NS-Tätern und -Täterinnen.<br />

Als Biografin von Hermann Langbein freue<br />

ich mich besonders darüber, dass er gleich zu<br />

Beginn der Ausstellung mit den von ihm angelegten<br />

Karteien vertreten ist. Sie zeigen, wie<br />

umfangreich, systematisch und genau Langbein<br />

bei der unermüdlichen Suche nach den<br />

Tätern und der Unterstützung der Opfer vorging.<br />

Hermann Langbeins Bedeutung für unser<br />

heutiges Wissen über die Verbrechen von<br />

Auschwitz und das Funktionieren der Todesmaschinerie,<br />

aber auch über die Teilnahme<br />

von Österreicher*innen an der Verfolgung und<br />

Tötung von unzähligen Menschen ist nicht<br />

hoch genug einzuschätzen.<br />

wına-magazin.at<br />

9


Aufpolierte Uniformen<br />

AUCH DAS LEID ZEIGEN<br />

Problematische Literatur im<br />

Museumsshop, aufgedeckt<br />

von der Plattform „Stoppt die<br />

Rechten“, brachte vor zwei<br />

Jahren eine Debatte über die<br />

Inhalte und Funktion des<br />

Heeresgeschichtlichen Museums<br />

ins Rollen. Inzwischen<br />

ist der Reformbedarf durch<br />

eine Expertenkommission<br />

dokumentiert. Erstaunlich<br />

ist, wie lange dieses Museum<br />

so blieb, wie es sich bis heute<br />

präsentiert. Die Kulturwissenschafterin<br />

Elena Messner<br />

und der Historiker Peter<br />

Pirker haben nun im Band<br />

Kriege gehören ins Museum –<br />

Aber wie? die Geschichte der<br />

Sammlungen, den Stand der<br />

aktuellen Diskussion und<br />

die Anforderungen an so ein<br />

Haus dokumentiert.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Heeresgeschichtliches Museum, Blick in den<br />

Maria-Theresien-Saal: Bei der Gründung galt es, dem<br />

Haus Habsburg und der k.u.k. Armee Tribut zu zollen –<br />

und das aus einer Herrschaftsperspektive.<br />

Waren Sie schon einmal im Heeresgeschichtlichen<br />

Museum?<br />

Ich gebe zu, in meiner Vorstellung<br />

ist das ein Ort für Waffenbegeisterte<br />

und daher keiner, der mich sonderlich<br />

anzieht. In meiner Einschätzung<br />

lag ich offenbar nicht so falsch. Wie anachronistisch<br />

sich das Heeresgeschichtliche<br />

Museum bis heute präsentiert, ist<br />

dann aber doch erstaunlich, und so entpuppte<br />

sich das Buch Kriege gehören ins<br />

Museum als wirklich interessante Lektüre<br />

zum Thema, wie Österreich mit der Geschichte,<br />

der Zeitgeschichte und – einmal<br />

mehr – der NS-Zeit umgeht.<br />

Das Heeresgeschichtliche Museum –<br />

der erste der monumentalen Wiener Museumsbauten<br />

übrigens – hatte schon einen<br />

holprigen Start. Das Konzept des Architekten<br />

Teophil Hansen wurde, was die<br />

Gestaltung der ersten Schau anbelangte,<br />

umgestoßen. Es galt dem Haus Habsburg<br />

und der k.u.k. Armee Tribut zu zollen,<br />

und das aus einer Herrschaftsperspektive.<br />

Im Mittelpunkt standen erfolgreiche<br />

Heerführer und erfolgreiche Schlachten.<br />

Über die Niederlagen wurde mehr oder<br />

weniger der Mantel des Schweigens gebreitet,<br />

und die Perspektive der einfachen<br />

Soldaten kam nicht vor. Bis heute werden<br />

Waffen und Uniformen aufpoliert und gesäubert<br />

präsentiert. Das Elend des Krieges,<br />

das Leid, die sozialen Folgen – all das wird<br />

bis heute ausgespart.<br />

Die wenigen<br />

Objekte, die auf<br />

NS-Verfolgung<br />

und Vernichtung<br />

verweisen, wirken<br />

instrumentalisiert<br />

durch<br />

die offenkundige<br />

Absicht, so<br />

eine Ausstellung<br />

zu legitimieren.<br />

10 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Ausgespartes Leid<br />

© Hans Ringhofer/picturedesk.com; HGM<br />

Die NS-Zeit beziehungsweise das<br />

Thema Wehrmacht wurde überhaupt erst<br />

spät in die Dauerausstellung aufgenommen<br />

– das war erst in den 1990er-Jahren<br />

der Fall. Hier werden allerdings Objekte<br />

aus der Zeit – wie etwa Wehrmachtsuniformen<br />

– ohne detaillierte Kontextualisierung<br />

ausgestellt. Das öffnet Raum für<br />

jene, die sich ihre eigenen Wahrheiten<br />

basteln, wie etwa Vertreter der Identitären.<br />

Sie fasziniert vor allem der Ausstellungsteil<br />

zur Türkenbelagerung – und sie<br />

missbrauchten die Museumsräume auch<br />

als Kulisse für ein Video, das inzwischen<br />

aber nicht mehr online ist.<br />

Die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl<br />

beschreibt einen Besuch in dem Mu-<br />

seum am Nationalfeiertag 2019, um den<br />

sie Kollegen aus Amerika gebeten hatten.<br />

„Die US-amerikanischen KollegInnen reagierten<br />

fassungslos auf die museale Darstellung<br />

von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg.<br />

Befremden löste vor allem auch<br />

die unkommentierte Zurschaustellung<br />

von NS-Exponaten aus: Objekte, Bilder<br />

und Kunstwerke der NS-Propaganda werden<br />

ohne irgendeine Form der Distanzierung<br />

oder des Kommentars wie normale<br />

Museumsobjekte ausgestellt, raumbeherrschend<br />

etwa ein großformatiges<br />

Propagandabild des Kriegspropagandamalers<br />

Otto Jahn, ‚LMG-Trupp Sprung-<br />

Vorwärts!‘, angefertigt für die 1940 vom<br />

Heeresmuseum veranstaltete Kriegspropagandaausstellung<br />

Der Sieg im Westen am<br />

Wiener Heldenplatz.“<br />

Und Uhl weiter: „Der von Seiten des<br />

Heeresgeschichtlichen Museums mehrfach<br />

vorgebrachte Einwand, es würden<br />

doch auch Objekte zu den NS-Verbrechen<br />

gezeigt, erscheint im Hinblick auf ihren<br />

geringen Stellenwert im Gesamtnarrativ<br />

der Ausstellung als Entlastungsargument.<br />

Der Holocaust-Historiker Omer Bartov<br />

hat sie beim Gang durch die Ausstellung<br />

als ‚objects of excuse‘ bezeichnet. Die wenigen<br />

Objekte, die auf NS-Verfolgung und<br />

Vernichtung verweisen (oftmals sind es<br />

Kunstwerke), wirken instrumentalisiert<br />

durch die offenkundige Absicht, so eine<br />

Ausstellung zu legitimieren, die Objekte<br />

der NS-Machthaber kritik- und distanzlos<br />

zur Schau stellt.“<br />

Täterfotografie. Besonders deutlich werde<br />

das im räumlich marginalen Abschnitt<br />

zur NS-Verfolgung und Shoah. „Aufrecht<br />

steht eine Figur in SS-Uniform, am Boden<br />

liegt die Jacke eines KZ-Häftlings mit<br />

rotem Winkel, daneben ein Granitblock<br />

aus dem Steinbruch des KZ Mauthausen<br />

und ein gelber Stern. An der Wand befindet<br />

sich eine Fotografie von Menschen in<br />

Elena Messner,<br />

Peter Pirker (Hg.):<br />

Kriege gehören ins<br />

Museum – Aber wie?<br />

Edition Atelier <strong>2021</strong>,<br />

344 S., € 24<br />

Wien, die den ‚Judenstern‘ tragen müssen;<br />

nicht erwähnt wird, dass es sich um<br />

eine Täter-Fotografie aus dem Jahr 1941<br />

handelt. Darüber ein abstraktes Bild von<br />

Hans Fronius mit dem Titel Judengrab, davor<br />

ein Schreibtisch und das Modell eines<br />

(nicht realisierten) Denkmals von Alfred<br />

Hrdlicka, Der Schreibtischtäter.“<br />

Inzwischen gibt es in der Ausstellung<br />

ein Hinweisschild – aufgestellt nach einem<br />

Gespräch mit Vertretern der International<br />

Holocaust Remembrance Alliance<br />

(IHRA). Darauf wird festgehalten,<br />

dass die derzeitige Schau zu Missinterpretationen<br />

führen könnte. Doch, so hält<br />

Herausgeberin Elena Messner in ihrem<br />

Buchbeitrag fest: „Dennoch ist die Ausstellung<br />

weiterhin in ihrer alten Form frei<br />

zugänglich – bald seit bereits zwei Jahren<br />

und trotz vehementer Kritik daran.“<br />

Vorschläge, wie es nun weitergehen<br />

könnte, wurden im Rahmen von zwei<br />

Tagungen – #hgmneudenken und HGM neu –<br />

Chancen einer angesagten Reform diskutiert.<br />

Auch der nun erschienene Band versammelt<br />

zahlreiche Anregungen – diese reichen<br />

vom Einbeziehen anderer Perspektiven<br />

(vor allem sozialer) bis hin zu<br />

Friedenspädagogik, aber auch der Auseinandersetzung<br />

mit Kriegsverbrechen,<br />

und zwar nicht nur im Zweiten, sondern<br />

auch im Ersten Weltkrieg. Zuständig für<br />

eine Reform ist das Verteidigungsministerium.<br />

Was man derzeit erlebt, wenn man das<br />

Heeresgeschichtliche Museum besucht?<br />

Den Eindruck, dass die Zeit stehen geblieben<br />

sei, und den Geist einer kaiserlichen<br />

Armee, resümiert der Historiker<br />

Peter Melichar. Was der nun erschienene<br />

Band Kriege gehören ins Museum – Aber wie?<br />

schafft: Man möchte hin und sich dieses<br />

Haus einmal ansehen und sich selbst einen<br />

Eindruck verschaffen. Mehr Empfehlung<br />

geht eigentlich schon nicht.<br />

wına-magazin.at<br />

11


Verwehrte Anerkennung<br />

Die Geschichten der<br />

verlorenen Generation<br />

Ein deutscher Arzt gibt 180 in der NS-Zeit vertriebenen<br />

und ermordeten jüdischen Künstlern und Malerinnen<br />

mit ihren vergessenen Kunstwerken eine neue Heimat:<br />

in seinem Privatmuseum in Salzburg.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Wer im Herzen der Altstadt<br />

