wina Oktober 2021
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<strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />
Cheshwan 5782<br />
#10, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
GRAUEN NEU<br />
EINGEORDNET<br />
Vorbei die Opferthese –<br />
die neue österreichische Länderausstellung<br />
in der KZ-Gedenkstätte<br />
Auschwitz-Birkenau<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078 039078W /<br />
JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
10<br />
9 120001 135738<br />
VERLORENE &<br />
VERGESSENE GENERATION<br />
Kunstwerke vertriebener und ermordeter<br />
jüdischer Künstler:innen in Salzburg<br />
WIE WEIBLICH IST<br />
DER HERR<br />
Über G’ttes weibliche Seite spricht<br />
Kuratorin FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />
FREUD UND EIN<br />
AMERIKANER IN WIEN<br />
Autor ANDREW NAGORSKI über<br />
Sigmund Freuds Flucht nach England<br />
TANZ DER<br />
EINSAMKEITEN<br />
Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie –<br />
Gespräch mit SUSANNE F. WOLF
INFORMATION DES BMSGPK<br />
sozialministerium.at<br />
Ich bin geschützt –<br />
ich bin geimpft!<br />
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Impfungen retten Leben! Schutzimpfungen gehören zu den wichtigsten und<br />
wirksamsten vorbeugenden Maßnahmen gegen viele ansteckende Erkrankungen.<br />
Durch das kostenfreie Kinderimpfprogramm können alle in Österreich lebenden<br />
Kinder bis zum vollendeten 15. Lebensjahr gegen gefährliche Krankheiten geschützt<br />
werden.<br />
Über alle empfohlenen Impfungen informieren Sie sich bei Ihrer Ärztin oder Ihrem<br />
Arzt, in Ihrer Apotheke oder unter sozialministerium.at/impfen.
„Ich glaube nicht, dass unsere Spezies<br />
überleben kann, wenn wir das<br />
nicht in Ordnung bringen.“<br />
Editorial<br />
Und die Welt stand still. Für ganze sechs Stunden. Natürlich<br />
nicht die ganze Welt. Nur die virtuelle. Und selbstverständlich<br />
auch nicht die gesamte virtuelle, nur ihre für<br />
uns vermeintlich wichtigen Gegenden – die Social Media. Und die<br />
reale Welt drückte und drückte und drückte herum und nichts hat<br />
sich getan. Klang ein wenig wie: „Hilfe! Ich habe das Internet gelöscht!“<br />
Sechs Stunden Leere später entschuldigte sich Mark Zuckerberg<br />
über seinen Twitter(!)-Account: „Sorry for the disruption today<br />
– I know how much you rely on our services to stay connected<br />
with the people you care about.“ Um mit den Menschen, die Ihnen<br />
wichtig sind, in Verbindung zu bleiben!? Ein Algorithmen-<br />
Netzwerk, das mich mit jenen in Verbindung hält, die mir wichtig<br />
sind?<br />
Nur einige Tage zuvor sah ich mir die „reißerische“ Doku Social<br />
Dilemma auf Netflix an und war dabei, alle Geräte, die sich fürs<br />
Surfen eignen, aus unserer Wohnung, aus unserer Nähe, aus unserem<br />
Leben zu verbannen, mir Kuverts, Papier und<br />
Briefmarken zu besorgen und unsere kleine Höhle wieder<br />
ganz nach old school zu stylen.<br />
„Ich glaube nicht, dass unsere Spezies überleben<br />
kann, wenn wir das nicht in Ordnung bringen. Wir können<br />
keine Gesellschaft haben, in der, wenn zwei Menschen<br />
miteinander kommunizieren wollen, dies nur<br />
möglich ist, wenn es von einer dritten Person finanziert<br />
wird, die sie manipulieren will“, sagt Jaron Lanier, einst<br />
mächtiger Pionier bei der Erschaffung virtueller Realitäten.<br />
Heute ist der ehemalige Schulabbrecher, Universitätsdozent,<br />
Komponist und Sohn von Holocaust-Überlebenden<br />
einer der wichtigsten und klügsten Kritiker<br />
der sozialen Medien und unter anderem Autor von 10<br />
Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen solltest. Er<br />
behauptet, dass es natürlich nicht darum geht, ob wir die Werbeeinschaltungen,<br />
die uns über unsere Accounts angeboten werden,<br />
auch nützen oder nicht. Vielmehr geht es um jene Manipulation,<br />
die unser Verhalten unmerkbar langsam, aber stetig ein<br />
wenig verändert. Große Wahlen, Katastrophen, gesellschaftliche<br />
Großereignisse werden dabei zu unendlich großen Versuchslabors<br />
der Programmierer und Mathematiker bei Google, Facebook, Instagram<br />
& Co. und wir darin zu freiwilligen Versuchstieren. Oder<br />
lesen Sie immer alle Cookie-Bestimmung durch, vertiefen sich<br />
in Nutzungsbedingungen von Suchmaschinen, bevor Sie sich in<br />
den Schlaf surfen, oder überlegen Sie sich ausgeklügelte Passwortkombinationen<br />
für Ihre Accounts? Ich bin eher von der ungeduldigen<br />
Sorte und will Inhalte schnell konsumieren, meine Recherchen<br />
erledigen und mich über die Postings jener amüsieren, oder<br />
ärgern, die mir wichtig sind. Und dabei nicht darüber nachdenken,<br />
warum Facebook während des Ausfalls pro Stunde allein in<br />
den USA etwa 545.000 Dollar an Werbeeinnahmen ausfielen. Und<br />
was das eigentlich wirklich bedeutet. Nämlich, dass das Unternehmen<br />
mit unserer Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation<br />
zum Mächtigen wurde. Dabei wären Nachdenken und Eigensinn<br />
(auch) in diesem Zusammenhang mehr als angebracht.<br />
Das Lesen unserer aktuellen WINA-Ausgabe fordert zwar keine<br />
so komplizierten Überlegungen. Ich hoffe aber dennoch, das es Ihnen<br />
für zumindest sechs stille Stunden ähnlich viel Freude macht<br />
wie uns.<br />
Julia Kaldori<br />
„Die Dinge, die<br />
wir am meisten<br />
brauchen, sind<br />
jene, vor denen<br />
wir uns am meisten<br />
fürchten, wie<br />
Abenteuer, Intimität<br />
und authentische<br />
Kommunikation.<br />
Wir<br />
wenden unsere<br />
Augen ab und<br />
bleiben bei den<br />
bequemen Themen.“<br />
Charles<br />
Eisenstein<br />
© Kunihiko Miura / AP / picturedesk.com<br />
wına-magazin.at<br />
1
S.40<br />
Susanne F. Wolf hat eine sensible und kämpferische<br />
Bearbeitung von Arthur Schnitzlers<br />
Roman Der Weg ins Freie vorgenommen, die nun<br />
zum 90. Todestag des Dichters am Theater in<br />
der Josefstadt aufgeführt wird.<br />
INHALT<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Grauen neu eingeordnet<br />
Österreich hat die Opferthese hinter<br />
sich gelassen. Daher wurde die Länderausstellung<br />
in der KZ-Gedenkstätte<br />
und im Museum Auschwitz-<br />
Birkenau erneuert.<br />
10 Auch das Leid zeigen<br />
Problematische Literatur im Museumsshop<br />
brachte eine Debatte über<br />
die Inhalte des Heeresgeschichtlichen<br />
Museums ins Rollen.<br />
22 Offene Lernorte<br />
Christian H. Stifter und Robert Streibel<br />
erzählen im WINA-Interview über<br />
die Entwicklung der Wiener Volksbildung<br />
in den Jahrzehnten vor dem<br />
Nationalsozialismus.<br />
26 Ein Amerikaner in Wien<br />
Der US-Autor Andrew Nagorski bereitet<br />
ein Buch über Sigmund Freuds<br />
Flucht nach England vor und wer diesem<br />
dabei geholfen hat.<br />
„[...] sie müssten jetzt<br />
den Antisemitismus etwas<br />
einbremsen, weil dann<br />
der jüdische Herr vielleicht<br />
mehr Geld<br />
für die Stadt<br />
Wien springen<br />
lässt.“<br />
Susanne F. Wolf<br />
zitiert Arthur Schnitzler<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
12 Verlorene Generation<br />
Ein Privatmuseum in Salzburg zeigt<br />
vergessene Kunstwerke von 180 in<br />
der NS-Zeit vertriebenen und ermordeten<br />
jüdischen Künstler:innen.<br />
15 Ein jüdisches Leben<br />
Im Alter von weit über 100 Jahren<br />
setzte sich Marko Feingold noch einmal<br />
vor die Kamera. Die beklemmenden<br />
Erinnerungen kommen im <strong>Oktober</strong><br />
in die Kinos.<br />
16 Wenn Steine erzählen<br />
Jeder Stolperstein erzählt ein Leben.<br />
Das europaweite Projekt der Stolpersteine<br />
wird von Daniela Grabe in<br />
Graz verwirklicht.<br />
20 Soldaten und Flaneure<br />
Eli Belovitch gründete Anfang des<br />
letzten Jahrhunderts Belstaff als<br />
Hersteller von wasserfesten Stoffen<br />
für Soldaten.<br />
28 Mit jüdischen Wurzeln<br />
Tony Curtis engagierte sich auf vielfältige<br />
Weise für die Restaurierung jüdischer<br />
Synagogen in Ungarn. Seine<br />
Tochter Jamie Lee Curtis folgt ihm<br />
nun dabei.<br />
30 11 Finger, 15 Gebote<br />
Mel Brooks ist 95. Der amerikanische<br />
Filmemacher steht mit seinem intelligent-brachialen<br />
Humor fest in der Tradition<br />
der Jewish Stand-up Comedy.<br />
„Ich bin so lange nicht<br />
fertig, als es Menschen<br />
gibt, die das,was mir<br />
passiert ist, leugnen.<br />
So lange muss<br />
man diese<br />