Salzburgs durch die Sigmund-Haffner-Gasse<br />

schlendert, wird vielleicht<br />

bei Hausnummer 12 nur einen Blick auf<br />

das runde, gediegene Holztor werfen, aber<br />

nicht mehr. Erst wer zur oberen Glasscheibe<br />

hinaufschaut, entdeckt das wahrlich Außergewöhnliche:<br />

Museum – Kunst der verlorenen<br />

Generation, Sammlung Böhme,<br />

heißt es da ganz schlicht: Hinter dieser<br />

bescheidenen Aufmachung verbirgt sich<br />

ein Privatmuseum der eher seltenen Art:<br />

Ein pensionierter Universitätsprofessor<br />

der Medizin präsentiert hier eine jährlich<br />

wechselnde Auswahl seiner Sammlung,<br />

die bisher rund 400 Kunstwerke von<br />

180 Künstlerinnen und Künstlern umfasst.<br />

Im Ambiente einer ehemals bürgerlichen<br />

Vier-Zimmer-Wohnung im ersten<br />

Stock erleben die Besucher eine thematisch<br />

wohl durchdachte und liebevoll abgestimmte<br />

Werkschau.<br />

Aber auch das wäre noch nichts Spektakuläres.<br />

Es sind die inhaltliche Klammer<br />

dieser Sammlung, ihr Charakter und die<br />

Motivation des Sammlers: „Ich möchte die<br />

bewegende Geschichte der Menschen hinter<br />

diesen Bildern erzählen, daher stehen<br />

die Biografien der Künstler im Vordergrund.<br />

Sie gehören der verlorenen Generation<br />

an, denen zu Lebzeiten die Anerkennung<br />

verwehrt wurde, weil sie in der<br />

Zeit des Nationalsozialisten als die ‚Entarteten*‘<br />

und ‚Verfemten‘ gegolten haben“,<br />

12 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />

erklärt Professor Dr. Heinz R. Böhme, der<br />

1932 in Leipzig als Sohn eines sächsischen<br />

Vaters und einer Wiener Mutter geboren<br />

wurde.<br />

„Obwohl diese kreativen und produktiven<br />

Menschen erfolgreich waren und<br />

bereits an zahlreichen Ausstellungen im<br />

In- und Ausland teilgenommen hatten,<br />

wurden sie diffamiert, erhielten Berufsverbot,<br />

wurden in die Emigration gezwungen<br />

oder deportiert und ermordet.“<br />

Seit <strong>Oktober</strong> 2017 stellt der Internist,<br />

der u. a. in Leipzig und München an den<br />

Universitäten tätig war, unter dem Titel<br />

Wir haben euch nicht vergessen! Neues aus<br />

der Sammlung Böhme solche<br />

Gemälde aus dem Bestand<br />

seiner Sammlung aus, die<br />

noch nie öffentlich gezeigt<br />

wurden. Dabei zählten<br />

deren Schöpfer zur zweiten<br />

Künstlergeneration<br />

der Moderne und spiegeln<br />

den Stilpluralismus<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

wider: Sie studierten<br />

meist bei berühmten Lehrern<br />

wie Max Beckmann,<br />

Henri Matisse, Lovis Corinth,<br />

Paul Klee oder Oskar<br />

Kokoschka und besuchten<br />

angesehene Kunstschulen.<br />

Viele waren Gründer und<br />

Mitglieder verschiedener<br />

Künstlergruppen wie der<br />

„Ich möchte<br />

die bewegende<br />

Geschichte<br />

der Menschen<br />

hinter diesen<br />

Bildern erzählen,<br />

daher<br />

stehen die<br />

Biografien der<br />

Künstler im<br />

Vordergrund.“<br />

Professor Dr. Heinz<br />

R. Böhme<br />

Berliner und Hamburger Secession, des<br />

Hagenbundes, des jungen Rheinlands<br />

oder der Kölner Progressiven.<br />

„Allen gemeinsam ist, dass nicht nur<br />

ihr Leben, sondern auch ihr künstlerischer<br />

Erfolg unter den politischen Umständen<br />

litt. Zahlreiche Kunstwerke wurden<br />

zerstört, ins Ausland gebracht oder<br />

mit etwas Glück im Verborgenen aufbewahrt“,<br />

so der begeisterte Kunstsammler,<br />

der sehr bedauert, dass erst in den letzten<br />

Jahren Historikerinnen und Kunsthistoriker<br />

begonnen haben, sich mit dieser Generation<br />

von Künstlern als Kollektiv zu<br />

beschäftigen. „Diese Lücke in der Kunstgeschichte<br />

zu schließen, die<br />

Biografien im kunsthistorischen<br />

und zeitgeschichtlichen<br />

Zusammenhang<br />

aufzuzeigen und wissenschaftlich<br />

einzuordnen, gehört<br />

zu den Aufgaben meines<br />

Museums.“<br />

Doch wie entstand das<br />

Interesse für diese Künstlergruppe?<br />

„Ich habe immer<br />

schon gesammelt,<br />

aber eher unspezifisch. Ich<br />

kaufte, was mir gefiel, vorzugsweise<br />

Landschaften<br />

und Porträts“, erzählt der<br />

Wahlsalzburger. „In den<br />

Achtziger- und Neunzigerjahren<br />

war ich beruflich<br />

oft in Berlin und besuchte<br />

© Florian Stürzenbaum; Hubert Auer


Vergessene Künstler*innen<br />

abends Galerien.“ Während er einen Stapel<br />

von alten Katalogen aus Platzmangel<br />

in seiner Wohnung entsorgte, blätterte<br />

er noch in manche hinein und entdeckte<br />

den Ausstellungskatalog mit Werken<br />

von Ludwig Jonas, der 1984 in der Galerie<br />

Bredow in Berlin unter der Schirmherrschaft<br />

des israelischen Botschafters<br />

präsentiert wurde. „Die kleine Monografie<br />

war mit echten Fotos bestückt; ich<br />

war von seiner Lebensgeschichte so beeindruckt,<br />

dass ich mich auf die Suche<br />

nach seinen Bildern gemacht habe“, erinnert<br />

sich Böhme. Ludwig Jonas wurde<br />

1887 in Bromberg geboren, hatte in München<br />

sein Medizinstudium abgebrochen,<br />

um nach Berlin zu gehen und sich der Malerei<br />

zu widmen. In den 1920er-Jahren<br />

zählte er in Berlin zu den bedeutendsten<br />

Impressionisten. Nach der Machtergreifung<br />

der Nazis floh er nach Frankreich,<br />

ließ sich 1935 in Palästina nieder und<br />

starb 1942, vor der Staatsgründung Israels.<br />

Damit hatte seine Karriere 1933 in<br />

Europa ein abruptes Ende gefunden, sein<br />

Werk geriet in Vergessenheit.<br />

Seit den 1980er-Jahren sucht Böhme<br />

nach derart verschollenen Werken ähnlich<br />

gelagerter Künstlerschicksale bei<br />

Galeristen, Altwarenhändlern, auf Flohmärkten<br />

oder über Nachlässe in Deutschland,<br />

Frankreich oder Großbritannien.<br />

„Da braucht man dann auch kein dickes<br />

Portemonnaie“, verriet er in einem Presse-<br />

Interview. Er vermeide konsequent bekannte<br />

Namen wie beispielsweise Max<br />

Beckmann, er suche vielmehr nach dessen<br />

Studenten, an die sich keiner mehr<br />

erinnert. Außerdem soll deren hohe<br />

künstlerische Qualität Beachtung finden,<br />

denn Böhme sucht auch gezielt nach den<br />

Malstilen, in denen diese Künstlerjahrgänge<br />

zwischen 1890 und 1914 später gearbeitet<br />

haben. „Das war ja sehr vielseitig,<br />

von Expressionismus über Kubismus<br />

bin hin zu Surrealismus und Neuer Sachlichkeit.<br />

Wenn es mir gelingt, die Biografien<br />

der Künstlerinnen und Künstler zu<br />

recherchieren und die Thematik Berufsverbot<br />

oder Verfolgung vorkommt, dann<br />

Felka Platek<br />

(1899–1944). Porträt<br />

Frau Etienne, 1942,<br />

Öl auf Leinwand.<br />

Julie Wolfthorn<br />

(1864–1944). Dunkelhaarige<br />

Dame im Lehnstuhl,<br />

o. D., Öl auf Leinwand.<br />

Ludwig Jonas<br />

(1887–1942). Blumenstillleben<br />

mit Masken, 1920,<br />

Öl auf Leinwand.<br />

* Als „entartete Kunst“ bezeichneten die Nationalsozialisten<br />

Kunstwerke der Moderne, deren Stil, Künstler<br />

oder Sujet ihnen nicht genehm waren. Die Nazis beschlagnahmten<br />

tausende solcher Kunstwerke ab 1937.<br />

wına-magazin.at<br />

13


Ungebrochener Elan<br />

Heinz R. Böhme. „Es geht mir vor allem darum zu<br />

erreichen, dass die Form des damaligen Umgangs der<br />

Menschen miteinander keine Wiederholung findet.“<br />

kauf’ ich das Werk. Fehlt diese Thematik,<br />

lass’ ich das.“<br />

Sukzessive reifte der Wunsch, diese<br />

Bilder, die er akribisch in den vielen Jahren<br />

zusammengetragen hat, nicht einfach<br />

nur für sich zu sammeln, sondern sie<br />

auch einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen.<br />

Ein Herzensanliegen des unermüdlichen<br />

Sammlers ist es, dass die Werke nicht<br />

mehr auseinandergerissen werden. Um<br />

das zu gewährleisten, gründet er eine gemeinnützige<br />

Stiftung – und sammelt weiter<br />

die Bilder der verlorenen Generation.<br />

Derzeit arbeitet ein Restaurator an rund<br />

50 Gemälden.<br />

Apropos Frauen. Schicksale aus der Sammlung<br />

Böhme heißt die aktuelle Sonderausstellung,<br />

die noch bis 22. Januar 2022 zu<br />

besichtigen ist. Der Fokus liegt auf den<br />

unbekannten Künstlerinnen der verlorenen<br />

Generation, deren Laufbahn durch<br />

das Akademieverbot geprägt wurde,<br />

weshalb sie ihre Ausbildung in privaten<br />

Malschulen absolvieren mussten. Obwohl<br />

sich dann die 1920er- und frühen<br />

1930er-Jahre für diese Gruppe doch noch<br />

zu einer Blütezeit entwickelte, die ihnen<br />

Reisen und Ausstellungen ermöglichte,<br />

holten sie bald darauf die NS-Gesetze ein.<br />

Ein typisches Beispiel dafür ist Julie<br />

Wolfthorn, die 1864 als fünftes Kind<br />

in eine jüdische Familie in Westpreußen<br />

geboren wurde. Um 1890 beginnt sie<br />

APROPOS FRAUEN<br />

Schicksale aus der Sammlung<br />

Böhme<br />

bis Jänner 2022<br />

Museum der Verlorenen Generation<br />

Sigmund-Haffner-Gasse 12/1. Stock,<br />

5020 Salzburg<br />

Infos online unter<br />

verlorene-generation.com<br />

Wir haben uns lange<br />

nicht gesehen ist der<br />

Titel des Sammlungskatalogs,<br />

der in Deutsch und<br />

Englisch im Museum oder<br />

online erhältlich ist. Hg.:<br />

Heinz R. Böhme,<br />

272 S., € 40<br />

ihre künstlerische Ausbildung der Malerei<br />

und Grafik in Berlin an der Malschule<br />

des Vereins der Berliner Künstlerinnen<br />

und Kunstfreundinnen, weil Frauen erst<br />

1919 an der Akademie zugelassen werden.<br />

Nach Studienaufenthalten in Paris<br />

und ersten Ausstellungen in München gehört<br />

sie 1898 zu den Gründungsmitgliedern<br />

der Berliner Secession. Ab 1933 wird<br />

Wolfthorn aus allen Künstlervereinigungen<br />

ausgeschlossen, erhält Ausstellungsverbot<br />

und ab 1939 Berufsverbot. Im <strong>Oktober</strong><br />

1942 wird Julie mit ihrer Schwester<br />

in das Lager Theresienstadt deportiert,<br />

wo sie im Dezember 1944 stirbt.<br />

Zu den Höhepunkten der Sammlung<br />

zählt ein Ölgemälde von Felka Platek, die<br />

1889 im jüdischen Viertel Warschaus geboren<br />

wird. Zur Ausbildung kommt sie<br />

1925 nach Berlin, wo sie ihren späteren<br />

Mann, den berühmten Maler der Neuen<br />

Sachlichkeit Felix Nussbaum (1904–1944),<br />

trifft. Bedingt durch die bedrohliche politische<br />

Entwicklung in Deutschland emigrieren<br />

sie 1935 in das belgische Seebad<br />

Ostende. Später beziehen sie eine Wohnung<br />

in Brüssel, aus der Nussbaum in das<br />

Internierungslager Saint-Cyprien nach<br />

Südfrankreich deportiert wird. Nach seiner<br />

gelungenen Flucht versteckt sich das<br />

Künstlerpaar bei wohlgesinnten Freunden<br />

in einer Mansarde; im Juni 1943 finden<br />

sie eine kleine Souterrainwohnung als<br />

Versteck. Das Paar wird 1944 in Brüssel an<br />

die Gestapo verraten und kommt daraufhin<br />

in das Sammellager Mechelen, von<br />

wo aus sie am 31. Juli 1944 mit dem letzten<br />

Deportationszug das Lager Richtung<br />

Auschwitz-Birkenau verlassen, wo Felka<br />

Platek im August 1944 ermordet wird; Felix<br />

Nussbaum stirbt wahrscheinlich im Januar<br />

1945 kurz vor der Befreiung.<br />

Von Felka Platek, die vorwiegend als<br />

Porträtistin arbeitete, sind nur drei Gemälde<br />

erhalten – eines davon befindet sich<br />

im Museum Böhme in Salzburg.<br />

Mit Pinsel und Farbe gegen die Zeit. Neues aus<br />

der Sammlung Böhme heißt auch schon die<br />

nächste Ausstellung. Und was wünscht<br />

sich der knapp Neunzigjährige, der mit<br />

ungebrochenem Elan seiner Sammlerleidenschaft<br />

nachgeht und oft persönlich<br />

in seinem Museum anzutreffen ist, wo er<br />

auch gerne mit den Kunstinteressierten<br />

plaudert? „Meine Sammlung soll weiter<br />

bestehen und wachsen. Aufmerksamkeit<br />

bringen, die Gegenwart informieren.<br />

Aber“, fügt Böhme hinzu, „es geht mir vor<br />

allem darum zu erreichen, dass die Form<br />

des damaligen Umgangs der Menschen<br />

miteinander keine Wiederholung findet.<br />

Wenn Zeitzeugen nicht mehr sprechen<br />

und ihre Erlebnisse nicht mehr weitergegeben<br />

können, braucht es eine Brücke zur<br />

Gegenwart und in die Zukunft. Diese Brücke<br />

bilden die Biografien der verlorenen<br />

Generation.“<br />

© AUER HUBERT<br />

14 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Thema<br />

Über 70 Jahre<br />

das Grauen im Kopf aushalten<br />

„<br />

Ich bin heute 105 Jahre alt und immer<br />

noch am Leben, obwohl ich in meinem<br />

Leben schon viele Male gestorben<br />

bin.“ So beginnt Feingold seine Erin-<br />

nerungen. „Ich habe vier KZs überlebt,<br />

sechs Jahre lang. Ich erzähle meine Ge-<br />

schichte jetzt schon über 70 Jahre. Und<br />

ich bin immer noch nicht fertig. Ich bin<br />

so lange nicht fertig, als es Menschen gibt,<br />

die das, was mir passiert ist, leugnen. So<br />

lange muss man diese Geschichte erzählen<br />

und die Bilder dieser Gräueltaten zei-<br />

gen, so furchtbar sie auch sind.“<br />

Feingolds Erinnerungen spannen sich<br />

von seiner Kindheit und Jugend bis in die<br />

Nachkriegszeit. Dazwischen geschnitten<br />

haben die Filmemacher Aufnahmen und<br />

Propagandaspots aus Deutschland sowie<br />

den USA, eingeblendet werden zudem<br />

Hassbriefe, die Marko Feingold auch in<br />

den vergangenen 20 Jahren noch erreicht<br />

haben. Er hat die KZs Auschwitz, Neuengamme,<br />

Dachau und Buchenwald über-<br />

lebt – als einziger von vier Geschwistern.<br />

Er hat, wie er schildert, viele Tote gesehen,<br />

Menschen, die an Hunger starben, Leichen,<br />

die weggebracht wurden. Die Hoff-<br />

nung, selbst zu überleben, war zeitweilig<br />

nicht mehr vorhanden, die Möglichkeit,<br />

dem eigenen Leben selbst ein Ende zu set-<br />

zen, allerdings auch nicht.<br />

Obwohl er inzwischen verstorben ist,<br />

lebt er in diesem Film nun weiter, kann<br />

Jugendlichen aus erster Hand berichten,<br />

wie es damals war – und dieses Da-<br />

mals ist lange her. Denn Feingold kam 1913<br />

zur Welt und wuchs in Wien auf, wo er be-<br />

reits im Zug des Ersten Weltkriegs erfuhr,<br />

was es bedeutete, Hunger zu leiden. 1938<br />

mischte er sich unter die Jubelnden am<br />

Heldenplatz und berichtet, dass da-<br />

mals mehr Menschen als je zuvor zu<br />

einem politischen Aufmarsch ge-<br />

kommen waren.<br />

Als er nach Auschwitz de-<br />

portiert wurde und dort eine<br />

Wache beim Ankommen<br />

meinte, „ihr habt eine Le-<br />

bensdauer von maximal<br />

drei Monaten, dann geht<br />

ihr durch den Kamin“, da<br />

© Stadtkino Filmverleih<br />

2019 starb der Holocaust-Überlebende<br />

und langjährige Präsi-<br />

dent der jüdischen Gemeinde<br />

Salzburg, Marko Feingold,<br />

106-jährig. Viele Jahrzehnte<br />

lang wirkte er als Zeitzeuge. Im<br />

Alter von weit über 100 Jahren<br />

setzte er sich für den Film Ein jü-<br />

disches Leben noch einmal vor die<br />

Kamera und ließ seine Jugend<br />

und sein Überleben des Natio-<br />

nalsozialismus Revue passieren.<br />

Regie führten Christian Krönes,<br />

Florian Weigensamer, Christian<br />

Kermer und Roland Schrotthofer.<br />

Die beklemmenden Erinne-<br />

rungen kommen im <strong>Oktober</strong> in<br />

die Kinos.<br />

Von Alexia Weiss<br />

habe er nicht gewusst, ob der Mann das<br />

ernst gemeint oder nur Spaß gemacht<br />

habe. „In der Stunde sind wir zu Num-<br />

mern geworden, die nichts sagen und<br />

nichts zu sagen haben.“<br />

Bitteres hatte Feingold aber auch über<br />

die unmittelbare Post-NS-Zeit zu berich-<br />

ten. Mit 127 anderen Österreichern brach<br />

er von Buchenwald nach Wien auf. „Wir<br />

dachten, wir würden feierlich empfan-<br />

gen.“ Die Realität sah anders aus: Man<br />

ließ sie nicht nach Wien durch, wollte<br />

sie gar nach Buchenwald zurückbringen<br />

lassen. Feingold stieg mit einigen an-<br />

deren in Salzburg aus – und blieb dort.<br />

Nach Kriegsende wurde er schließlich<br />

zum Fluchthelfer für zehntausende jüdische<br />

KZ-Häftlinge, die er illegal von Ös-<br />

terreich über die Alpen nach Italien und<br />

weiter nach Palästina schleuste.<br />

Bundespräsident Alexander Van der<br />

Bellen betonte angesichts des Filmstarts<br />

von Ein jüdisches Leben, , „Marko Feingold<br />

war ein Zeitzeuge, ein Überlebender, der<br />

für das Anliegen ‚Niemals wieder’ alles<br />

gegeben hat. Dank seines Engagements<br />

bleibt die Erinnerung an die NS-Zeit für<br />

die Nachwelt erhalten.“ Zeitzeugen würden<br />

einen unermesslich wichtigen Bei-<br />

trag zum Erinnern leisten. „Und wir<br />

müssen und wollen dieses Erinnern<br />

wachhalten.“<br />

„Ich bin so lange nicht fertig,<br />

als es Menschen gibt, die das,<br />

was mir passiert ist,<br />

leugnen. So lange muss<br />

man diese Geschichte<br />

erzählen.“<br />

Marko Feingold<br />

wına-magazin.at<br />

15


Erinnern im öffentlichen Raum<br />

STEINE ERZÄHLEN<br />

Stolpersteine erinnern an jene, die während des NS-Regimes<br />

enteignet, deportiert und ermordet wurden. Das europaweite<br />

Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig wird in Graz von<br />

Daniela Grabe betreut.<br />

Von Viola Heilman<br />

Daniela Grabe ist eine vielbeschäftigte<br />

Frau. Da wären zuerst<br />

die Zwillinge, vier Jahre<br />

alt und mit einem Temperament<br />

für zehn. Doch vor der Geburt der<br />

Kinder war das Projekt der Stolpersteine<br />

in Graz das Wichtigste im Leben von Daniela<br />

Grabe.<br />

Schon als Studentin der Germanistik,<br />

Geschichte und Deutsch als Fremdsprache<br />

hat sich Daniela Grabe für die NS-Zeit<br />

und deren Aufarbeitung oder, wie sie sagt,<br />

„Nicht-Aufarbeitung in Österreich“ interessiert.<br />

Aufgewachsen in Düsseldorf, der<br />

Vater kam aus Deutschland, die Mutter<br />

ist eine Steirerin, übersiedelte Daniela<br />

Grabe 1987 nach Österreich und kam aus<br />

dem Staunen nicht heraus, wie der Umgang<br />

mit der NS-Zeit in Österreich war.<br />

„Ich habe damit überhaupt nicht gerechnet,<br />

wie sehr das Ganze<br />

verdrängt wurde. Dieses<br />

16 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />

„Wenn ich in<br />

einer anderen<br />

Stadt Stolpersteine<br />

sehe,<br />

geht mir das<br />

Herz auf, weil<br />

ich sehe, dass<br />

auch andere<br />

das Gedenken<br />

ernst nehmen.“<br />

Daniela Grabe<br />

nah die Ablehnung mit der Beschäftigung<br />

der Aufarbeitung der NS-Zeit. Es<br />

kam eine Absage nach der anderen, wenn<br />

es um Räumlichkeiten für die Ausstellung<br />

ging. Politische Interventionen oder Managemententscheidungen<br />

verhinderten<br />

eine Zusage. Letztlich hat sich dann die<br />

Karl-Franzens-Universität in Graz bereiterklärt,<br />

die Ausstellung zu zeigen.<br />

Nach 1998 hat sich Daniela Grabe anderen<br />

Interessen gewidmet, lebte in Bulgarien<br />

und hielt Seminare und Schulungen<br />

für Lehrer*innen, die nach dem Kommunismus<br />

mit völlig neuen Lehrplänen,<br />

aber ohne ein einziges neues Schulbuch<br />

vor den Schülern standen. Sie organisierte<br />

mit Unterstützung von Fördervereinen<br />

neue „demokratischere“ Unterrichtszugänge,<br />

Lehrmaterialien und Kontakte zu<br />

Schulbuchverlagen. Allerdings musste sie<br />

erkennen, dass diese Schulungstätigkeit<br />

zu prekär<br />

war, und begann das Studium<br />

der Wirtschaftsinformatik<br />

mit dem Wunsch,<br />

eine gut bezahlte und sichere<br />

Arbeit zu finden. Bis<br />

heute ist dies der solide<br />

„Brotjob“, der es ihr ermöglicht,<br />

sich mit viel Einsatz<br />

den Recherchen und<br />

der Verlegung der Stolpersteine<br />

in Graz zu widmen.<br />

Für den Lebenslauf von<br />

Daniela Grabe gehört es<br />

wie fast selbstverständlich<br />

Thema – Österreich erstes<br />

Opfer – und so weiter.“ Dass<br />

es bis zur Regierung unter<br />

Franz Vranitzky gedauert<br />

hat, dass jemand offiziell<br />

die Mitverantwortung äußert,<br />

hat die Historikerin<br />

erschreckt und erschüttert.<br />

1998 übernahm Daniela<br />

Grabe für den Verein<br />

ZEBRA die Ausstellungsleitung<br />

für die sogenannte<br />

„Wehrmachtsausstellung“<br />

in Graz und erfuhr hautdazu,<br />

auch politisch tätig zu sein. 2008<br />

kandidierte sie für die Grünen bei den<br />

Grazer Gemeinderatswahlen und bekam<br />

auch einen Sitz im Gemeinderat.<br />

Zur dieser Zeit wurde in Salzburg der<br />

erste Stolperstein für Homosexuelle verlegt.<br />

Das gab Daniela Grabe den Impuls,<br />

dies auch für Graz zu vorzuschlagen. „Mein<br />

Fokus war, dass es etwas geben sollte, das<br />

kein Kriegsdenkmal ist, sondern eines<br />

für Opfer – und das auch nicht dort aufgestellt<br />

wird, wo niemand hinkommt,<br />

sondern endlich etwas Würdevolles, um<br />

individuelle Opfer im städtischen Raum<br />

sichtbar zu machen. Anfänglich dachte ich<br />

etwas naiv, dass nach einem Antrag im Gemeinderat<br />

die Sache beschlossen und gemacht<br />

wird.“ Aber sie lief gegen Gummiwände,<br />

obwohl sie heute rückblickend<br />

darin schon eine Verbesserung sieht im<br />

Vergleich zur Organisation für die „Wehrmachtsausstellung“.<br />

„Da gab es noch Betonwände<br />

dagegen“, erinnert sich Daniela<br />

Grabe.<br />

Die Gummiwände stellten sich als<br />

Stadträte dar, die kreative Gründe fanden,<br />

das Projekt abzulehnen. Nach zahlreichen<br />

Anfragen in der Fragestunde,<br />

Anträgen und Ablehnungen im Grazer<br />

Gemeinderat sowie der Gründung eines<br />

potenziellen Trägervereins und auch einem<br />

Wechsel im Kulturressort, beschloss<br />

der Grazer Stadtsenat 2013 einstimmig,<br />

dass die Steine dauerhaft im öffentlichen<br />

Raum verlegt werden können. Die ablehnenden<br />

Kommentare blieben trotz großem<br />

Zuspruch nicht aus. So gab es Anrufe<br />

oder E-Mails, in denen angemerkt<br />

wurde, dass man ja nichts dagegen habe,<br />

aber es gäbe da auch so viele Opfer nach<br />

dem Stalinismus, und man müsse ja auch<br />

noch an andere Kriegsopfer denken. Auch<br />

wurden Bedenken wegen erhöhter Unfallgefahr<br />

geäußert, da man über die Steine<br />

stolpern (sic!) oder auf der polierten Messingplatte<br />

ausrutschen könnte.<br />

In Graz gehören die Gehsteige zum öffentlichen<br />

Raum, und es bedarf keiner Zustimmung<br />

der Haus- oder Wohnungseigentümer,<br />

um Stolpersteine zu verlegen. 2013,<br />

während des Gedenkjahres „75 Jahre nach<br />

dem Anschluss“ wurden die ersten Stolpersteine<br />

für das Ehepaar Melanie und<br />

© ELauppert; JJKucek; Christian Michelides


Stolpersteine in der Steiermark<br />

Adolf Lachs und Dr. Maximilian Steigmann<br />

in Innenstadtnähe verlegt. Eine<br />

Hausbewohnerin wehrte sich zuvor gegen<br />

die Anbringung einer geplanten Gedenktafel<br />

für den beliebten Arzt Max Steigmann.<br />

Gegen die Stolpersteine konnte sie<br />

keine rechtlichen Einwände durchsetzen.<br />

2017 bekam Daniela Grabe und ihr<br />

Team für das Projekt den Menschenrechtspreis<br />

des Landes Steiermark verliehen.<br />

Das Stolperstein-Projekt deckt<br />

viele Aspekte der Aufarbeitung ab, denn<br />

es ist niederschwellig. Mit einer Spende<br />

von 133 Euro für einen Stein kann eine<br />

Patenschaft und damit die Verbundenheit<br />

zu der Person übernommen werden. Neben<br />

den Patenschaften wird der Verein<br />

für Gedenkkultur auch vom Kulturamt<br />

der Stadt Graz, vom National- und Zukunftsfonds<br />

der Republik Österreich, der<br />

Gesellschaft für Politische Bildung, vom<br />

Land Steiermark und zahlreichen kleinen<br />

privaten Gruppen unterstützt. Die<br />

Holding Graz sponsert zudem alle straßenbaulichen<br />

Verlegekosten und Bustransfers<br />

innerhalb der Stadt zu den feierlichen<br />

Steinlegungen.<br />

Im November 2018 wurde in Leoben<br />

der erste Stolperstein außerhalb Graz verlegt,<br />

„Die Gemeinde Leoben war bei den<br />

notwendigen organisatorischen Schritten<br />

ein wichtiger kooperativer Partner“,<br />

unterstreicht Daniela Grabe die Zusammenarbeit<br />

mit den Verantwortlichen. Für<br />

das laufende Jahr sind Stolpersteine und<br />

„Stolpersteine“ sind<br />

ein Projekt des Kölner Künstlers<br />

Gunter Demnig, mit dem an das<br />

Schicksal jener Menschen erinnert<br />

wird, die im Nationalsozialismus<br />

ermordet, deportiert, vertrieben,<br />

in den Suizid getrieben<br />

worden sind oder von Enteignungen<br />

im Zuge der „Arisierung“ betroffen<br />

waren. Dabei wird sowohl<br />

jüdischer Opfer gedacht wie auch<br />

jener Menschen, die Opfer politischer,<br />

religiöser, ethnischer Verfolgung<br />

waren, die aufgrund ihrer<br />

sexuellen Orientierung ermordet<br />

wurden, wegen Verweigerung des<br />

Kriegsdienstes oder weil ihr Leben<br />

als „unwert“ galt (sogenannte „Euthanasie“).<br />

Kontakt:<br />

Verein für Gedenkkultur<br />

verein@stolpersteine-graz.at<br />

+43/(0)664/395 55 25<br />

Stolperstein-Gründer Gunter Demnig<br />

bei der Verlegung und Einweihung eines<br />

Stolpersteines; Daniela Grabe bei einer<br />

Einweihung. Und der erste Stolperstein,<br />

der in Graz in Erinnerung an Dr. Max<br />

Steigmann verlegt wurde.<br />

Kindberg und Güssing in Vorbereitung<br />

sowie weitere 39 Stolpersteine in Graz.<br />

Gunter Demnigs Stolpersteine-Projekt<br />

gibt es in 25 europäischen Ländern. Sie<br />

gelten als das größte dezentrale Mahnmal<br />

der Welt. „Wenn ich in einer anderen<br />

Stadt Stolpersteine sehe, geht mir das<br />

Herz auf, weil ich sehe, dass auch andere<br />

das Gedenken ernst nehmen und dasselbe<br />

Anliegen haben wie wir“, freut sich<br />

Daniela Grabe. „Zu Europa habe ich so ein<br />

Bild aus dem früheren Geschichtsunterricht.<br />

Da gab es im Geschichtsatlas auf der<br />

Europakarte die braune Farbe, die sich<br />

immer weiter ausgebreitet und alles bedeckt<br />

hat. Die Stolpersteine gehen in alle<br />

Länder, in denen es Opfer des Nationalsozialismus<br />

gibt, und breiten sich immer<br />

mehr aus. Das ist für mich ein schönes<br />

Bild“, freut sich Daniela Grabe über die<br />

sichtbaren Folgen ihres Einsatzes für die<br />

Aufarbeitung der NS-Geschichte.<br />

wına-magazin.at<br />

17


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Neuanfänge<br />

Neues Jahr, neue Normalität, neue Regierung. Und<br />

wenn alles gut geht, wird Israel damit zum Vorzeigemodell<br />

in Sachen Pandemiebekämpfung ebenso wie<br />

auf dem politischen Parkett. Wenn eben alles gut geht.<br />

er Alltag hat uns wieder. Soweit<br />

das in diesen mittlerweile abgeschwächten,<br />

aber eben immer<br />

noch andauernden Pandemiezeiten<br />

überhaupt geht.<br />

Aber es wurde höchste Zeit, besonders<br />

für die vielen Eltern,<br />

die jetzt wieder aufatmen. Die<br />

Kinder müssen sich erst noch an die Rückkehr in<br />

die Routine gewöhnen. Erst waren da ja die langen<br />

Sommerferien, unterbrochen von ein paar<br />

Tagen mit ganz normalem Präsenzunterricht<br />

zum Schulbeginn Anfang September, dann kamen<br />

diesmal gleich wieder die Feiertage. Und<br />

über dem Neuanfang schwebt jetzt, wie woanders<br />

auch, weiterhin das Risiko, sich anzustecken und/<br />

oder in Quarantäne zu müssen, falls eine oder einer<br />

in der Klasse positiv getestet werden sollte.<br />

Doch die Ansteckrate sinkt, und wenn es dabei<br />

bleibt, könnte der Herbst so „normal“ wie lange<br />

nicht mehr werden. Und wenn es die neue Regierung<br />

demnächst schaffen sollte, endlich einen<br />

Haushaltsetat zu verabschieden, wären<br />

auch die politischen Verhältnisse erst einmal<br />

bis auf Weiteres geklärt.<br />

Hält die bunte Koalition tatsächlich<br />

weiter durch, wird sich das vermutlich<br />

Von Gisela Dachs<br />

Hält die bunte Koalition tatsächlich weiter<br />

durch, wird sich das vermutlich bald<br />

in den Theorien der Politikwissenschaft<br />

niederschlagen.<br />

bald in den Theorien der Politikwissenschaft niederschlagen,<br />

Es hat sich ja längst herumgesprochen,<br />

dass hier gerade ein Modell ausprobiert, das<br />

in Zeiten zunehmend fragmentierter Gesellschaften<br />

– trotz aller Unterschiede – durchaus auch woanders<br />

Schule machen könnte. Gefragt sind Expertisen<br />

in Dissent-Management und bei der<br />

Konsensfindung. So erkundigte sich, gleich nach<br />

der Wahl in Deutschland, ein FDP-Mann schon<br />

einmal vorsorglich bei einem Knesset-Abgeordneten<br />

von Yesh Atid, ob er denn Tipps habe, wie<br />

man sich in einem divers angelegten Bündnis am<br />

besten zusammenraufen könnte. Gegenseitiger<br />

Respekt, so war die Antwort. Bisher scheint es zu<br />

funktionieren.<br />

Und wenn es so bleibt, wird in zwei Jahren Yair<br />

Lapid nach dem vereinbarten Rotationsprinzip<br />

Premierminister sein. Derzeit ist er Außenminister,<br />

und als solcher hat er vor Kurzem auch Journalisten<br />

in seinem Büro empfangen. Lapid, einst<br />

ein prominenter Fernsehmoderator, kam im Anzug<br />

und gab sich im Kreis seiner ehemaligen Berufskollegen<br />

jovial. Die Regierung bezeichnete er<br />

als eine Truppe moderater Leute, die sich im Dialog<br />

miteinander befänden, nicht korrupt seien<br />

und weiterhin „voll guten Willens“. Klar sei der<br />

Spielraum beschränkt, räumte er ein, weil es ja<br />

durchaus ideologische Unterschiede gäbe, deshalb<br />

dürfe man auch keine bahnbrechende Politik<br />

erwarten. Anders als Premier Bennett sei er ein<br />

klarer Befürworter der Zweistaatenlösung, und<br />

auch wenn er diese derzeit zwar nicht als machbar<br />

ansehe, weil es dazu auf beiden Seiten hapere,<br />

würde er dennoch einiges anders angehen.<br />

18 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Außenminister Yair<br />

Lapid gilt als wahrer<br />

Schmied der ungewöhnlich<br />

bunten Koalition, die<br />

als Vorzeigemodell in die<br />

politikwissenschaftliche<br />

Theorie eingehen könnte.<br />

Hält sie durch, so wird<br />

Lapid in zwei Jahren Ministerpräsident<br />

Israels.<br />

© Olivier Fitoussi/FLASH90<br />

Dazu gehört der Umgang mit dem alternden Palästinenserpräsidenten<br />

Mahmud Abbas. Sieben<br />

Jahre lang hatte sich kein israelisches Kabinettsmitglied,<br />

geschweige denn ein Ministerpräsident,<br />

mehr mit ihm getroffen. Verteidigungsminister<br />

Benny Gantz war nun im Sommer zu ihm<br />

nach Ramallah gefahren. Die Unterredung dauerte<br />

nur 90 Minuten, schlug aber auf beiden Seiten<br />

große Wellen. Lapid fand den Besuch richtig.<br />

Bennett hat klargestellt, dass er Abbas nicht<br />

treffen möchte. Sollte er seine Meinung ändern,<br />

könnte das die fragile Koalition auseinanderbringen.<br />

Man ist sich einig, dass man sich nicht einig<br />

ist. Das ist der Deal, auf den sich alle eingelassen<br />

haben.<br />

So gibt es nun Ansätze, die nicht unbedingt neu<br />

sind, aber trotzdem ein bisschen frische Luft ins<br />

Geschehen hineinbringen. Das Zauberwort heißt,<br />

den Konflikt „zusammenzuschrumpfen“, wie es<br />

Bennett formuliert, oder zu „minimisieren“, wie<br />

es Lapid gerade dem amerikanischen Außenminister<br />

Blinken gegenüber erklärt hat. Konkret soll<br />

das heißen: bessere Lebensbedingungen für die<br />

Palästinenser jenseits der Grünen Linie, mehr<br />

Kontakt zu ihren offiziellen Vertretern, ein besseres<br />

Internet, mehr Baugenehmigungen, mehr<br />

Arbeitsplätze in Israel, mehr Bewegungsfreiheit<br />

und weniger penible Bürokratie. Also vieles, das<br />

das Leben im Alltag erleichtert, wenn auch ohne<br />

großen Wurf. Nach einer jüngsten Umfrage des<br />

Palestinian Center for Policy and Research halten<br />

56 Prozent der Palästinenser diese Entwicklung<br />

für positiv. Eine Hälfte der Befragten spricht<br />

So gibt es nun Ansätze, die nicht unbedingt<br />

neu sind, aber trotzdem ein bisschen frische<br />

Luft ins Geschehen hineinbringen.<br />

sich allerdings auch für den bewaffneten Widerstand<br />

gegen die Besatzung aus.<br />

Woanders in der arabischen Welt tut man sich da<br />

leichter mit Kooperation. Als Außenminister ist<br />

Lapid stolz auf die neuen offiziellen Vertretungen<br />

in den Vereinigten Emiraten, in Bahrain und<br />

Marokko, die er eröffnet hat. „Geschichte wird gemacht,<br />

allerdings in Babyschritten“, sagt er. Seit<br />

Anfang <strong>Oktober</strong> starten – erstmals seit dem Friedensabkommen<br />

mit Ägypten 1979 – Direktflüge<br />

der Egyptair von Kairo nach Tel Aviv. Bis dahin<br />

gab es ausschließlich Flüge mit der Tochtergesellschaft<br />

Air Sinai, allerdings ohne jegliche nationale<br />

Identifikation. Wenige Wochen nach einem Besuch<br />

von Bennett bekennt Kairo jetzt also Farbe.<br />

In der Runde mit Lapid fragte dann noch jemand,<br />

ob es ihm, als dem wahren Schmied der Koalition,<br />

denn nicht schwer gefallen sei, einem anderen<br />

den Vortritt überlassen zu haben, der ja zudem<br />

noch sehr viel weniger Mandate mitgebracht<br />

hatte. Lapid fühlte sich sichtlich gebauchpinselt<br />

und antwortete: „Ich habe nicht das Gefühl, mich<br />

aufgeopfert zu haben. Ich habe das Richtige gemacht.<br />

Ich habe Kinder in diesem Land.“ Man<br />

darf gespannt sein, wie es weitergeht.<br />

wına-magazin.at<br />

19


Ikonische Funktionskleidung<br />

Der Erste Weltkrieg brachte einer<br />

Textilfirma in den provinziellen<br />

englischen Midlands Aufträge<br />

wie nie zuvor. Der Bedarf an wasserfesten<br />

Stoffen für die Soldaten in den schlammigen<br />

Schützengräben Frankreichs wuchs in<br />

ungeahnte Höhen. „Die Fabrik von Eli Belovitch<br />

expandiert schlagartig und beliefert<br />

das Militär mit Capes, Zelten und Planen“,<br />

liest man in einer Firmenchronik.<br />

Doch auch nach dem Ende des Booms<br />

hatte Belovitch kommerziell interessante<br />

Ideen. Er verfolgte mit Eifer die Rennen<br />

der tollkühnen englischen Motorradfahrer,<br />

und er wusste um ihre Probleme. Um<br />

den Staub auf den damals noch unbefestigten<br />

Pisten zu bändigen, spritzte man<br />

eine säurehaltige Lösung auf die Rennstrecken,<br />

mit äußerst unangenehmen Folgen<br />

für die Bekleidung der Teilnehmer.<br />

Belovitch nutzte seine Erfahrung mit<br />

Militärbekleidung und entwickelte in<br />

den 1920er-Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

spezielle Motorradjacken. Gemeinsam<br />

mit seinem Schwiegersohn Harry<br />

Grosberg gründet er 1927 die Marke Bellstaff<br />

(bis in die 1930er-Jahre mit zwei „l“<br />

geschrieben). Der<br />

Name setzt sich aus<br />

den Anfangsbuchstaben<br />

von Belovitch<br />

und der Region<br />

Staffordshire<br />

„Die Fabrik von<br />

Eli Belovitch<br />

expandiert<br />

schlagartig<br />

und beliefert<br />

das Militär mit<br />

Capes, Zelten<br />

und Planen.“<br />

A. d. Firmenchronik<br />

zusammen. Die<br />

Firma begann in<br />

der Nähe von Stokeon-Trent,<br />

funktionelle,<br />

wasserfeste<br />

Kleidungsstücke<br />

mit dem Fokus auf<br />

Motorradfahrer zu<br />

produzieren, erst<br />

für Männer, dann<br />

auch für Frauen. Einer der berühmtesten<br />

Motorradcracks der Zeit, Malcolm<br />

Campbell, wurde zum Vorzeigekunden<br />

der wachsbeschichteten Lederjacken.<br />

Und auch der Forscher, Spion und Abenteurer<br />

Thomas Edward Lawrence zählte<br />

bald zu den treuen Abnehmern. Anfang<br />

der 1930er-Jahre kleideten sich die Luftfahrtpionierinnen<br />

Amelia Earhart und<br />

Amy Johnson in Belstaff.<br />

In der Firmenchronik liest man: „Da<br />

das Unternehmen seine Führungsrolle<br />

in der Spitzentechnologie nicht verlieren<br />

soll, begibt sich Grosberg auf ausgedehnte<br />

Soldaten, Motorradfahrer<br />

und City-Flaneure<br />

Es ist kaum bekannt, dass die internationale Luxusmarke<br />

Belstaff einen jüdischen Gründer hatte.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Belstaff war weltweit die erste Firma,<br />

die ägyptische gewachste Baumwolle<br />

zur Herstellung atmungsaktiver<br />

und dennoch wasserfester Kleidung<br />

verarbeitet.<br />

Reisen durch Europa und Asien<br />

auf der Suche nach neuen Stoffen<br />

und Herstellungsmethoden. Belstaff<br />

wird weltweit die erste Firma,<br />

die ägyptische gewachste Baumwolle<br />

zur Herstellung atmungsaktiver<br />

und dennoch wasserfester Kleidung<br />

verarbeitet.“<br />

1939 zieht sich Eli Belovitch aus<br />

dem Unternehmen zurück, das nun<br />

von seinem Schwiegersohn und seiner<br />

Tochter Esther geleitet wird.<br />

Unter ihrer Führung erfolgt die<br />

zweite Kriegsexpansion 1940 bis 1945 mit<br />

zusätzlich 600 Arbeitskräften. Nach deren<br />

Ende und der Rückkehr zur Motorradbekleidung<br />

beginnt eine Entwicklung, wie<br />

sie auch viele andere Bekleidungsmarken<br />

durchlaufen: Unterschiedlichste Investoren<br />

kaufen sich ein und verabschieden<br />

sich wieder. Erst ist dies in England<br />

James Halstead, dann folgt die Sponsor<br />

SA aus Italien, darauf die amerikanische<br />

Labelux Gruppe, auf sie die JAB Luxury<br />

GmbH der deutschen Unternehmerfamilie<br />

Reimann, zu der zeitweise auch Bally<br />

und Jimmy Choo gehören.<br />

Man eröffnet Flagship-Stores in zahlreichen<br />

Städten zwischen Mailand, New<br />

York und Tokio. Berühmte Testimonials<br />

sind etwa Steve McQueen, später David<br />

Beckham, Kate Moss oder Liv Tyler.<br />

2017 übernimmt schließlich der britische<br />

Chemiekonzern Ineos Belstaff.<br />

Ineos war über Jahre vom Unternehmer<br />

Jim Ratcliffe aus unterschiedlichen petrochemischen<br />

Töchtern anderer Konzerne<br />

zusammengebaut worden und erzielte<br />

2020 einen Umsatz von 60 Mrd. Dollar.<br />

Ratcliffe erlaubt sich Investitionen in<br />

branchenfremde, aber typisch britische<br />

Erzeugnisse. Neben Belstaff ist das etwa<br />

eine Autofirma, die sich zum Ziel gesetzt<br />

hat, jene Lücke zu füllen, die die Einstellung<br />

des klassischen Land Rover Defender<br />

hinterlässt. Der Ineos Grenadier, ein<br />

kantiger allradgetriebener Geländewagen,<br />

wird ab kommendem Jahr in einer<br />

französischen Fabrik der Smart-Daimler-<br />

Gruppe produziert. Entwickelt wurde er<br />

bei Magna Steyr in Graz, und Autojournalisten<br />

aus der ganzen Welt reisten an, um<br />

erste Prototypen auf der Teststrecke am<br />

Grazer Hausberg Schöckl durch das steile<br />

Terrain zu jagen.<br />

© Isabel Infantes/PA/picturedesk.com<br />

20 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


HIGHLIGHTS | 02<br />

Saar Magal und<br />

das obsessive Patriarchat<br />

Als Regisseurin und Choreografin füllt sie stets die Zwischenräume<br />

von Choreografie, Oper, Schauspiel und Performance – derzeit auf<br />

Einladung des Wiener Burgtheaters im Kasino am Schwarzenbergplatz.<br />

Saar Magal: Die<br />

faszinierende israelische<br />

Künstlerin<br />

des performativen<br />

Cross-overs<br />

arbeitet erstmals<br />

am Wiener Burgtheater.<br />

In dieser Art habe ich noch nie<br />

gearbeitet“, lacht die 68-jährige<br />

Schauspielerin Elisabeth<br />

Augustin und bezieht sich auf<br />

die sechs Wochen harter künstlerischer<br />

Arbeit an (Ob)Sessions<br />

mit der israelischen Regisseurin<br />

und Choreografin Saar Magal.<br />

Auf Einladung des Wiener Burgtheaters<br />

entwickelte Magal im Kasino am<br />

Schwarzenbergplatz eine bildgewaltige<br />

Inszenierung. Die Obsession unserer<br />

Gesellschaft für Jugend und die<br />

Angst vor dem Alter, die Kritik am Patriarchat,<br />

der moderne Feminismus und<br />

das Aufbrechen von Klischees sind dabei<br />

zentralen Themen.<br />

Saar Magal studierte in ihrer Geburtsstadt<br />

Tel Aviv sowie in London<br />

und unterrichtet unter anderem am<br />

Theatre Department der Harvard University.<br />

Bisher entwickelte sie Projekte<br />

für die Batsheva Dance Company sowie<br />

die Bayerische Staatsoper<br />

und inszenierte in Berlin,<br />

Paris, Zürich, Brüssel,<br />

Melbourne und Warschau.<br />

Saar Magals Produktionen<br />

bewegen sich in den<br />

Zwischenräumen von Choreografie,<br />

Oper, Schauspiel und Performance.<br />

Das neunköpfige Ensemble<br />

aus Schauspielern des Burgtheaters,<br />

Tänzerinnen und Studierenden der<br />

Musik und Kunst Privatuniversität<br />

Wien macht begeistert mit. maha<br />

(Ob)Sessions<br />

Kommende Vorstellungen:<br />

19. u. 20.11.<strong>2021</strong>, 20 Uhr,<br />

Kasino am Schwarzenbergplatz<br />

120 Min. ohne Pause<br />

www.tipp<br />

Chuzpe<br />

Rap ist ein Genre, das sich offen gegen<br />

Ausgrenzung und Diskriminierung zur<br />

Wehr setzt. Gleichzeitig gibt es immer öfter<br />

Fälle antisemitischer Inzidenzen in der<br />

Szene. Und sie häufen sich rund um politische<br />

Auseinandersetzungen zwischen<br />

Israelis und Palästinensern. Der Deutsch-<br />

Israeli Ben Salomo stellte seine Veranstaltungsreihe<br />

Rap am Mittwoch ein und zog<br />

sich 2018 zurück, da die Judenfeindlichkeit<br />

im Rap-Milieu immer offener wurde.<br />

„Als Jude, Israeli und auch noch<br />

als jemand, der sagt, dass das<br />

Existenzrecht Israels nicht in<br />

Frage gestellt werden darf,<br />

habe ich die volle Ladung abbekommen.“<br />

Ben Salomo<br />

Wie jüdische Rapper mit diesen Entwicklungen<br />

umgehen, was sie selbst erlebt<br />

haben und wofür Rap für sie immer<br />

noch steht: Darüber sprachen die<br />

Rapper:innen Ben Salomo und G-Udit<br />

mit Moderatorin und Produzentin Avia<br />

Seeliger in ihrer aktuellen Podcast-Folge<br />

mit Chuzpe und Schmackes!<br />

anchor.fm/chuzpe<br />

„Ich habe zum Beispiel Anfang des<br />

Sommers ein T-Shirt designt, auf<br />

dem Be aware of my Jewish Space-<br />

Laser steht.“ G-Udit<br />

© Wilfried Hösl © Thomas Köhler; Elsa Okazaki<br />

wına-magazin.at<br />

21


INTERVIEW MIT ROBERT STREIBEL UND CHRISTIAN H. STIFTER<br />

WINA: Der erste Volksbildungsverein wurde in Wien 1887<br />

gegründet. Recht bald gab es dann die ersten fixen Orte<br />

mit der Urania und dem Volksbildungsheim Ottakring,<br />

wobei die Urania naturwissenschaftlich und bürgerlich<br />

orientiert war und man in Ottakring auf Arbeiterbildung<br />

setzte. Aus welchem Bedürfnis heraus wurden Volksbildungseinrichtungen<br />

geschaffen?<br />

Christian H. Stifter: Auf der einen Seite hat die Gründung<br />

der ersten Volksbildungsvereine im Wesentlichen<br />

die allgemeine Bildungsmisere zur Grundlage.<br />

Der Analphabetismus hatte sich von Mitte bis Ende<br />

des 19. Jahrhunderts zwar reduziert, lag aber immer<br />

noch bei über 30 Prozent in den 1880er- und 1890er-<br />

Jahren und betrug dann vor<br />

Robert Streibel. dem Ersten Weltkrieg an die 25<br />

„Man sieht, dass durch Prozent. Es gab zwar die Schulpflicht,<br />

aber wie Eduard Lei-<br />

den Eingriff der Nationalsozialisten<br />

1938 vieles sching, einer der Pioniere der<br />

weggefallen ist.“<br />

Wiener Volksbildung, konstatierte:<br />

Die Rekruten beim Militär<br />

waren funktionale Analphabeten. Sie hatten zwar<br />

Lesen und Schreiben gelernt, das hatte aber in der<br />

Folge zu wenig mit Schriftkultur an sich zu tun. Hier<br />

gab es Kompensationsbedarf.<br />

Auf der anderen Seite war die Universität trotz des<br />

Aufstiegs der Naturwissenschaften und Technik eine<br />

Eliteninstitution, und Frauen war es im Grunde erst<br />

in der Ersten Republik möglich, ein Unistudium zu<br />

absolvieren. Vor dem Hintergrund der wichtigen<br />

Rolle der Wissenschaft, neuesten Erkenntnissen in<br />

allen Bereichen, vor allem aber in den Naturwissenschaften,<br />

galt es eine neue Instanz, eine Plattform zu<br />

schaffen, die eine ganz neue Form von Lernen und<br />

Lehren ermöglicht hat. Das war ein Ermöglichungsraum<br />

für eine ganze Fülle von Angeboten.<br />

„Lernort ohne soziale<br />

Scheidewände“<br />

Mit dem Band Nationalsozialismus und Volksbildung legte<br />

das Österreichische Volksschularchiv nun eine Aufarbeitung<br />

der Rolle der Volksbildung in der NS-Zeit<br />

vor (siehe auch Kasten). WINA sprach mit<br />

Christian H. Stifter, dem Direktor des VHS-<br />

Archivs, und Robert Streibel, Leiter der VHS<br />

Hietzing, über die Entwicklung der Wiener Volksbildung<br />

in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus.<br />

Juden und Jüdinnen waren sowohl<br />

Unterstützer wie auch Vortragende.<br />

Interview: Alexia Weiss,<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

Es gab also schon zu Beginn der Volksbildung einen Spagat<br />

zwischen Wissensvermittlung über neue wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse und Basisbildung.<br />