Geschichte<br />
erzählen.“<br />
Marko Feingold<br />
S.15<br />
S.34<br />
Sprechstunde<br />
Wir haben Redebedarf: WINA kümmert sich dieses<br />
Monat um das schöne Thema Therapie.<br />
2 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
KULTUR<br />
38 Wie weiblich ist der Herr<br />
Eine Podiumsdiskussion am 7. Dezember<br />
widmet sich dem Thema „G’ttes<br />
weibliche Seite“, das Felicitas Heimann-Jelinek<br />
bereits für zwei große<br />
Ausstellungen aufbereitet hat.<br />
40 Tanz der Einsamkeiten<br />
Das Theater in der Josefstadt bringt<br />
Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins<br />
Freie in der Bearbeitung von Susanne<br />
F. Wolf zum 90. Todestag des Dichters<br />
auf die Bühne.<br />
43 Menschliche Hoffnung<br />
Shira Karmon und Paul Gulda präsentieren<br />
mit The Spirit of Hope eine anspruchsvolle<br />
CD, die am 9. November<br />
im Alten Rathaus vorgestellt wird.<br />
44 Sezierende Analyse<br />
Vor 150 Jahren wurde der große französische<br />
Romancier Marcel Proust geboren.<br />
Seine jüdische Mutter war eine<br />
geborene Weil aus Lothringen.<br />
46 „Nicht das Ende“<br />
Mit Der große Wind der Zeit über hundert<br />
Jahre Geschichte „Erez Israels“<br />
möchte Autor Joshua Sobol sein Opus<br />
Magnum vorlegen.<br />
48 … und seine alten Wurzeln<br />
In Jud, Jahudi oder Zionist – der ausgegrenzte<br />
Feind spürt Raimund Fastenbauer<br />
dem Phänomen des neuen Antisemitismus<br />
nach.<br />
52 Von Aufstieg und Abstieg<br />
Mitglieder der Familie Brunner haben<br />
dem Jüdischen Museum Hohenems<br />
zahlreiche Objekte überlassen. Kurator<br />
Hannes Sulzenbacher fasste ihre<br />
europäisch-jüdische Geschichte zwischen<br />
Hohenems, Triest und Wien nun<br />
in Buchform zusammen.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
18 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Neues Jahr, neue Normalität, neue<br />
Regierung. Von Gisela Dachs<br />
32 Matok & Maror<br />
Ein Ort voller Lebensfreude –<br />
Das Makom in Neubau<br />
33 WINA_kocht<br />
Was ein Judenbraterl ist und woher<br />
der Ausdruck „parve“ kommt<br />
34 WINA_Lebensart<br />
WINA kümmert sich dieses Mal<br />
um das schöne Thema Therapie<br />
50 WINA_Werkstädte<br />
Ein Meisterwerk von Mauricy Gottlieb<br />
zeigt Shylock als frommen und<br />
liebenden Vater<br />
51 Urban Legends<br />
Alexia Weiss über das Phänomen,<br />
dass auf Reisen selten alles wie geplant<br />
läuft<br />
53 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />
Coverfoto: trinity666 / Photocase;<br />
56 Das letzte Mal<br />
Iris Singer berichtet über einen jährlichen<br />
Geburtstagswunsch und den<br />
inspirierenden Marko Feingold.<br />
Einem Börsengewinn<br />
von hunderten<br />
Millionen<br />
Euro, den<br />
ihr Kibbuz<br />
gemacht hat, stehen die<br />
Alten hilflos gegenüber,<br />
ihre Erben können damit<br />
schon mehr anfangen ...<br />
Aus dem Plot von Joshua Sobols<br />
Der große Wind der Zeit<br />
S.46<br />
Joshua Sobol hat mit<br />
Weiningers Nacht 1983 erstmals<br />
die Weltbühne betreten. Mit<br />
seinen epischen Werken war<br />
der israelische Autor jedoch<br />
bisher weniger erfolgreich. Der<br />
Roman Der große Wind der Zeit<br />
soll nun sein Opus Magnum<br />
werden.<br />
wına-magazin.at<br />
3
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HIGHLIGHTS | 01<br />
Zitat text hier<br />
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4 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />
jobs.wien.gv.at
WINA KOMMENTAR<br />
Ich halte jetzt mal eine Sonntagsrede<br />
Ausschnitte aus Cornelius Obonyas* Eröffnungsrede bei den 30. Jüdischen<br />
Filmwochen. Die vollständige Rede lesen Sie online unter www.<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
ch halte jetzt einmal eine Sonntagsrede! Eine dieser Reden,<br />
die immer gehalten werden bei solchen Anlässen. Die<br />
immer zu hören sind und gleich wieder vergessen werden.<br />
Von denen dann hinterher gesagt wird, „… dass man<br />
das alles ja immer hören würde, in Sonntagsreden, aber<br />
man müsse doch endlich wirklich einmal ... !“, usw. usf ...<br />
Trotzdem … ich halte so eine Sonntagsrede trotzdem. Man<br />
hat mich gebeten – das ist sehr ehrend. Anlässlich von 30<br />
Jahren Jüdisches Filmfestival Wien, Jewish Film Festival Vienna<br />
– sehr, sehr ehrend. Ich bin – und in Österreich ist das<br />
ja so unendlich wichtig – immerhin Präsident! Präsident der<br />
„Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich“.<br />
Ich durfte das werden. Auch das ehrend. Meine Mutter –<br />
Kammerschauspielerin Elisabeth Orth – war bis vor einem<br />
Jahr die Präsidentin. Sie folgte Erika Weinzierl nach. Und mit<br />
84 Jahren suchte sie nun langsam nach einer Nachfolge. Es<br />
durfte auch ein Mann sein. Ich habe mich getraut, sie zu fragen,<br />
ob sie dächte, dass ich das könnte. Sie dachte.<br />
Und dann wurde ich von dieser kleinen Gruppe wunderbarer<br />
Menschen der „Aktion“ tatsächlich gewählt.<br />
Und da stehe ich nun.<br />
Meine Mutter hat 2014 dieses Festival eröffnet. Ich habe<br />
sie um ihre Rede von damals gebeten, weil ich dachte, da<br />
schau ich mir was ab. So wie ich mir beruflich schon immer<br />
was von ihr abgeschaut habe. Es hat geholfen – beruflich.<br />
Dass es auch beim Schreiben und Halten von Reden<br />
helfen würde, war nur eine Vermutung.<br />
Also: Vor sieben Jahren hielt sie ihre Rede. Sie hatte<br />
Glück, sie konnte damals auf einen Film verweisen, der<br />
einzigartig war und ist – Schindlers Liste von Steven Spielberg,<br />
damals schon 20 Jahre alt. Aber er wurde beim Festival<br />
gezeigt. Und Sie schrieb damals: „Die alte kranke und<br />
krankmachende Giftpflanze Antisemitismus hat sich nach 1945 anscheinend<br />
nur ein bisschen geduckt, hat aber überlebt. Wabert<br />
mal unter und dann über diversen Stammtischen, in einschlägigen<br />
Kellern und Publikationen, manifestiert sich ganz mit oder ganz<br />
ohne Juden, spielt ein bisschen mit der Auschwitzlüge, vermischt<br />
sich mit Neonazismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und<br />
lässt sich erbärmlicherweise nicht ausrotten. Aufklärer und Differenzierer<br />
haben es schwer gegen diesen Kochtopf, in dem man<br />
so lustvoll alles zusammenschmeißen kann – Israel und Gaza, die<br />
Muslime mit oder ohne Kopftuch, die eigenen Benachteiligungsängste<br />
und die fremde Bedrohung, Frustrationen von Rechts und<br />
Links und in der Mitte und die Demokratie verkocht in diesem Gebräu.<br />
Und die scheinbar unkontrollierbare vernetzte Hetze im Internet<br />
streut noch anonymes Scharfmachersalz drüber und hält<br />
das Ganze am Köcheln.“<br />
„Gewisse Dinge sind einfach nicht<br />
tragbar. Mitmarschieren mit Neonazis im<br />
Jahre <strong>2021</strong> ist nicht tragbar. In keinem Jahr.<br />
In keiner Pandemie. Niemals!“<br />
Besser könnte ich und möchte ich es nicht ausdrücken.<br />
Was hat sich verändert in diesen sieben Jahren? Wo stehen<br />
wir heute?<br />
[...] Trauen wir uns doch bitte wieder, einfach nur Tacheles<br />
zu reden! Es wird noch viele Gespräche, Debatten und Sonntagsreden<br />
brauchen, in denen wir Klartext reden müssen. Gewisse<br />
Dinge sind einfach nicht tragbar. Mitmarschieren mit Neonazis<br />
im Jahre <strong>2021</strong> ist nicht tragbar. In keinem Jahr. In keiner Pandemie.<br />
Niemals!<br />
Die daraus resultierende Freund-Feind-Verschiebung, wenn<br />
man es tut, ist nicht abzuschätzen und führt – früher oder später<br />
– auf direktem Wege zu einer Situation, die Erich Kästner beschrieben<br />
hat mit „Man darf nicht warten bis aus dem Schneeball<br />
eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball<br />
zertreten – die Lawine hält keiner mehr auf!“<br />
[...] Und Trotzdem! Die gute Nachricht ist, es gibt mehr, viel<br />
mehr sichtbares jüdisches Leben, als vor sieben Jahren, mehr<br />
sichtbare jüdische Kultur denn je! Das ist gut so. Denn es ist immer<br />
die Kultur von Österreicherinnen und Österreichern. Es ist<br />
europäische Kultur. Es ist Weltkultur. Es ist eines von vielen wahren<br />
Weltkulturerben. Wir dürfen Erben sein dieser Weltkultur!<br />
Doch schon zu Zeiten der Rede meiner Mutter hieß es: „Vielleicht<br />
ist es doch besser, wenn man in gewissen Gegenden, im<br />
Moment, keine Kippa trägt …“ Das war in Berlin.<br />
„Ich habe meinen Magen David, den ich an einer Kette um den<br />