Christian H. Stifter: Das ist einerseits richtig, andererseits<br />

würde ich nicht von einem Spagat sprechen.<br />

Das klingt nach einer mühsamen Aktion. Man hat<br />

das sehr elegant und kreativ gelöst, indem das Angebot<br />

vertikal und horizontal schön durchgegliedert<br />

wurde in den einzelnen Einrichtungen, aber auch<br />

zwischen den Einrichtungen. Der Wiener Volksbildungsverein<br />

hatte in seinem Angebot mehr oder weniger<br />

alles: Angebote zu allen Bereichen des Wissens,<br />

aber auch zu Kunst, Kultur, Musik, zu Gesundheitsbildung,<br />

es gab Bewegungskurse und natürlich auch<br />

das, was man heute als Basisbildung versteht: lesen,<br />

schreiben und rechnen.<br />

Wenn wir uns die Zeit bis zum Ende der Monarchie anschauen:<br />

Wer hat Volksbildung in Anspruch genommen,<br />

und wer hat sie finanziert?<br />

Christian H. Stifter: Im Wesentlichen war es ein zivilgesellschaftliches<br />

Projekt, das vom reformorientierten<br />

liberalen Stadtbürgertum genauso wie von<br />

der aufsteigenden Sozialdemokratie getragen war.<br />

22 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Pioniere der Volksbildung<br />

Das ging gegen die klerikal-konservative Obrigkeit,<br />

die sozusagen einen Deckel auf das Herrschaftswissen<br />

halten wollte. Angesprochen waren im Wesentlichen<br />

alle. Gemeint war das Volk in seiner breiten<br />

Zusammensetzung und Herkunft sowie in den unterschiedlichen<br />

weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen.<br />

Alter, Geschlecht, das hat alles keine Rolle<br />

gespielt. Das war ein ganz neuartiger, pluraler, sehr<br />

inhomogener, faszinierender Lernraum. Und das Programm<br />

ist enthusiastisch angenommen worden. 40<br />

Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen<br />

aus der Arbeiterschaft, aber auch Handelsangestellte<br />

und niedere Beamte waren vertreten. Und im Schnitt<br />

wurden die Kurse mehrheitlich von Frauen besucht,<br />

im Median waren es 55 Prozent, bei manchen Themen<br />

sogar bis zu über 70 Prozent. Es gab hier eine breite<br />

soziale Streuung.<br />

Treibende Kräfte waren also die liberale und die sozialdemokratische<br />

Bewegung. Inwiefern hat in diesen Kurse<br />

und Bildungsangeboten der Zeitgeist eine Rolle gespielt,<br />

Christian H. Stifter.<br />

„Es ist schier unglaublich, wer<br />

aller an den Volkshochschulen<br />

gewirkt hat. Es war das Who<br />

ist who der Zeit vertreten.“<br />

„Das ging gegen<br />

die klerikal-konservative<br />

Obrigkeit,<br />

die sozusagen<br />

einen Deckel<br />

auf das Herrschaftswissen<br />

halten wollte.“<br />

Christian H. Stifter<br />

dass die Monarchie ein Ende zu haben hat? War das ein<br />

Katalysator?<br />

Christian H. Stifter: Das war es ganz sicher, wobei<br />

es immer schwierig ist, solche Effekte wirkungsgeschichtlich<br />

zu quantifizieren. Rund um die Errichtung<br />

des Volksbildungsheimes Ottakring fanden zum Beispiel<br />

die ersten Demonstrationen für ein Allgemeines<br />

Wahlrecht statt. Und die Volksbildungseinrichtungen<br />

waren von den Statuten her partizipativ gestaltet, Hörer<br />

und Hörerinnen konnten über Vertrauensleute<br />

beim Programm mitbestimmen. Es war tatsächlich<br />

auch so etwas wie eine Schule der Demokratie, ein<br />

Lernort ohne soziale Scheidewände. Das gab es in der<br />

Zeit der Monarchie in dieser Form nirgendwo anders.<br />

Das Gebäude der VHS Ottakring ist auch mit Mitteln der<br />

Familie Rothschild erbaut worden. Wie war hier insgesamt<br />

der Beitrag von jüdischen Unterstützern und Lehrenden?<br />

Christian H. Stifter: Der Beitrag von jüdischen<br />

Künstlern, Literaten, Intellektuellen, Wissenschaftlern<br />

sowie Proponenten und Förderer war enorm.<br />

Das kann man aus heutiger Sicht nicht hoch genug<br />

schätzen.<br />

Können Sie hier konkrete Beispiele nennen?<br />

Christian H. Stifter: Emil Reich zum Beispiel. Alfred<br />

Adler war mit seiner Individualpsychologie präsent.<br />

Sigmund Freud war selbst kein Vortragender,<br />

aber hat das Volksheim Ottakring als förderndes Mitglied<br />

unterstützt. Der langjährige, über zwei Dekaden<br />

wirkende Generalsekretär des Volksheims Ottakring,<br />

Richard Czwiklitzer, war mosaischen Glaubens.<br />

Er durfte 1938 gerade noch das Archiv ordnen und war<br />

dann gezwungen, seine Besitzverhältnisse der Vermögensverkehrsstelle<br />

zu rapportieren. Mimi Grossberg,<br />

die aus anderen Kontexten sehr bekannt ist und<br />

in die USA emigrieren konnte, war Bibliothekarin an<br />

der VHS Ottakring. Amelia Sarah Levetus war eine bedeutende<br />

Kunsthistorikerin, die bereits vor der Jahrhundertwende<br />

von Birmingham nach Wien übersiedelt<br />

ist. Sie war die erste Frau, die an der Universität<br />

Wien Vorlesungen gehalten hat. Levetus hat Englischkurse<br />

an der VHS Ottakring gehalten und 1900 eine<br />

wichtige Studie zu „Imperial Vienna“ verfasst. Sie ist<br />

dann hochbetagt in Wien gestorben.<br />

Robert Streibel: Und dann wären da noch zu nennen:<br />

Elise und Helene Richter. Elisa war Romanistin und<br />

wurde als erste Frau zum Außerordentlichen Professor<br />

ernannt. Helene war eine angesehene Anglistin<br />

und Theaterwissenschaftlerin. Beide haben auch in<br />

den Volkshochschulen Vorträge gehalten und wurden<br />

schließlich von den Nazis in Theresienstadt ermordet.<br />

Christian H. Stifter: Und auch Jean Améry, eigentlich<br />

Hans Mayer, war Bibliothekar in der Zweigstelle<br />

in der Landstraße. Es ist wirklich schier unglaublich,<br />

wer aller an den Volkshochschulen gewirkt hat. Es war<br />

das Who ist who der Zeit vertreten – man muss fast<br />

fragen: Wer war nicht dabei? Teilweise wurde nicht<br />

wına-magazin.at<br />

23


Jüdische Mäzene<br />

Die Wiener Volkshochschulen in der NS-Zeit<br />

Im Band Nationalsozialismus und<br />

Volksbildung, der im Rahmen der<br />

Reihe Spurensuche erschienen ist,<br />

beleuchtet das Österreichische<br />

Volkshochschularchiv die Rolle und<br />

Funktion der Volks- beziehungsweise<br />

Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus.<br />

Kritisch ist man zu<br />

sich selbst: Erst spät finde diese Auseinandersetzung<br />

statt. Und auch in<br />

der Sache wird in dem Band Tacheles<br />

gesprochen.<br />

Da schildert etwa der Historiker<br />

Thomas Dostal die Gleichschaltung<br />

der Wiener Volksbildungseinrichtungen<br />

nach dem „Anschluss“<br />

1938. Jüdische Vortragende, aber<br />

auch Hörer und Hörerinnen wurden<br />

ausgeschlossen, und auch das<br />

Programm und die Herangehensweise<br />

an den Unterricht veränderten<br />

sich. Es sei „das Ende der wissenschaftszentrierten<br />

Wiener Richtung<br />

der Volksbildung“ gewesen, so<br />

Dostal.<br />

SA-Sturmbannführer Anton Haasbauer<br />

etwa machte es sich zur Aufgabe,<br />

die Volksbildner entsprechend<br />

zu schulen. Denn, so seine Sorge: Ein<br />

Gros von ihnen stammte „noch aus<br />

der Zeit der liberalistischen Volksbildung“.<br />

Daher wurde hier eine<br />

Schulungsreihe unter dem Titel<br />

Volksbildung im Dienste der Volksgemeinschaft<br />

organisiert.<br />

Das Vortragsprogramm der Wiener<br />

Volkshochschulen umfasste in<br />

der NS-Zeit Themen wie „Adolf Hitler:<br />

Mein Kampf“, „Wegbereiter<br />

und Künder des Nationalsozialismus“,<br />

„Vom Ersten zum Dritten<br />

Reich“, „Gesundes Volk“<br />

oder „Rassenkunde und Rassenpflege“.<br />

Die Vortragsreihe<br />

Die Juden in Wien thematisierte<br />

an sechs Abenden mit Lichtbildern<br />

die „Geschichte der Einwanderung<br />

und Ausbreitung<br />

der Juden“ sowie „ihr Eindringen<br />

in die verschiedenen Bereiche<br />

des kulturellen und wirtschaftlichen<br />

Lebens“.<br />

Kurse, die der politischen Indoktrinierung<br />

dienen sollten,<br />

kamen aber meist aus Mangel<br />

an Hörern und Hörerinnen nicht<br />

zustande, schreibt Dostal. Insgesamt<br />

hatte man mit einem Teilnehmerschwund<br />

zu kämpfen:<br />

Jene Hörer, die politisch interessiert<br />

waren, boykottierten nun die Volksbildungseinrichtungen.<br />

Die Schwerpunkte<br />

des Programms lagen in der<br />

NS-Zeit beim Sprachenunterricht, bei<br />

kaufmännischen Fächern oder Praktischem<br />

wie Nähen.<br />

nur Geld gespendet, sondern ganze Bibliotheken.<br />

Und wir wissen heute aus unseren Untersuchungen,<br />

dass allein unter den Dozenten und Dozentinnen der<br />

Anteil der jüdischen Vortragenden rund 35 Prozent<br />

war. Das heißt aber nicht, dass das eine homogene<br />

Gruppe war. Hinzu kommt, dass es auch eine interessante<br />

Nachbarschaft zu Personen gab, die einem<br />

anderen Spektrum angehörten.<br />

Die etwa zum Kreis der Bärenhöhle zählten.<br />

Christian H. Stifter: Ja, die gab es. Sie haben an den<br />

Einrichtungen aber keine ideologisierenden Vorträge<br />

gehalten, sondern sich auf ihr Fachgebiet beschränkt.<br />

Robert Streibel: Es ist allerdings bezeichnend, dass<br />

der Anteil der jüdischen Dozenten und Dozentinnen<br />

und Unterstützer der Volkshochschulen erst so richtig<br />

durch das Gedenken oder Erinnern an die Opfer<br />

der Shoah ins Bewusstsein rückte. Im Rahmen eines<br />

Projekts haben wir ab 2008 begonnen, die Namen der<br />

Opfer der Shoah im Bereich der Wiener Volksbildung<br />

Nationalsozialismus<br />

und<br />

Volksbildung.<br />

Eine späte<br />

Annäherung.<br />

Österreichisches<br />

Volkshochschularchiv<br />

2020 (Spurensuche,<br />

29. Jg.),<br />

231 S., € 18,50<br />

Der Band kann<br />

unter archiv@<br />

vhs.at bestellt<br />

werden.<br />

zu eruieren. Wie viele Ermordete gab es, wie vielen ist<br />

die Flucht ins Exil geglückt?<br />

Christian H. Stifter: Mittlerweile haben wir in unserer<br />

Datenbank insgesamt rund 1.000 Personen, sind<br />

aber noch nicht fertig. Wobei für viele dieser Personen<br />

ihr Judentum nicht das zentrale Thema war. Auch<br />

Ludo Moritz Hartmann, die führende Gründerperson<br />

der Volkshochschulen in Wien, kam aus einem<br />

jüdischen Elternhaus, war in seinem Leben aber sehr<br />

profan durchorganisiert, das hat kaum eine Rolle gespielt.<br />

Gab es in der Zwischenkriegszeit und im Roten Wien einen<br />

weiteren Aufschwung für die Volkshochschulen?<br />

Oder auch eine stärkere Politisierung durch die Stadtregierung?<br />

Christian H. Stifter: Es war den jüdischen Mäzenen<br />

zu verdanken, dass die ersten Einrichtungen überhaupt<br />

ein Funding erhalten haben. Nur mit Begeisterung<br />

wäre das nicht auf die Beine zu stellen gewesen.<br />

Zu dem Zeitpunkt, an dem Karl Lueger Bürgermeister<br />

in Wien wurde, hat er sofort allen Volksbildungseinrichtungen<br />

die ohnedies minimale Unterstützung<br />

abgesprochen.<br />

Die erste tatsächliche Mitfinanzierung von kommunaler<br />

Seite her gab es im Roten Wien. Deshalb war es<br />

möglich, dass ab Mitte der 1920er-Jahre das von Beginn<br />

an gewünschte Prinzip der flächendeckenden<br />

Dezentralisierung sukzessive konkretisiert wurde.<br />

Es gab Zweigstellengründungen und einen weiteren<br />

Ausbau des Veranstaltungs- und Vortragsangebotes.<br />

Die wirkliche erste Hochblüte ist sicher in der Mitte<br />

dieses Kulturkampfes der Ersten Republik in den<br />

1920er-Jahren im Roten Wien zu verorten.<br />

Hat sich da dann bezüglich der vermittelten Inhalte etwas<br />

geändert?<br />

Christian H. Stifter: Bei den Inhalten hat sich nur<br />

im Bereich der methodischen Herangehensweise etwas<br />

geändert. Man hat versucht, das Prinzip der Augenhöhe<br />

auch methodisch-didaktisch weiterzuentwickeln,<br />

man wollte zum Beispiel eine Aussprache<br />

– heute würde man sagen Diskussion – nach den Vorträgen.<br />

Das war aber auch durch auf Zettel geschriebene<br />

Kommentare möglich, die dann verlesen wurden,<br />

damit sich auch Personen beteiligen konnten,<br />

die Schwierigkeiten hatten, vor großem Publikum<br />

zu sprechen. Von den Inhalten her gab es sicherlich<br />

eine massive Ausweitung des Angebots entlang der<br />

weiter ausdifferenzierenden Wissenschaftsdisziplinen<br />

sowie Anleitungen zu praktischen Anwendun-<br />

24 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Abwehr des Antisemitismus<br />

„Es ist bezeichnend, dass der Anteil der jüdischen Dozenten<br />

und Dozentinnen und Unterstützer der Volkshochschulen<br />

erst so richtig durch das Gedenken oder Erinnern an die<br />

Opfer der Shoah ins Bewusstsein rückte.“ Robert Streibel<br />

gen. Alfred Adler hat nicht einfach nur individualpsychologische<br />

Vorträge gehalten, sondern auch<br />

Bezirksberatungsstellen eingerichtet, etwa an der<br />

Volkshochschule. Gleiches gilt auch für Viktor Frankl.<br />

Waren das Therapieangebote?<br />

Christian H. Stifter: Weniger Therapie, Existenzberatung<br />

würde man heute vielleicht sagen.<br />

Robert Streibel: Die Volkshochschulen haben zwar<br />

durch das Rote Wien eine starke Unterstützung gehabt,<br />

aber die Angebote waren durchaus im bürgerlichen<br />

Mainstream. Das zeigt sich auch in späterer<br />

Folge. Man sieht etwa, dass durch den Eingriff der<br />

Nationalsozialisten 1938 vieles weggefallen ist, es<br />

aber trotzdem möglich war, dass manche ihre Vorträge<br />

– zwar leicht modifiziert, aber doch – die ganze<br />

Zeit über halten konnten. Manche haben auch nach<br />

1945 weiter unterrichtet. Hier muss man fragen, ob<br />

das nur Flexibilität war oder ob es einen Bereich gegeben<br />

hat, der scheinbar ideologiefrei war. Ich bin<br />

zwar skeptisch, dass es diesen Bereich gegeben hat,<br />

aber da und dort trifft man das schon. Ein Beispiel<br />

sind Buchhaltungskurse.<br />

Heißt das im Umkehrschluss, dass bis 1934 Antisemitismus<br />

in den Unterrichtsangeboten und den Haltungen der<br />

Lehrenden nicht vorgekommen ist?<br />

Christian H. Stifter: Ich habe das einmal für einen<br />

Konferenzbeitrag auf der Basis von schriftlichen<br />

Zeugnissen und anhand der Kursprogramme analysiert.<br />

Was sich mit Sicherheit feststellen lässt, ist,<br />

dass sich in den Kursen und Vorträgen anhand der<br />

Kurstitel Antisemitismus absolut nicht finden lässt.<br />

Das heißt aber nicht, dass nicht bei manchen Vorträgen<br />

zwischendurch antisemitische Äußerungen gefallen<br />

sind. Aber in der Einrichtung als solcher war<br />

Antisemitismus nicht präsent. Im Gegenteil: Von Beginn<br />

an hat man mit dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus<br />

in Wien kooperiert. Man war bereits<br />

vor dem Ersten Weltkrieg beim Ersten Antirassismus-Weltkongress<br />

in London vertreten. Ich würde<br />

sagen, ja, man vermisst aktive Vorträge gegen die Faschisierung<br />

der Gesellschaft. Aber sozusagen diese<br />

Vakzinierung, die Ludo Moritz Hartmann gesehen<br />

hat, durch kritisches Denken zu lernen, sich für demokratische<br />

Strukturen einzusetzen und für diese in<br />

der Gesellschaft einzutreten, die gab es.<br />

Christian H. Stifter: Es gab ja gerade in den 1920erund<br />

1930er-Jahren Anfälligkeit für autoritäre Ideologien,<br />

Anfälligkeit für völkische Ideologien, Anfälligkeit<br />

für Antisemitismus, Anfälligkeit dann ganz stark<br />

für den Anschlussgedanken, und all das bis auf das<br />

Letztgenannte trifft auf die Volkshochschulen nicht<br />

nur nicht zu, sondern es war das Prinzip des Denken-<br />

Lehrens etwas, das bereits nach 1934 ganz massiv<br />

attackiert wurde. Da hat sich der Austrofaschismus<br />

ganz entspannt zurückgelehnt und gesagt, endlich<br />

können wir diese Volkshochschulen frei machen von<br />

diesem jüdischen, analytisch-zersetzenden Prinzip<br />

einer wissenschaftsorientierten Volksbildung. Den<br />

Menschen zu ermöglichen, selbstkritisch und autonom<br />

zu agieren, das wurde als eine ganz große Gefahr<br />

gesehen.<br />

wına-magazin.at<br />

25


Freuds späte Flucht<br />

Ein Amerikaner in Wien<br />

Der US-Autor Andrew Nagorski bereitet ein<br />

Buch über Sigmund Freuds Flucht nach England<br />

vor und wer aller diesem dabei geholfen hat.<br />

Text und Foto: Reinhard Engel<br />

Eigentlich liegt das Manuskript<br />

schon beim Lektor in New York.<br />

Doch Andrew Nagorski ist – da<br />

man als geimpfter Amerikaner<br />

wieder nach Europa fliegen darf – noch<br />

einmal für ein paar Tage nach Wien gekommen,<br />

um ein paar Details zu checken,<br />

Atmosphärisches einzuatmen. Manches<br />

klingt nach Kleinigkeiten, aber auch die<br />

müssen stimmen. Ist Freud etwa von seiner<br />

Praxis und Wohnung in der Berggasse<br />

19 zum Verlag der psychoanalytischen Gesellschaft<br />

auf Nummer 7 hinunter oder<br />

hinauf gegangen?<br />

Nagorski, ein langjähriger internationaler<br />

Korrespondent für das US-Magazin<br />

Newsweek, ist es gewohnt, auch kleinste<br />

Details zu checken und noch einmal gegenzuchecken.<br />

Das gilt auch für seine<br />

historischen Bücher, von denen sich eines<br />

etwa der Wende im Zweiten Weltkrieg<br />

vor den Toren Moskaus im Winter<br />

1941 widmet (meist gilt erst Stalingrad<br />

zwei Jahre später als Kipppunkt). Ein anderes<br />

beschreibt die Sicht der Amerikaner<br />

in Europa auf den erstarkenden Nationalsozialismus<br />

und wie ungefährlich<br />

oder gefährlich sie diesen einschätzten.<br />

Nun aber Freud. Im Frühjahr soll das<br />

Buch Saving Freud. The Rescuers Who Brought<br />

Him to Freedom (Freuds Rettung. Die Helfer,<br />

die ihn in die Freiheit brachten) bei Simon &<br />

Schuster erscheinen. „Viele Menschen<br />

glauben, alles über Freud zu wissen“, erzählt<br />

Nagorski. „Aber das stimmt natürlich<br />

nicht, und viele haben auch eine ganz<br />

falsche Vorstellung. Selbst wenn schon<br />

zahlreiche Bücher existieren, gibt es immer<br />

noch interessante Aspekte, die nicht<br />

erzählt wurden.“ Sein aktuelles Freud-<br />

Buch wird sich auf dessen Retter konzentrieren,<br />

die den Professor in das sichere<br />

England brachten, wo er im November<br />

1939 an seinem Krebsleiden starb.<br />

Wie kam es zum Sprung von politischen<br />

und militärhistorischen Themen<br />

zum Begründer der Psychoanalyse?<br />

„Ich habe Autoren-Freunde, die wissen<br />

schon während sie noch an<br />

einem Buch arbeiten, was<br />

das nächste sein wird. Bei<br />

mir ist das nicht so. Ich bin<br />

ganz in meinem jeweiligen<br />

Thema vergraben, und<br />

dann braucht es eine Zeit<br />

der Ruhe und des Überlegens,<br />

wohin es beim nächsten<br />

Buch gehen soll.“<br />

Mit Wien verbunden. Auf<br />

Freud war er durch Stefan<br />

Zweigs Die Welt von Gestern<br />

gestoßen und auf die persönliche<br />

Beziehung der beiden<br />

Männer. Zweig war laut<br />

Nagorski sicher der politischere<br />

der Freunde, und<br />

er hatte sich früher für die<br />

Emigration entschieden. Bei Freud sollte<br />

es länger dauern, und er wollte die Notwendigkeit<br />

nicht sehen, hielt den österreichischen<br />

Ständestaat für weit weniger<br />

gefährlich als Nazi-Deutschland, dachte<br />

auch zunächst, er werde als alter Mann<br />

nicht mehr ins Ausland flüchten.<br />

Nagorski: „Er war sehr mit Wien verbunden,<br />

hatte seine täglichen Routinen<br />

mit Spaziergängen am Ring und Kaffeehaus-Besuchen,<br />

und trotz aller internationaler<br />

Kontakte als Arzt und in der psychoanalytischen<br />

Gesellschaft wollte er<br />

hier bleiben.“ Die USA waren ihm überdies<br />

nicht sympathisch, bei einem Besuch<br />

im Jahr 1907 beklagte er sich im klassischen<br />

Muster des gebildeten, versnobten<br />

Europäers, der auf die geldgierigen, oberflächlichen<br />

Amerikaner herabsieht.<br />

Und doch kümmerte sich eine Gruppe<br />

von sehr unterschiedlichen Menschen<br />

darum, dass der Professor nach dem<br />

„Anschluss“ rechtzeitig Großdeutschland<br />

verließ. Eine wichtige Rolle spielte<br />

dabei seine Tochter Anna, die bereits als<br />

Psychoanalytikerin arbeitete. Freud sagte<br />

einmal, nur weil sie noch ein Leben vor<br />

sich habe, sei er überhaupt bereit zu ge-<br />

„Wir machen<br />

es uns mit der<br />

Geschichte<br />

oft einfach,<br />

im Rückblick<br />

scheint alles<br />

logisch. Aber in<br />

der Zeit, in der<br />

man selbst lebt,<br />

sind die Dinge<br />

komplizierter“<br />

Andrew Nagorski<br />

hen. Für die praktischen Aspekte der Emigration<br />

sollten aber etwa folgende Personen<br />

von Bedeutung werden, und mit<br />

einer Ausnahme waren diese Helfer keine<br />

Juden: William Christian Bullet, ein amerikanischer<br />

Journalist, Autor und Diplomat,<br />

unter anderem Botschafter in der<br />

Sowjetunion und in Frankreich.<br />

Marie Bonaparte, eine<br />

Patientin Freuds und<br />

angeheiratete Prinzessin<br />

der griechischen<br />

und dänischen Königsfamilien.<br />

Sie streckte<br />

unter anderem Geld für<br />

die Reichsfluchtsteuer<br />

vor und brachte Freud<br />

auf der ersten Station<br />

der Flucht nach England<br />

in Paris bei sich unter.<br />

Ernest Jones, ein walisischer<br />

Psychoanalytiker,<br />

der nach dem Konflikt<br />

mit C. G. Jung eine<br />

zentrale Rolle unter<br />

Freuds Anhängern erlangt<br />

hatte. Jones verfügte<br />

laut Nagorski in<br />

London über beste Beziehungen und besorgte<br />

die notwendigen Papiere zu einer<br />

Zeit, als die westlichen Länder alles andere<br />

als freundlich gegenüber jüdischen<br />

Einwanderern waren.<br />

Max Schur war Freuds Arzt in Wien,<br />

Jude wie er, zwar um viele Jahre jünger,<br />

aber mit ihm sehr eng verbunden. Er<br />

sollte ihn auch in London bis zu seinem<br />

Tod weiter betreuen, nachdem er zuvor in<br />

Amerika die Bürokratie für die Flucht seiner<br />

eigenen Familie erledigt hatte.<br />

Und dann war da noch Anton Sauerwald,<br />

ein Wiener Nazi, der als Kommissarischer<br />

Leiter die „Arisierung“ von Freuds<br />

Praxis und des psychoanalytischen Verlags<br />

betrieb. Sauerwald begann während<br />

seiner „Arbeit“ Freud zu schätzen und<br />

half ihm insofern, als er nicht über dessen<br />

Fremdwährungskonten berichtete. „Das<br />

hätte ihm eventuell die Ausreise verunmöglicht“,<br />

erklärt der Autor.<br />

Zur persönlichen Motivation Nagorskis<br />

für dieses Thema: „Wir machen es uns mit<br />

der Geschichte oft einfach, im Rückblick<br />

scheint alles logisch. Aber in der Zeit, in<br />

der man selbst lebt, sind die Dinge komplizierter.<br />

Man kann manches nicht sehen<br />

26 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Retterinnen und Retter<br />

oder will es nicht sehen. Ich habe mich<br />

gefragt, ob ich – wäre ich zu dieser Zeit<br />

Korrespondent in Deutschland gewesen<br />

– verstanden hätte, wie sich die Lage entwickelt.“<br />

Und Nagorski hat noch eine persönliche<br />

Motivation: die Emigrationsstory seiner<br />

eigenen Familie. Sein Großvater, ein<br />

bürgerlicher Anwalt in Warschau, arbeitete<br />

in London während des Zweiten Weltkriegs<br />

für die polnische Exilregierung.<br />

Sein Vater, ein junger Offizier in der polnischen<br />

Armee, schlug sich, nachdem<br />

sein Panzerbataillon von den Deutschen<br />

überrollt worden war, auf abenteuerliche<br />

Weise über Ungarn und Jugoslawien<br />

nach Frankreich durch und meldete sich<br />

zur British Army. In Schottland wurde er<br />

zum Fallschirmjäger ausgebildet, kam<br />

aber nicht zum Einsatz, sondern arbeitete<br />

in einer Presseabteilung des Militärs.<br />

Andrew<br />

Nagorski<br />

wurde in Edinburgh<br />

geboren,<br />

startete seine berufliche<br />

Laufbahn<br />

als US-High-<br />

School-Lehrer in<br />

Geschichte, wurde<br />

internationaler<br />

Korrespondent<br />

und später Buchautor.<br />

Andy wurde 1947 in Edinburgh geboren,<br />

wuchs aber in den USA auf. „Meine<br />

Mutter hielt es in Schottland nicht aus,<br />

und mein Vater meinte, in Großbritannien<br />

werden wir nie dazugehören, die<br />

USA sind ein Einwandererland, wo jeder<br />

sein Glück machen kann.“ Die ersten<br />

Jahre der Nagorskis waren mühsam, der<br />

Vater verkaufte Enzyklopädien und Geschirr,<br />

doch dann bekam er einen Job im<br />

diplomatischen Dienst, schließlich sogar<br />

einige interessante Auslandsposten, auf<br />

die er die Familie mitnahm: Kairo, Seoul,<br />

Paris. Die häufigen Ortswechsel und verschiedenen<br />

Kulturen sollten später für<br />

Nagorski Junior als Auslandskorrespondent<br />

zu seinem beruflichen Leben werden.<br />

Doch Ost- und Mitteleuropa ließen<br />

ihn nie aus, hier hat er seine Wurzeln,<br />

hier sucht er auch weiter nach Details –<br />

über und unter der Oberfläche.<br />

AUSWEISUNG ALS<br />

ARBEITSBEWEIS<br />

Andrew Nagorski lernte als<br />

Newsweek-Korrespondent die<br />

unterschiedlichsten Menschen<br />

und Regime kennen.<br />

Nach dem Geschichtsstudium in Amherst<br />

unterrichtete Nagorski drei Jahre<br />

lang an einer US-High-School, hatte es bereits<br />

zur Pragmatisierung gebracht. Doch<br />

die Schule langweilte ihn, und obwohl er für<br />

eine Familie mit zwei kleinen Kindern verantwortlich<br />

war, kündigte er und zog nach<br />

New York, um es im Journalismus zu probieren.<br />

Zuvor hatte er erfolglos bei den Tageszeitungen<br />

Boston Globe und Christian<br />

Science Monitor angeklopft, das Magazin<br />

Newsweek gab ihm eine Chance. In seiner<br />

sechsmonatigen Probezeit war er wöchentlich<br />

kündbar, an den Stress erinnert er sich<br />

heute noch mit Schrecken. Er wurde aber<br />

aufgenommen und schrieb zunächst Korrespondentenberichte<br />

und Agenturmeldungen<br />

um, bis auch für ihn eine erste<br />

Auslandsstelle frei wurde: Hong Kong mit<br />

Zuständigkeit für eine Reihe südostasiatischer<br />

Länder.<br />

Dabei sollte es nicht bleiben. Er berichtete<br />

aus Bonn und Rom, aus Berlin und<br />

Moskau. Dort war er übrigens einer der<br />

letzten internationalen Reporter, der wegen<br />

kritischer Berichterstattung kurzfristig<br />

ausgewiesen wurde. Das sollte dann<br />

sein erstes Buch werden. Ehe er sich ganz<br />

dem freien Autorentum widmete, baute er<br />

noch für Newsweek eine Reihe von internationalen<br />

Tochtermagazinen auf: in Polen, in<br />

Russland, in Argentinien.<br />

Nagorski, damals in Bonn stationiert, engagierte<br />

mich als Wiener ständigen Mitarbeiter<br />

von Newsweek im Winter 1985, nach<br />

den Terroranschlägen auf Juden in Wien<br />

und Schwechat. Er hatte einen Stringer gesucht,<br />

ich war bereits der lokale Korrespondent<br />

der New Yorker Jewish Telegraphie<br />

Agency und schrieb für den Londoner<br />

Economist. Bald darauf sollte die Waldheim-Affäre<br />

eine intensivere Berichterstattung<br />

notwendig machen. Und noch<br />

einmal, viele Jahre später, arbeiteten wir<br />

wieder direkt zusammen, als Nagorski von<br />

Berlin aus für das vereinigte Deutschland<br />

und für Osteuropa verantwortlich war.<br />

wına-magazin.at<br />

27


Familientradition<br />

Zurück zu den<br />

jüdischen Wurzeln<br />

Tony Curtis und seine Tochter Jamie Lee Curtis,<br />

zwei Hollywood-Größen, waren und sind immer dabei,<br />

wenn es darum geht, die Restaurierung jüdischer Synagogen<br />

in Ungarn finanziell zu ermöglichen.<br />

Bericht von Marta S. Halpert<br />

„<br />

Viel Glück, Jamie, Du bist ein richtiger<br />

mentsch!“ Mit diesen emotionalen<br />

Worten beendete Maddy Albert<br />

ihren Bericht in der St. Louis Jewish Light, einer<br />

Gemeindezeitung im US-Bundesstaat<br />

Missouri, über die beliebte 62-jährige Hollywood-Schauspielerin<br />

und erfolgreiche<br />

Kinderbuchautorin Jamie Lee Curtis. Albert<br />

war entzückt, dass die Tochter von<br />

Schauspielerlegende Tony Curtis die Synagoge<br />

ihrer Großeltern im ungarischen Mátészalka<br />

in diesem Sommer gemeinsam mit<br />

dem Bürgermeister der Stadt restaurieren<br />

ließ. Curtis kam für die Dreharbeiten zu Borderlands,<br />

einer Science-Fiction-Komödie,<br />

die sowohl von jüdischen Produzenten wie<br />

auch einem solchen Regisseur produziert<br />

wurde, nach Budapest, u. a. mit Kollegin<br />

Cate Blanchett. In einer Wochenenddrehpause<br />

reiste Curtis in die 16.532-Einwohner-Stadt<br />

ihrer Vorfahren, die im Komitat<br />

Szabolcs-Szatmár-Bereg, 77 Kilometer<br />

nordöstlich von Debrecen, gelegen ist.<br />

Von dort aus erzählte sie in einem Instagram-Post,<br />

dass sie als finanzielle Partnerin<br />

der Stadt Mátészalka die Synagoge,<br />

in der ihre Großeltern gebetet hatten, als<br />

ein Gemeindezentrum für Feste, Kunst<br />

und Musik renovieren und wiederbeleben<br />

wolle. „Jetzt ist alles hier so leer und<br />

verlassen, da die gesamte jüdische Bevölkerung<br />

vernichtet wurde. Das ursprünglich<br />

1857 errichtete Bethaus steht noch<br />

und ist eine lebendige Hommage an jene,<br />

die hier gelebt haben“, so Enkelin Curtis.<br />

„Auch meine Großeltern Helen und Emanuel<br />

Schwartz haben hier gebetet.“<br />

Jamie Lee Curtis war zuletzt in der köstlich-bösen<br />

Krimikomödie Knives Out zu sehen.<br />

Bereits 1988 brillierte sie im gleichen<br />

Genre als Wanda Gershwitz an der Seite<br />

von Kevin Kline und den Monty-Python-<br />

Stars John Cleese und Michael Palin im<br />

Film A fish called Wanda und heimste zahlreiche<br />

Preise ein. „Ich repräsentierte hier<br />

und jetzt meine Familie bei der Eröffnung<br />

des Tony Curtis Memorial Museum und des<br />

Cafés, das zu Ehren meines Vaters gestaltet<br />

wurde, der 2010 im Alter von 85 Jahren verstorben<br />

ist.“ Die Tochter aus der ersten Ehe<br />

von Tony Curtis und der Schauspielerin Janet<br />

Leigh zeigte sich sehr gerührt von den<br />

„Ihre neue Initiative in Ungarn ist inspirierend und<br />

sehr bedeutend.“ Jüdische Gemeindezeitung St. Louis Jewish Light<br />

Ausstellungsobjekten: „Es gibt wunderschöne<br />

Fotos aus seinem Leben, man hat<br />

Kostüme aus seinen Filmen, diverse Auszeichnungen<br />

und seine Malerei zusammengetragen.“<br />

Erfreut war Curtis, die bisher<br />

acht Kinderbücher verfasst hat, dass<br />

das Museum ganz in der Nähe der Synagoge<br />

gelegen ist.<br />

Jüdisches aus Mátészalka. Im Jahr 1941 zählte<br />

die jüdische Gemeinde von Mátészalka<br />

1.555 Mitglieder und repräsentierte damit<br />

über 15 Prozent der Stadtbevölkerung.<br />

Bereits in diesem Jahr wurden die jüdischen<br />

Männer von den ungarischen Pfeilkreuzlern<br />

zur Zwangsarbeit eingezogen. Als<br />

die deutsche Wehrmacht 1944 Ungarn besetzte,<br />

begannen die Todeszüge in das Vernichtungslager<br />

Auschwitz-Birkenau zu rollen.<br />

1946 kehrten 150 Überlebende nach<br />

Mátészalka zurück. Nach der gescheiterten<br />

Revolution 1956, als die Kommunis-<br />

ten endgültig das Land übernahmen, gelang<br />

es noch einigen, nach Nordamerika<br />

oder Israel auszuwandern. Im Jahre 1959<br />

lebten noch 98 Juden in der Heimatstadt<br />

der Schwartz, späteren Curtis.<br />

Die Entdeckung des Bernard Schwartz.<br />

Bernard Schwartz, wie der sechsmal verheiratete<br />

spätere Hollywood-Star hieß,<br />

wurde am 3. Juni 1925 in New York geboren<br />

und hatte noch zwei Brüder. Seine Eltern<br />

betrieben eine Schneiderei, in der die<br />

Familie zeitweise auch lebte. Bis zu seinem<br />

sechsten Lebensjahr sprach Bernard/Tony<br />

nur Ungarisch und Jiddisch. Während seiner<br />

Zeit an der Highschool hielt er sich lieber<br />

im Kino und am Broadway auf als in der<br />

Schule. Ab 1943 und bis Kriegsende diente<br />

Curtis in der US-Marine auf einem U-Boot-<br />

Begleitschiff. Bei einem Arbeitsunfall verletzte<br />

er sich schwer, erhielt nach seiner<br />

Genesung eine Kriegsversehrtenrente und<br />

konnte erneut auf die Schule gehen.<br />

Ab 1947 nahm er beim legendären Theaterpädagogen<br />

und Regisseur Erwin Piscator<br />

Schauspielunterricht. Zu dessen Schülern<br />

zählten auch spätere Stars wie Marlon<br />

Brando, Walter Matthau und Harry Belafonte.<br />

Abends trat er in Statisten- und Nebenrollen<br />

in kleinen New Yorker Theatern<br />

auf, so im Frühjahr 1948 in Golden Boy.<br />

Hier wurde Bob Goldstein, Talentsucher<br />

der Universal Studios, auf den gut aussehenden<br />

jungen Mann aufmerksam:<br />

Bernie Schwartz, wie Tony Curtis<br />

zu diesem Zeitpunkt noch hieß, erhielt<br />

ein Flugticket nach Los Angeles<br />

und einen Vertrag bei den Universal<br />

Studios. Das war der Beginn einer großen<br />

Karriere. Am 4. Juni 1951 heiratete er seine<br />

Schauspielkollegin Janet Leigh. Aus dieser<br />

Ehe stammen die Töchter Kelly Lee Curtis<br />

und Jamie Lee Curtis, die beide zum Film<br />

gingen. Bei den Dreharbeiten zu Taras Bulba<br />

lernte Curtis 1961 die damals 16-jährige<br />

deutsche Schauspielerin Christine Kaufmann<br />

kennen – aus dieser Ehe hat Jamie<br />

Lee noch zwei Halbschwestern.<br />

1986 begann Tony Curtis eine neue Karriere<br />

als Maler und bildender Künstler und<br />

zog sich nach Hawaii zurück. Dort stellte<br />

er seine Bilder erstmals öffentlich aus.<br />

Die Ausstellung stieß auf große Resonanz,<br />

und seine Bilder finden seither auch unter<br />

Kunstkennern Beachtung. Bis zu seinem<br />

Tod stellte Curtis seine Werke regelmäßig<br />

in den USA, Europa und Asien aus.<br />

Die Preise für einen „echten Curtis“ bewegen<br />

sich zwischen 20.000 und 100.000 US-<br />

Dollar.<br />

28 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Renovierung von Bethäusern<br />

Tony Curtis mit seiner ersten Frau Janet<br />

Leigh und den gemeinsamen Töchtern Kelly<br />

Lee und Jamie Lee (li.).<br />

Schauspielerin Jamie Lee Curtis (u.).<br />

© mptv/picturedesk.com; Wikimedia; 123RF<br />

Baum des Lebens: Raoul Wallenberg<br />

Holocaust Memorial Park, geschaffen vom<br />

ungarischen Bildhauer Imre Varga, finanziert<br />

von Tony Curtis.<br />

den. Da sich die Große Synagoge mit einem<br />

Fassungsraum von 3.000 Plätzen an der<br />

Dohány utca (deutsch: Tabakstraße) befindet,<br />

wird sie allgemein auch als Dohánytemplom<br />

bezeichnet.<br />

Tony Curtis gründete 1998 die Emanuel<br />

Foundation for Hungarian Culture und<br />

fungierte bis zu seinem Tod am 29. September<br />

2010 – er starb an Herzversagen infolge<br />

seiner Lungenerkrankung – als Ehrenvorsitzender.<br />

Diese Stiftung arbeitet für die Restaurierung<br />

und den Erhalt von Bethäusern und<br />

1.300 jüdischen Friedhöfen in Ungarn; weiters<br />

unterstützte sie ein Kinderheim, das<br />

Pikler-Institut in Budapest.<br />

All dies hat Curtis der Erinnerung an<br />

die 600.000 jüdischen Opfern der Shoah<br />

gewidmet. Aber der US-Komödienstar<br />

mit dem großen Herzen wollte unbedingt<br />

auch der Überlebenden und vor allem deren<br />

Rettern während der NS-Herrschaft<br />

Tony Curtis, der Philanthrop. Das erneute<br />

Interesse an den ungarisch-jüdischen<br />

Wurzeln der Familie erwachte bei Vater<br />

und Tochter Curtis zu Beginn der 1990er-<br />

Jahre und fiel glücklicherweise auch mit<br />

den Plänen der Familie Estée Lauder und<br />

ihrem Sohn Ronald zur Wiederbelebung<br />

der Reste des jüdischen Erbes in Ungarn<br />

zusammen. Das war auch die Folge der<br />

neuen demokratischen Freiheiten in Mittel-<br />

und Osteuropa nach dem Zusammenbruch<br />

des Kommunismus.<br />

Die dreijährigen Renovierungsarbeiten<br />

an der 1859 vom Wiener Architekt Ludwig<br />

Förster im maurischen Stil erbauten Budapester<br />

Großen Synagoge konnten mit der<br />

fünf Millionen US-Dollar Grundfinanzierung<br />

durch die damalige ungarische Regierung<br />

begonnen werden. Aber erst durch die<br />

zwanzig Millionen US-Dollar-Spende der<br />

Familie Lauder und von Tony Curtis konnten<br />

1996 auch das Dach und die einzigartigen<br />

Details im Inneren der größten Synagoge<br />

Europas teilweise wieder hergestellt<br />

werden. Stilistisch beeinflusst ist der Bau<br />

von der Alhambra in Granada sowie von<br />

babylonischer und islamischer Architektur<br />

als Hinweis auf die orientalische Herkunft<br />

des Judentums. Auf der 1859 erbauten<br />

5.000-Pfeifen-Orgel der im neologen<br />

Ritus (liberal bis amerikanisch-konservativ)<br />

geführten Synagoge haben Franz Liszt<br />

wie auch Camille Saint-Saëns gespielt.<br />

Am 3. Februar 1939 bombardierten die<br />

Pfeilkreuzler das Gotteshaus; die Nazis sendeten<br />

dann ihre Radiopropaganda von dort<br />

aus und verwendeten es zeitweise sogar als<br />

Stall. Auch bei den Befreiungsschlägen der<br />

Sowjetarmee 1945 erlitt der Bau erhebliche<br />

Schäden. Unter dem kommunistischen Regime<br />

konnten intakte kleinere Teile des Gebäudes<br />

wieder als Betraum verwendet wergedenken.<br />

Daher finanzierte er allein ein<br />

ganz besonderes „Erinnerungsstück“ als<br />

Holocaust-Mahnmal: einen Baum des Lebens<br />

– auch Baum der jüdischen Märtyrer<br />

Ungarns genannt. Der ungarische Bildhauer<br />

Imre Varga schuf in Form einer Trauerweide<br />

aus Silber und Stahl einen riesigen<br />

Baum im Raoul Wallenberg Holocaust<br />

Memorial Park. Der silbrig schimmernde<br />

Baum, dessen Metallplättchen die Namen<br />

jener tragen, die der schwedische Rotkreuz-Diplomat<br />

Raoul Wallenberg gerettete<br />

hatte, befindet sich im Hinterhof der<br />

Großen Synagoge, am Beginn der Wesselényi<br />

útca, dort, wo einst das jüdische Ghetto<br />

begann. Jene, die in der zweiten und dritten<br />

Generation leben*, weil Wallenberg<br />

ihre Vorfahren vor der Vernichtung rettete,<br />

können zum Gedenken die Namen auf den<br />

Baumblättern eingravieren lassen.<br />

Jamie Lee Curtis, die den Verantwortlichen<br />

in Mátészalka versprochen hat, bei<br />

der Eröffnung des Synagogenbaus dabei zu<br />

sein, setzt die Tradition ihres Vaters damit<br />

fort. „Wir sind nicht überrascht, dass sich<br />

die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin<br />

für die Mitzwa der Synagogenrenovierung<br />

so engagiert“, schreibt die jüdische Gemeindezeitung<br />

St. Louis Jewish Light. „Curtis<br />

hilft ihrer Gemeinde seit vielen Jahren, zuletzt<br />

förderte sie ein Kinderspital in Los Angeles.<br />

Aber ihre neue Initiative in Ungarn<br />

ist inspirierend und sehr bedeutend“, fügt<br />

das Blatt hinzu und bittet Curtis, die Redaktion<br />

weiterhin über den Verlauf der Aktivitäten<br />

auf dem Laufenden zu halten: Best of<br />

luck, Jamie, you’re a true mensch!<br />

* Auch die Eltern der Autorin wurden von Wallenberg gerettet, und nur mit<br />

den zwei Namensgravuren auf den symbolischen Baumblättern kann ihm<br />

auf diese Weise gedankt werden.<br />

wına-magazin.at<br />

29


Grandioser Comedian<br />

Einem gewitzten Vogel ist jede<br />

Gelegenheit zum Spaßmachen<br />

recht. Mel Brooks war spät dran<br />

mit seinen Hand- und Fußabdrücken<br />

am Hollywood Walk of Fame. Aber<br />

der damals bereits 88-Jährige kam nicht<br />

unvorbereitet zur Zeremonie vor dem berühmten<br />

Kino Chinese Theater. Er hatte<br />

sich an einer Hand einen sechsten Finger<br />

angeklebt, macht elf insgesamt, die er in<br />

den weichen Beton hineinpresste. „Meine<br />

Damen und Herren. Ich danke ihnen, dass<br />

Sie alle heute hier sind bei dieser wunderbaren<br />

Farce. Ich liebe das.“<br />

Inzwischen ist Mel Brooks 95 Jahre alt.<br />

Er gehört als Schauspieler, Entertainer<br />

und Filmemacher zum exklusiven Kreis<br />

jener Künstler, die sich EGOT-Ausgezeichnete<br />

nennen dürfen, die also alle vier großen<br />

Preise der amerikanischen Unterhaltungsindustrie<br />

gewonnen haben: Emmy,<br />

Grammy, Oscar und Tony. Das sind neben<br />

Brooks etwa Audrey Hepburn, John<br />

Gielgud, Whoopi Goldberg, Andrew Lloyd<br />

Webber oder Richard Rodgers. Darauf<br />

angesprochen, feixte der Altstar einmal:<br />

„Frau des Jahres war ich noch nicht. Aber<br />

vielleicht kann das noch werden.“<br />

Diese Art von Humor, stets auf beiden<br />

Seiten der Grenze des guten Geschmacks<br />

unterwegs, changierend zwischen hochkreativ<br />

und brachial, ist das Markenzeichen<br />

von Mel Brooks. Seine Filme werden<br />

geliebt oder gehasst, gelten als intelligent<br />

und kritisch oder grobklotzig<br />

und primitiv, manchmal alles<br />

gleichzeitig. Sie bauen aber ganz<br />

klar auf einer Tradition auf, die<br />

Brooks mehr als verinnerlicht<br />

hat: jener der Jewish Stand-up<br />

Comedy, im Deutschen etwas<br />

holprig als Nummernkomödie<br />

übersetzt. Dabei tritt der Entertainer<br />

oder – seltener – die Entertainerin<br />

mit einer vorbereiteten<br />

Abfolge von Sketches auf,<br />

ist aber jeden Abend auch offen<br />

für Improvisation, aktuelle politische<br />

Bezüge oder Einwürfe des<br />

Publikums. Und diese raschen<br />

Reaktionen können halt feiner und eleganter<br />

ausfallen oder in der Hitze des Gefechts<br />

deutlich derber.<br />

In einem historisch-skurrilen Film hat<br />

Brooks für sich selbst als Schauspieler eine<br />

passende Figur ins Drehbuch geschrieben:<br />

den Stand-up Philosopher, der sich bei seinem<br />

Auftritt vor dem römischen Kaiser<br />

Nero mit dummen Sprüchen über einen<br />

korrupten, fetten römischen Politiker bei-<br />

11 FINGER, 15 GEBOTE<br />

Mel Brooks ist 95. Der amerikanische Filmemacher<br />

steht mit seinem intelligent-brachialen Humor fest<br />

in der Tradition der Jewish Stand-up Comedy.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Walk of Fame. Als Mel<br />

Brooks 2014 dran war, seine<br />

Hand- und Fußabdrücke zu<br />

hinterlassen, hatte er sich<br />

an einer Hand einen sechsten<br />

Finger angeklebt – es ist<br />

immer Zeit für klugen Spaß.<br />

Die verrückte Geschichte der<br />

Welt. In Mel Brooks Film aus dem<br />

Jahr 1981 wird die Menschheitsgeschichte<br />

von der Steinzeit bis zur<br />

Französischen Revolution parodiert –<br />

so verliert Moses die dritte Steintafel,<br />

und es bleiben nur 10 Gebote übrig.<br />

30 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Genialer Entertainer<br />

© imdb.com; Tony DiMaio / Action Press / picturedesk.com<br />

nahe um Kopf und Kragen<br />

blödelt.<br />

Brooks wusste schon<br />

sehr früh, wo seine Interessen<br />

und wohl auch Talente<br />

lagen. Er wurde als<br />

Melvin Kaminsky 1926 in<br />

Brooklyn geboren, sein<br />

Vater Max war ein deutscher<br />

Jude aus Danzig,<br />

die Mutter Kate, eine<br />

„Ich denke,<br />

man kann<br />

totalitäre<br />

Regierungen<br />

schneller zu<br />

Fall bringen,<br />

indem man<br />

sie lächerlich<br />

macht.“<br />

Mel Brooks<br />

geborene Brookman,<br />

stammte aus der Ukraine.<br />

Mel hatte drei ältere<br />

Brüder, und als er noch nicht drei Jahre<br />

alt war, starb der Vater. Mel sagte später<br />

einmal: „Da war sicher Zorn, ich war vielleicht<br />

auf G-tt zornig oder auf die Welt. Ein<br />

Gutteil meiner Comedy baut auf Zorn auf<br />

und auf Feindseligkeit. Aber da ich in Williamsburg<br />

aufgewachsen bin, habe ich gelernt,<br />

das in Comedy einzupacken, um mir<br />

Probleme zu ersparen, etwa einen Faustschlag<br />

ins Gesicht.“<br />

Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass<br />

Mel klein war, dafür gehänselt wurde, sich<br />

daher auf andere Talente als das Kämpfen<br />

verlegen musste. Und er hatte schon früh<br />

seine Sehnsucht nach dem Showbiz entdeckt.<br />

Als er neun Jahre alt war, nahm ihn<br />

sein Onkel mit zu einem Broadway-Musical,<br />

und er war begeistert, schwärmte<br />

vor allem für die Sängerin Ethel Merman.<br />

Schon vor seinem High-School-Abschluss<br />

begann er als Animator in einem Freibad<br />

zu arbeiten, nach einem Jahr Psychologie-<br />

Studium sollte er Profi-Entertainer werden.<br />

Zunächst kam ihm aber der Krieg<br />

dazwischen: Er wurde als Pionier und Minenräumer<br />

bei der Eroberung Deutschlands<br />

eingesetzt.<br />

Danach ging es aber los. Und er lernte<br />

es auf die harte Tour, vergleichbar jenen<br />

Burgtheater-Schauspielern, die erst durch<br />

die böhmische und deutsche Provinz tingeln<br />

mussten. Seine Grundausbildung erhielt<br />

er im so genannten Borscht Belt, in<br />

den Catskill Mountains nördlich von New<br />

York. Dort hatte sich – unter anderem wegen<br />

antisemitischer Embargos in manchen<br />

Hotels – eine Reihe von Betrieben auf die<br />

Beherbergung jüdischer – oft auch koscherer<br />

– Gäste spezialisiert. Es gab etwa Resorts<br />

mit 1.300 Sitzplätzen im Speisesaal,<br />

und auch mit entsprechendem Abendprogramm.<br />

Mel Brooks, wie er sich mittlerweile<br />

nannte, blödelte sich hier zum Chefentertainer<br />

hinauf.<br />

In den 1950er-Jahren begann<br />

dann seine Arbeit in<br />

New York. Er schrieb Texte<br />

für Shows, unter anderem gemeinsam<br />

mit Neil Simon oder<br />

Carl Reiner. Langsam wurde<br />

er bekannter, und gemeinsam<br />

mit Reiner verfasste er auch<br />

eine Reihe von Nummern<br />

über den 2.000 Jahre alten<br />

Mann. Darin ist etwa von Jesus<br />

die Rede, der mit seinen 12<br />

Freunden öfter in ein Zuckerlgeschäft<br />

kommt, „aber nie etwas<br />

kauft“. Und hier wurden<br />

wohl auch schon Ideen geboren,<br />

wie sie Jahrzehnte später im Film<br />

History of the World Part One (Die verrückte Geschichte<br />

der Welt) auftauchten: Dort tritt etwa<br />

Moses vor die Zuseher, in der Hand drei<br />

Steintafeln mit 15 Geboten. Eine fällt ihm<br />

hinunter und zerbricht: „Oj, nur zehn Gebote,<br />

aber die sind von allen einzuhalten.“<br />

In den 1960er-Jahren entdeckte er den Film<br />

für sich. Brooks hatte jahrelang an einer<br />

Idee für eine schrille Komödie über Hitler<br />

gebastelt, versuchte dafür Financiers<br />

zu gewinnen. Das gelang ihm schließlich,<br />

wenn auch nicht bei einem großen Studio.<br />

Springtime for Hitler sollte der Film heißen,<br />

schließlich nannte er ihn The Producers<br />

(Frühling für Hitler). Die schräge Story<br />

zeigt zwei erfolglose, aber abgedrehte Theaterimpresarios,<br />

die auf die Idee kommen,<br />

ihre Investoren abzuzocken. Sie<br />

wollen eine ganz fürchterliche Show produzieren,<br />

die floppt, dann brauchen sie<br />

den Risikokapitalgebern nämlich nichts<br />

auszuschütten, sondern können sich mit<br />

dem eingenommenen Geld nach Buenos<br />

Aires absetzen. Als Thema wählen sie ein<br />

geschmackloses Nazi-Musical mit Hitler<br />

und tanzenden Girls in SS-Uniformen.<br />

Doch ihr Plan geht nicht auf: Das Publikum<br />

findet das schräge Werk gelungen,<br />

sie müssen weit mehr auszahlen, als sie<br />

haben, und wandern als Betrüger ins Gefängnis.<br />

Der Film wurde zwar bei seiner Präsentation<br />

1967 von einem Teil der Kritiker zerrissen,<br />

war aber zunächst an den Colleges<br />

ein Geheimtipp, wanderte dann in die großen<br />

Kinos und wurde ein Erfolg. Seinem<br />

Autor und Regisseur brachte er einen Oscar<br />

ein. Brooks verteidigte sich gegen die<br />

Vorhaltungen, über die Schoah und Hitler<br />

dürfe man keine Witze machen so: „Wenn<br />

ich auf eine Kiste steige und gut argumentiere,<br />

dann wird das mit dem Wind verweht.<br />

Wenn ich Springtime for Hitler mache,<br />

wird es nie vergessen. Ich denke,<br />

man kann totalitäre Regierungen schneller<br />

zu Fall bringen, indem man sie lächerlich<br />

macht, als wenn man gegen sie protestiert.“<br />

Brooks hatte bei allem Gegenwind sein<br />

Genre gefunden. Seine brachial-komischen<br />

Filme sollten sich nun an unterschiedlichen<br />

Themen und auch an anderen<br />

Werken satirisch reiben. Bei Blazing<br />

Saddles (Der wilde, wilde Westen) knöpft sich<br />

Brooks das Genre Western vor und verdreht<br />

es bis zur Unkenntlichkeit: mit einem<br />

eleganten schwarzen Sheriff, mit<br />

korrupten Politikern und mit furzenden<br />

Cowboys am Lagerfeuer. Hier bringt er<br />

auch erstmals einen Kunstkniff an, den<br />

er später wieder verwenden wird, die sogenannte<br />

Zerstörung der vierten Wand.<br />

Sprich: Der Film bricht aus seinen Kulissen<br />

aus, wirft sie um, und die Schauspieler<br />

werden dabei gefilmt, wie sie eine<br />

andere Produktion im selben Studio ins<br />

Chaos stürzen. Hier werden Brecht’sche<br />

Theater-Verfremdungen auf unbekümmerte,<br />

freche Weise zu Wiedergängern.<br />

Die Hauptdarsteller von Blazing Saddles lassen<br />

am Ende des Films ihre Pferde stehen<br />

und fahren mit einem US-Straßenkreuzer<br />

in die untergehende Sonne.<br />

Brooks nahm sich auch Hitchcock-<br />

Krimis vor, er drehte satirische, scheinbar<br />

historische Dokumentationen, und<br />

er machte sich über die beliebte Serie Star<br />

Treck (Raumschiff Enterprise) sowie Filme wie<br />

2001 Space Odyssee (2001 Odyssee im Weltraum)<br />

oder Planet of the Apes (Planet der Affen) lustig.<br />

Ökonomisch konnte er damit große Erfolge<br />

einfahren, seine Filme gehörten zu<br />

den umsatzstärksten der 1970er-Jahre. Bei<br />

den meisten Produktionen arbeitete er im<br />

Team mit anderen Autoren, zahlreiche bekannte<br />

Schauspieler drehten für ihn, am<br />

intensivsten wurde die Kooperation mit<br />

Gene Wilder.<br />

1964 heiratete Mel Brooks eine außergewöhnliche<br />

Schauspielerin, Anne Bancroft,<br />

in zweiter Ehe. Sie hielt bis zu ihrem<br />

Tod im Jahr 2005. Wer ein Blitzlicht<br />

auf ein kreatives und glückliches Paar<br />

werfen möchte, sei auf einen kurzen You-<br />

Tube-Clip verwiesen, in dem Bancroft und<br />

Brooks tanzen und Sweet Georgia Brown singen,<br />

auf Polnisch. Da bleibt kein Auge trocken,<br />

ganz ohne brachiale Textzeilen.<br />

wına-magazin.at<br />

31


MATOK & MAROR<br />

„Makom“: Ein Ort<br />

voller Lebensfreude<br />

Ein Lüfterl von Tel Aviv weht durch Schottenfeldgasse<br />

Kaum hat man die Türe geöffnet,<br />

strahlt einen das Lächeln von Michelle<br />

Ashurov an, die den Gast zu<br />

einem der rechteckigen Holztische führt.<br />

Blickt man über ihre lange dunkle Haarpracht<br />

an die rohe Ziegelwand, prangt dort<br />

der Spruch: Servus, tschüss & Baba Ganoush.<br />

Bei Hummus schmelze ich Tahini.<br />

Das zweite Lächeln. Das Makom ist ein Lokal,<br />

in dem man schon schmunzelt, wenn<br />

man die Speisekarte liest: Es springen einen<br />

so viele originelle und witzige Namen<br />

für die gut kombinierten Gerichte an, zum<br />

Beispiel Itzhak und sein Broccoli, Onkel Cohens<br />

Shakshuka, Falafel-Hummus-Hochzeit,<br />

Le’chaim sagt das Huhn, Tante Rachels<br />

Halva. Hier das dritte Lächeln, kein<br />

schlechter Einstieg.<br />

In der Schottenfeldgasse 18 (unweit der<br />

Mariahilfer Straße) ist das nicht-koschere<br />

Restaurant ganz im angesagten Shabby-<br />

Chic-Style eingerichtet: Die hohen Räumlichkeiten<br />

mit den unverputzten roten Ziegeln,<br />

die extralange Bar und das gelungene<br />

Lampenkonzept erinnern nicht nur an<br />

New Yorker Lofts, sondern auch an Lokale<br />

in Barcelona und Budapest. In Wien denkt<br />

man vielleicht an das ebenfalls israelisch<br />

angehauchte Seven North, weiter nördlich<br />

auf der Schottenfeldgasse.<br />

„Wir haben die israelische Lebenslust<br />

importiert und in Hauptspeisen verwandelt“,<br />

zitiert Michelle Ashurov das Motto<br />

von Makom. Diese Speisen kommen in mittelgroßen<br />

Portionen, sodass sich bei großem<br />

Hunger empfiehlt, gleich mehrere zu<br />

bestellen. Sehr fein zusammengepasst hat<br />

das Original-Shakshuka in würziger Tomatensauce<br />

mit Chilischoten und pochierten<br />

Bioeiern (9,90 €) mit Yaels Broccolipfanne<br />

mit frischen Zitronensaft, Chiliflocken, geriebenem<br />

Schafskäse und Tahini-Sauce auf<br />

Babyspinat (9,50 €). Zucchini à la Jaffa besteht<br />

aus Zucchini-Erdäpfel-Laibchen mit<br />

Granatapfelkernen und Tahini-Sauce, dazu<br />

ein kleiner israelischer Salat (9,50 €). Der<br />

legendäre im Ofen geröstete Karfiol darf<br />

„Wir haben die israelische<br />

Lebenslust<br />

importiert und in<br />

Hauptspeisen verwandelt.“<br />

Michelle Ashurov<br />

Original-Shakshuka<br />

in würziger<br />

Tomatensauce mit<br />

Chilischoten und<br />

pochierten Bioeiern.<br />

WINA- TIPP<br />

MAKOM<br />

Schottenfeldgasse 18, 1070 Wien<br />

Tel.: 01/431 50 33<br />

Mo. bis Fr., 9 bis 22, Sa. u. So. 8 bis 22 Uhr;<br />

Take-away während der Öffnungszeite n;<br />

Zustellung über Mjam und Lieferando<br />

makom.wien<br />

auch nicht fehlen: hier auf Baba<br />

Ganousch serviert (9,90 €).<br />

Frühstück ist sogar ganztägig<br />

erhältlich, z. B. Lox Benedict: getoastetes<br />

Biovollkornbrot mit geräuchertem<br />

Lachs, pochiertem<br />

Bioei, frischer Kresse, Babyspinat,<br />

hausgemachter Sauce Hollandaise<br />

und einem kleinen israelischen<br />

Salat um 10,90 €. Vegan<br />

frühstücken geht im Makom<br />

auch: Zur Auswahl stehen u. a.<br />

das Avocadobrot mit Rote-Rübe-<br />

Hummus und gerösteten Mandeln<br />

sowie Bubbies Ofensüßkartoffel,<br />

im Backofen zubereitete<br />

Süßkartoffelscheiben mit hausgemachtem<br />

Hummus, frischem Babyspinat,<br />

roter Rübe und Kichererbsen.<br />

Die dritte Möglichkeit:<br />

Flockenpracht, ein Smoothie-<br />

Bowl mit Mandelmilch, Frühstücksflocken,<br />

verschiedenen Nüssen und<br />

frischen Früchten (8,20 €). Dazu gibt es<br />

neben den üblichen Getränken sehr erfrischende<br />

hausgemachte Limonanas, etwa<br />

Orange-Ingwer oder Zitrone-Minze (4,30<br />

€), oder israelisches Bier. Bei gutem Wetter<br />

lockt der Schanigarten für 50 Personen.<br />

Es kann nur mit Bargeld gezahlt werden.<br />

„Die frischen und gesunden Zutaten<br />

sorgen dafür, dass man sich<br />

mit bestem Gewissen<br />

quer durch unsere<br />

Speisekarte essen<br />

kann“, ist auch die<br />

schlanke Michelle<br />

überzeugt. Makom<br />

ist das hebräische<br />

Wort für Ort. „Genau<br />

das möchten wir schaffen:<br />

einen gemütlichen Ort,<br />

an dem wir allen Wienerinnen und Wienern<br />

die Leichtigkeit und die Leidenschaft<br />

der israelischen Küche näherbringen können.“<br />

<br />

Paprikasch<br />

<br />

© Reinhard Engel<br />

32 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


WINAKOCHT<br />

Was hat Chuzpe mit Chutney zu tun,<br />

… und woher kommt eigentlich der Ausdruck „parve“? Die Wiener Küche steckt voller<br />

köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />

Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leser und Leserinnen fragen, WINA antwortet.<br />