Hals trage, jetzt Mal unter den Pullover getan, das ist einfach besser<br />
im Moment …“<br />
Das war in … – wo auch immer das war, es ist egal.<br />
Aber wir stehen immer noch so da! Sieben Jahre später und<br />
wahrscheinlich werden wir auch noch in sieben Jahren so da<br />
stehen. Immer wieder das Zurückzucken vor der Gefahr. Vor der<br />
Tatsache, dass Kultur, Kultus, Ausdruck von Kunst, oder von Leben,<br />
oder von was auch immer, doch noch Gefahr laufen kann,<br />
im freien, so wunderbar freien Europa von heute, ver- oder missachtet<br />
zu werden. Immer noch!<br />
Immer noch sehen wir die Berichte über ansteigenden Antisemitismus.<br />
Anstatt einmal final das Gegenteil davon.<br />
[...] Schaffen wir es dennoch – nein – trotzdem! – einen Diskurs<br />
aufrecht zu erhalten? Ja! [...]<br />
* Cornelius Obonya ist u. a. seit 2019 Präsident der „Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich“. Diese Rede hielt<br />
er bei der Eröffnung der Jüdischen Filmwochen. Wir danken für die Abdruckrechte! jfw.at<br />
wına-magazin.at<br />
5
Österreich & Auschwitz<br />
Mehr als zehn Jahre später wird<br />
nun im <strong>Oktober</strong> die neu gestaltete<br />
österreichische Schau eröffnet.<br />
Die Neukonzeption er-<br />
folgte prozesshaft unter Einbindung zweier<br />
Beratungsgremien – einem wissenschaftli-<br />
chen Beirat und einem gesellschaftlichen<br />
Beirat, der die Anliegen betroffener Interessenvertretungen,<br />
Opferverbände und Religi-<br />
onsgemeinschaften vertrat – und wurde vom<br />
Nationalfonds koordiniert.<br />
Bei der Ausschreibung konnte sich das Ku-<br />
ratoren- und Kuratorinnenteam unter der<br />
Gesamtleitung von Hannes Sulzenbacher<br />
und der wissenschaftlichen Leitung von Al-<br />
bert Lichtblau durchsetzen, dem Birgit Johler,<br />
Christiane Rothländer und Barbara Staudin-<br />
ger – sie wird im Sommer 2022 Direktorin des<br />
Jüdischen Museums Wien – angehören. Für<br />
die architektonische Ausstellungsgestaltung<br />
zeichnet Martin Kohlbauer verantwortlich.<br />
Titel der neuen Ausstellung ist Entfernung.<br />
Österreich und Auschwitz. . Sie setzt sich mit den<br />
Schicksalen österreichischer Opfer im KZ<br />
Auschwitz auseinander, zeigt aber auch die<br />
Mittäterschaft und Verantwortung von Österreichern<br />
an den Verbrechen des National-<br />
sozialismus. Sichtbar wird dabei der Bruch<br />
zwischen der damaligen Realität von Leben<br />
und Sterben in Auschwitz-Birkenau und<br />
dem vorher und außerhalb des Lagers gel-<br />
tenden Bezugssystem in Österreich. Was im<br />
KZ passierte, ist nun im Museum in Form realer<br />
Objekte präsentiert, was damals in Ös-<br />
terreich passierte, erfahren die Besucher in<br />
einem virtuellen Ausstellungsraum. So werden<br />
das „Hier“ und „Dort“ miteinander ver-<br />
knüpft.<br />
Die folgenden Fotos beleuchten den Pro-<br />
zess der Neukonzeption und zeigen, was den<br />
Besucher in der neu gestalteten Ausstellung<br />
erwartet. WINA bat zudem Menschen, die an<br />
diesem Prozess der Neupositionierung Öster-<br />
reichs an diesem historisch so wichtigen Ort<br />
beteiligt waren, um ihre Gedanken zu den<br />
hier gezeigten Aufnahmen.<br />
Das Grauen<br />
neu eingeordnet<br />
„Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“<br />
stand auf der Eingangsgrafik der 1978 eröffneten<br />
österreichischen Länderausstellung in der KZ-Gedenkstätte<br />
und Museum Auschwitz-Birkenau. In-<br />
zwischen hat Österreich die Opferthese hinter sich<br />
gelassen. 2009 beschloss die Regierung daher, die<br />
Ausstellung zu erneuern.<br />
Zusammenschau: Alexia Weiss<br />
6 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Mittäterschaft & Verantwortung<br />
Hannes Sulzenbacher,<br />
Leiter des Kuratoren- und Kuratorinnenteams<br />
Die neue österreichische Ausstellung in der Gedenkstätte<br />
von Auschwitz-Birkenau trägt den<br />
Titel Entfernung. Österreich und Auschwitz.<br />
Entfernung bedeutet in diesem Zusammenhang<br />
erstens die räumliche Distanz<br />
zwischen Österreich und Auschwitz, die<br />
Teil der nationalsozialistischen Verheimlichungsstrategie<br />
des Massenmordes war.<br />
Zweitens findet sich das Prinzip der Entfernung<br />
in der Geschichte, die in der Ausstellung<br />
erzählt wird: Die Anfänge dieser<br />
Geschichte liegen in Österreich, sie endet<br />
in Auschwitz. Damit erschließt sich<br />
die dritte Dimension der Entfernung: Sie bedeutete für<br />
die Verfolgten des NS-Regimes ihre Entfernung aus Österreich,<br />
aus dem Leben und schließlich aus dem Bewusstsein<br />
der Bevölkerung.<br />
Um die „Entfernung“ nicht nur intellektuell begreifbar,<br />
sondern auch visuell und sinnlich erfahrbar<br />
zu machen, besteht der Hauptteil der historischen<br />
Ausstellung im Block 17 der Gedenkstätte<br />
Auschwitz-Birkenau aus zwei einander bedingenden<br />
und miteinander verbundenen Visualisierungs- und<br />
Inhaltsebenen: „Hier“ (Auschwitz) und „Dort“ (Österreich).<br />
Im „Hier“ werden reale Gegenstände aus<br />
Auschwitz, Zeugnisse nationalsozialistischer Verfolgungs-<br />
und Vernichtungspolitik in großen Vitrinen,<br />
gezeigt. Sie sind eingebettet in ihren unmittelbaren<br />
räumlichen Zusammenhang – also im „Hier“, dem<br />
Ort des Terrors. Mit ihnen wird von den österreichischen<br />
Opfern und Täter*innen ab dem Zeitpunkt ihrer<br />
Ankunft in Auschwitz erzählt.<br />
Die zweite Ebene der Ausstellung widmet sich den<br />
Inhalten, die den Nationalsozialismus in Österreich,<br />
seine Vorgeschichte, den „Anschluss“, den Aufbau und<br />
die Struktur des Terrorregimes, die darin eingebundenen<br />
Akteurinnen und Akteure sowie das Schicksal der<br />
Verfolgten vor ihrer Deportation nach Auschwitz betreffen.<br />
Dieser Ausstellungsteil „Dort“, der ebenfalls<br />
durch Objekte in Vitrinen präsentiert wird, ist nicht<br />
real vorhanden, sondern wird als Film auf vier Wänden<br />
gezeigt. Die Dokumente und Gegenstände auf diesem<br />
Film sind also nicht real vorhanden. Dies soll verdeutlichen,<br />
dass die politischen Entwicklungen in Österreich,<br />
aber auch alle persönlichen Beziehungen, alle<br />
Dinge, die einmal persönlich von Bedeutung waren,<br />
für die nach Auschwitz Deportierten nicht mehr greifbar<br />
und im Zusammenhang mit dem täglichen Überlebenskampf<br />
ohne Bedeutung waren. Alles, was für sie<br />
einmal Österreich war, war nun nur mehr Erinnerung.<br />
Nur mehr, was Auschwitz war, war von Bedeutung.<br />
Thema Entfernung. Aus<br />
Österreich, aus dem Leben und<br />
schließlich aus dem Bewusstsein<br />
der Bevölkerung.<br />
© Vad Vashem<br />
Die Transportkarte<br />
ihrer<br />
Großmutter, die<br />
Hannah Lessing<br />
lange vergeblich<br />
gesucht hatte.<br />
© Hannes Sulzenbacher<br />
Sichtbar wird dabei<br />
der Bruch zwischen<br />
der damaligen Realität<br />
von Leben und<br />
Sterben in Auschwitz-Birkenau.<br />
Hannah Lessing,<br />
Generalsekretärin des Nationalfonds<br />
Viele Jahre habe ich bei meiner Arbeit im Nationalfonds<br />
Geschichten über die Schicksale anderer<br />
gehört. Bis ich dann eines Tages eine Transportkarte<br />
gefunden habe – die Transportkarte meiner Großmutter<br />
von Theresienstadt nach Ausschwitz.<br />
Davor hatte ich in Theresienstadt oft nach Hinweisen<br />
gesucht – vergeblich. Ich hatte immer diesen<br />
Traum, dass ich mit den Archiven, die uns zur Verfügung<br />
standen, herausfinden würde, dass meine<br />
Großmutter noch lebt, dass ich sie meinem Vater<br />
zurückbringen könnte.<br />
Nun, mit der Transportkarte, versuchte ich, in<br />
Auschwitz mehr über ihr Schicksal und die Umstände<br />
in Erfahrung zu bringen: Doch sie war nirgendwo<br />
als Häftling registriert<br />
worden. So wurde mir<br />
klar, dass meine Großmutter<br />
– falls Sie die Deportation<br />
überlebt hatte – direkt nach<br />
ihrer Ankunft in Auschwitz<br />
in der Gaskammer ermordet<br />
wurde.<br />
In den vergangenen Jahren<br />
habe ich viele Berichte<br />
über diese Transporte von<br />
Theresienstadt nach Ausschwitz<br />
gelesen. 2005 besuchte ich schließlich zum<br />
ersten Mal das heutige Museum Ausschwitz-Birkenau.<br />
Ich musste mir vorstellen: Dies ist der Ort, an<br />
dem irgendwo die Asche meiner Großmutter ruht.<br />
Seit der Nationalfonds die Koordinierung der<br />
Neugestaltung der Österreich-Ausstellung übernommen<br />
hat, habe ich viele weitere Reisen nach<br />