Liebe Kulinarik-Experten,<br />

in einem alten Kochbuch der Wiener Küche stieß<br />

ich auf ein „Judenbratel“-Rezept. Doch Kalbsfaschiertes<br />

mit pikanter Rahmsauce ist ja alles andere<br />

als koscher. Woher daher der Name?<br />

<br />

Tobias M., Wien<br />

Der von Ihnen erwähnte Hackbraten<br />

taucht unter vielen verschiedenen<br />

Bezeichnungen in der Kochliteratur<br />

auf: Er wird unter anderem Heuchelbraten<br />

oder – aufgrund seiner Form – Falscher<br />

Hase genannt. Später kannte man<br />

ihn dann auch als Stefanie-Braten, nach<br />

der Gattin von Kronprinz Rudolf.<br />

Warum besagtes Gericht in Kochbüchern<br />

des frühen 19. Jahrhunderts auch<br />

unter „Judenbraterl“ firmiert, hat der Historiker<br />

Hannes Etzlstorfer erforscht, der<br />

vor einigen Jahren im Jüdischen Museum<br />

Wien die Ausstellung Kosher for … kuratierte.<br />

Einen antisemitischen Hintergrund<br />

schließt er aus. Es sei vielmehr das<br />

Gegenteil der Fall: In der Zeit der josephinischen<br />

Aufklärung fanden – neben zahlreichen<br />

Rezepten aus den Kronländern –<br />

auch viele jüdische Gerichte ihren Weg in<br />

Wiener Kochbücher. Damit wollte man<br />

den Vielvölkerstaat zwischenmenschlich<br />

festigen und einen Beleg für die kulturelle<br />

Vielfalt des Habsburgischen Reiches installieren.<br />

Die Aufnahme von Rezepten mit<br />

dem Beisatz jüdisch bzw. nach jüdischer<br />

Art sei mit der Absicht erfolgt, den Rang<br />

der Wiener Küche als Archiv nationaler<br />

Identitätskonstruktionen zu stärken, so<br />

Etzlstorfer. Dass das „Judenbratel“ nicht<br />

koscher ist – der in Milch aufgeweichten<br />

Semmel oder in anderen Varianten der<br />

Rahmsauce wegen –, sei nebensächlich<br />

gewesen.<br />

Hackbraten, egal welchen Namens, ist<br />

übrigens nach wie vor ein beliebtes Gericht, in der koscheren<br />

Variante auch in der jüdischen Küche. Dort heißt er dann gern<br />

„Klops“. Lily Brett hat ihm in ihrem Roman Chuzpe ein literarisches<br />

Denkmal gesetzt, das 2015 unter dem Titel Chuzpe –<br />

Klops braucht der Mensch auch verfilmt wurde.<br />

APFEL-TOMATEN-<br />

CHUTNEY<br />

FÜR KLOPSE<br />

ZUTATEN<br />

1 Apfel (z. B. Breaburn)<br />

5 Paradeiser<br />

1 Zwiebel<br />

½ daumendickes Stück Ingwer<br />

1–2 EL Rosinen oder<br />

fein gehackte Dörrpflaumen<br />

1 EL Apfelessig<br />

1 EL Senf<br />

1 TL Zucker<br />

Salz, Pfeffer, Olivenöl<br />

zum Anbraten<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Paradeiser waschen, den Strunk<br />

entfernen und klein würfeln. Apfel<br />

ebenfalls waschen, entkernen,<br />

entstielen und klein würfeln.<br />

Zwiebel schälen und fein würfeln.<br />

Den Ingwer schälen. Zwiebelwürfel<br />

in etwas Olivenöl anschwitzen.<br />

Die Paradeiser- und Apfelstücke<br />

sowie die Rosinen (alternativ:<br />

fein gehackte Dörrpflaumen)<br />

hinzugeben. Den Ingwer in die<br />

Soße reiben, den Essig und den<br />

Senf hinzufügen und das Ganze<br />

bei kleiner Hitze und ohne Deckel<br />

einkochen lassen, bis das Wasser<br />

verdampft ist. Mit Salz und Pfeffer<br />

abschmecken. Die Soße auskühlen<br />

lassen. In ein kleines Schälchen<br />

füllen und zu den Klopsen<br />

servieren.<br />

Egal, wie Sie Ihr Faschiertes künftig<br />

nennen möchten: Perfekt dazu passt das<br />

Apfel-Paradeiser-Chutney der Autorin.<br />

Das Rezept taucht im Buch als solches<br />

nicht auf. Protagonistin Walentyna beschreibt<br />

aber, wie ihre Freundin Zofia die<br />

Sauce zubereitet. Wir haben für Sie daraus<br />

eine Anleitung gebastelt. Ganz nach<br />

dem Motto: „Chuzpe – Chutney braucht<br />

der Mensch zum Klops.“<br />

Liebe „Wina kocht“-Redaktion,<br />

letztens wollte meine vegetarische lebende Tochter<br />

wissen, was „parve“ bedeutet. Dass sich die<br />

Bezeichnung im Rahmen der Speisegesetze auf<br />

Lebensmittel bezieht, die in keine der Kategorien<br />

von Fleisch- oder Milchprodukten fallen, ist ihr/<br />

uns klar. Doch woher der Ausdruck für die „kulinarische<br />

Neutralität“ kommt, konnten wir nicht<br />

rausfinden. Wisst ihr dazu mehr?<br />

<br />

Raffaela W., Klosterneuburg<br />

Über diese Frage zerbrechen sich Laien<br />

wie Gelehrte seit Langem den Kopf.<br />

Auch wir können uns der Antwort nur<br />

annähern. Eine Interpretation: Es gab im<br />

Tempel zu Jerusalem einen Beit HaParve,<br />

einen Raum, der angeblich nach einem<br />

persischen Spender benannt war (wobei<br />

es auch andere Auslegungen gibt, die von<br />

einem Einbrecher sprechen). Jedenfalls<br />

befand sich besagter Raum zur Hälfte im<br />

Bereich der Priester (Kohanim), zur anderen<br />

Hälfte im Bereich der gewöhnlichen<br />

Israeliten. Man könnte also sagen:<br />

Er war weder hier noch dort. Möglicherweise<br />

wurde der Begriff „parve“ deshalb zu<br />

etwas, das weder das eine noch das andere<br />

ist, weder fleischig noch milchig.<br />

Achtung: Parve Lebensmittel gelten<br />

zwar als neutral, sie können aber den<br />

Kaschrut-Status anderer Lebensmittel<br />

übernehmen, wenn sie mit ihnen gekocht oder serviert werden.<br />

So ist gebratenes Gemüse parve. Wurde es jedoch in einer<br />

Pfanne zubereitet, in der gewöhnlich Fleisch gebraten wird,<br />

kann das Gemüse zum Beispiel nicht mit Butter serviert werden,<br />

ohne die Gesetze der Kaschrut zu verletzen.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />

office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

33


LEBENS ART<br />

Sprechstunde!<br />

Wir haben Redebedarf: WINA kümmert sich in<br />

diesem Monat um das schöne Thema Therapie.<br />

Heilung durch Holunder<br />

Therapie tut weh. Manchmal sogar körperlich.<br />

Etwa dann, wenn man Holunderbeeren prockt<br />

und Rüben reißt, um der Seele etwas Gutes zu<br />

tun. Denn wie ein Sprichwort schon sagt: „Willst<br />

du einen Tag lang glücklich sein, so betrinke dich.<br />

Willst du ein Jahr lang glücklich sein, so heirate.<br />

Willst du ein Leben lang glücklich sein, so lege<br />

dir einen Garten an.“<br />

Über gartenundich.de<br />

Guter Rat ist ungeheuer<br />

Im Rahmen der Jüdischen Festwochen wird die wunderbare<br />

Doku Ask Dr. Ruth gezeigt. Der Film zeigt das lebendige<br />

Porträt der Holocaust-Überlebenden Karola Ruth<br />

Siegel, 1928 in Frankfurt am Main geboren, die als „Dr.<br />

Ruth“ in den 1980er-Jahren im US-Radio und -Fernsehen<br />

als Sextherapeutin bekannt wurde. Mit ihrer direkten Art<br />

und den offenen Ratschlägen rund um das Thema Sex<br />

wurde die nur 1,45 m große Frau, die noch heute 93-jährig<br />

publiziert und unterrichtet, international berühmt.<br />

21.11., 12.45 Uhr, Votivkino, votivkino.at<br />

In the meme-time<br />

Der virale Meme-Instagram-Account<br />

@MyTherapistSays navigiert urkomisch und<br />

hilfreich durch den Kampf des Alltags. Dabei<br />

erhellen die aufrichtigen Weisheiten der Autorinnen<br />

Nicole Argiris und Lola Tash (die nicht immer<br />

von Therapeuten anerkannt sind), gepaart mit<br />

den Ratschlägen ihrer eigenen Therapeuten (mit<br />

denen die Autorinnen nicht immer einverstanden<br />

sind), inzwischen sage und schreibe 6,6 Millionen<br />

(!) Follower.<br />

A Freud im Bett<br />

„Die Decke der Zivilisation ist dünn“, bemerkte<br />

der Psychoanalytiker Sigmund Freud einst. Ganz<br />

im Gegenteil zu diesem kuscheligen Exemplar<br />

aus Fleece, das mit dem ikonischen Denkerkopf,<br />

seiner Signatur und obligatorischem Rauchwerk<br />

verziert ist. Fehlt natürlich auch nicht auf dem<br />

bunten Deckendruck: Das Cover seiner – nona –<br />

Traumdeutung.<br />

Über redbubble.com<br />

Lustvolles Lernen<br />

Der Netflix-Serien-Hype Sex Education geht in die<br />

dritte Runde. Wer die Handlung des must-sees<br />

noch nicht kennt: Der Schüler Otis Milburn, Sohn<br />

einer bekannten Sextherapeutin (die fantastische<br />

Gillian „Scully“ Anderson), bietet seinen Mitschülern<br />

selbst Therapiestunden an, in denen er ihnen<br />

bei ihrem Sex- und Liebesleben mit Rat und Tat<br />

beiseite steht. Brüllend komisch und<br />

extratoll ausgestattet!<br />

Auf netflix.com<br />

Reif für die Couch?<br />

Der oben stehende Begriff wird häufig verwendet, wenn es um<br />

eine Psychotherapie geht. Und tatsächlich hilft das Möbelstück<br />

dabei, sich während der Behandlung vom Therapeuten<br />

abgewandt auf die eigenen Gedanken<br />

und Gefühle konzentrieren zu könne. Gefahr<br />

bei der besonders eleganten Chaiselongue<br />

„Vuelta“ von Wittmann: Ich, Es und Über-Ich einigen<br />

sich auf ein Nickerchen statt auf Analyse.<br />

wittmann.at<br />

Fotos: Hersteller<br />

34 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


WINA YOGA<br />

Loslassen<br />

Ein großes Wort, in dem so viele Freiheiten und Möglichkeiten<br />

stecken. Wir müssen es einfach nur tun.<br />

Von Lisa Prutscher, Yogashelanu<br />

as heißt es loszulassen?<br />

Wie oft im<br />

Leben sind wir bereits<br />

damit konfrontiert<br />

worden? Sei es, weil<br />

wir es selbst von innen heraus<br />

wollten, oder weil wir von<br />

außen dazu gebracht worden<br />

sind, gewollt oder auch ungewollt.<br />

In diesem Artikel möchte<br />

ich nicht nur aufgrund der<br />

Feste, die wir kürzlich gefeiert<br />

haben, daran erinnern, dass<br />

nun eine wunderbare Zeit des<br />

Loslassens ist und wir dazu das<br />

damit verbundene Auseinandersetzen<br />

brauchen. Auch da<br />

die Herbstzeit offen für neue<br />

Farben und zum Lösen da ist, so wie sich die Blätter<br />

verfärben und abfallen. Allein das zusammengesetzte<br />

Wort impliziert, dass es um lassen und lösen geht, um<br />

Aufbruch und Stille ohne Stillstand.<br />

Wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen – und<br />

damit mit uns selbst –, geht es auch um einen wertvollen<br />

Austausch mit anderen und kann das Loslassen für<br />

alle Beteiligten eine fruchtbare Basis für einen Neuanfang<br />

werden. Es darf aber auch schwerfallen, viel Kraft<br />

und Energie kosten, so lange wir daran glauben, dass<br />

wir jedes Mal, wenn wir tief hinunter gehen, dafür danach<br />

umso höher hinauf klettern werden.<br />

Wir Menschen sind an Gewohnheiten gebunden,<br />

und genau darum geht es beim Prozess des Loslassens.<br />

Wir halten an Gewohnheiten fest und scheuen Veränderung,<br />

weil sie ungewiss ist und wir Gewissheit haben<br />

wollen.<br />

Dabei geht es auch um Kontrolle. Das Kontrollieren<br />

kann dem Funktionieren gleichgestellt werden. Und<br />

genau dieses Festhalten an dem, was unveränderbar<br />

scheint, macht uns langfristig unzufrieden und unglücklich.<br />

Veränderung führt zu neuen Perspektiven,<br />

zu Freiheit auf anderen, neuen Ebenen. Im Judentum<br />

können wir das einmal im Jahr zelebrieren. Wir feiern<br />

ein süßes neues Jahr, werfen Altlasten in den Fluss<br />

und lassen alte und verstaubte Muster los, die uns nicht<br />

mehr gut tun. Wir rufen damit Neues. Und sind auch<br />

bereit dafür.<br />

Sich baumeln lassen, um Neues zuzulassen.<br />

Wir halten an Gewohnheiten fest<br />

und scheuen Veränderung,<br />

weil sie ungewiss ist und wir<br />

Gewissheit haben wollen.<br />

Jetzt ist die Zeit, um loszulassen.<br />

Auf der Gefühlsebene<br />

heißt das auch zuzulassen,<br />

traurig zu sein, dabei das<br />

große Ganze zu sehen, vor<br />

allem das Positive, und uns<br />

der Veränderung gegenüber<br />

zu öffnen.<br />

Die Freude, der Humor,<br />

der positive Sinn und der<br />

Glaube an das Gute sind dabei<br />

wichtige Begleiter.<br />

Dazu wieder eine Übung<br />

aus dem Yoga, bei der wir<br />

immer wieder den Kopf baumeln<br />

lassen:<br />

Stelle dich mit den Füßen<br />

hüftbreit auf den Boden,<br />

nimm die Hände in die<br />

Hüfte und beuge dich langsam nach vorne. Löse dann<br />

die Hände von den Hüften und setze sie auf den Boden<br />

oder auf die Unter- bzw. Oberschenkel. Atme noch einmal<br />

tief ein und dehne mit der Einatmung die gesamte<br />

Wirbelsäule. Dann lasse auch den Oberkörper nach unten<br />

sinken. Du kannst auch mit deinen Händen die Ellenbogen<br />

greifen, wenn das für dich angenehmer ist.<br />

Beuge dabei die Knie, wenn die Beine verhindern, den<br />

Oberkörper sinken zu lassen, und strecke sie danach<br />

langsam nach. So entsteht ein angenehm dehnender<br />

Zug auf der Rückseite der Beine.<br />

Auch der beliebte nach unten schauende Hund ist<br />

eine wunderbare Übung. Das Wichtigste ist auch hier,<br />

dass der Kopf nach unten baumelt, damit sich alle Gedanken<br />

neu sortieren können.<br />

Ich wünsche uns allen einen guten Übergang in die<br />

Herbstzeit und freue mich auf die positiven Veränderungen,<br />

die kommen dürfen.<br />

wına-magazin.at<br />

35


Thema<br />

wına-magazin.at<br />

36


HIGHLIGHTS | 03<br />

Alles Glas!<br />

Das Musée National Marc Chagall in<br />

Nizza zeigt Chagall als Glaskünstler<br />

Viele Maler wollten es bannen. Nur ganz<br />

wenigen gelang es tatsächlich. Licht zu<br />

malen. Licht einzufangen. Licht wiederzugeben.<br />

Auch Marc Chagall wollte es. Und es<br />

gelang ihm. Nicht mit dem Pinsel, nicht auf<br />

Leinwand – sondern mit Hilfe der Natur. Als<br />

Glaskunst.<br />

„Für mich“, sagte er einmal, der einen großen<br />

Teile seines sehr langen Lebens unter der<br />

Sonne der Provence in Südostfrankreich verbrachte<br />

und ansonsten ja mit tiefer reichenden<br />

theoretischen Erklärungen eher sparsam<br />

bis spärlich umging, „ist ein Bleiglasfenster<br />

eine durchscheinende Wand zwischen meinem<br />

Herz und dem Herz der Welt. Ein solches<br />

Fenster ist ein Jubel, es hat keine Schwerkraft<br />

und keinen Schmerz. Es lebt vom Licht, das<br />

durch es hindurchfällt.“ Die Ausstellung<br />

Marc Chagall – Le Passeur<br />

de Lumière, auf Deutsch:<br />

der Fährmann des Lichts, führt<br />

zauberhafte größere bis große<br />

Glaskunstarbeiten, allesamt poetisch-spielerisch<br />

und das Material<br />

geradezu in Leichtigkeit<br />

transformierend, nicht nur aus<br />

Beständen französischer Museen,<br />

sondern aus vielen Ländern<br />

zum ersten Mal am selben<br />

Ort zur selben Zeit zusammen.<br />

MARC CHAGALL – LE PASSEUR DE LUMIÈRE<br />

Musée National Marc Chagall<br />

bis 10. Jänner 2022<br />

musees-nationaux-alpesmaritimes.fr<br />

DIE LETZTE HÖLLE<br />

Es wird ein schwerer Abschied: Nach<br />

13 Programmen verabschiedet sich<br />

das großartige Ensemble des 2010<br />

rund um Schauspieler und Entertainer<br />

Georg Wacks wieder auferstandenen<br />

Kabaretts Die Hölle aus dem<br />

Souterrain des Theaters an der Wien.<br />

1906 hier gegründet, war das Etablissement<br />

eines der Urgesteine des<br />

Wiener jüdischen Kabaretts. Ab 4.<br />

November gibt es unter dem Titel<br />

Hol’s der Geyer! einen veritablen Abschiedsjubiläumsmulatschak.<br />

Schön<br />

war’s! theater-wien.at<br />

MUSIKTIPPS<br />

GIL & MOTI – FORGET & REMEMBER!<br />

Joods Historisch Museum, Amsterdam<br />

bis 28. November <strong>2021</strong><br />

jck.nl<br />

Alles Leben!<br />

„Forget & Remember“: Gil & Moti inszenieren<br />

ein Spiel namens Memoria<br />

Gil Nader, 1968 in Rishon Lezion geboren,<br />

und Moti Porat, der 1971 in Ramat Gan zur<br />

Welt kam, leben seit 1998 in Rotterdam, wo sie<br />

beide Kunst studierten. Privat wie professionell<br />

ein Paar, machen sie als Installations- und-<br />

Lebenskunst-Künstler auch das Paar-Sein zum<br />

Kunstwerk: oft identisch angezogen, angeblich<br />

nur ein Portemonnaie, ein Haustürschlüssel,<br />

ein Handy.<br />

In Gil & Moti – Forget & Remember (bis 28. 11.)<br />

im Joods Historisch Museum in Amsterdam<br />

stehen diesmal etwas weniger selbstbezogen<br />

sie selbst im Mittelpunkt als Motis Mutter und<br />

Gils Vater. Was ist Erinnerung, was bleibt, wieso<br />

sammelt man/n und frau Dinge an. Im Falle von<br />

Motis Mutter sind es gehobene Arbeiten israelischer<br />

Künstler aus den Jahren 1930 bis 1970. Die<br />

Kollektion von Gils Vater hingegen<br />

entstand durch Zufall, Strandgut<br />

nicht nur am Strand, sondern<br />

auch Funde von diesem und jenem,<br />

Kuriosem, Alltäglichem, alltäglich<br />

Unscheinbarem auf Straßen<br />

und Gassen. Rasch puppt<br />

sich aus dem scheinbar leichthändigen<br />

Spiel Schweres heraus,<br />

Tiefes, Aktuelles, Überzeitliches:<br />

Migration, Verlust, Familie, Sedimente<br />

gelebter Leben. A.K.<br />

KORNGOLD<br />

Die wenigen, die die Aufführung<br />

von Erich Wolfgang Korngolds<br />

Die tote Stadt im Herbst 2019 in der<br />

Bayerischen Staatsoper in München<br />

miterleben durften, waren begeistert. Nun kann<br />

man sich den 143 Minuten langen Mitschnitt<br />

pandemisch sicher zu Hause auf DVD oder Blu-<br />

ray ansehen und anhören. In den Hauptpartien,<br />

beide grandios: Marlis Petersen und Jonas Kaufmann.<br />

In Szene gesetzt von Simon Stone. Am Di-<br />

rigentenpult Kirill Petrenko. Chapeau.<br />

LATTÈS<br />

Operette? Nur in Wien. Und aus<br />

Wien. Plus Mörbisch. Richtig?<br />

Falsch! Le Diable à Paris (B Records) von Marcel<br />

Lattès, 1886 geboren und 1943 in Auschwitz<br />

umgebracht, beweist das Gegenteil. 1927<br />

uraufgeführt und nun vom Orchestre des Frivolités<br />

Parisiennes unter Dylan Corlay mit guter<br />

Gesangsbesetzung eingespielt, führt parodistischen<br />

Schwung und tänzerische Verve<br />

lustvoll perlend mit Jazz und Klingekunstmusik<br />

der Zwanzigerjahre zusammen.<br />

FEIGIN<br />

Wer meint, neuere klassische Musik<br />

sei bleischwer bis unverständlich,<br />

der höre sich Aviv (Toccata) von Joel Feigin<br />

(70) an, der in Santa Barbara, Kalifornien,<br />

lehrt. Im Titelstück mit Yael Weiss (Piano) und<br />

der Slowakischen Nationalphilharmonie, dirigiert<br />

von Kirk Trevor, zieht frisch und warm<br />

der Frühling heran, graziös die zwei Lieder aus<br />

Twelfth Night. Für die Streicherpièce Surging<br />

Seas wurde Feigin durch den Tsunami 2004<br />

angeregt. A.K.<br />

© musees-nationaux-alpesmaritimes.fr; jck.nl<br />

wına-magazin.at<br />

37


INTERVIEW MIT FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />

Wie weiblich ist<br />

DER HERR?<br />

„Frauenpower im Judentum“ ist das Motto des diesjährigen Festivals<br />

der Jüdischen Kultur mit vielfältigen Live-Veranstaltungen wie Konzerte<br />

und Filmvorführungen. Eine Podiumsdiskussion am 7. Dezember<br />

wird sich dem Thema „G’ttes weibliche Seite“ widmen, das Felicitas<br />

Heimann-Jelinek bereits für zwei großen Ausstellungen in<br />

Hohenems und Frankfurt aufbereitet hat.<br />

Interview: Anita Pollak<br />

WINA: Wir sind mit der Vorstellung von G’tt, dem Herrn,<br />

aufgewachsen. Die Frage nach dessen weiblicher Seite hat<br />

sich lange nicht aufgedrängt. Wie kam es zu dieser Fragestellung<br />

bzw. zu diesem feministischen Ansatz?<br />

Felicitas Heimann-Jelinek: Dazu ist es im Zusammenhang<br />

mit der Frauenbewegung am Ende des 19.<br />

und Beginn des 20. Jahrhunderts gekommen. Damals<br />

haben Frauen begonnen, das traditionelle männliche<br />

G’ttesbild in Frage zu stellen und auch zu überlegen,<br />

wie könnte man anders beten, könnte man<br />

G’tt anders, vielleicht auch ohne einen bestimmten<br />

Artikel ansprechen. In der Nachfolge dieser Überlegungen<br />

kam es zu einer kleinen Revolution innerhalb<br />

des rabbinischen Judentums, als Regina Jonas<br />

als erste Frau ein Rabbinatsstudium absolvieren und<br />

auch den Beruf als Rabbiner ausüben wollte. Das ist<br />

eine Entwicklung, die mit dem steigenden Selbstbewusstsein<br />

der Frau als Arbeitende und aktive Familienerhalterin<br />

Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und<br />

sich dann mit den Unterbrechungen durch die beiden<br />

Weltkriege in den USA ganz stark in verschiedenen<br />

religiösen Bewegungen im Christentum und Judentum<br />

gleichzeitig und auch im Austausch fortsetzt.<br />

Das ist aber doch zweierlei. Das eine wäre die Rolle der<br />

Frau im religiösen Ritus und das andere das G’ttesbild.<br />

Sprachlich gibt es in den Gebeten zwar die männliche<br />

Form der Ansprache, aber da wir ja keine Bilder haben, ist<br />

das G’ttesbild im Judentum doch eher abstrakt und damit<br />

geschlechtslos.<br />

I Trotzdem denkt jeder in männlichen Kategorien,<br />

was auf eine sehr lange Entwicklungsgeschichte zurückgeht,<br />

in die Frühzeit, in der sich langsam der<br />

Glaube an einen spezifischen Stammesgott und davon<br />

ausgehend der Glaube an einen einzigen G’tt<br />

herausgebildet hat. Nach der Landnahme Kanaans<br />

haben die Israeliten offenbar schon einen Wüstengott<br />

in das damalige kanaanäische Götterpantheon<br />

„Der ,männliche<br />

Monotheismus‘<br />

[…] hat<br />

generell die<br />

Entrechtung,<br />

die Unterdrückung<br />

der Frau<br />

in weiten Teilen<br />

der Gesellschaften<br />

mit<br />

sich gebracht.“<br />

Felicitas Heimann-<br />

Jelinek<br />

mitgebracht. In diesem gab es natürlich männliche<br />

und weibliche Gottheiten, weil man sich die Schaffung<br />

von Leben nur durch ein Paar vorstellen konnte.<br />

Das ist ja auch die fundamentale Aussage in der Genesis-Erzählung.<br />

„Im Angesicht G’ttes männlich und<br />

weiblich schuf Er sie.“ Wenn man sich die Kulturgutfunde<br />

aus dem heute israelischen Raum ansieht, findet<br />

man ebenso viele, wenn nicht sogar mehr weibliche<br />

Gottheiten bzw. Figurinen. Es gibt archäologische<br />

Funde, die auch sprachlich darauf hinweisen, dass<br />

El, der noch in Isra-El vorhanden ist, eine Ela, also<br />

ein weibliches Pendant hatte. Es gab also ein Götterpaar,<br />

das seinen Niederschlag eben in materiellen<br />

Zeugnissen fand. Im Laufe der Zeit verdrängte<br />

Israels Stammesgott Jahwe die kanaanäischen Gottheiten,<br />

und das zeigt sich auch darin, dass weibliche<br />

Namen und Endungen immer mehr eliminiert<br />

werden. Spätestens nach dem babylonischen Exil hat<br />

der Sieg des Monotheismus zur Folge, dass auch alle<br />

weiblichen Gottheiten wegfallen und vermutlich die<br />

ursprünglich matriarchalen Strukturen zurückgedrängt<br />

werden.<br />

Wie wichtig ist für einen feministischen Zugang zur<br />

Religion die Zuschreibung einer weiblichen Seite des<br />

G’ttesbilds? Wäre es nicht möglich, G’tt weiterhin männlich<br />

zu denken und trotzdem die Rolle der Frau im Ritus<br />

zu verstärken?<br />

I Der „männliche“ Monotheismus, der in allen drei<br />

Religionen noch immer mit einem patriarchalen System<br />

einhergeht, hat generell die Entrechtung, die<br />

Unterdrückung der Frau in weiten Teilen der Gesellschaften<br />

mit sich gebracht. Insofern wollen sich<br />

Frauen, die heute an allem auch aktiver teilnehmen,<br />

in dieser schöpferischen Kraft, in einem schöpferischen<br />

Prozess eingeschrieben sehen. Darum ist<br />

es uns in der Ausstellung gegangen, weniger um<br />

feministische Positionen, sondern eher um die<br />

38 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


G’tt anders ansprechen<br />

Frage, wie man diese Idee von einem gleichberechtigten<br />

weiblichen Element stärker in das Bewusstsein<br />

rücken kann.<br />

Einerseits ist das Judentum eine männlich dominierte Religion,<br />

was sich in den Riten, in der Liturgie zeigt, wo Frauen<br />

z. B. im Minjan im wahrsten Sinn gar nicht zählen, andererseits<br />

wird das Judentum maternal weitergegeben. D. h.<br />

die Frau ist als Mutter ganz wichtig, ihre Bedeutung zeigt<br />

sich bis hin zum Mythos der jiddischen Mame. Ist das ein<br />

Widerspruch?<br />

I Es ist ein völliger Widerspruch, der im Römischen<br />

Recht wurzelt, das besagte „Pater semper incertus<br />

est“. Deswegen hat man sich jüdischerseits auf den<br />

Standpunkt der Maternalität zurückgezogen. Das ist<br />

eine ziemlich späte talmudische Entwicklung. In der<br />

Thora wird die Frage nach dieser Maternalität ja gar<br />

nicht gestellt, wenn wir zum Beispiel an Ruth denken,<br />

die keine Jüdin war.<br />

©Ingrid Sontacchi; Jüdisches Museum Hohenems<br />

Hatte das eine Änderung der Stellung der Frau zur Folge?<br />

I Ich glaube, dass es in verschiedenen Regionen oft<br />

unterschiedliche Rollenzuschreibungen gegeben<br />

hat, dass die Bedeutung jüdischer Frauen in Aschkenas<br />

im Mittelalter eine ganz andere war als etwa im<br />

sephardischen Raum. Die gesellschaftliche Position<br />

der Frauen war aber wahrscheinlich überhaupt eine<br />

bedeutendere, als wir das heute annehmen. Da gab<br />

es durchaus schon Powerfrauen, die auch als solche<br />

wahrgenommen wurden. Erst in der Neuzeit wird die<br />

Frau in ihrer gesellschaftlichen Relevanz zurückgedrängt,<br />

die Erfindung der Frau als quasi unsichtbares<br />

Wesen ist erst etwa im Biedermeier entstanden.<br />

Es gibt seit etwa rund 100 Jahren auch Rabbinerinnen. Hat<br />

das eine Ausstrahlung auf das gesamte Judentum oder<br />

bleibt dieses Phänomen im Reformjudentum verhaftet?<br />

I Es hat eine Ausstrahlung wie überhaupt demokratische<br />

Formen, aber sie haben diese Ausstrahlung natürlich<br />

nur bis dorthin, wo sie akzeptiert werden. Ich<br />

glaube, das sind Langzeitprojekte, wie auch Demokratie<br />

etwas ist, an dem man immer wieder arbeiten<br />

muss. Man sieht es dort, wo Frauen es schaffen, als<br />

religiöse Leitbilder in Gemeinden hineinzuwirken,<br />

dort wird das immer „normaler“, und dort ändert<br />

sich auch das Denken und der Zugang schneller als<br />

dort, wo diese Frauen keine Wirkmöglichkeit haben.<br />

Im Gegensatz zum Christentum ist das Judentum ex lege<br />

nicht reformierbar, weil es keine Instanz, keine Autorität<br />

dazu gibt. Können sich solche Entwicklungen daher nur in<br />

Randbereichen vollziehen?<br />

I Im norddeutschen Bereich, wo es die ersten Rabbinerkonferenzen<br />

gab, sind in der späten ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts rabbinische Autoritäten<br />

aus beiden Lagern zusammenkommen, um genau<br />

das zu diskutieren, ob nämlich das Judentum in seinen<br />

Grundfesten veränderbar ist. Die Orthodoxie hat<br />

quasi „gewonnen“, weil nichts abgeschafft wurde. Beschneidung,<br />

Schabbat, Schächten etc. blieben, aber<br />

man hat Zugeständnisse gemacht, und man konnte<br />

mangels einer rabbinischen Autorität auch nichts dagegen<br />

unternehmen, dass sich die Reformidee bis<br />

heute weiterentwickelt hat.<br />

Alle Religionen sind ihrem Wesen nach konservativ, sie<br />

hängen an überkommenen Traditionen und Werten. Wie<br />

viel Feminismus verträgt das Judentum, ohne sich in einer<br />

Verwässerung aufzulösen?<br />

I Das würde ja bedeuten, dass nur Männer konservativ<br />

sein können. Frauen können genauso konservativ<br />

und fundamentalistisch sein, und es gibt genug<br />

Frauen, die in ihrem Feminismus wirkliche Fundamentalistinnen<br />

sind, auch in ihrem Bestreben, Teil<br />

dieses religiösen jüdischen Systems zu sein.<br />

„Frauenpower im Judentum“, also jüdische Frauen im Fokus,<br />

ist die säkulare Seite des Themas. Könnte man diese<br />

auch ohne religiösen Konnex betrachten?<br />

I Ich glaube, man muss diese Frage generell stellen,<br />

und da kommt man schnell in eine Identitätsdebatte,<br />

d. h. was bedeutet jüdisch, was jüdische Frau, was<br />

bedeutet dieses Adjektiv überhaupt, ist es eine Frage<br />

der Selbstdefinition, kann man das jenseits von jüdischer<br />

Erfahrung definieren? Das ist nur auf Frauen<br />

bezogen nicht beantwortbar.<br />

FELICITAS HEIMANN-JELINEK,<br />

Judaistin und Kunstwissenschaftlerin,<br />

war von 1993 bis 2011 Chef-Kuratorin<br />

des Jüdischen Museums der Stadt Wien.<br />

Sie ist als Kuratorin und Beraterin für<br />

verschiedene jüdische Institutionen und<br />

Museen tätig. Gemeinsam mit Michaela<br />

Feuerstein-Prasser kuratierte sie die<br />

Ausstellung Die weibliche Seite Gottes.<br />

FESTIVAL DER<br />

JÜDISCHEN KULTUR<br />

14. November bis<br />

9. Dezember <strong>2021</strong><br />

Programm:<br />

ikg-wien.at/festival<br />

wına-magazin.at<br />

39


WINA: Am 21. <strong>Oktober</strong> jährt sich der 90. Todestag von Arthur<br />