Ausschwitz gemacht. Jedes Mal lege ich an einem<br />
anderen Platz einen Stein für meine Großmutter<br />
nieder und sage für sie Kaddish, das Totengebet.<br />
Margit Lessing, meine Großmutter. Möge ihre Erinnerung<br />
immer ein Segen sein.<br />
wına-magazin.at<br />
7
Entferntes Auschwitz<br />
© Archive of the Auschwitz-Birkenau State Museum, Oświęcim<br />
Vielfältige Freizeitgestaltung.<br />
Für SS-Angehörige<br />
fanden regelmäßig<br />
Theateraufführun-<br />
gen und andere<br />
Veranstaltungen<br />
statt. Zum Wiener<br />
Abend kamen<br />
Künsterlinnen und<br />
Künstler der Wiener<br />
Staatsoper, des<br />
Burgtheaters und<br />
des Volkstheaters.<br />
Claire Fritsch,<br />
Leiterin der Koordinierungsstelle im Nationalfonds<br />
Man würde heute intuitiv die Entfernung<br />
zwischen Wien und Auschwitz als ziemlich<br />
groß einschätzen. Das stimmt auch mit dem<br />
Konzept der Nationalsozialisten überein, dass<br />
der Massenmord möglichst abgeschirmt von<br />
der Welt stattfinden sollte. Doch besteht diese<br />
Distanz mehr im Kopf als auf der Karte – zwischen<br />
den beiden Orten liegen nur knapp 400<br />
Kilometer. Die Ausstellung mit dem Titel Entfernung.<br />
Österreich und Auschwitz erinnert daran,<br />
dass die beiden Orte durchaus miteinander verknüpft<br />
waren. Während die Häftlinge – manchmal<br />
auch nur zur Belustigung der Wachen – gepeinigt,<br />
gedemütigt, ausgehungert und getötet<br />
wurden, erfreute sich die SS an einem vielseitigen<br />
Unterhaltungsprogramm, unter anderem<br />
auch aus Wien. So gaben etwa am 23. Mai 1944<br />
Mitglieder der Staatsoper, des Burgtheaters und<br />
des Volkstheaters ein Gastspiel für die SS. Dieser<br />
„Wiener Abend“ beendete einen Tag, an dem<br />
Selektionen der Transporte aus Italien, Ungarn<br />
und Frankreich stattgefunden hatten. So „entfernt“<br />
war Auschwitz.<br />
Herta Neiß,<br />
Vorsitzende des gesellschaftlichen Beirats<br />
Das für mich zentrale Objekt in unserer<br />
neuen Länderausstellung ist der Zyklus der<br />
Sussmann-Fenster. Heinrich Sussmann, selbst<br />
Auschwitz-Überlebender, hat mit den Glasfenstern<br />
Von Rauch und Flammen geschwängerter Himmel,<br />
In Flammen betender Jude, Gaskammer, Schreiende<br />
Not und Das bittere Ende das Unbegreifliche in<br />
Form dieser Fenster darzustellen versucht. Für<br />
uns als Lagergemeinschaft bleiben sie als Teil<br />
der ersten Ausstellung, die 1978 eröffnet wurde,<br />
erhalten, was wir sehr begrüßen.<br />
Es waren die Überlebenden des Konzentrationslagers<br />
Auschwitz, die Mitglieder der<br />
Lagergemeinschaft, die an der ersten Ausstellung<br />
noch maßgeblich mitgearbeitet und<br />
auch Objekte ihr persönliches Schicksal betreffend<br />
eingebracht haben. Die Sussmann-<br />
Fenster stellen dabei ein Bindeglied zwischen<br />
diesen beiden Ausstellungen dar und beziehen<br />
damit meinem Empfinden nach symbolhaft<br />
die ehemaligen Häftlinge ein.<br />
Die Sussmann-Fenster zeigen, ohne dass<br />
es viele Worte braucht, was für die Häftlinge<br />
Auschwitz bedeutete. Und letztlich soll dieser<br />
Ort neben der Wissensvermittlung auch jener<br />
sein, an dem Überlebende und deren Familien<br />
der Opfer gedenken.<br />
Sussmann-Fenster. Heinrich Sussmann<br />
war selbst Auschwitz-Überle-<br />
bender. Seine Fenster zeigen, was für<br />
die Häftlinge Auschwitz bedeutete,<br />
ohne dass es viele Worte braucht.<br />
© BF/MINICH<br />
8 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Das Unbegreifliche darstellen<br />
Martin Kohlbauer,<br />
Architekt<br />
Das komplementäre Bespielen<br />
zweier Ausstellungsorte, das<br />
„Hier“ (Auschwitz) und das „Dort“<br />
(Österreich), hier physisch und dort<br />
virtuell, ist der Ausgangspunkt<br />
für den minimalistischen<br />
Gestaltungsansatz.<br />
Mit einem<br />
sehr klaren und einfachen<br />
Raum-im-Raum-<br />
Konzept habe ich den<br />
inhaltlichen Vorgaben<br />
und Ideen wie auch<br />
dem gänzlich unfassbaren<br />
Ort mit seinen<br />
mannigfachen Bezügen Rechnung<br />
getragen.<br />
Barbara Staudinger,<br />
Co-Kuratorin<br />
Das ehemalige Konzentrationsund<br />
Vernichtungslager Auschwitz<br />
ist heute Friedhof, Gedenkstätte<br />
und Museum. Die ehemaligen Häftlingsblocks<br />
im so genannten Stammlager<br />
Auschwitz I wurden durch Umund<br />
Einbauten in museale Räume<br />
umgestaltet. Auch im Block 17 wurden<br />
die Einbauten der alten österreichischen<br />
Ausstellung entfernt, ein<br />
„originaler“ Zustand wiederhergestellt,<br />
um schließlich durch den Einbau<br />
einer inneren Verschalung eine<br />
Distanz zur Außenwelt<br />
und damit einen Museumsraum<br />
zu schaffen.<br />
Diese Metamorphose,<br />
der Übergang<br />
von einem Zustand in<br />
den anderen, wurde<br />
als künstlerische Forschung<br />
durch Ruth Anderwald<br />
und Leonhard<br />
Grond begleitet. Baustelle<br />
Erinnerung lautet<br />
der Titel.<br />
Gedenkbereich. Das<br />
„Hier“ (Auschwitz) und das<br />
„Dort“ (Österreich) sind<br />
der Ausgang für den minimalistischen<br />
Gestaltungsansatz.<br />
Karteien von<br />
Hermann Langbein<br />
(1912–1995)<br />
zu ehemaligen<br />
KZ-Häftlingen und<br />
zum KZ-Personal.<br />
Fenster in der Baustelle. Die<br />
Metamorphose von Lager zu<br />
Museum wurde als künstleri-<br />
sche Forschung begleitet.<br />
© Ruth Anderwald + Leonhard Grond<br />
Was im KZ passierte, ist nun<br />
im Museum in Form realer<br />
Objekte präsentiert, was damals<br />
in Österreich passierte,<br />
erfahren die Besucher in einem<br />
virtuellen Ausstellungsraum.<br />
Brigitte Halbmayr,<br />
Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats<br />
Hermann Langbein war politischer Häftling<br />
im „Stammlager“ Auschwitz I,<br />
Schreiber des SS-Standortarztes Eduard<br />
Wirths sowie Mitglied des internationalen Lagerwiderstands.<br />
Nach 1945 sammelte er systematisch<br />
Berichte von<br />
ehemaligen Häftlingen<br />
und Informationen<br />
über das KZ-Personal.<br />
Diese Karteien<br />
bildeten eine wichtige<br />
Grundlage für<br />
Langbeins jahrzehntelange<br />
Arbeit an der<br />
Dokumentation der<br />
Verbrechen in Auschwitz.<br />
Er unterstützte damit wesentlich die Justiz<br />
bei der Verfolgung von NS-Tätern und -Täterinnen.<br />
Als Biografin von Hermann Langbein freue<br />
ich mich besonders darüber, dass er gleich zu<br />
Beginn der Ausstellung mit den von ihm angelegten<br />
Karteien vertreten ist. Sie zeigen, wie<br />
umfangreich, systematisch und genau Langbein<br />
bei der unermüdlichen Suche nach den<br />
Tätern und der Unterstützung der Opfer vorging.<br />
Hermann Langbeins Bedeutung für unser<br />
heutiges Wissen über die Verbrechen von<br />
Auschwitz und das Funktionieren der Todesmaschinerie,<br />
aber auch über die Teilnahme<br />
von Österreicher*innen an der Verfolgung und<br />
Tötung von unzähligen Menschen ist nicht<br />
hoch genug einzuschätzen.<br />
wına-magazin.at<br />
9
Aufpolierte Uniformen<br />
AUCH DAS LEID ZEIGEN<br />
Problematische Literatur im<br />
Museumsshop, aufgedeckt<br />
von der Plattform „Stoppt die<br />
Rechten“, brachte vor zwei<br />
Jahren eine Debatte über die<br />
Inhalte und Funktion des<br />
Heeresgeschichtlichen Museums<br />
ins Rollen. Inzwischen<br />
ist der Reformbedarf durch<br />
eine Expertenkommission<br />
dokumentiert. Erstaunlich<br />
ist, wie lange dieses Museum<br />
so blieb, wie es sich bis heute<br />
präsentiert. Die Kulturwissenschafterin<br />
Elena Messner<br />
und der Historiker Peter<br />
Pirker haben nun im Band<br />
Kriege gehören ins Museum –<br />
Aber wie? die Geschichte der<br />
Sammlungen, den Stand der<br />
aktuellen Diskussion und<br />
die Anforderungen an so ein<br />
Haus dokumentiert.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Heeresgeschichtliches Museum, Blick in den<br />
Maria-Theresien-Saal: Bei der Gründung galt es, dem<br />
Haus Habsburg und der k.u.k. Armee Tribut zu zollen –<br />
und das aus einer Herrschaftsperspektive.<br />
Waren Sie schon einmal im Heeresgeschichtlichen<br />
Museum?<br />
Ich gebe zu, in meiner Vorstellung<br />
ist das ein Ort für Waffenbegeisterte<br />
und daher keiner, der mich sonderlich<br />
anzieht. In meiner Einschätzung<br />
lag ich offenbar nicht so falsch. Wie anachronistisch<br />
sich das Heeresgeschichtliche<br />
Museum bis heute präsentiert, ist<br />
dann aber doch erstaunlich, und so entpuppte<br />
sich das Buch Kriege gehören ins<br />
Museum als wirklich interessante Lektüre<br />
zum Thema, wie Österreich mit der Geschichte,<br />
der Zeitgeschichte und – einmal<br />
mehr – der NS-Zeit umgeht.<br />
Das Heeresgeschichtliche Museum –<br />
der erste der monumentalen Wiener Museumsbauten<br />
übrigens – hatte schon einen<br />
holprigen Start. Das Konzept des Architekten<br />
Teophil Hansen wurde, was die<br />
Gestaltung der ersten Schau anbelangte,<br />
umgestoßen. Es galt dem Haus Habsburg<br />
und der k.u.k. Armee Tribut zu zollen,<br />
und das aus einer Herrschaftsperspektive.<br />
Im Mittelpunkt standen erfolgreiche<br />
Heerführer und erfolgreiche Schlachten.<br />
Über die Niederlagen wurde mehr oder<br />
weniger der Mantel des Schweigens gebreitet,<br />
und die Perspektive der einfachen<br />
Soldaten kam nicht vor. Bis heute werden<br />
Waffen und Uniformen aufpoliert und gesäubert<br />
präsentiert. Das Elend des Krieges,<br />
das Leid, die sozialen Folgen – all das wird<br />
bis heute ausgespart.<br />
Die wenigen<br />
Objekte, die auf<br />
NS-Verfolgung<br />
und Vernichtung<br />
verweisen, wirken<br />
instrumentalisiert<br />
durch<br />
die offenkundige<br />
Absicht, so<br />
eine Ausstellung<br />
zu legitimieren.<br />
10 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Ausgespartes Leid<br />
© Hans Ringhofer/picturedesk.com; HGM<br />
Die NS-Zeit beziehungsweise das<br />
Thema Wehrmacht wurde überhaupt erst<br />
spät in die Dauerausstellung aufgenommen<br />
– das war erst in den 1990er-Jahren<br />
der Fall. Hier werden allerdings Objekte<br />
aus der Zeit – wie etwa Wehrmachtsuniformen<br />
– ohne detaillierte Kontextualisierung<br />
ausgestellt. Das öffnet Raum für<br />
jene, die sich ihre eigenen Wahrheiten<br />
basteln, wie etwa Vertreter der Identitären.<br />
Sie fasziniert vor allem der Ausstellungsteil<br />
zur Türkenbelagerung – und sie<br />
missbrauchten die Museumsräume auch<br />
als Kulisse für ein Video, das inzwischen<br />
aber nicht mehr online ist.<br />
Die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl<br />
beschreibt einen Besuch in dem Mu-<br />
seum am Nationalfeiertag 2019, um den<br />
sie Kollegen aus Amerika gebeten hatten.<br />
„Die US-amerikanischen KollegInnen reagierten<br />
fassungslos auf die museale Darstellung<br />
von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg.<br />
Befremden löste vor allem auch<br />
die unkommentierte Zurschaustellung<br />
von NS-Exponaten aus: Objekte, Bilder<br />
und Kunstwerke der NS-Propaganda werden<br />
ohne irgendeine Form der Distanzierung<br />
oder des Kommentars wie normale<br />
Museumsobjekte ausgestellt, raumbeherrschend<br />
etwa ein großformatiges<br />
Propagandabild des Kriegspropagandamalers<br />
Otto Jahn, ‚LMG-Trupp Sprung-<br />
Vorwärts!‘, angefertigt für die 1940 vom<br />
Heeresmuseum veranstaltete Kriegspropagandaausstellung<br />
Der Sieg im Westen am<br />
Wiener Heldenplatz.“<br />
Und Uhl weiter: „Der von Seiten des<br />
Heeresgeschichtlichen Museums mehrfach<br />
vorgebrachte Einwand, es würden<br />
doch auch Objekte zu den NS-Verbrechen<br />
gezeigt, erscheint im Hinblick auf ihren<br />
geringen Stellenwert im Gesamtnarrativ<br />
der Ausstellung als Entlastungsargument.<br />
Der Holocaust-Historiker Omer Bartov<br />
hat sie beim Gang durch die Ausstellung<br />
als ‚objects of excuse‘ bezeichnet. Die wenigen<br />
Objekte, die auf NS-Verfolgung und<br />
Vernichtung verweisen (oftmals sind es<br />
Kunstwerke), wirken instrumentalisiert<br />
durch die offenkundige Absicht, so eine<br />
Ausstellung zu legitimieren, die Objekte<br />
der NS-Machthaber kritik- und distanzlos<br />
zur Schau stellt.“<br />
Täterfotografie. Besonders deutlich werde<br />
das im räumlich marginalen Abschnitt<br />
zur NS-Verfolgung und Shoah. „Aufrecht<br />
steht eine Figur in SS-Uniform, am Boden<br />
liegt die Jacke eines KZ-Häftlings mit<br />
rotem Winkel, daneben ein Granitblock<br />
aus dem Steinbruch des KZ Mauthausen<br />
und ein gelber Stern. An der Wand befindet<br />
sich eine Fotografie von Menschen in<br />
Elena Messner,<br />
Peter Pirker (Hg.):<br />
Kriege gehören ins<br />
Museum – Aber wie?<br />
Edition Atelier <strong>2021</strong>,<br />
344 S., € 24<br />
Wien, die den ‚Judenstern‘ tragen müssen;<br />
nicht erwähnt wird, dass es sich um<br />
eine Täter-Fotografie aus dem Jahr 1941<br />
handelt. Darüber ein abstraktes Bild von<br />
Hans Fronius mit dem Titel Judengrab, davor<br />
ein Schreibtisch und das Modell eines<br />
(nicht realisierten) Denkmals von Alfred<br />
Hrdlicka, Der Schreibtischtäter.“<br />
Inzwischen gibt es in der Ausstellung<br />
ein Hinweisschild – aufgestellt nach einem<br />
Gespräch mit Vertretern der International<br />
Holocaust Remembrance Alliance<br />
(IHRA). Darauf wird festgehalten,<br />
dass die derzeitige Schau zu Missinterpretationen<br />
führen könnte. Doch, so hält<br />
Herausgeberin Elena Messner in ihrem<br />
Buchbeitrag fest: „Dennoch ist die Ausstellung<br />
weiterhin in ihrer alten Form frei<br />
zugänglich – bald seit bereits zwei Jahren<br />
und trotz vehementer Kritik daran.“<br />
Vorschläge, wie es nun weitergehen<br />
könnte, wurden im Rahmen von zwei<br />
Tagungen – #hgmneudenken und HGM neu –<br />
Chancen einer angesagten Reform diskutiert.<br />
Auch der nun erschienene Band versammelt<br />
zahlreiche Anregungen – diese reichen<br />
vom Einbeziehen anderer Perspektiven<br />
(vor allem sozialer) bis hin zu<br />
Friedenspädagogik, aber auch der Auseinandersetzung<br />
mit Kriegsverbrechen,<br />
und zwar nicht nur im Zweiten, sondern<br />
auch im Ersten Weltkrieg. Zuständig für<br />
eine Reform ist das Verteidigungsministerium.<br />
Was man derzeit erlebt, wenn man das<br />
Heeresgeschichtliche Museum besucht?<br />
Den Eindruck, dass die Zeit stehen geblieben<br />
sei, und den Geist einer kaiserlichen<br />
Armee, resümiert der Historiker<br />
Peter Melichar. Was der nun erschienene<br />
Band Kriege gehören ins Museum – Aber wie?<br />
schafft: Man möchte hin und sich dieses<br />
Haus einmal ansehen und sich selbst einen<br />
Eindruck verschaffen. Mehr Empfehlung<br />
geht eigentlich schon nicht.<br />
wına-magazin.at<br />
11
Verwehrte Anerkennung<br />
Die Geschichten der<br />
verlorenen Generation<br />
Ein deutscher Arzt gibt 180 in der NS-Zeit vertriebenen<br />
und ermordeten jüdischen Künstlern und Malerinnen<br />
mit ihren vergessenen Kunstwerken eine neue Heimat:<br />
in seinem Privatmuseum in Salzburg.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Wer im Herzen der Altstadt<br />
Salzburgs durch die Sigmund-Haffner-Gasse<br />
schlendert, wird vielleicht<br />
bei Hausnummer 12 nur einen Blick auf<br />
das runde, gediegene Holztor werfen, aber<br />
nicht mehr. Erst wer zur oberen Glasscheibe<br />
hinaufschaut, entdeckt das wahrlich Außergewöhnliche:<br />
Museum – Kunst der verlorenen<br />
Generation, Sammlung Böhme,<br />
heißt es da ganz schlicht: Hinter dieser<br />
bescheidenen Aufmachung verbirgt sich<br />
ein Privatmuseum der eher seltenen Art:<br />
Ein pensionierter Universitätsprofessor<br />
der Medizin präsentiert hier eine jährlich<br />
wechselnde Auswahl seiner Sammlung,<br />
die bisher rund 400 Kunstwerke von<br />
180 Künstlerinnen und Künstlern umfasst.<br />
Im Ambiente einer ehemals bürgerlichen<br />
Vier-Zimmer-Wohnung im ersten<br />
Stock erleben die Besucher eine thematisch<br />
wohl durchdachte und liebevoll abgestimmte<br />
Werkschau.<br />
Aber auch das wäre noch nichts Spektakuläres.<br />
Es sind die inhaltliche Klammer<br />
dieser Sammlung, ihr Charakter und die<br />
Motivation des Sammlers: „Ich möchte die<br />
bewegende Geschichte der Menschen hinter<br />
diesen Bildern erzählen, daher stehen<br />
die Biografien der Künstler im Vordergrund.<br />
Sie gehören der verlorenen Generation<br />
an, denen zu Lebzeiten die Anerkennung<br />
verwehrt wurde, weil sie in der<br />
Zeit des Nationalsozialisten als die ‚Entarteten*‘<br />
und ‚Verfemten‘ gegolten haben“,<br />
12 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />
erklärt Professor Dr. Heinz R. Böhme, der<br />
1932 in Leipzig als Sohn eines sächsischen<br />
Vaters und einer Wiener Mutter geboren<br />
wurde.<br />
„Obwohl diese kreativen und produktiven<br />
Menschen erfolgreich waren und<br />
bereits an zahlreichen Ausstellungen im<br />
In- und Ausland teilgenommen hatten,<br />