Schnitzler. Gerade rechtzeitig haben Sie für das Theater<br />

in der Josefstadt seinen ersten Roman Der Weg ins<br />

Freie in eine Bühnenfassung gegossen. Sie beschränken<br />

sich nicht auf eine spielbare Version des Romans, sondern<br />

reichern das Stück mit persönlichen Notizen Arthur<br />

Schnitzlers an, fügen teils originale, höchst erschreckende<br />

Stimmen der Zeit um 1900 hinzu. Der Abend heißt daher<br />

korrekt: „Susanne Wolf nach Arthur Schnitzler“. Fanden<br />

Sie den Roman nicht aussagekräftig genug?<br />

Susanne F. Wolf: Ich finde ihn extrem aussagekräftig,<br />

ich liebe dieses Buch, man muss sich darauf einlassen.<br />

Es ist ein relativ stilles und melancholisches<br />

Buch, in dem Schnitzler Unendliches geleistet hat.<br />

Er hat hier drei Themen verwoben: eine Auseinandersetzung<br />

mit dem Künstlertum, eine hochtragische<br />

Liebesgeschichte, und er hat ein Psychogramm<br />

der Wiener Gesellschaft im Fin de Siècle geschaffen,<br />

in einem bestimmten Ambiente, jenem des Salons.<br />

Die Arbeiterschaft streift er nur am Rande. Ich bezeichne<br />

es als „einen wienerischen Tanz der Einsamkeiten<br />

auf einem Vulkan der zunehmenden politischen<br />

Extreme“.<br />

Schonungslos direkt breiten Sie ein Panorama des Wiener<br />

Judentums am Ende der Monarchie aus: Sie zeigen<br />

auf, wie vielfältig und teils unsicher jüdische Menschen<br />

mit ihrer jungen gesellschaftlichen Emanzipation im aufkeimenden<br />

Antisemitismus umgehen: Da begegnet man<br />

dem realistischen Zionisten, dem peinlichen Anbiederer,<br />

dem notorischen Selbsthasser oder jenen, die in der Taufe<br />

oder im kämpferischen Sozialismus ihr Heil suchen. Wenn<br />

ich den Roman nicht gelesen und nur Ihre Bearbeitung für<br />

das Theater gesehen habe, frage ich mich: Stammen diese<br />

so wissenden, präzisen Charakterisierungen von Schnitzler<br />

oder von Ihnen?<br />

I Das stammt alles von Schnitzler, er hat mir den Boden<br />

dafür bereitet, es ist alles in den Figuren vorgezeichnet.<br />

Ich habe manches an den jüngeren Figuren<br />

politischer und kraftvoller herausgeschält, wie<br />

z. B. beim jüdischen Geschwisterpaar, Leo und Therese<br />

Golowski. Es geht ja darum, einen Stoff für die<br />

Bühne zu destillieren, spielbar zu machen, und<br />

da braucht man einen Kunstgriff, der sich vom Roman<br />

etwas entfernt. Der Arthur im Himmel möge<br />

mir verzeihen, aber manchmal braucht man Typen<br />

als theatrale Gegenstücke: wie den antisemitischen<br />

Politiker Ernst Jalaudek, großartig dargestellt<br />

von Michael Schönborn, der dem rechtsgerichteten<br />

Journalisten sagt, sie müssten jetzt den Antisemitismus<br />

etwas einbremsen, weil dann der jüdische Herr<br />

vielleicht mehr Geld für die Stadt Wien springen<br />

lässt. Echte Originalzitate der Zeit im Stück: „Lue-<br />

INTERVIEW MIT SUSANNE F. WOLF<br />

Wienerischer Tanz<br />

der Einsamkeiten<br />

Mutig und aktuell bringt das Theater<br />

in der Josefstadt Arthur Schnitzlers<br />

Roman Der Weg ins Freie in der sensiblen<br />

und kämpferischen Bearbeitung von Susanne<br />

F. Wolf zum 90. Todestag des<br />

Dichters auf die Bühne. Der bekennende<br />

Jude Arthur Schnitzler schrieb sich seine<br />

Wut über jene Glaubensgenossen von der<br />

Seele, die ihr Judentum verleugneten.<br />

Interview: Marta S. Halpert<br />

40 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Das Inhumane gärt wieder<br />

© Madame d‘Ora, Atelier/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com; Reinhard Engel<br />

ger soll regieren, alle Juden sollen krepieren“ oder:<br />

„Wien darf kein neues Palästina werden.“<br />

Antijüdisches zieht sich vom ersten Bild bis zum Schluss<br />

durch?<br />

I Ja, denn das Inhumane gärt in dieser Epoche bereits,<br />

bevor es vielfältig Tragisches nach sich zieht.<br />

Im ersten Bild, in dem Salonambiente, dominiert<br />

nur kurz die „gepflegte Konversation“, ähnlich wie<br />

in einem Stück von Oscar Wilde oder Hermann Bahr<br />

– heute würde man sagen, das ist der Small Talk der<br />

Seitenblicke-Gesellschaft. Aber plötzlich kippt das<br />

Ganze in bitterernste politische Gespräche. Else<br />

Ehrenberg, die Tochter der Salonière, fragt gerade<br />

noch indigniert, „Wen interessiert denn der Antisemitismus<br />

überhaupt?“, als ihr der junge Jude Leo<br />

Golowski sogleich über den Mund fährt: „Jüdische<br />

Mitschüler werden geschlagen, jüdische Beamte sollen<br />

entfernt werden, es solle keine jüdische Zuwanderung<br />

mehr geben. Daher muss das jeden interessieren.“<br />

Also hat sich Schnitzler zu seiner Zeit schon etwas getraut?<br />

I Ja, und sein Roman ist sehr mutig. Was mich auch<br />

so wütend macht, ist, dass die Qualität dieses Werkes<br />

nicht erkannt wurde. Was er da alles abgebildet<br />

hat, so klug und doch sanft beschreibt, was damals<br />

schon alles hochgekocht ist. Schnitzler war kein politischer<br />

Mensch, hat sich als deutscher Dichter definiert,<br />

bekannte, nicht unter seinem Judentum zu<br />

leiden, und beobachtete haarscharf. Seine Themen<br />

sind heute genau so relevant wie vor mehr als hundert<br />

Jahren: wie weit zionistische und religiöse Ideen<br />

hilfreich sind, wie weit der Antisemitismus noch immer<br />

ein brennendes Thema ist. Daher habe ich persönliche<br />

Aussagen von Schnitzler hineingenommen,<br />

z. B. wie er mit dem Zionismus und anderen Überzeugungen<br />

umgeht. Auch seine Wut über jene Juden,<br />

die durch Anbiederung versuchen, ihr Judentum zu<br />

verleugnen. Dieser Roman ist ein echtes Juwel.<br />

Renate Wagner, Kritikerin und Verfasserin einer Schnitzler-Biografie,<br />

steht allgemein Roman-Dramatisierungen<br />

eher skeptisch gegenüber. Zu Ihrer Fassung schreibt sie<br />

aber sehr lobend: „Die fast drei Stunden Spieldauer vergehen<br />

wie im Flug. Weil die Bearbeiterin begriffen hat, was<br />

der Autor sagen wollte.“ Haben Sie sich schon lange und<br />

viel mit den Werken von Schnitzler beschäftigt?<br />

I Ich habe schon früh in meinem Leben viel von ihm<br />

gelesen, witzigerweise kann ich mich sogar erinnern,<br />

wo ich den Weg ins Freie „verschlungen“ habe. Aber ich<br />

gestehe, ich bin keine Schnitzler-Spezialistin. Sig-<br />

„… sie müssten<br />

jetzt den<br />

Antisemitismus<br />

etwas<br />

einbremsen,<br />

weil dann der<br />

jüdische Herr<br />

vielleicht<br />

mehr Geld<br />

für die Stadt<br />

Wien springen<br />

lässt.“<br />

Susanne Wolf<br />

zitiert aus Schnitzler<br />

mund Freud hat über Schnitzler geschrieben, er sei<br />

überrascht, wie es dem Dichter gelingt, tief in die<br />

Seelen zu blicken und diese zu erkennen. Er selbst<br />

habe sich Jahrzehnte gequält, um diese Fähigkeiten<br />

zu entwickeln.<br />

Fragt man Sie auch, wie viel Wolf und wie viel Schnitzler<br />

drin ist?<br />

I Natürlich, ich sage meist vielleicht 60 Prozent<br />

Schnitzler? Jedenfalls habe ich mir zu Hause vor der<br />

Premiere ein Glas Sekt gegönnt – und mein Trinkspruch<br />

lautete: „Arthur, auf dich und auf mich!“ Ich<br />

fühle mich ihm sehr nahe.<br />

Sie beharren in Ihrer Bearbeitung auf aktuelle Bezüge?<br />

I Es ist ja erschreckend, wie jetzt in der Covid-Pandemie<br />

der Antisemitismus wieder hochkocht. Natürlich<br />

muss man das differenziert betrachten, damals<br />

und heute kann man nicht eins zu eins vergleichen.<br />

Für mich manifestiert sich die Aktualität insofern,<br />

als damals vieles schon angedacht wurde, das heute<br />

nicht nur normal, sondern salonfähig ist. Die Lueger-Zeit<br />

war eindeutig der Nährboden, auf dem sich<br />

Hitler ausbreiten konnte, und vieles von dem, worauf<br />

wir heute beharren, z. B. keine Zuwanderung,<br />

dass die Neuankömmlinge Deutsch lernen sollten<br />

– selbstverständlich hilft es, die Landessprache zu<br />

können –, wurde als Forderung mit Drohpotenzial<br />

geäußert. Es ist noch nicht so lange her, dass fast<br />

jede Woche judenfeindliche Aussagen ganz selbstverständlich<br />

getätigt worden sind, während Schwarz-<br />

Blau regierte. Das Thema ist erschreckend gegenwärtig,<br />

man darf es nicht wegschmeicheln.<br />

SUSANNE F. WOLF<br />

wurde 1964 in Mainz geboren.<br />

Sie absolvierte ihr Theaterwissenschaft-Studium<br />

in Wien, wo<br />

sie seit 1982 lebt. Als Gast- und<br />

Hausdramaturgin war sie u. a.<br />

am Schauspiel Frankfurt und<br />

Volkstheater Wien tätig.<br />

Seit 1990 schreibt sie Theaterstücke,<br />

Dramatisierungen, Libretti,<br />

Songs/Lyrics und Prosatexte für<br />

das Sprech- und Musiktheater.<br />

Wolf realisierte etliche Projekte für<br />

Theater in Österreich, aber auch<br />

für die Staatsoperette Dresden,<br />

Wiener Symphoniker, Esterházy<br />

Privatstiftung, Wien Modern,<br />

Jeunesse und seit Kurzem für die<br />

Philharmonie Luxembourg.<br />

Jüngst feierte sie Erfolge an der<br />

Komischen Oper Berlin, wo Intendant<br />

Barrie Kosky sie mit Libretti<br />

von Kinderopern beauftragte.<br />

wına-magazin.at<br />

41


Geschichte durch Geschichten erzählen<br />

Michael Schnitzler: Ein<br />

Leben für Musik und Natur<br />

ind Sie verwandt mit Arthur Schnitzler?“<br />

„SDas war sicher die häufigste Frage, die<br />

dem 1944 in Berkeley/USA geborenen Michael<br />

Schnitzler in seinem Leben gestellt wurde. Der<br />

geduldige Enkel verwies immer wieder darauf,<br />

dass er seinen berühmten Großvater nicht gekannt<br />

hatte, weil dieser 1931 gestorben war. Jene<br />

Erinnerungen, die Michael an seine weit verzweigte<br />

Familie hat, sind jetzt unter dem Titel<br />

Der Geiger und der Regenwald im Amalthea Verlag<br />

erschienen.<br />

Michael Schnitzler, der 50 Jahre lang Konzertmeister<br />

der Wiener Symphoniker war, arbeitete<br />

auch als Violinprofessor und gründete das<br />

Haydn-Trio Wien, mit dem er Jahrzehnte auf den<br />

Bühnen der Welt auftreten sollte. Doch sein persönliches<br />

Paradies entdeckt er 1989 im Regenwald<br />

von Costa Rica, wo er die sanften Klänge<br />

der Violine gegen die Rufe von Brüllaffen und<br />

Papageien tauscht. Der von ihm initiierte „Regenwald<br />

der Österreicher“ ist heute sein zweites<br />

Zuhause, wo er sich leidenschaftlich für den Erhalt<br />

der Natur und der Artenvielfalt einsetzt. Seit<br />

2005 betreibt er die Esquinas Rainforest Lodge<br />

im Süden des Landes.<br />

Michaels Vater Heinrich (1902–1982) war der<br />

einzige Sohn des Dichters. 1934 heiratete er die<br />

neun Jahre jüngere, wohlhabende Industriellentochter<br />

Lilly von Strakosch. „Nach der Hochzeit<br />

zogen meine Eltern in die Villa, die mein Großvater<br />

Arthur 1910 in Währung gekauft hatte: Sternwartestraße<br />

71“, schreibt der Enkel. „In diesem<br />

Haus lebte mein Großvater bis zu seinem Tod<br />

1931. In seinem Arbeitszimmer befand sich auch<br />

sein gesamter Nachlass – Manuskripte, Briefe,<br />

Skizzen, Tagebücher. Als meine Eltern 1938 quasi<br />

über Nacht fliehen mussten, ließen sie ihren gesamten<br />

Besitz zurück.“ Die komplizierte und<br />

spannungsgeladene Geschichte dieses Nachlasses<br />

wurde erst 70 Jahre später geklärt. Michael<br />

Schnitzler berichtet in seinem anekdotenreichen,<br />

lesenswerten Buch u. a. über eine Schlagzeile auf<br />

der Titelseite der Wiener Zeitung am 7. August<br />

1944, als er in Oakland geboren wurde: „Adolf<br />

Hitler: Zuversichtlich wie noch nie.“<br />

Vater Heinrich war Schauspieler und Theaterregisseur,<br />

zuerst im Exil am Broadway. Ab der<br />

Rückkehr nach Wien 1957 inszenierte er am Theater<br />

in der Josefstadt, dessen Vizedirektor er zwei<br />

Jahre später wurde. „Auch wenn nie über die politische<br />

Vergangenheit geredet wurde, war das<br />

Verhältnis zu ehemaligen Nazis im Ensemble angespannt“,<br />

weiß Michael Schnitzler. „Er war ein<br />

Regisseur der alten Schule, galt als werktreuer,<br />

gewissenhafter Nestroy-, Strindberg- und Tschechow-Regisseur<br />

und wurde ‚Meister der Zwischentöne‘<br />

genannt – und natürlich war er prädestiniert,<br />

Stücke seines Vaters zu inszenieren.“<br />

Michael Schnitzler,<br />

Petra Hartlieb:<br />

Der Geiger und<br />

der Regenwald.<br />

Amalthea <strong>2021</strong>,<br />

272 S., € 28<br />

Der Weg ins<br />

Freie. Eine Auseinandersetzung<br />

mit<br />

dem Künstlertum,<br />

eine hochtragische<br />

Liebesgeschichte<br />

und ein Psychogramm<br />

der Wiener<br />

Gesellschaft im Fin<br />

de Siècle.<br />

Schnitzler hat Wiens Bürgermeister Lueger sehr früh<br />

durchschaut.<br />

I Bei seiner Verachtung für die Politik rührt Schnitzler<br />

an vielen Dingen, die uns an heute gemahnen.<br />

Er hat Lueger verachtet, weil er rechtspopulistisch<br />

agierte, aber gleichzeitig tarockierend mit jüdischen<br />

Geschäftsleuten am Tisch saß. Dieses unethische<br />

Verhalten hat ihn wild gemacht. Die Phrasen, die<br />

gedroschen wurden, hat er auf wunderbare Weise<br />

offen gelegt.<br />

Kann die heutige Jugend 90 Jahre nach Schnitzlers Tod<br />

noch etwas damit anfangen?<br />

I Ich bin überzeugt davon, dass man Geschichte<br />

nur über Geschichten-Erzählen verstehen kann.<br />

Die Bühnenfiguren sind natürlich historisierend.<br />

Aber die Seelenklänge berühren immer noch, auch<br />

die politischen Farben tragen wir bis heute in uns.<br />

Ebenso zeigen seine sensiblen Beschreibungen der<br />

Frauen auf, was unsere Vorgängerinnen erlitten und<br />

erlebt haben. Frauen stehen noch immer im Schatten<br />

der Männer, vieles ist schon erreicht, aber vieles<br />

noch ein weiter Weg. Die Bindungsangst, die Emanzipation,<br />

oder wie viel Freiheit lässt man einander,<br />

was ist Freiheit überhaupt und, ganz wichtig, was –<br />

und wo – ist Heimat? Schnitzlers Themen sind in ihrer<br />

Allgemeingültigkeit unübertroffen.<br />

Bei einigen Zeitgenossen Schnitzlers, darunter Hugo von<br />

Hofmannsthal, und auch bei Werner Welzig, Herausgeber<br />

seiner Tagebücher, verursachte der Weg ins Freie echte<br />

Verstimmung. Auch nach der Premiere am Theater in<br />

der Josefstadt herrschte unter einigen Besuchern eine<br />

gewisse Beklemmung und Reserviertheit: Ich vermute,<br />

dass das Thema auch heute vielen zu nahe kommt oder<br />

irgendwie peinlich ist. Stimmt mein Eindruck?<br />

I Ich bin an dieses Thema nicht blauäugig herangegangen:<br />

Es war und ist mir wichtig, dass es aufrüttelt.<br />

Ich hatte eine Bandbreite an Reaktionen, Ich erlebe<br />

Unterschiedlichstes, manche Zuschauer*innen<br />

können nichts damit anfangen. manche sind ergriffen<br />

und sehr berührt. Durch die Fokussierung auf<br />

die jüdische Thematik wusste ich, dass es eine Gratwanderung<br />

wird.<br />

© Roland Ferrigato<br />

42 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Eine Urgewalt<br />

Die ewig<br />

menschliche Hoffnung<br />

musikalisch umgesetzt<br />

Shira Karmon und Paul Gulda präsentieren mit The Spirit of Hope<br />

eine berückende und anspruchsvolle CD. Vorgestellt wird sie zur Erinnerung<br />

an das Novemberpogrom am 9. November im Wiener Alten Rathaus.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Die beiden herausragenden Musik-Interpreten<br />

machen, was sie<br />

besonders gut können und was<br />

ihnen thematisch am Herzen liegt: So entsteht<br />

eine künstlerisch perfekte Symbiose<br />

zwischen der israelischen Sängerin Shira<br />

Karmon und dem österreichischen Pianisten<br />

Paul Gulda.<br />

Hören und genießen kann man das<br />

jetzt auch privat: Die CD mit dem vielversprechenden<br />

Titel The Spirit of Hope<br />

spannt einen musikalischen Bogen von<br />

Mozarts Kantate KV 619 aus dem Jahr 1791<br />

bis zu den 2018 entstandenen Kompositionen<br />

von Paul Gulda und Marwan Abado<br />

mit dem Titel Pieces of Hope – Hopes of Peace:<br />

Hoffnung auf Frieden – Frieden, der wiederum<br />

Hoffnungen ermöglicht.<br />

„Von den Psalmen Davids und den Gesängen<br />

der Naturvölker über sakrale Musik<br />

aller Richtungen und bis in gewisse Werke<br />

der radikalen Moderne: Diese Sehnsucht<br />

und ihre künstlerische Umsetzung sind<br />

so alt und so verbreitet wie die menschliche<br />

Kultur“, erklärt Gulda die inhaltliche<br />

Klammer der innerhalb von fünf Tagen in<br />

Wien aufgenommenen Gramola-CD. Von<br />

Salomon Sulzers Trost (1846) über drei<br />

von Eyal Bat (Jahrgang 1966) vertonte Gedichte<br />

von Else Lasker-Schüler bis zu Leonard<br />

Bernsteins Vietnam-Song So Pretty<br />

(1968) findet man auf dieser Einspielung<br />

reichlich Stoff zum Nachdenken und Mitfühlen.<br />

„Denn“, so Gulda, „auch wenn<br />

diese Texte und Melodien von bestimmten<br />

Menschen erdacht, in Zeit und Ort definiert<br />

sind, bleiben sie universell gültig.<br />

Jedes Stück unserer Auswahl ist ein Teilstück,<br />

ein Splitter dieser großen und aufgeladenen<br />

Begriffe: von Freiheit, Frieden,<br />

„Jedes Stück unserer<br />

Auswahl ist ein Teilstück,<br />

ein Splitter dieser<br />

großen und aufgeladenen<br />

Begriffe:<br />

von Freiheit, Frieden,<br />

hohen Idealen<br />

ist die Rede […].“<br />

Paul Gulda<br />

hohen Idealen ist die Rede – wie auch von<br />

persönlichem Schicksal.“<br />

„Alles ist möglich – bei dieser Stimme!<br />

Es schwelt ein Feuer, eine Urgewalt, die<br />

einen alles um sich herum vergessen<br />

lässt“, lautet nur eine der vielen Pressestimmen<br />

zu den bisherigen zahlreichen<br />

Auftritten der Sopranistin Shira Karmon.<br />

Die Mutter zweier Mädchen, die in<br />

Tel Aviv ausgebildet wurde, gastierte u. a.<br />

am Staatstheater Saarbrücken, an der Komischen<br />

Oper und der Neuköllner Oper<br />

in Berlin, an der Kammeroper Hamburg.<br />

Auf europäischen Opernbühnen konnte<br />

man sie im schottischen Aberdeen und<br />

an der französischen Opéra de Strasbourg<br />

hören. Zu ihren Rollen zählen u. a. die<br />

„Mimi“ in La Bohème, die „Gräfin“ in Figaros<br />

Hochzeit, die „Donna Elvira“ in Don<br />

Giovanni. Als erfolgreiche Konzertsängerin,<br />

insbesondere des Liedguts des späten<br />

20. Jahrhunderts, trat sie im Concertgebouw<br />

Amsterdam, im Berliner Konzerthaus,<br />

im Lincoln Center New York, bei der<br />

Styriarte Graz auf. Karmon gestaltete mit<br />

Paul Gulda bereits Konzerte in New York,<br />

Washington und auf der Studiobühne<br />

der Wiener Staatsoper; gemeinsam absolvierten<br />

sie 2018 eine vielbeachtete Israel-Tournee<br />

mit Unterstützung des Austria<br />

Culture Centers. Im gleichen Jahr war<br />

Shira Karmon in Istanbul, im Brucknerhaus<br />

Linz und im Wiener MuTh zu erleben.<br />

Auf Einladung des Grazer IKG-Präsidenten<br />

Eli Rosen eröffnete sie zuletzt<br />

die Gala zu Rosch ha-Schana in der Grazer<br />

Synagoge.<br />

Der virtuose Pianist Paul Gulda, 1961 in<br />

Wien als zweiter Sohn des Pianisten Friedrich<br />

Gulda und der Schauspielerin Paola<br />

Loew geboren, zeichnet sich durch Spiritualität<br />

und Kreativität aus; dennoch setzt<br />

er sich laufend für realistische zivilgesellschaftlich<br />

Belange ein, u. a. für die Initiative<br />

REFUGIUS in Rechnitz. „Meine ersten<br />

Lehrer waren zwei Jazzer: Fritz Pauer<br />

und Roland Batik; mein Vater Friedrich<br />

Gulda hat mir unbedingte Hingabe an die<br />

Musik vermittelt. Die Summe daraus zu<br />

ziehen, sogar darüber hinaus zu gehen,<br />

dies an andere weiterzugeben, ist meine<br />

Aufgabe.“ Daher wundert es nicht, dass<br />

Shira Karmon und Paul Gulda die Präsentation<br />

von The Spirit of Hope für den 9. November<br />

<strong>2021</strong>, den Jahrestag der Novemberpogrome<br />

1938, angesetzt haben (Altes<br />

Rathaus, 1., Wipplingerstraße 8, 19 Uhr).<br />

wına-magazin.at<br />

43


Großes Panorama<br />

Zarte Erinnerung,<br />

sezierende<br />

Gesellschaftsanalyse<br />

Vor 150 Jahren wurde der große französische Romancier<br />

Marcel Proust geboren, von einer jüdischen Mutter in eine<br />

katholische Bürgerfamilie.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Die Szene mit der Madeleine gilt<br />

als der Eintritt in die Erinnerungs-Erzählung.<br />

Der Ich-Erzähler,<br />

der erwachsene Marcel,<br />

er heißt wie der Schriftsteller, spürt<br />

nach dem Eintauchen eines muschelförmigen<br />

Gebäcks in eine Tasse Tee überfallsartig<br />

denselben Geschmack wie einst, als<br />

ihm, dem Kind, eine Tante diese Köstlichkeit<br />

das erste Mal offeriert hatte. Und mit<br />

dem sinnlichen Erleben wird schlagartig<br />

das ganze Panorama der Kindheit wieder<br />

lebendig, mit allen Freuden und vor allem<br />

den vielen Ängsten.<br />

Eine andere kulinarische Erwähnung<br />

wird oft überlesen, und doch hat sie Marcel<br />

Proust ganz bestimmt bewusst gesetzt. Die<br />

Kindheit des Ich-Erzählers spielt sich in einem<br />

bürgerlich-kleinbürgerlichen, streng<br />

katholischen Milieu in der französischen<br />

Provinz ab, mit regelmäßigem Kirchgang<br />

und mit festen Regeln. Plötzlich wird da<br />

ein uraltes Rezept erwähnt, bei dem das<br />

Kitzlein nicht in der Milch der Mutter gekocht<br />

werden dürfe, ein eindeutiges Symbol<br />

für jüdische Speisegesetze.<br />

Die geliebte Mutter im großen Roman<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

füllt ihre Rolle in der rural-konservativen<br />

französischen Umgebung so aus, wie<br />

dies dort eben seit langer Zeit gefordert<br />

war. Prousts wirkliche Mutter Jeanne<br />

war allerdings eine Jüdin aus Lothringen,<br />

eine geborene Weil. „Sie leugnete<br />

ihre jüdische Herkunft nicht“, schreibt<br />

der deutsche Romanistik-Professor Karlheinz<br />

Biermann in seiner Proust-Monografie,<br />

„praktizierte aber nicht mehr die<br />

mosaische Religion im engeren Sinn“. Ihr<br />

Vater Nathé Weil hatte als Börsenmakler<br />

Karriere und Geld gemacht, ein Minister<br />

fungierte als Trauzeuge bei Jeannes<br />

Hochzeit mit dem katholischen Arzt und<br />

Wissenschaftler Adrien Proust. Die Söhne<br />

– auf Marcels Geburt 1871 folgte zwei Jahre<br />

später Robert – wurden getauft und katholisch<br />

erzogen. Biermann: „So koexistieren<br />

in dieser Familie – wie in dem sie<br />

umgebenden Milieu – die christlich-katholische<br />

und die jüdische Tradition, vereint<br />

im gemeinsamen Glauben an Kunst<br />

und Wissenschaft.“<br />

Der kleine Marcel war ein sensibles und<br />

kränkelndes Kind, mit neun Jahren hatte<br />

er seinen ersten schweren Asthmaanfall,<br />

was zu wiederholten Genesungsaufenthalten<br />

auf dem Land und vor allem am<br />

Atlantik führte. Dennoch absolvierte er<br />

das Gymnasium, einen einjährigen Militärdienst<br />

und anschließend, als Kompro-<br />

44 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Ausufernder Erzählstrom<br />

© Albert Harlingue/Roger Viollet/picturedesk.com<br />

ser oder die Leserin<br />

auch schnell hinein<br />

in einen sanften Erzählstrom.<br />

Doch dieser<br />

ufert mächtig aus,<br />

springt durch Zeitebenen, drängt hinein<br />

in das Innere der Figuren, zu ihren Spielereien,<br />

Bosheiten, Obsessionen und Ängsten,<br />

breitet die Äußerlichkeiten einer Umbruchszeit<br />

mit Luxus, Schein und Macht<br />

perfekt und reich geschmückt aus. „Hunderte<br />

von Personen treten in Prousts Verlorener<br />

Zeit auf“, schreibt Renate Wiggershaus<br />

in ihrer Monografie: „Herzoginnen<br />

und Diener, Grafen und junge Mädchen,<br />

Köchinnen und Schneider, Botschafter,<br />

Ärzte, Chauffeure, Kellner und Künstler.“<br />

Proust kannte alle diese Typen von seinen<br />

Jahren, in denen er die Salons des Adels<br />

und des Großbürgertums frequentierte.<br />

Was dabei nicht zur Sprache kommt –<br />

abgesehen von gedemütigten Dienstboten<br />

–, ist die gesamte Welt der Produktion, bemerkte<br />

einmal trocken der deutsche Kritiker<br />

und Philosoph Walter Benjamin. Und<br />

doch entwirft der Autor ein großes Panorama,<br />

analysiert präzise den in seiner gemiss<br />

für den Vater, eine Kombination aus<br />

Rechts- und Literaturstudien.<br />

Er sollte eigentlich eine Laufbahn als<br />

Diplomat einschlagen. Doch ihm waren<br />

die Künste näher, und auch die Pariser<br />

Salons. Unterstützt von den – relativ<br />

wohlhabenden – Eltern taucht er ein in die<br />

Jeunesse Dorée, macht als Dandy jungen<br />

Damen wie reiferen Frauen den Hof, erlebt<br />

aber heimlich wohl auch schon seine<br />

ersten homosexuellen Begegnungen. Er<br />

schreibt literarische und journalistische<br />

Arbeiten, übersetzt Werke des englischen<br />

Kunstkritikers John Ruskin, engagiert sich<br />

auch gemeinsam mit anderen Schriftstellern<br />

für den zu Unrecht verurteilten jüdischen<br />

Offizier Alfred Dreyfus. Freuden und<br />

Tage wird sein erstes publiziertes Werk,<br />

und schon da zeigen sich laut Kritikern<br />

kreative Ansätze, die er dann später in der<br />

Verlorenen Zeit brillant ausarbeiten<br />

wird: Da findet sich etwa<br />

der Flaneur, der als einsamer<br />

Beobachter distanziert,<br />

aber genau und ironisch die<br />

Schwächen seiner Umgebung<br />

analysiert, das Setting<br />

ist meist der großbürgerlich-adelige<br />

Salon. Und auch<br />

große Gefühle wie sehnsüchtige,<br />

unerfüllte Liebe und die<br />

Qualen der Eifersucht werden<br />

bereits thematisiert.<br />

Literarische Aufgabe. Ab 1907<br />

– Proust ist schon 26 und noch<br />

immer ohne eigenes regelmäßiges<br />

Einkommen – beginnt er etwas unstrukturiert<br />

mit der Arbeit an jenem gewaltigen<br />

Werk, das ihn letztendlich unter die<br />

ganz Großen der europäischen Literatur<br />

heben sollte. Noch wusste er nicht genau,<br />

ob er es eher essayartig oder als Roman anlegen<br />

wollte, und beriet sich darüber mit<br />

Schriftstellerkollegen, ehe er sich doch für<br />

die Fiktion entschied. 1913 erschien dann<br />

nach mehreren Ablehnungen durch Verlage,<br />

eine davon übrigens von André Gide,<br />

der das schon bald bedauern sollte, der<br />

erste Band bei Grasset (später wechselte<br />

Proust zum Verlagshaus Gallimard). Von<br />

diesem Band verkaufte Proust nicht mehr<br />

als 3.300 Exemplare. „Die Aufnahme des<br />

Werks in den Feuilletons ist gespalten“, so<br />

der Romanist Biermann. „Insgesamt lässt<br />

sich feststellen, dass die zeitgenössische<br />

Kritik die bahnbrechende Bedeutung des<br />

Romans nicht erkennt.“<br />

Doch Proust lässt nicht locker. Inzwischen<br />

ist er durch den Tod des Vaters und<br />

Zeitdokument.<br />

Das letzte handgeschriebene<br />

Manuskript von Auf<br />

der Suche nach der<br />

verlorenen Zeit.<br />

sein Erbe finanziell unabhängig geworden<br />

(auch wenn er dieses durch einige riskante<br />

Spekulationsgeschäfte wieder verkleinert).<br />

Und er glaubt an seine literarische<br />

Aufgabe. Nach dem Ersten Weltkrieg, im<br />

Jahr 1919, erhält Proust den prestigeträchtigen<br />

Prix Goncourt für den zweiten Band<br />

der Verlorenen Zeit. Nun ist er bekannt bis<br />

berühmt und arbeitet aufgrund seiner<br />

Krankheit immer öfter im Bett intensiv<br />

an den weiteren Folgen. Er soll diese nicht<br />

mehr vollenden, große Teil der Verlorenen<br />

Zeit erscheinen postum, manche erst Jahre<br />

später. Wenige Monate vor seinem Tod soll<br />

er seiner Haushälterin und Vertrauten Céleste<br />

Albaret gesagt haben, er habe in dieser<br />

Nacht das große Wort „Ende“ geschrieben,<br />

jetzt könne er sterben.<br />

Was für ein Werk ist dieser Riesenroman?<br />

Es beginnt zwar<br />

mit der Erinnerung des<br />

Knaben an seine Kindheit,<br />

zieht den Le-<br />

„So koexistieren in dieser<br />

Familie – wie in dem sie umgebenden<br />

Milieu – die christlich-katholische<br />

und die<br />

jüdische Tradition, vereint<br />

im gemeinsamen Glauben<br />

an Kunst und Wissenschaft.“<br />

Karlheinz Biermann<br />

schwätzigen Pracht stagnierenden Adel,<br />

die karrierebewusst aufstrebenden bürgerlichen<br />

Juden (eine der Hauptfiguren,<br />

Swann, zählt zu dieser Kategorie), lässt die<br />

beiden gesellschaftlichen Gruppen durch<br />

Heiraten wenn nicht verschmelzen, so einander<br />

doch annähern. Schon zu Prousts<br />

Lebzeiten war es ein beliebtes Salonspiel<br />

zu mutmaßen, welche Dame, welcher Herr<br />

wohl als Schablone für die einzelnen Charaktere<br />

gedient haben möge. Bis heute erscheinen<br />

Bücher, die dem nachgehen, etwa<br />

Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Der Autor<br />

selbst verwehrte sich gegen simple Einszu-eins-Muster.<br />

Die Romanfiguren setzten<br />

sich jeweils aus mehreren realen Personen<br />

zusammen, manchmal aus bis zu acht.<br />

Diese fragmentarischen Persönlichkeiten<br />

finden sich auch direkt im Roman, sowohl<br />

bei Männern wie auch bei Frauen.<br />

Sie sind in unterschiedlichsten Zusammenhängen<br />

oder Lebenssituation jeweils<br />

andere, von stabilen selbstbewussten<br />

Langzeitprofilen könne man nicht<br />

mehr ausgehen. Prousts Analyse zielt also<br />

nicht mehr nur auf das zwischenmenschliche<br />

Funktionieren der – oberen – Gesellschaftsschicht,<br />

sondern längst auch auf die<br />

un- und unterbewussten tieferen Strukturen<br />

der Individuen.<br />

Durchwoben, um nicht zu sagen dekoriert,<br />

ist dieser Erzählfluss mit einem<br />

breiten Wissen über Literatur, Musik und<br />

bildenden Kunst, Proust sparte trotz Salonglanz<br />

die moderne Technik nicht aus<br />

– sei sie zivil oder militärisch. Er ließ sich<br />

auch selbst mit einem offenen Auto durch<br />

Frankreich chauffieren – und verliebte<br />

sich dabei unglücklich in seinen jungen<br />

Fahrer. An der Frage, ob die vielen unerfüllten<br />

Liebesbeziehungen im Roman mit<br />

seiner eigenen sexuellen Ausrichtung zu<br />

tun haben, arbeiteten sich über die Jahre<br />

zahlreiche Kritiker ab. Es bleibt ein mächtiges,<br />

vielschichtiges, sensibles, kluges<br />

Werk – mit allen gewollten Unschärfen und<br />

dunklen, pessimistischen Regionen, die so<br />

einem Werk angemessen sind. Wer sich darauf<br />

einlässt, wird freilich reich belohnt.<br />

wına-magazin.at<br />

45


Dunkles Sodom<br />

Joshua Sobol:<br />

Der große Wind<br />

der Zeit.<br />

Aus dem Hebräischen<br />

von Barbara Linner.<br />

Luchterhand,<br />

528 S., € 24,70<br />

Einem Börsengewinn von hunderten<br />

Millionen Euro, den<br />

ihr Kibbuz mit einer europäischen<br />

Filiale gemacht hat,<br />

stehen die Alten eher hilflos<br />

gegenüber. Ihre zukünftigen Erben könnten<br />

mit den jeweiligen Anteilen der betagten<br />

Gründer da schon mehr anfangen.<br />

Doch noch ist der 90-jährige Dave<br />

Ben Chaim Herr über seine Harley Davidson,<br />

seinen Verstand und seine Freiheit.<br />

Längst haben sich seine vier Kinder von<br />

ihm entfernt. Sohn Gaby, ein höchst kreativer<br />

Systemanalytiker, würde gern das<br />

digitale Computersystem global vernichten,<br />

der Landwirt Duvesch sich von seiner<br />

Farm im Jordantal und seiner Ehefrau<br />

trennen, der rechte Politiker Maoz will<br />

Ministerpräsident werden, während Daves<br />

einzige Tochter Meirav erotisch aktiv<br />

durch Tel Avivs Nachtleben floatet. Überhaupt<br />

wird reihum kreuz und quer gevögelt,<br />

Mutter und Tochter gar mit demselben<br />

Liebhaber, alle doch letztlich als<br />

betrogene Betrüger.<br />

„Entlassungsurlaub“. Als heller Stern in<br />

diesem dunklen Sodom strahlt einsam<br />

Daves Enkelin Libby, eine junge Verhörspezialistin<br />

der Armee, die sämtliche arabischen<br />

Dialekte beherrscht. Ihr letzter<br />

Fall vor dem Entlassungsurlaub, ein kultivierter<br />

Palästinenser, der in England an<br />

seiner Doktorarbeit über den Zionismus<br />

schreibt, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise.<br />

Chufschat Schichrur, Entlassungsurlaub,<br />

lautet bezeichnenderweise der Originaltitel<br />

des bereits<br />

2017 auf Hebräisch<br />

erschienenen Romans<br />

und rückt damit<br />

Libby deutlich<br />

ins Zentrum. Im<br />

Haus des Großvaters<br />

stößt sie auf das<br />

Mit Weiningers Nacht hat Joshua Sobol 1983 erstmals<br />

die Weltbühne betreten und danach mit Stücken<br />

wie Ghetto und Alma auch weiter erobert. Mit<br />

seinen epischen Werken war der 1939 geborene israelische<br />

Dramatiker bisher weniger erfolgreich.<br />

Der große Wind der Zeit, ein Roman über vier Generationen<br />

einer Familie und hundert Jahre Geschichte<br />

„Erez Israels“, soll nun sein Opus Magnum sein.<br />

Von Anita Pollak<br />

„Kein Jubelgeschrei bei<br />

freudigen Anlässen, kein<br />

Heulen und Wehklagen, wenn<br />

sie das Unglück ereilte.“<br />

46 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Nostalgische Rückblicke<br />

„KEIN SCHLUSS –<br />

und nicht das Ende“<br />

© Andreas Friess / picturedesk.com<br />

Joshua Sobol. In den<br />

lebensechten Dialogen<br />

und zeitsatirischen Szenen<br />

wird auch in der Prosa der<br />

Dramatiker spürbar.<br />

Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva, die in<br />

den 1920er-Jahren aus ihrem großbürgerlichen<br />

Elternhaus in Wien allein nach<br />

Palästina aufbricht. Gemeinsam mit Gefährten<br />

gründet sie einen Kibbuz, bekommt<br />

mit einem jemenitischen Juden<br />

einen Sohn, Uri, der sich später Dave nennen<br />

wird, und verlässt beide, um als Ausdruckstänzerin<br />

durch das Berlin der Vorkriegszeit<br />

zu tingeln. Sie schläft mit Nazis<br />

ebenso wie mit dem „Lederjackett“, durch<br />

genussvoll ausgebreitete Klischees aus<br />

seiner Vita unschwer als Bertolt Brecht<br />

identifizierbar, ein Frauen verachtender<br />

Frauenheld, dem Eva nicht verfällt.<br />

Gerade noch rechtzeitig kehrt sie zurück<br />

in ihren „Swinging Kibbuz“, wie ihn ihre<br />

staunende Urenkelin angesichts der damals<br />

dort herrschenden Verhältnisse<br />

nennt. Ihre Eltern kann Eva nicht zur<br />

Abreise aus dem bereits braunen Wien<br />

überreden. Sie werden den Krieg nicht<br />

überleben.<br />

Lebendige Vergangenheit. Seitenlange Zitate<br />

aus Evas Tagebuch erlauben es dem<br />

Erzähler, die Vergangenheit im O-Ton<br />

sprechen, den Rückblick als Gegenwart<br />

lebendig werden zu lassen und so ein<br />

Jahrhundert Geschichte episch zu umspannen.<br />

Bisweilen überspannt Sobol<br />

diesen Bogen allerdings, überlädt ihn<br />

mit allzu viel Wissen, allzu schulmeisterlichen<br />

Belehrungen, allzu detailfreudigen<br />

Exkursen, über Leda und den Schwan<br />

ebenso wie beispielsweise über den genau<br />

protokollierten Ablauf der Berliner Bücherverbrennung,<br />

Dinge, die man heute<br />

auch dank Wikipedia nicht unbedingt in<br />

extenso ausbreiten muss.<br />

Spürbar wird die Pratze des Dramatikers<br />

allerdings in lebensechten Dialogen,<br />

in zeitsatirischen Szenen, die in ihrer<br />

Überdeutlichkeit jedoch manchmal<br />

übers Ziel schießen. So soll etwa bei einem<br />

Dinner in einem angesagten Lokal<br />

der Weg ins Amt des Premierministers<br />

ausgedealt werden, wobei unter anderem<br />

Jakobsmuscheln und ein „in Butter<br />

gebratenes Schweinefilet“ verdrückt<br />

werden. Wir haben schon verstanden, koscher<br />

ist es nicht!<br />

Vielleicht ist es kleinlich, in einem so<br />

ambitionierten Werk auf Unstimmigkeiten<br />

hinzuweisen, doch in der Spanischen<br />

Hofreitschule in Wien konnten<br />

junge Mädchen sicher nicht, wie es von<br />

Eva heißt, „die Reitkunst“ gelernt haben.<br />

Im Großen gesehen gelingt diesem<br />

weit ausufernden Roman aber vieles.<br />

Vor allem Geschichte aus erster Hand,<br />

kennt doch der ehemalige Kibbuznik<br />

Joshua Sobol das Land, seine Menschen,<br />

seine Konflikte wie eben nur ein alt gewordener<br />

Sabre und streut die Erkenntnisse<br />

seiner philosophischen Altersweisheit<br />

mit wohltuender Beiläufigkeit locker<br />

aus. Eines der berührendsten Miniporträts<br />

des Bandes ist einem schrulligen Pro-<br />

fessor gewidmet, einer „weltweiten Koryphäe<br />

für Quantencomputerisierung“, der<br />

sich im Alter als Messie der leidenschaftlichen<br />

Sammlung und Behandlung kaputter<br />

Fundstücke aus dem Müll, unter anderem<br />

schwer lädierter Puppen, hingibt.<br />

Liebevollst reinigt er sie, wäscht ihnen<br />

vorsichtig die Haare, föhnt und kämmt<br />

sie, während seine Frau, verzweifelt über<br />

diese Aktivitäten ihres einstmals weltberühmten<br />

Mannes, in der kunstvollen Zubereitung<br />

einer „Kalbsfußsülze“ aufgeht.<br />

Einfach wunderbar!<br />

Pioniere. Mehr oder minder nostalgische<br />

Rückblicke auf die so hoffnungsvolle<br />

Gründerzeit des Landes und seine<br />

zionistischen Pioniere sind mittlerweile<br />

Leitmotive in den Romanen großer israelischer<br />

Autoren der Gegenwart. Sie<br />

verschweigen dabei meist nicht, mit<br />

welchem Blutzoll auf beiden Seiten der<br />

Staat geboren wurde. Dabei stoßen Geschichtsnarrative<br />

aufeinander, kollidieren.<br />

Natürlich dürfen auch hier die edlen,<br />

gedemütigten Araber genauso wenig<br />

fehlen wie die selbst entsagenden frühen<br />

Siedler. „Kein Jubelgeschrei bei freudigen<br />

Anlässen, kein Heulen und Wehklagen,<br />

wenn sie das Unglück ereilte.“<br />

Ausgesprochen und unausgesprochen<br />

bilden diese Helden den Kontrast zum aktuellen<br />

Gesellschaftspanorama Israels, in<br />

den Mitgliedern der Familie Ben Chaim<br />

beispielhaft gespiegelt. Wie in Sobols Polydrama<br />

Alma folgt man ihnen quasi in simultanen<br />

Szenen durch Krisen ihres Lebens,<br />

geleitet durch zwei starke Frauen:<br />

Eva, die über Hundert wurde, und ihre Urenkelin<br />

Libby, gleichsam ihre Wiedergeburt.<br />

Und das ist noch „Kein Schluss – und<br />

nicht das Ende“, wie die letzte Zeile nach<br />

über 500 dichten Seiten verspricht. Wäre<br />

kein Wunder, wenn Netflix et al. an diesem<br />

Generationenthema Gefallen fänden.<br />

wına-magazin.at<br />

47


Verdeckte Codes<br />

Der neue<br />

Antisemitismus<br />

und seine alten Wurzeln<br />

In seinem nun erschienenen Buch Jud, Jahudi oder Zionist – der<br />

ausgegrenzte Feind spürt der langjährige Generalsekretär der IKG<br />

Wien, Raimund Fastenbauer, dem Phänomen des neuen<br />

Antisemitismus nach. Er seziert eindrucksvoll Ursprünge und<br />

Motive, präsentiert zahlreiche konkrete Beispiele und nimmt<br />

sowohl Europa wie auch die islamische Welt ins Visier. Entstanden<br />

ist ein mehr als ernüchternder Befund.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Raimund Fastenbauer:<br />

Jud, Jahudi oder<br />

Zionist – der ausgegrenzte<br />

Feind.<br />

Brill | Schöningh,<br />

329 S., € 73,83<br />

Der ‚Neue Antisemitismus‘ kombiniert<br />

rechten ‚Rassenantisemitismus‘,<br />

linken antizionistischen<br />

Antisemitismus (gerne<br />

auch mit dem Geldmotiv) und religiösen<br />

islamischen Antisemitismus (mit nationalistischen<br />

Hintergrund)“, lautet Raimund<br />

Fastenbauers Fazit. Israel werde zudem als<br />

„Jude unter den Völkern“ behandelt, europäische<br />

Mainstream-Medien würden „Israelkritiker,<br />

die als Juden und insbesondere<br />

als Israeli auftreten“, besonders gerne<br />

zu Wort kommen lassen.<br />

Fastenbauer setzt sich in seinem Buch<br />

mit der Linken – hier sieht er den Sieg Israel<br />

im Sechs-Tage-Krieg 1967 als Zeitenwende<br />

– ebenso auseinander wie mit<br />

Antisemitismus von muslimischer und<br />

anderer Seite. Am Ende vermengen sich<br />

die unterschiedlichen Formen beziehungsweise<br />

wirken aufeinander, vergangene<br />

wie aktuelle. Das ist der Hauptpunkt,<br />

den man nach der Lektüre dieses Bandes<br />

mitnimmt.<br />

In Europa habe sich eine Entwicklung<br />

vom „religiösen und rassistischen<br />

Antisemitismus“ (das<br />

ist das, was man herkömmlich<br />

unter „rechtem Antisemitismus“<br />

versteht) zum „sekundären Antisemitismus“<br />

und kombinierten<br />

modernen antizionistischen Antisemitismus<br />

als „cultural code“ beziehungsweise<br />

„negative Leitidee“<br />

einer globalisierten Welt in Verbindung<br />

mit der Infragestellung der Legitimität<br />

des Staates Israel herausgebildet,<br />

so Fastenbauer. Dieser europäische sekundäre,<br />

postnazistische Antisemitismus verbinde<br />

sich wiederum mit dem islamischen<br />

Antisemitismus zum neuen „antizionistischen<br />

Antisemitismus“. Dabei würden<br />

antisemitische Codes in Koran und Hadithen<br />

(mündliche Überlieferungen Mohammeds)<br />

kombiniert, wie das der „Juden<br />

umgewandelt in Affen und Schweine“ und<br />

das der Verschwörung mit solchen des islamisierten<br />

Antisemitismus, der von Europa<br />

in den Nahen Osten übertragen wurde.<br />

Religionskritik. Im neuen antizionistischen<br />

Antisemitismus fänden sich somit<br />

teilweise offene, teilweise als Code verdeckte<br />

antisemitische Motive älteren Datums.<br />

„Ihr Ursprung sind historische polemische<br />

Abgrenzungsbemühungen bzw.<br />

Polemik gegenüber jüdischen Stämmen<br />

im Zuge der kämpferischen Expansion<br />

des Islam.“ Diese religiösen historischen<br />

Wurzeln würden in der Antisemitismusforschung<br />

unterschätzt, konstatiert Fastenbauer.<br />

Er wolle daher mit seinem Buch<br />

auch einen „Beitrag zur Korrektur“ vorlegen.<br />

Während im Christentum nach der<br />

Schoa, dabei insbesondere nach dem<br />

Zweiten Vatikanischen Konzil, eine wenn<br />

auch nicht immer vollständige Abkehr von<br />

antisemitischer Polemik gelungen sei, „ist<br />

eine solche im Islam ausständig“, lautet<br />

Fastenbauers Vorwurf. „Sie wird durch die<br />

weitgehende Ablehnung jeder Form von<br />

Religionskritik erschwert.“<br />

48 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Ernüchternder Befund<br />

Beitrag zur Korrektur. Die religiösen historischen<br />

Wurzeln würden in der Antisemitismusforschung<br />

unterschätzt, analysiert Raimund Fastenbauer.<br />

© ikg<br />

„Manche Autoren<br />

sehen fälschlicherweise<br />

den muslimischen<br />

Antisemitismus<br />

lediglich<br />

als Resultat des<br />

Exportes des europäischen<br />

Antisemitismus<br />

in den<br />

Nahen Osten.“<br />

Raimund Fastenbauer<br />

Breiten Raum nimmt im Buch denn<br />

auch die Auseinandersetzung mit dem Islam<br />

und seinem Verhältnis zum Judentum<br />

ein. Fastenbauer geht dabei zurück bis in<br />

die Zeit Mohammeds und der damaligen<br />

Stammesgesellschaft. Die jüdischen<br />

Stämme auf der arabischen Halbinsel hatten<br />

sich Mohammed nicht angeschlossen<br />

und wurden schließlich in kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen besiegt, zwei aus<br />

Medina vertrieben, ein dritter vernichtet<br />

und die jüdischen Frauen versklavt. Später<br />

seien die Juden und Jüdinnen Khaybars besiegt<br />

worden, die dann als erste nichtmuslimische<br />

Untertanen – Dhimmis – Schutzsteuer<br />

zahlen mussten.<br />

Es erinnert ein bisschen an den Umgang<br />

Martin Luthers mit Juden – und genau<br />

das streicht auch Fastenbauer hervor.<br />

„In Bukhari, Buch 2, Hadith 18, wird darauf<br />

hingewiesen, dass Angehörige anderer<br />

Religionen so lange bekämpft würden,<br />

bis sie bestätigen würden, dass nur Allah<br />

angebetet werden solle und Muhammed<br />

sein Prophet sei, dadurch und durch Abgaben<br />

könnten sie ihr Leben und ihren Besitz<br />

retten.“<br />

Die Passagen zu Juden, die Fastenbauer<br />

dokumentiert, lesen sich ernüchternd: So<br />

werden sie in Sure 3/19–20 als „Prophetenmörder“<br />

bezeichnet, in Sure 4/47 als „die<br />

von Allah Verfluchten“, in den Suren 2/65–<br />

66, 5/60–61, 7/166–167 als „Söhne von Affen<br />

und Schweinen“, in Sure 5/82 als „allschlimmste<br />

Feinde der Gläubigen“. In Sure<br />

33/26–30 heißt es, „das Land der Juden wird<br />

den Muslimen gehören“, in Sure 9/29–30,<br />

„kämpft gegen jene, bis sie erniedrigt sind<br />

und den Tribut errichten“, in Sure 63/6–7,<br />

„sie sind der Feind, also hüte dich vor ihnen“.<br />

Im Hadith würden Juden zudem beschuldigt,<br />

Mohammed vergiftet zu haben.<br />

Das Verschwörungsmotiv finde sich auch<br />

in der Geschichte von Abd Allah b. Saba,<br />

der vom Judentum zum Islam übergetreten<br />

war. Ihm wurde vorgeworfen, die innerislamischen<br />

Auseinandersetzungen, die zur<br />

Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten<br />

führte, verursacht zu haben.<br />

„Manche Autoren sehen fälschlicherweise<br />

den muslimischen Antisemitismus<br />

lediglich als Resultat des Exportes des europäischen<br />

Antisemitismus in den Nahen<br />

Osten – insbesondere in den Dreißigerjahren<br />

des 20. Jahrhunderts – oder als ‚islamisierten<br />

Antisemitismus“, kritisiert Fastenbauer,<br />

dessen nun erschienenes Buch<br />

auf seiner Dissertation an der Universität<br />

Wien, betreut von Klaus Davidowicz (Judaistik)<br />

und Ednan Aslan (Islamische Religionspädagogik),<br />

beruht. Islamischer<br />

Antisemitismus schöpfe aber eben aus<br />

mehreren Quellen: dem Koran, der Aufnahme<br />

christlicher und rassistischer Motive<br />

aus Europa sowie aus islamistischen<br />

Bewegungen wie der Moslembrüderschaft.<br />

Der islamische Antisemitismus<br />

habe dabei zwar weitaus länger als der<br />

christliche nur eine diskriminatorische<br />

Prägung gehabt – im letzten Jahrhundert<br />

seien aber eben auch zunehmend Vernichtungsphantasien<br />

entstanden.<br />

wına-magazin.at<br />

49


WINA WERK-STÄDTE<br />

Krakau<br />

Das 19. Jahrhundert hat in Osteuropa<br />

eine Reihe hervorragender Künstler hervorgebracht,<br />

unter anderem Mauricy<br />

Gottlieb, der viel zu jung verstarb.<br />

Von Esther Graf<br />

ls eines von elf Kindern wurde Mauricy<br />

Gottlieb 1856 in Drohobytsch<br />

in Galizien geboren. Mit nur 15<br />

Jahren begann er ein Studium<br />

der Malerei an der Akademie<br />

der bildenden Künste in Wien<br />

und ging anschließend nach Krakau, wo er<br />

Schüler von Jan Matejko wurde. Ein antisemitischer<br />

Vorfall mit seinen Kommilitonen<br />

trieb ihn allerdings nach nicht einmal einem<br />

Jahr nach Wien zurück. 1875 setzte er<br />

sein Studium in München fort und wandte<br />

sich erstmalig literarischen Themen zu. Als<br />

Motiv dienten ihm die Hauptfiguren Shylock<br />

und dessen Tochter Jessica aus Shakespeares<br />

Kaufmann von Venedig, nachdem er das Stück<br />

im Theater gesehen hatte. Gottlieb stellt Shylock<br />

als frommen, liebenden Vater dar, an den<br />

sich seine Tochter vertrauensvoll schmiegt.<br />

Ihr Blick ist jedoch den Bildbetrachter:innen<br />

zugewandt. Als Vorbild<br />

für die Darstellung<br />

Jessicas diente<br />

eine junge Frau namens<br />

Laura Rosenfeld,<br />

in die der Maler<br />

verliebt war und die<br />

er zu heiraten hoffte.<br />

Sie erwiderte seine<br />

Gefühle jedoch nicht und heiratete einen anderen.<br />

Mauricy Gottlieb war daraufhin dermaßen<br />

verzweifelt, dass er sich der Kälte aussetzte<br />

und mit nur 23 Jahren an den Folgen<br />

einer Unterkühlung starb.<br />

Trotz seiner kurzen Schaffensperiode hinterließ<br />

er um die 300 Bilder, von denen allerdings<br />

ein Teil unvollendet blieb. Das Ausnahmetalent<br />

Mauricy Gottlieb schuf eine<br />

Reihe jüdischer Historienbilder, die weltweit<br />

Beachtung fanden.<br />

Shylock als<br />

frommer, liebender<br />

Vater.<br />

Das Bild zählt zu<br />

NS-Raubgut aus<br />

Polen, sein Verbleib<br />

ist bis heute<br />

unbekannt.<br />

KRAKAU<br />

Nach einer ersten jüdischen Ansiedlung im 13. Jahrhundert flohen nach dem<br />

Pestpogrom 1348 viele Juden aus Mitteleuropa nach Krakau. Mit Errichtung einer<br />

Jeschiwa 1496 avancierte die Stadt zu einem geistigen jüdischen Zentrum, dessen<br />

bekannteste Autorität Moses Isserles war. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde<br />

Krakau zum Zentrum der zionistischen Bewegung und zählte 1939 130 Synagogen.<br />

Die meisten Einwohner des 1941 errichteten Ghettos wurden ermordet. Heute<br />

leben nur mehr um die 500 Juden hier.<br />

© Poeticbent, 2013, Commons Wikimedia<br />

50 wına |<strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


URBAN LEGENDS<br />

Wenden wir uns lieber<br />

der Zukunft zu<br />

Auf Reisen verläuft nicht immer alles wie geplant.<br />

Das muss aber nicht immer negativ sein.<br />

er zweite Pandemie-Sommer erlaubte ein entspannteres<br />

Reisen als der erste. So konnte ich<br />

mit meiner Tochter diesen August wieder nach<br />

Venedig – unser beider Sehnsuchtsort – reisen.<br />

Mehrmals waren wir in den vergangenen Jahren<br />

dabei bereits zu Besuch im Jüdischen Museum. Heuer<br />

Von Alexia Weiss<br />

hatten wir uns allerdings auch einen<br />

Besuch der Synagogen vorgenommen.<br />

Manches Mal sollen Dinge aber nicht sein. Das Jüdische<br />

Museum ist derzeit in einem Ausweichquartier untergebracht.<br />

Die Anzahl der Führungen ist gegenüber früheren<br />

Jahren offenbar beschränkt, und so hieß es, als wir an<br />

einem Donnerstagmittag ankamen: Heute gibt es leider<br />

keine Synagogentour mehr, bitte morgen wiederkommen.<br />

Eine Reservierung für den folgenden Tag war allerdings<br />

nicht möglich, man solle es doch einfach wieder probieren,<br />

hieß es. Eine mehr als unbefriedigende Auskunft.<br />

Wir ließen uns aber nicht verdrießen, ich kaufte mal<br />

wieder in einem der Judaika-Shops einen netten Magen-<br />

David-Kettenanhänger – „und den wirst du wieder nicht<br />

tragen, weil du nie Ketten trägst“, sagte meine Tochter ganz<br />

richtig, aber ich weiß nicht warum, in Venedig ist die Anziehungskraft<br />

solcher Schmuckstücke immer kraftvoll –, und<br />

dann aßen wir im Gam Gam zu Mittag. Die Speiseauswahl<br />

meiner Tochter führte uns von Pessach (Vorspeise: Matzeknödelsuppe)<br />

bis zu Chanukka (Hauptspeise: Latkes mit<br />

Apfelmus), ich machte einen kulinarischen Ausflug nach<br />

Israel (Hummus mit Champignons). Am Ende beschlossen<br />

wir, am nächsten Tag nicht mehr ins Ghetto zurückzukehren,<br />

sondern stattdessen die diesjährige Architektur-<br />

Biennale zu besuchen.<br />

Verhandelt wird dort heuer die Frage „How will we live<br />

together?“. Statt wieder einmal in die Vergangenheit einzutauchen,<br />

wandten wir uns also der Zukunft zu. Wie funktioniert<br />

der Wasserkreislauf in Städten (dänischer Pavillon)?<br />

Wie ordnet der Zugang zum Internet Teilhabe neu (österreichischer<br />

Pavillon)? Wie sieht eine moderne Landwirtschaft<br />

aus (israelischer Pavillon)?<br />

Da schwingen viele ethische und moralische Fragen mit.<br />

Da geht es um den Umgang des Menschen mit dem Planeten<br />

Erde und seinen Ressourcen, da geht es aber eben<br />

auch ganz stark um den Umgang der Menschen mit anderen<br />

Menschen, die Verteilung zwischen Nord und Süd – und<br />

omnipräsent ist das Thema Klimawandel.<br />

Und all das sind tatsächlich Fragen, auf die rasch Antworten<br />

gefunden werden müssen, sonst werden wir als<br />

Menschheit zwar eine Vergangenheit, aber keine Zukunft<br />

mehr haben. Und ja, manchmal würde ich mir wünschen,<br />

dass sich auch die Religionen mehr mit den Themen Erderwärmung,<br />

Umweltschutz, Ressourcenverteilung lautstark<br />

und hörbar auseinandersetzen. Das muss in den nächsten<br />

Jahren die eine beherrschende Aufgabe werden, der sich<br />

global alle widmen – Parteien und Regierungen, Schulen<br />

Die Frage „How will we live together?“<br />

darf nicht mehr nur an<br />

kulturelitären Orten wie einer Architektur-Biennale<br />

gestellt werden.<br />

und Universitäten, Wirtschaft, Landwirtschaft und Industrie<br />

sowie die Zivilgesellschaft und damit jeder Einzelne.<br />

Viel zu lange wurde bereits der „Fünf vor Zwölf“-Slogan<br />

bemüht. Jahr für Jahr sterben weitere Tierarten aus, leiden<br />

Menschen unter der zunehmenden Hitze, mehren sich die<br />

Naturkatastrophen. Die Frage „How will we live together?“<br />

darf nicht mehr nur an kulturelitären Orten wie einer Architektur-Biennale<br />

gestellt werden. Und die Antworten darauf<br />

müssen rasch mehr als Ideen und Debattenbeiträge<br />

sein. Globales gemeinsames Handeln ist gefragt.<br />

Unser Mittagessen im Gastgarten des Gam Gam sollte<br />

übrigens ein etwas nasses werden. Denn kaum fuhr ein<br />

Boot vorbei, schwappte Wasser auf den Gehsteig und damit<br />

auf unsere Schuhe, wir stellten die Füße schließlich auf<br />

die Beine des Tisches. Seit Jahren ist Venedig vom steigenden<br />

Meeresspiegel bedroht. Die Vergänglichkeit der Vergangenheit<br />

ist hier so plakativ und so stark greifbar wie<br />

kaum an einem anderen Ort. Und trotzdem hoffe ich, mir<br />

eines Tages wieder die alten Synagogen im Ghetto ansehen<br />

zu können.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

51


Drehbuchreife Familiensaga<br />

Von Aufstieg<br />

und Abstieg<br />

Mitglieder der einst in Hohenems ansässigen Familie Brunner<br />

haben dem Jüdischen Museum Hohenems Familienporträts,<br />

Fotos und jede Menge Dokumente und Objekte überlassen. Kurator<br />

Hannes Sulzenbacher hob den Schatz und goss die Geschichte und<br />

Geschichten der Brunners nun auch in Buchform. Heute leben die<br />

Familienmitglieder in aller Welt verstreut, und der einstige Glanz<br />

und der ganz große Wohlstand sind nicht mehr – aber man<br />

ist stolz auf das, was gewesen ist.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Hannes Sulzenbacher:<br />