wurden sie diffamiert, erhielten Berufsverbot,<br />
wurden in die Emigration gezwungen<br />
oder deportiert und ermordet.“<br />
Seit <strong>Oktober</strong> 2017 stellt der Internist,<br />
der u. a. in Leipzig und München an den<br />
Universitäten tätig war, unter dem Titel<br />
Wir haben euch nicht vergessen! Neues aus<br />
der Sammlung Böhme solche<br />
Gemälde aus dem Bestand<br />
seiner Sammlung aus, die<br />
noch nie öffentlich gezeigt<br />
wurden. Dabei zählten<br />
deren Schöpfer zur zweiten<br />
Künstlergeneration<br />
der Moderne und spiegeln<br />
den Stilpluralismus<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
wider: Sie studierten<br />
meist bei berühmten Lehrern<br />
wie Max Beckmann,<br />
Henri Matisse, Lovis Corinth,<br />
Paul Klee oder Oskar<br />
Kokoschka und besuchten<br />
angesehene Kunstschulen.<br />
Viele waren Gründer und<br />
Mitglieder verschiedener<br />
Künstlergruppen wie der<br />
„Ich möchte<br />
die bewegende<br />
Geschichte<br />
der Menschen<br />
hinter diesen<br />
Bildern erzählen,<br />
daher<br />
stehen die<br />
Biografien der<br />
Künstler im<br />
Vordergrund.“<br />
Professor Dr. Heinz<br />
R. Böhme<br />
Berliner und Hamburger Secession, des<br />
Hagenbundes, des jungen Rheinlands<br />
oder der Kölner Progressiven.<br />
„Allen gemeinsam ist, dass nicht nur<br />
ihr Leben, sondern auch ihr künstlerischer<br />
Erfolg unter den politischen Umständen<br />
litt. Zahlreiche Kunstwerke wurden<br />
zerstört, ins Ausland gebracht oder<br />
mit etwas Glück im Verborgenen aufbewahrt“,<br />
so der begeisterte Kunstsammler,<br />
der sehr bedauert, dass erst in den letzten<br />
Jahren Historikerinnen und Kunsthistoriker<br />
begonnen haben, sich mit dieser Generation<br />
von Künstlern als Kollektiv zu<br />
beschäftigen. „Diese Lücke in der Kunstgeschichte<br />
zu schließen, die<br />
Biografien im kunsthistorischen<br />
und zeitgeschichtlichen<br />
Zusammenhang<br />
aufzuzeigen und wissenschaftlich<br />
einzuordnen, gehört<br />
zu den Aufgaben meines<br />
Museums.“<br />
Doch wie entstand das<br />
Interesse für diese Künstlergruppe?<br />
„Ich habe immer<br />
schon gesammelt,<br />
aber eher unspezifisch. Ich<br />
kaufte, was mir gefiel, vorzugsweise<br />
Landschaften<br />
und Porträts“, erzählt der<br />
Wahlsalzburger. „In den<br />
Achtziger- und Neunzigerjahren<br />
war ich beruflich<br />
oft in Berlin und besuchte<br />
© Florian Stürzenbaum; Hubert Auer
Vergessene Künstler*innen<br />
abends Galerien.“ Während er einen Stapel<br />
von alten Katalogen aus Platzmangel<br />
in seiner Wohnung entsorgte, blätterte<br />
er noch in manche hinein und entdeckte<br />
den Ausstellungskatalog mit Werken<br />
von Ludwig Jonas, der 1984 in der Galerie<br />
Bredow in Berlin unter der Schirmherrschaft<br />
des israelischen Botschafters<br />
präsentiert wurde. „Die kleine Monografie<br />
war mit echten Fotos bestückt; ich<br />
war von seiner Lebensgeschichte so beeindruckt,<br />
dass ich mich auf die Suche<br />
nach seinen Bildern gemacht habe“, erinnert<br />
sich Böhme. Ludwig Jonas wurde<br />
1887 in Bromberg geboren, hatte in München<br />
sein Medizinstudium abgebrochen,<br />
um nach Berlin zu gehen und sich der Malerei<br />
zu widmen. In den 1920er-Jahren<br />
zählte er in Berlin zu den bedeutendsten<br />
Impressionisten. Nach der Machtergreifung<br />
der Nazis floh er nach Frankreich,<br />
ließ sich 1935 in Palästina nieder und<br />
starb 1942, vor der Staatsgründung Israels.<br />
Damit hatte seine Karriere 1933 in<br />
Europa ein abruptes Ende gefunden, sein<br />
Werk geriet in Vergessenheit.<br />
Seit den 1980er-Jahren sucht Böhme<br />
nach derart verschollenen Werken ähnlich<br />
gelagerter Künstlerschicksale bei<br />
Galeristen, Altwarenhändlern, auf Flohmärkten<br />
oder über Nachlässe in Deutschland,<br />
Frankreich oder Großbritannien.<br />
„Da braucht man dann auch kein dickes<br />
Portemonnaie“, verriet er in einem Presse-<br />
Interview. Er vermeide konsequent bekannte<br />
Namen wie beispielsweise Max<br />
Beckmann, er suche vielmehr nach dessen<br />
Studenten, an die sich keiner mehr<br />
erinnert. Außerdem soll deren hohe<br />
künstlerische Qualität Beachtung finden,<br />
denn Böhme sucht auch gezielt nach den<br />
Malstilen, in denen diese Künstlerjahrgänge<br />
zwischen 1890 und 1914 später gearbeitet<br />
haben. „Das war ja sehr vielseitig,<br />
von Expressionismus über Kubismus<br />
bin hin zu Surrealismus und Neuer Sachlichkeit.<br />
Wenn es mir gelingt, die Biografien<br />
der Künstlerinnen und Künstler zu<br />
recherchieren und die Thematik Berufsverbot<br />
oder Verfolgung vorkommt, dann<br />
Felka Platek<br />
(1899–1944). Porträt<br />
Frau Etienne, 1942,<br />
Öl auf Leinwand.<br />
Julie Wolfthorn<br />
(1864–1944). Dunkelhaarige<br />
Dame im Lehnstuhl,<br />
o. D., Öl auf Leinwand.<br />
Ludwig Jonas<br />
(1887–1942). Blumenstillleben<br />
mit Masken, 1920,<br />
Öl auf Leinwand.<br />
* Als „entartete Kunst“ bezeichneten die Nationalsozialisten<br />
Kunstwerke der Moderne, deren Stil, Künstler<br />
oder Sujet ihnen nicht genehm waren. Die Nazis beschlagnahmten<br />
tausende solcher Kunstwerke ab 1937.<br />
wına-magazin.at<br />
13
Ungebrochener Elan<br />
Heinz R. Böhme. „Es geht mir vor allem darum zu<br />
erreichen, dass die Form des damaligen Umgangs der<br />
Menschen miteinander keine Wiederholung findet.“<br />
kauf’ ich das Werk. Fehlt diese Thematik,<br />
lass’ ich das.“<br />
Sukzessive reifte der Wunsch, diese<br />
Bilder, die er akribisch in den vielen Jahren<br />
zusammengetragen hat, nicht einfach<br />
nur für sich zu sammeln, sondern sie<br />
auch einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen.<br />
Ein Herzensanliegen des unermüdlichen<br />
Sammlers ist es, dass die Werke nicht<br />
mehr auseinandergerissen werden. Um<br />
das zu gewährleisten, gründet er eine gemeinnützige<br />
Stiftung – und sammelt weiter<br />
die Bilder der verlorenen Generation.<br />
Derzeit arbeitet ein Restaurator an rund<br />
50 Gemälden.<br />
Apropos Frauen. Schicksale aus der Sammlung<br />
Böhme heißt die aktuelle Sonderausstellung,<br />
die noch bis 22. Januar 2022 zu<br />
besichtigen ist. Der Fokus liegt auf den<br />
unbekannten Künstlerinnen der verlorenen<br />
Generation, deren Laufbahn durch<br />
das Akademieverbot geprägt wurde,<br />
weshalb sie ihre Ausbildung in privaten<br />
Malschulen absolvieren mussten. Obwohl<br />
sich dann die 1920er- und frühen<br />
1930er-Jahre für diese Gruppe doch noch<br />
zu einer Blütezeit entwickelte, die ihnen<br />
Reisen und Ausstellungen ermöglichte,<br />
holten sie bald darauf die NS-Gesetze ein.<br />
Ein typisches Beispiel dafür ist Julie<br />
Wolfthorn, die 1864 als fünftes Kind<br />
in eine jüdische Familie in Westpreußen<br />
geboren wurde. Um 1890 beginnt sie<br />
APROPOS FRAUEN<br />
Schicksale aus der Sammlung<br />
Böhme<br />
bis Jänner 2022<br />
Museum der Verlorenen Generation<br />
Sigmund-Haffner-Gasse 12/1. Stock,<br />
5020 Salzburg<br />
Infos online unter<br />
verlorene-generation.com<br />
Wir haben uns lange<br />
nicht gesehen ist der<br />
Titel des Sammlungskatalogs,<br />
der in Deutsch und<br />
Englisch im Museum oder<br />
online erhältlich ist. Hg.:<br />
Heinz R. Böhme,<br />
272 S., € 40<br />
ihre künstlerische Ausbildung der Malerei<br />
und Grafik in Berlin an der Malschule<br />
des Vereins der Berliner Künstlerinnen<br />
und Kunstfreundinnen, weil Frauen erst<br />
1919 an der Akademie zugelassen werden.<br />
Nach Studienaufenthalten in Paris<br />
und ersten Ausstellungen in München gehört<br />
sie 1898 zu den Gründungsmitgliedern<br />
der Berliner Secession. Ab 1933 wird<br />
Wolfthorn aus allen Künstlervereinigungen<br />
ausgeschlossen, erhält Ausstellungsverbot<br />
und ab 1939 Berufsverbot. Im <strong>Oktober</strong><br />
1942 wird Julie mit ihrer Schwester<br />
in das Lager Theresienstadt deportiert,<br />
wo sie im Dezember 1944 stirbt.<br />
Zu den Höhepunkten der Sammlung<br />
zählt ein Ölgemälde von Felka Platek, die<br />
1889 im jüdischen Viertel Warschaus geboren<br />
wird. Zur Ausbildung kommt sie<br />
1925 nach Berlin, wo sie ihren späteren<br />
Mann, den berühmten Maler der Neuen<br />
Sachlichkeit Felix Nussbaum (1904–1944),<br />
trifft. Bedingt durch die bedrohliche politische<br />
Entwicklung in Deutschland emigrieren<br />
sie 1935 in das belgische Seebad<br />