Die Familie Brunner.<br />

Eine europäischjüdische<br />

Geschichte<br />

Hohenems – Triest – Wien.<br />

Bucher <strong>2021</strong>,<br />

240 S., € 19,95<br />

Man könnte auch sagen: Obwohl<br />

jede Familiengeschichte<br />

einzigartig ist, ist auch die der<br />

Brunners typisch für die einer jüdischen<br />

Familie. Die europäische Geschichte<br />

schrieb sich durch Brüche durch Verfolgung,<br />

Kriege und zunehmenden Nationalismus<br />

in das Leben der einzelnen Familienmitglieder<br />

ein. Andererseits waren die<br />

Brunners eben auch Europäer – die Familie<br />

lebte auf mehrere Länder verstreut<br />

und war dennoch immer verbunden. Eine<br />

europäisch-jüdische Geschichte. Hohenems –<br />

Triest – Wien wählte so Sulzenbacher auch<br />

als Untertitel für seinen Band Die Familie<br />

Brunner.<br />

Je mehr Freiheiten es in Bezug auf berufliche<br />

Möglichkeiten durch die Herrschenden<br />

– vor allem seitens der Habsburger<br />

– gab, desto größer wurde der<br />

Handlungsspielraum, desto wirtschaftlich<br />

erfolgreicher wurden die Brunners.<br />

Die Ahnen verdienten in Hohenems – beziehungsweise<br />

im nicht weit entfernten<br />

Sulz, als in Hohenems Juden und Jüdinnen<br />

wieder einmal nicht erwünscht waren<br />

– vorerst als Fleischhauer und Viehhändler<br />

den Lebensunterhalt, später<br />

waren sie im Handel mit Waren verschiedenster<br />

Art, im Bankenbereich, aber auch<br />

– vor allem in Italien – in der dann größer<br />

gedachten Landwirtschaft tätig. Hohenems<br />

blieb zwar Heimat, lange war die<br />

Anzahl der Familien, die dort leben duften,<br />

jedoch beschränkt – daher heirateten<br />

Töchter und Söhne in andere Orte und<br />

Länder, und zunehmend etablierte sich<br />

dabei ein Familienzweig in Triest.<br />

Sulzenbacher schildert anhand der<br />

erhaltenen Dokumente und verschriftlichten<br />

Erinnerungen<br />

bereits verstorbener<br />

Familienmitglieder,<br />

wie einerseits das Verheiraten<br />

von Töchtern<br />

dazu genutzt wurde,<br />

das Familienimperium<br />

zu stärken, und wie andererseits<br />

die religiöse<br />

Observanz immer<br />

mehr abnahm. Es gab<br />

„Von da an<br />

mussten sie<br />

sich erst daran<br />

gewöhnen,<br />

mehr eine Art<br />

modernes<br />

Netzwerk von<br />

kleinen Familieneinheiten<br />

zu sein, die in<br />

normalen Wohnungen<br />

lebten<br />

[…].“<br />

Ariel Brunner<br />

zwar weiterhin eine starke jüdische Identität,<br />

diese äußerte sich aber vor allem in<br />

der Unterstützung von Projekten für die<br />

jeweilige jüdische Gemeinde.<br />

Der Nationalsozialismus bedeutete für<br />

die Brunners den größten Einschnitt: Es<br />

konnten sich zwar fast alle Familienmitglieder<br />

retten – teils auch durch Kindertransporte<br />

–, nun lebten sie aber in aller<br />

Welt verstreut, manche von ihnen zum<br />

Beispiel in Israel, andere in den USA. Ein<br />

Anwesen in der Toskana wurde 1969 verkauft<br />

und war, wie sich Ariel Brunner erinnert,<br />

„ein wenig wie der letzte Akt des<br />

langen Niedergangs der Familie, der in<br />

diesem riesigen Wirtschafsimperium begann<br />

und dann das furchtbare 20. Jahrhundert<br />

vom Ersten Weltkrieg, dem<br />

Zusammenbruch des Habsburgerreichs<br />

und der Krise<br />

von 1929, den Rassengesetzen<br />

und dem Zweiten Weltkrieg<br />

durchleben musste“.<br />

Relativ zeitgleich starb<br />

auch Ariel Brunners Großvater<br />

Leone, dieser sei so etwas<br />

„wie der letzte physische<br />

Grundpfeiler einer vormodernen<br />

Familie“ gewesen,<br />

in der zu bestimmten Zeiten<br />

dutzende oder hunderte<br />

Menschen zusammenkamen.<br />

„Von da an mussten sie sich<br />

erst daran gewöhnen, mehr<br />

eine Art modernes Netzwerk<br />

von kleinen Familieneinheiten<br />

zu sein, die in normalen<br />

Wohnungen lebten und sich<br />

nur noch zu Hochzeiten und<br />

Beerdigungen und solchen<br />

Anlässen trafen“, so Ariel Brunner.<br />

Es ist eine Familiensaga, die nicht der<br />

Phantasie eines Literaten entspringt,<br />

sondern die das Leben genauso schrieb.<br />

Wenn sich hier jemand fände, der daraus<br />

ein Drehbuch verfasste, wäre das wunderbarer<br />

Filmstoff.<br />

52 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


OKTOBER KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

WANDERAUSSTEL-<br />

BUCHTIPP<br />

mandelbaum.at<br />

KONZERT<br />

16 bis 18 Uhr<br />

Wiener Rathaus, Arkadenhof<br />

Friedrich-Schmidt-Platz 1, 1010 Wien<br />

ikg-wien.at/event<br />

Begleitend zu den diesjährigen Wachau in<br />

Echtzeit-Programmpunkten am jeweiligen<br />

Veranstaltungsort<br />

www.wachauinechtzeit.at<br />

AB 28. OKTOBER <strong>2021</strong><br />

MENSCHEN UND<br />

STIMMUNGEN<br />

Aufatmen nennt die seit vielen Jahren in<br />

Wien lebende russisch-jüdische Fotografin<br />

Jana Enzelberger ihre aktuelle Fotoausstellung,<br />

die im Rahmen von Wachau in<br />

Echtzeit – dem seit einigen Jahren mit großem<br />

Erfolg von Publikumsliebling Ursula<br />

Strauss kuratierten etwas anderen niederösterreichischem<br />

Regionalfestival – an<br />

mehreren Orten in der ganzen Wachau zu<br />

sehen sein wird. Aufatmen, das war auch<br />

das Motto ihrer fotografischen Suche nach<br />

„Menschen und Stimmungen in der Wachau“<br />

der letzten Monate. Eine historische<br />

Kulturlandschaft wie die Wachau erzählt,<br />

auch in Bildern, ganz andere Geschichten<br />

als urbane Orte, denen sich die Fotografin<br />

in vielen ihrer hypnotisierend schönen<br />

Schwarz-weiß-Bildern widmet. Dabei<br />

suchte Enzelberger vor allem nach Gesichtern<br />

und Orten, Menschen und Landschaften,<br />

die davon erzählen, was es heißt,<br />

Luft zu holen, sich Zeit zum Nachdenken<br />

zu nehmen und auch einmal die Perspektive<br />

zu wechseln. Aktueller könnte ihre fotografische<br />

Bestandsaufnahme einer Region<br />

nicht sein.<br />

17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />

ERINNERN UND FEIERN<br />

„Musik entwickelt sich genauso wie sich Menschen<br />

entwickeln.“ (Roman Grinberg)<br />

Unter dem Motto Von Generation zu Generation<br />

stehen alle Konzerte anlässlich der Feierlichkeiten<br />

zu 1.700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen<br />

Raum, die am Sonntag, dem 17. <strong>Oktober</strong>, zwei<br />

Stunden lang im Arkadenhof des Wiener Rathauses<br />

erklingen werden.<br />

Seit der Spätantike sind jüdische Gemeinden nachweislich<br />

Bestandteil der europäischen Kultur, seit<br />

1.700 Jahren gibt es Dokumente für jüdisches Leben<br />

im deutschsprachigen Raum. Das ist, so die<br />

Veranstalter*innen, Grund genug, ein gemeinsames,<br />

Grenzen und Genres sprengendes Fest zu<br />

veranstalten und ein Programm zu präsentieren,<br />

das nicht nur die große zeitliche, sondern auch die<br />

eminente musikalische Bandbreite jüdischer Kultur<br />

abbildet.<br />

Roman Grinberg, Wiener Jüdischer Chor, Yiddish<br />

Swing Orchestra, Oberkantor Shmuel Barzilai,<br />

Münchner Synagogen Chor Schma Kaulenu und<br />

Star-Rapper Ben Salomo: Das Programm für dieses<br />

Fest kann sich sehen lassen und lässt kaum einen<br />

Wunsch offen. Die Werke reichen dabei von vertonten<br />

Gebeten über jahrhunderte altes Liedgut und<br />

die jiddische Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts<br />

bis zum Rap unserer Tage. Veranstaltet wird<br />

der von Roman Grinberg künstlerisch verantwortete<br />

gemeinsame Nachmittag des Erinnerns und<br />

Feierns von der IKG Wien und der IKG München, der<br />

deutschen Botschaft in Wien und der Stadt Wien.<br />

Herzlich willkommen!<br />

NEU IM HANDEL<br />

EIN UNGEWÖHNLICHES<br />

LEBEN<br />

Uli Jürgens, hervorragende Journalistin<br />

und bemerkenswerte Historikerin, ist<br />

immer wieder auch mit ihren wunderbaren<br />

Beitragen gern gesehene Autorin<br />

des WINA: Ihre Bücher bestechen jedes<br />

für sich und jedes Mal mit ebenso akribischen<br />

Recherchen wie überraschenden<br />

Entdeckungen, so auch ihr neuer<br />

Band Der Fadenzieher, das im Mandelbaum<br />

Verlag erschienen ist und auf 180<br />

Seiten „das ungewöhnli-che Leben des<br />

Arthur Gottlein oder: Wie Raimund und<br />

Nestroy nach Shanghai kamen“ nachzeichnet.<br />

Gottlein war, beschreibt die<br />

Autorin, weder ein Publikumsliebling<br />

von Bühne oder Kino noch ein bekannter<br />

Regisseur. Und dennoch zählt er zu<br />

den wichtigsten Protagonisten der österreichischen<br />

Filmland-schaft vor dem<br />

„Anschluss“. Als Jude emigriert Gottlein<br />

auf vielen Umwegen nach Shanghai,<br />

wo es im gelingt, österreichische Theaterkunst<br />

auf ungewöhnliche Weise am<br />

Leben zu erhalten und zu vermit-teln.<br />

Nach seiner Rückkehr aus dem Exil ist er<br />

sowohl gewerkschaftlich wie humanitär<br />

bis zuletzt um-trieb und unersetzlich.<br />

Eine bestechendes und bewegendes<br />

Porträt einer zu Unrecht vergessenen<br />

viel-schichtigen österreichischen Persönlichkeit.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

53


OKTOBER KALENDER<br />

THEATER<br />

Kasematen, 2700 Wiener Neustadt<br />

tourismus.wiener-neustadt.at/<br />

die-kasematten<br />

BIS 17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />

NARREN, SCHURKEN,<br />

ENGEL<br />

Die in Wien lebende Regisseurin, Autorin<br />

und Intendantin Anna Maria Krassnigg<br />

zählt seit rund zwei Jahrzehnten zu den<br />

stets experimentierfreudigen und mit<br />

neuen Formaten überraschenden klugen<br />

Theatermacherinnen dieser Stadt. Immer<br />

wieder kreiert die u. a. am Reinhardt Seminar<br />

im Regie-Fach Lehrende neue<br />

theatrale Modelle an neuen Orten und<br />

mit neuen zeitgenössischen Stimmen –<br />

nach dem Salon 5 und der Thalhof wortwiege<br />

ist sie nun in Wiener Neustadt angekommen<br />

und präsentiert hier mit ihrer<br />

Theatercompagnie wortwiege erneut<br />

feines Literarisches in aktuellen dramatischen<br />

Gewändern. Am neuen Spielort,<br />

den faszinierenden Räumen der historischen<br />

Wiener Neustädter Kasematen,<br />

stellt die zweite Spielzeit und zugleich<br />

zweite Ausgabe ihres Bloody Crown-Zyklus<br />

zwei Stücke in den Mittelpunkt, die<br />

unterschiedlicher nicht sein könnten –<br />

und doch ein gemeinsames Thema umkreisen:<br />

Macht. Machtmissbrauch und<br />

Machtspiele, Machtverrat und Machtverlust:<br />

Büchners Dantons Tod und Nussschale<br />

nach Ian McEwans Bestseller, beide<br />

in eigenen Regiefassungen von Anna Maria<br />

Krassnigg und Jérôme Junod.<br />

AUSSTELLUNG<br />

Jüdisches Museum Wien,<br />

Museum Dorotheergasse,<br />

Dorotheergasse 11, 1010 Wien<br />

jmw.at<br />

AB 20. OKTOBER <strong>2021</strong><br />

BEGEGNUNGEN MIT WIEN<br />

Unter dem Titel Rendezvous in Wien (Rendez-<br />

Vous à Vienne) präsentiert der in Paris geborene<br />

Fotograf Ouriel Morgensztern im Jüdischen<br />

Museum aktuelle Arbeiten zum reichen<br />

und überaus diversen jüdischen Leben in Wien<br />

einst und heute.<br />

Ouriel Morgensztern wurde in Paris geboren<br />

und wuchs in einem kleinen südfranzösischen<br />

Dorf auf. Dann zog es ihn nach New York<br />

ebenso wie in einen israelischen Kibbuz, ehe es<br />

den Weltbürger nach Wien verschlug und die<br />

Stadt zu seinem persönlichen Lebensmittelpunkt<br />

wurde. Er studierte Fotografie und spezialisierte<br />

sich mit den Jahren auf Porträts, Reportagen<br />

und Architekturfotografie; daneben<br />

entwickelt er eigene künstlerische Projekte.<br />

Mit seiner sehr persönlichen Fotoreihe über<br />

Wien, die Stadt, in die der Künstler vor bald<br />

20 Jahren zog, präsentiert Morgensztern einen<br />

ebenso empathischen wie genauen Einblick in<br />

die vielfältige jüdische Welt, die er hier kennen<br />

gelernt hat und täglich neu kennenlernt. Und<br />

ergänzt seine ästhetische Hommage mit weiteren<br />

vielschichtig-vielgeschichtigen Bildern über<br />

viele seiner bisherigen Lebensstationen, ob<br />

New York oder Tel Aviv, ein Dorf in Ruanda oder<br />

auch das Dorf, in dem er selbst aufwuchs. Berührend<br />

ehrlich.<br />

NEUE MUSIK<br />

19 Uhr<br />

Votivkirche<br />

wienmodern.at<br />

2. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />

STARKES SOLO<br />

Nurit Stark, die 1979 in Tel Aviv geborene<br />

herausragende zeitgenössische<br />

Violinistin, ist <strong>2021</strong> bei Wien Modern,<br />

dem Festival für neue Musik, zu Gast.<br />

Stark studierte u. a. in Israel und New<br />

York, in Köln und zuletzt in Berlin, wo<br />

sie auch heute lebt. Sie spielt und gastiert<br />

mit den wichtigsten Orchestern<br />

und Ensembles weltweit und an den<br />

größten Häusern. Sie interpretiert eine<br />

ganze Bandbreite an zeitgenössischen<br />

Komponist*innen, von denen ihr zahlreiche<br />

Werke geschrieben und gewidmet<br />

haben. Für ihren Soloabende in Wien<br />

hat sich Stark selbst das Programm zusammengestellt<br />

und spielt drei Werke,<br />

die die enorme Bandbreite neuer Musik<br />

der letzten 20 Jahre gekonnt widerspiegeln:<br />

dirty white fields der irischen Komponistin<br />

Jennifer Walshe aus dem Jahr<br />

2001, Fanfarella der herausragenden<br />

südkoreanischen Komponistin Younghi<br />

Pagh-Paan aus 2018 und das 2019<br />

entstandene Violin-Solo über „kaum einen<br />

typischeren Akkord als den Dominantseptakkord“<br />

Adventures of the Dominant<br />

Seventh Chord, das der große<br />

ungarische Komponist Péter Eötvös<br />

Nuri Stark persönlich gewidmet hat. Das<br />

ganze an unterschiedlichen Stationen<br />

und bei freiem Eintritt!<br />

© Ouriel Morgensztern; Andrea Klem/wortwiege: Nekbakht Stiftung; Ludwig-Drahosch; Uwe Neumann<br />

54 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Von Angela Heide<br />

FILM<br />

18:30 Uhr, Votivkino,<br />

Währinger Straße 12, 1090 Wien<br />

jmw.at<br />

ERZÄHLTHEATER<br />

19:30 Uhr<br />

Ateliertheater, Burggasse 71, 1070 Wien<br />

ateliertheater.wien<br />

8. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />

THERESIENKLANG<br />

Frauenpower im Judentum – unter diesem<br />

Titel begrüßt von 14. November bis 9. Dezember<br />

die Israelitische Kultusgemeinde<br />

Wien zum diesjährigen Festival der jüdischen<br />

Kultur. Bereits vor dem offiziellen<br />

Festivalstart gibt es am 8. November im<br />

Votivkino ein Sonderprogramm, bei dem<br />

Michael Pfeifenbergers <strong>2021</strong> fertiggestellte<br />

Dokumentation Theresienklang über die<br />

„Überlebensgeschichte von Helga Pollak-<br />

Kinsky“ präsentiert wird.<br />

Helga Pollak-Kinsky starb am 14. November<br />

2020. Geboren wurde sie am 28. Mai 1930<br />

in Wien als Tochter eines bekannten Kaffeehausbesitzers<br />

in Mariahilf. 1938 konnte<br />

das Kind noch zu Verwandten gebracht<br />

werden, fünf Jahre später sollte Helga<br />

Pollaks Martyrium beginnen – Theresienstadt,<br />

Auschwitz, Oederan, Theresienstadt<br />

… das Mädchen Helga überlebte. Und sie<br />

erzählte bis zu ihrem Tod unzählige Male<br />

über das Erlebte und Erlittene, beteiligte<br />

sich an Erinnerungsprojekten, an Filmprojekten,<br />

organisierte Treffen Überlebender<br />

und zählte u. a. zu den „letzten Zeugen“,<br />

denen Der Spiegel 2015 eine Titelgeschichte<br />

über das Überleben in Auschwitz widmete.<br />

Theresienklang ist auch für Regisseur<br />

Michael Pfeifenberger persönlich ein<br />

„aufwühlendes filmisches Zeitdokument“,<br />

in dem er die Kindheit und Jugend seiner<br />

Protagonistin ebenso nachzeichnet wie<br />

deren lebenslange mutige Auseinandersetzung<br />

mit den erlittenen Traumata.<br />

FILMFESTIVAL<br />

Metro Kinokulturhaus,<br />

Village Cinemas Wien Mitte,<br />

Stadtkino (Eröffnung)<br />

jfw.at<br />

3. BIS 17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />

JÜDISCHES FILMFESTIVAL<br />

Ein Wiener Filmjahr ohne Jüdisches Filmfestival ist<br />

kaum vorstellbar – und noch weniger wünschenswert.<br />

Umso schöner ist es, dass diesen Herbst, zumindest<br />

während wir dieses Heft schreiben, eine<br />

neuerliche Ausgabe des dichten und immer wieder<br />

überraschenden Festivals vor der Tür steht. Eröffnet<br />

wird daher auch gleich mit einem Film, der<br />

Alles außer gewöhnlich (Hors normes, F 2019, Regie:<br />

Olivier Nakache, Éric Toledano) heißt und also<br />

wunderbar in die darauffolgenden beiden dichten<br />

Wochen einführt. Es folgen Klassiker wie E. W.<br />

Emos Wien 1910 (D 1943), Helmut Qualtingers Der<br />

Herr Karl (A 1961, Regie: Erich Neuberg) und Die<br />

Abenteuer Des Rabbi Jacob (F 1973) mit Louis de<br />

Funès in einer seiner wundbarsten Rollen, internationale<br />

Dokumentarfilme, darunter Marc Boettchers<br />

Belina – Music for Peace über die Shoah-<br />

Überlebende und spätere Folksängerin Lea-Nina<br />

Rodzynek (D <strong>2021</strong>) und Tomer Heymanns Dokumentarfilm<br />

Mr. Gaga über Ohad Naharin und dessen<br />

bahnbrechende Arbeit mit seiner Batsheva<br />

Dance Company (IL 2015), sowie eine feine Anzahl<br />

an Filmen der letzten Monate – von Brandon<br />

Trosts US-Komödie An American Pickler (2020)<br />

über Steven Oritts Schoah-Geschichte My name<br />

is Sara (USA/D/ PL 2020) bis hin zu Mano Khalils<br />

<strong>2021</strong> fertiggestelltem sensiblen Coming-ofage-Film<br />

Nachbarin und Pils ta pie upes des lettischen<br />

Theater- und Opernregisseurs Viesturs<br />

Kairišs. Rund 45 Filme, die zu zwei dichten und<br />

anregenden Wiener jüdischen Filmwochen einladen.<br />

Die Eröffnung findet mit einer Reihe prominenter<br />

Gäste im Stadtkino statt, gespielt wird von<br />

da an im Metro Kinokulturhaus und in den Village<br />

Cinemas Wien Mitte.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

9. & 10. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />

DIE SUFIPRINZESSIN<br />

Noor-un-Nisa Inayat Khan wurde am 1. Jänner<br />

1944 in Moskau geboren. Die älteste<br />

Tochter eines indischen Sufi-Predigers und<br />

einer Amerikanerin wuchs mehrsprachig<br />

in London und Paris auf, wurde Krankenschwester,<br />

schrieb sufistische Märchen und<br />

Gedichte, komponierte und spielte selbst<br />

Harfe, Klavier und Vina – und trat wenige<br />

Monate nach Kriegsbeginn der Women’s Auxiliary<br />

Air Force bei, wurde Agentin der britischen<br />

nachrichtendienstlichen Spezialeinheit<br />

Special Operations Executive (SOE) und<br />

Unterstützerin der Résistance, innerhalb derer<br />

sie sich ganz ihrem überkonfessionellen<br />

„universellen Sufismus“ entsprechend<br />

für zahlreiche Jüdinnen und Juden in Frankreich<br />

einsetzte … Am 13. <strong>Oktober</strong> 1943 wurde<br />

die mit dem jüdischen Pianisten Elie Goldenberg<br />

verlobte mutige Widerstandskämpferin<br />

von der Gestapo verhaftet, wurde gefoltert<br />

und monatelang eingesperrt, ehe sie im<br />

September 1944 mit anderen SOE-Mitarbeiterinnen<br />

nach Dachau verbracht und am<br />

13. September 1944 kniend durch einen Genickschuss<br />

ermordet und danach verbrannt<br />

wurde. Die Schauspielerin und Erzählerin Birgit<br />

Lehner widmet sich in ihrer aktuellen Produktion<br />

der Geschichte dieser mutigen Frau,<br />

die bis heute in Frankreich als „Madeleine<br />

der Resistance“ geehrt wird, einer „Dichterin<br />

und Musikerin, die ihr Leben im Kampf gegen<br />

den Naziterror geopfert hat“. Begleitet<br />

wird Lehners berührende Erzählung mit Musik<br />

von Angela Stummer-Stempkowski an<br />

der Harfe und Rina Killmeyer an der Bansuri.<br />

wına-magazin.at<br />

55


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich einen filmreifen Moment hatte, war, …<br />

... vor einigen Wochen in der Straßenbahn, als eine etwas<br />

verwirrt wirkende Frau sich weigerte, eine Maske aufzusetzen,<br />

und darüber lautstark philosophiert hat, dass wir<br />

alle Habsburger sind. Andere Fahrgäste haben die Dame<br />

(in urwienerischem Dialekt) gebeten, Sie möge bitte eine<br />

Maske aufsetzen oder einfach aussteigen. Nach einigen<br />

Minuten Diskussion hat sich ein Sprechchor gebildet,<br />

der „Aussteigen! Aussteigen!“ rief. Das war an Skurrilität<br />

kaum zu überbieten. In dem Moment habe ich mich gefragt:<br />

„Wo ist die versteckte Kamera?“<br />

Das letzte Mal, dass ich etwas mit Marko Feingold<br />

erlebt habe, das unbedingt noch eine Fortsetzung<br />

gebraucht hätte, war …<br />

Jedes Treffen mit Marko war ein Erlebnis, das ich gerne<br />

wiederholt hätte. Er war über zehn Jahre Zeitzeuge bei<br />

den MoRaH-Reisen, und jede Reise mit ihm war anders,<br />

aber immer inspirierend und prägend. Als ich die Nachricht<br />

von seinem Tod erhalten habe, war ich gerade bei<br />

Starbucks, um die Zeit zwischen zwei Terminen zu überbrücken.<br />

Ich bin keine Person, die in der Öffentlichkeit so<br />

schnell zu weinen beginnt, aber in dem Moment, in dem<br />

ich über den Tod eines der für mich prägendsten Menschen<br />

erfahren habe, liefen die Tränen mitten im Café.<br />

Jedes Gespräch mit Marko hätte eine Fortsetzung gebraucht.<br />

Sein Charme, sein Humor, seine Liebe zum<br />

Leben waren große Inspirationen, an die ich immer<br />

gerne zurückdenken werde.<br />

Das letzte Mal, dass ich glücklich aus dem Kino kam,<br />

war …<br />

Vielleicht nicht unbedingt glücklich, aber sehr berührt<br />

und beeindruckt hat mich Fuchs im Bau. Der Film zeigt,<br />

wie wichtig Verständnis, Geduld und ein einfühlsamer<br />

Umgang mit Jugendlichen sind, dass man neue Wege gehen<br />

kann und für seine Ideale kämpfen muss.<br />

Das letzte Mal, dass ich eine brillante Idee für einen<br />

tollen Film gehabt habe, war …<br />

Vorgestern, als ich mit meinen Kollegen ein Meeting<br />

hatte. Da sprudelt es immer vor Ideen und Euphorie.<br />

Aktuell arbeiten wir an Kurzfilmprojekten mit Jugendlichen<br />

zum Thema Zivilcourage. Das ist auch Teil des<br />

MoRaH-Programms.<br />

Das letzte Mal, dass ich gerne etwas Zeit zurückgespult<br />

hätte, war …<br />

Immer an meinem Geburtstag, wenn man realisiert,<br />

dass man wieder ein Jahr älter ist :) Spaß! Ich habe vor<br />

Kurzem mit meiner Schwester darüber geredet, was<br />

man im Leben gerne anders gemacht hätte oder wo<br />

wir gerne die Zeit zurückspulen würden. Fazit: Es ist<br />

gut so, wie es ist, denn ich wäre heute nicht die, die<br />

ich bin, wenn ich nicht gute, nicht ganz so gute, prägende,<br />

lustige und traurige Situationen in meinem Leben<br />

gehabt hätte.<br />

„WO IST DIE<br />

VERSTECKTE<br />

KAMERA?“<br />

Produzentin Iris Singer berichtet über Sprechchöre<br />

in der Bahn, einen jährlichen Geburtstagswunsch<br />

und den inspirierenden Marko Feingold.<br />

Iris Singer hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft<br />

studiert und arbeitet seit 2008 im Medien- und<br />

Eventbereich. Sie ist Geschäftsführerin und Produzentin<br />

bei Licht und Linsen Film und Medienproduktion, freie<br />

Moderatorin und Sprecherin. Als stellvertretende Obfrau<br />

von MoRaH hat die gebürtige Wienerin über Jahre<br />

gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden Marko<br />

Feingold an der Gedenkveranstaltung March of the Living<br />

im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau teilgenommen.<br />

Für den im <strong>Oktober</strong> anlaufenden Film Marko Feingold –<br />

ein jüdisches Leben betreut sie die Zielgruppenarbeit.<br />

stadtkinowien.at, morah.at<br />

© Privat<br />

56 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>


Filmreife Auszeit<br />

Testen Sie jetzt „Die Presse“<br />

drei Wochen kostenlos und<br />

gewinnen Sie mit etwas Glück<br />

einen außergewöhnlichen<br />

Kurzurlaub für zwei Personen<br />

im „Romantik Hotel IM W EISSEN<br />

RÖSSL am Wolfgangsee“.<br />

DiePresse.com/wolfgangsee<br />

Lesen<br />

und<br />

gewinnen


FESTIVAL DER JÜDISCHEN KULTUR<br />

14. NOV. BIS 9. DEZ. <strong>2021</strong><br />

FRAUENPOWER<br />

IM JUDENTUM<br />

www.ikg-wien.at/festival<br />

PROGRAMM: 14.11. Eröffnungskonzert „See You in Hollywood“ – Anna Rothschild Ensemble Wien mit Ethel<br />

Merhaut und Orsolya Korcsolán • 16.11. Filmvorführung „Hannah Arendt“ • 18.11. Lesung „Money Honey“ – Larissa<br />

Kravitz • 21.11. Filmvorführung „Ask Dr. Ruth“ • 24.11. Ausstellung „Schirat Dvora“ – Dvora Barzilai • 25.11.<br />

Filmvorführung „Geniale Göttin – Die Geschichte von Hedy Lamarr“ • 28.11. Lesung und Konzert „Charlotte<br />

Salomon - Therese Hämer und Julie Sassoon Quartet • 02.12. Konzert „Heute Abend: „So wie musikalisch, aber<br />

leakalisch!“ - Lea Kalisch und Bela Koreny • 07.12. Podiumsdiskussion „G´ttes weibliche Seite“ – Anita Pollak,<br />

Felicitas Heimann-Jelinek, Bea Wyler, Laura Cazés, Dalia Grinfeld • 09.12. Filmvorführung „Truus´ Children“<br />

Sonderprogramm: 08.11. Filmvorführung „Theresienklang“ -<br />

Dokumentation im Andenken an Helga Pollak-Kinsky

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!