Ostende. Später beziehen sie eine Wohnung<br />
in Brüssel, aus der Nussbaum in das<br />
Internierungslager Saint-Cyprien nach<br />
Südfrankreich deportiert wird. Nach seiner<br />
gelungenen Flucht versteckt sich das<br />
Künstlerpaar bei wohlgesinnten Freunden<br />
in einer Mansarde; im Juni 1943 finden<br />
sie eine kleine Souterrainwohnung als<br />
Versteck. Das Paar wird 1944 in Brüssel an<br />
die Gestapo verraten und kommt daraufhin<br />
in das Sammellager Mechelen, von<br />
wo aus sie am 31. Juli 1944 mit dem letzten<br />
Deportationszug das Lager Richtung<br />
Auschwitz-Birkenau verlassen, wo Felka<br />
Platek im August 1944 ermordet wird; Felix<br />
Nussbaum stirbt wahrscheinlich im Januar<br />
1945 kurz vor der Befreiung.<br />
Von Felka Platek, die vorwiegend als<br />
Porträtistin arbeitete, sind nur drei Gemälde<br />
erhalten – eines davon befindet sich<br />
im Museum Böhme in Salzburg.<br />
Mit Pinsel und Farbe gegen die Zeit. Neues aus<br />
der Sammlung Böhme heißt auch schon die<br />
nächste Ausstellung. Und was wünscht<br />
sich der knapp Neunzigjährige, der mit<br />
ungebrochenem Elan seiner Sammlerleidenschaft<br />
nachgeht und oft persönlich<br />
in seinem Museum anzutreffen ist, wo er<br />
auch gerne mit den Kunstinteressierten<br />
plaudert? „Meine Sammlung soll weiter<br />
bestehen und wachsen. Aufmerksamkeit<br />
bringen, die Gegenwart informieren.<br />
Aber“, fügt Böhme hinzu, „es geht mir vor<br />
allem darum zu erreichen, dass die Form<br />
des damaligen Umgangs der Menschen<br />
miteinander keine Wiederholung findet.<br />
Wenn Zeitzeugen nicht mehr sprechen<br />
und ihre Erlebnisse nicht mehr weitergegeben<br />
können, braucht es eine Brücke zur<br />
Gegenwart und in die Zukunft. Diese Brücke<br />
bilden die Biografien der verlorenen<br />
Generation.“<br />
© AUER HUBERT<br />
14 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Thema<br />
Über 70 Jahre<br />
das Grauen im Kopf aushalten<br />
„<br />
Ich bin heute 105 Jahre alt und immer<br />
noch am Leben, obwohl ich in meinem<br />
Leben schon viele Male gestorben<br />
bin.“ So beginnt Feingold seine Erin-<br />
nerungen. „Ich habe vier KZs überlebt,<br />
sechs Jahre lang. Ich erzähle meine Ge-<br />
schichte jetzt schon über 70 Jahre. Und<br />
ich bin immer noch nicht fertig. Ich bin<br />
so lange nicht fertig, als es Menschen gibt,<br />
die das, was mir passiert ist, leugnen. So<br />
lange muss man diese Geschichte erzählen<br />
und die Bilder dieser Gräueltaten zei-<br />
gen, so furchtbar sie auch sind.“<br />
Feingolds Erinnerungen spannen sich<br />
von seiner Kindheit und Jugend bis in die<br />
Nachkriegszeit. Dazwischen geschnitten<br />
haben die Filmemacher Aufnahmen und<br />
Propagandaspots aus Deutschland sowie<br />
den USA, eingeblendet werden zudem<br />
Hassbriefe, die Marko Feingold auch in<br />
den vergangenen 20 Jahren noch erreicht<br />
haben. Er hat die KZs Auschwitz, Neuengamme,<br />
Dachau und Buchenwald über-<br />
lebt – als einziger von vier Geschwistern.<br />
Er hat, wie er schildert, viele Tote gesehen,<br />
Menschen, die an Hunger starben, Leichen,<br />
die weggebracht wurden. Die Hoff-<br />
nung, selbst zu überleben, war zeitweilig<br />
nicht mehr vorhanden, die Möglichkeit,<br />
dem eigenen Leben selbst ein Ende zu set-<br />
zen, allerdings auch nicht.<br />
Obwohl er inzwischen verstorben ist,<br />
lebt er in diesem Film nun weiter, kann<br />
Jugendlichen aus erster Hand berichten,<br />
wie es damals war – und dieses Da-<br />
mals ist lange her. Denn Feingold kam 1913<br />
zur Welt und wuchs in Wien auf, wo er be-<br />
reits im Zug des Ersten Weltkriegs erfuhr,<br />
was es bedeutete, Hunger zu leiden. 1938<br />
mischte er sich unter die Jubelnden am<br />
Heldenplatz und berichtet, dass da-<br />
mals mehr Menschen als je zuvor zu<br />
einem politischen Aufmarsch ge-<br />
kommen waren.<br />
Als er nach Auschwitz de-<br />
portiert wurde und dort eine<br />
Wache beim Ankommen<br />
meinte, „ihr habt eine Le-<br />
bensdauer von maximal<br />
drei Monaten, dann geht<br />
ihr durch den Kamin“, da<br />
© Stadtkino Filmverleih<br />
2019 starb der Holocaust-Überlebende<br />
und langjährige Präsi-<br />
dent der jüdischen Gemeinde<br />
Salzburg, Marko Feingold,<br />
106-jährig. Viele Jahrzehnte<br />
lang wirkte er als Zeitzeuge. Im<br />
Alter von weit über 100 Jahren<br />
setzte er sich für den Film Ein jü-<br />
disches Leben noch einmal vor die<br />
Kamera und ließ seine Jugend<br />
und sein Überleben des Natio-<br />
nalsozialismus Revue passieren.<br />
Regie führten Christian Krönes,<br />
Florian Weigensamer, Christian<br />
Kermer und Roland Schrotthofer.<br />
Die beklemmenden Erinne-<br />
rungen kommen im <strong>Oktober</strong> in<br />
die Kinos.<br />
Von Alexia Weiss<br />
habe er nicht gewusst, ob der Mann das<br />
ernst gemeint oder nur Spaß gemacht<br />
habe. „In der Stunde sind wir zu Num-<br />
mern geworden, die nichts sagen und<br />
nichts zu sagen haben.“<br />
Bitteres hatte Feingold aber auch über<br />
die unmittelbare Post-NS-Zeit zu berich-<br />
ten. Mit 127 anderen Österreichern brach<br />
er von Buchenwald nach Wien auf. „Wir<br />
dachten, wir würden feierlich empfan-<br />
gen.“ Die Realität sah anders aus: Man<br />
ließ sie nicht nach Wien durch, wollte<br />
sie gar nach Buchenwald zurückbringen<br />
lassen. Feingold stieg mit einigen an-<br />
deren in Salzburg aus – und blieb dort.<br />
Nach Kriegsende wurde er schließlich<br />
zum Fluchthelfer für zehntausende jüdische<br />
KZ-Häftlinge, die er illegal von Ös-<br />
terreich über die Alpen nach Italien und<br />
weiter nach Palästina schleuste.<br />
Bundespräsident Alexander Van der<br />
Bellen betonte angesichts des Filmstarts<br />
von Ein jüdisches Leben, , „Marko Feingold<br />
war ein Zeitzeuge, ein Überlebender, der<br />
für das Anliegen ‚Niemals wieder’ alles<br />
gegeben hat. Dank seines Engagements<br />
bleibt die Erinnerung an die NS-Zeit für<br />
die Nachwelt erhalten.“ Zeitzeugen würden<br />
einen unermesslich wichtigen Bei-<br />
trag zum Erinnern leisten. „Und wir<br />
müssen und wollen dieses Erinnern<br />
wachhalten.“<br />
„Ich bin so lange nicht fertig,<br />
als es Menschen gibt, die das,<br />
was mir passiert ist,<br />
leugnen. So lange muss<br />
man diese Geschichte<br />
erzählen.“<br />
Marko Feingold<br />
wına-magazin.at<br />
15
Erinnern im öffentlichen Raum<br />
STEINE ERZÄHLEN<br />
Stolpersteine erinnern an jene, die während des NS-Regimes<br />
enteignet, deportiert und ermordet wurden. Das europaweite<br />
Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig wird in Graz von<br />
Daniela Grabe betreut.<br />
Von Viola Heilman<br />
Daniela Grabe ist eine vielbeschäftigte<br />
Frau. Da wären zuerst<br />
die Zwillinge, vier Jahre<br />
alt und mit einem Temperament<br />
für zehn. Doch vor der Geburt der<br />
Kinder war das Projekt der Stolpersteine<br />
in Graz das Wichtigste im Leben von Daniela<br />
Grabe.<br />
Schon als Studentin der Germanistik,<br />
Geschichte und Deutsch als Fremdsprache<br />
hat sich Daniela Grabe für die NS-Zeit<br />
und deren Aufarbeitung oder, wie sie sagt,<br />
„Nicht-Aufarbeitung in Österreich“ interessiert.<br />
Aufgewachsen in Düsseldorf, der<br />
Vater kam aus Deutschland, die Mutter<br />
ist eine Steirerin, übersiedelte Daniela<br />
Grabe 1987 nach Österreich und kam aus<br />
dem Staunen nicht heraus, wie der Umgang<br />
mit der NS-Zeit in Österreich war.<br />
„Ich habe damit überhaupt nicht gerechnet,<br />
wie sehr das Ganze<br />
verdrängt wurde. Dieses<br />
16 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong><br />
„Wenn ich in<br />
einer anderen<br />
Stadt Stolpersteine<br />
sehe,<br />
geht mir das<br />
Herz auf, weil<br />
ich sehe, dass<br />
auch andere<br />
das Gedenken<br />
ernst nehmen.“<br />
Daniela Grabe<br />
nah die Ablehnung mit der Beschäftigung<br />
der Aufarbeitung der NS-Zeit. Es<br />
kam eine Absage nach der anderen, wenn<br />
es um Räumlichkeiten für die Ausstellung<br />
ging. Politische Interventionen oder Managemententscheidungen<br />
verhinderten<br />
eine Zusage. Letztlich hat sich dann die<br />
Karl-Franzens-Universität in Graz bereiterklärt,<br />
die Ausstellung zu zeigen.<br />
Nach 1998 hat sich Daniela Grabe anderen<br />
Interessen gewidmet, lebte in Bulgarien<br />
und hielt Seminare und Schulungen<br />
für Lehrer*innen, die nach dem Kommunismus<br />
mit völlig neuen Lehrplänen,<br />
aber ohne ein einziges neues Schulbuch<br />
vor den Schülern standen. Sie organisierte<br />
mit Unterstützung von Fördervereinen<br />
neue „demokratischere“ Unterrichtszugänge,<br />
Lehrmaterialien und Kontakte zu<br />
Schulbuchverlagen. Allerdings musste sie<br />
erkennen, dass diese Schulungstätigkeit<br />
zu prekär<br />
war, und begann das Studium<br />
der Wirtschaftsinformatik<br />
mit dem Wunsch,<br />
eine gut bezahlte und sichere<br />
Arbeit zu finden. Bis<br />
heute ist dies der solide<br />
„Brotjob“, der es ihr ermöglicht,<br />
sich mit viel Einsatz<br />
den Recherchen und<br />
der Verlegung der Stolpersteine<br />
in Graz zu widmen.<br />
Für den Lebenslauf von<br />
Daniela Grabe gehört es<br />
wie fast selbstverständlich<br />
Thema – Österreich erstes<br />
Opfer – und so weiter.“ Dass<br />
es bis zur Regierung unter<br />
Franz Vranitzky gedauert<br />
hat, dass jemand offiziell<br />
die Mitverantwortung äußert,<br />
hat die Historikerin<br />
erschreckt und erschüttert.<br />
1998 übernahm Daniela<br />
Grabe für den Verein<br />
ZEBRA die Ausstellungsleitung<br />
für die sogenannte<br />
„Wehrmachtsausstellung“<br />
in Graz und erfuhr hautdazu,<br />
auch politisch tätig zu sein. 2008<br />
kandidierte sie für die Grünen bei den<br />
Grazer Gemeinderatswahlen und bekam<br />
auch einen Sitz im Gemeinderat.<br />
Zur dieser Zeit wurde in Salzburg der<br />
erste Stolperstein für Homosexuelle verlegt.<br />
Das gab Daniela Grabe den Impuls,<br />
dies auch für Graz zu vorzuschlagen. „Mein<br />
Fokus war, dass es etwas geben sollte, das<br />
kein Kriegsdenkmal ist, sondern eines<br />
für Opfer – und das auch nicht dort aufgestellt<br />
wird, wo niemand hinkommt,<br />
sondern endlich etwas Würdevolles, um<br />
individuelle Opfer im städtischen Raum<br />
sichtbar zu machen. Anfänglich dachte ich<br />
etwas naiv, dass nach einem Antrag im Gemeinderat<br />
die Sache beschlossen und gemacht<br />
wird.“ Aber sie lief gegen Gummiwände,<br />
obwohl sie heute rückblickend<br />
darin schon eine Verbesserung sieht im<br />
Vergleich zur Organisation für die „Wehrmachtsausstellung“.<br />
„Da gab es noch Betonwände<br />
dagegen“, erinnert sich Daniela<br />
Grabe.<br />
Die Gummiwände stellten sich als<br />
Stadträte dar, die kreative Gründe fanden,<br />
das Projekt abzulehnen. Nach zahlreichen<br />
Anfragen in der Fragestunde,<br />
Anträgen und Ablehnungen im Grazer<br />
Gemeinderat sowie der Gründung eines<br />
potenziellen Trägervereins und auch einem<br />
Wechsel im Kulturressort, beschloss<br />
der Grazer Stadtsenat 2013 einstimmig,<br />
dass die Steine dauerhaft im öffentlichen<br />
Raum verlegt werden können. Die ablehnenden<br />
Kommentare blieben trotz großem<br />
Zuspruch nicht aus. So gab es Anrufe<br />
oder E-Mails, in denen angemerkt<br />
wurde, dass man ja nichts dagegen habe,<br />
aber es gäbe da auch so viele Opfer nach<br />
dem Stalinismus, und man müsse ja auch<br />
noch an andere Kriegsopfer denken. Auch<br />
wurden Bedenken wegen erhöhter Unfallgefahr<br />
geäußert, da man über die Steine<br />
stolpern (sic!) oder auf der polierten Messingplatte<br />
ausrutschen könnte.<br />
In Graz gehören die Gehsteige zum öffentlichen<br />
Raum, und es bedarf keiner Zustimmung<br />
der Haus- oder Wohnungseigentümer,<br />
um Stolpersteine zu verlegen. 2013,<br />
während des Gedenkjahres „75 Jahre nach<br />
dem Anschluss“ wurden die ersten Stolpersteine<br />
für das Ehepaar Melanie und<br />
© ELauppert; JJKucek; Christian Michelides
Stolpersteine in der Steiermark<br />
Adolf Lachs und Dr. Maximilian Steigmann<br />
in Innenstadtnähe verlegt. Eine<br />
Hausbewohnerin wehrte sich zuvor gegen<br />
die Anbringung einer geplanten Gedenktafel<br />
für den beliebten Arzt Max Steigmann.<br />
Gegen die Stolpersteine konnte sie<br />
keine rechtlichen Einwände durchsetzen.<br />
2017 bekam Daniela Grabe und ihr<br />
Team für das Projekt den Menschenrechtspreis<br />
des Landes Steiermark verliehen.<br />
Das Stolperstein-Projekt deckt<br />
viele Aspekte der Aufarbeitung ab, denn<br />
es ist niederschwellig. Mit einer Spende<br />
von 133 Euro für einen Stein kann eine<br />
Patenschaft und damit die Verbundenheit<br />
zu der Person übernommen werden. Neben<br />
den Patenschaften wird der Verein<br />
für Gedenkkultur auch vom Kulturamt<br />
der Stadt Graz, vom National- und Zukunftsfonds<br />
der Republik Österreich, der<br />
Gesellschaft für Politische Bildung, vom<br />
Land Steiermark und zahlreichen kleinen<br />
privaten Gruppen unterstützt. Die<br />
Holding Graz sponsert zudem alle straßenbaulichen<br />
Verlegekosten und Bustransfers<br />
innerhalb der Stadt zu den feierlichen<br />
Steinlegungen.<br />
Im November 2018 wurde in Leoben<br />
der erste Stolperstein außerhalb Graz verlegt,<br />
„Die Gemeinde Leoben war bei den<br />
notwendigen organisatorischen Schritten<br />
ein wichtiger kooperativer Partner“,<br />
unterstreicht Daniela Grabe die Zusammenarbeit<br />
mit den Verantwortlichen. Für<br />
das laufende Jahr sind Stolpersteine und<br />
„Stolpersteine“ sind<br />
ein Projekt des Kölner Künstlers<br />
Gunter Demnig, mit dem an das<br />
Schicksal jener Menschen erinnert<br />
wird, die im Nationalsozialismus<br />
ermordet, deportiert, vertrieben,<br />
in den Suizid getrieben<br />
worden sind oder von Enteignungen<br />
im Zuge der „Arisierung“ betroffen<br />
waren. Dabei wird sowohl<br />
jüdischer Opfer gedacht wie auch<br />
jener Menschen, die Opfer politischer,<br />
religiöser, ethnischer Verfolgung<br />
waren, die aufgrund ihrer<br />
sexuellen Orientierung ermordet<br />
wurden, wegen Verweigerung des<br />
Kriegsdienstes oder weil ihr Leben<br />
als „unwert“ galt (sogenannte „Euthanasie“).<br />
Kontakt:<br />
Verein für Gedenkkultur<br />
verein@stolpersteine-graz.at<br />
+43/(0)664/395 55 25<br />
Stolperstein-Gründer Gunter Demnig<br />
bei der Verlegung und Einweihung eines<br />
Stolpersteines; Daniela Grabe bei einer<br />
Einweihung. Und der erste Stolperstein,<br />
der in Graz in Erinnerung an Dr. Max<br />
Steigmann verlegt wurde.<br />
Kindberg und Güssing in Vorbereitung<br />
sowie weitere 39 Stolpersteine in Graz.<br />
Gunter Demnigs Stolpersteine-Projekt<br />
gibt es in 25 europäischen Ländern. Sie<br />
gelten als das größte dezentrale Mahnmal<br />
der Welt. „Wenn ich in einer anderen<br />
Stadt Stolpersteine sehe, geht mir das<br />
Herz auf, weil ich sehe, dass auch andere<br />
das Gedenken ernst nehmen und dasselbe<br />
Anliegen haben wie wir“, freut sich<br />
Daniela Grabe. „Zu Europa habe ich so ein<br />
Bild aus dem früheren Geschichtsunterricht.<br />
Da gab es im Geschichtsatlas auf der<br />
Europakarte die braune Farbe, die sich<br />
immer weiter ausgebreitet und alles bedeckt<br />
hat. Die Stolpersteine gehen in alle<br />
Länder, in denen es Opfer des Nationalsozialismus<br />
gibt, und breiten sich immer<br />
mehr aus. Das ist für mich ein schönes<br />
Bild“, freut sich Daniela Grabe über die<br />
sichtbaren Folgen ihres Einsatzes für die<br />
Aufarbeitung der NS-Geschichte.<br />
wına-magazin.at<br />
17
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Neuanfänge<br />
Neues Jahr, neue Normalität, neue Regierung. Und<br />
wenn alles gut geht, wird Israel damit zum Vorzeigemodell<br />
in Sachen Pandemiebekämpfung ebenso wie<br />
auf dem politischen Parkett. Wenn eben alles gut geht.<br />
er Alltag hat uns wieder. Soweit<br />
das in diesen mittlerweile abgeschwächten,<br />
aber eben immer<br />
noch andauernden Pandemiezeiten<br />
überhaupt geht.<br />
Aber es wurde höchste Zeit, besonders<br />
für die vielen Eltern,<br />
die jetzt wieder aufatmen. Die<br />
Kinder müssen sich erst noch an die Rückkehr in<br />
die Routine gewöhnen. Erst waren da ja die langen<br />
Sommerferien, unterbrochen von ein paar<br />
Tagen mit ganz normalem Präsenzunterricht<br />
zum Schulbeginn Anfang September, dann kamen<br />
diesmal gleich wieder die Feiertage. Und<br />
über dem Neuanfang schwebt jetzt, wie woanders<br />
auch, weiterhin das Risiko, sich anzustecken und/<br />
oder in Quarantäne zu müssen, falls eine oder einer<br />
in der Klasse positiv getestet werden sollte.<br />
Doch die Ansteckrate sinkt, und wenn es dabei<br />
bleibt, könnte der Herbst so „normal“ wie lange<br />
nicht mehr werden. Und wenn es die neue Regierung<br />
demnächst schaffen sollte, endlich einen<br />
Haushaltsetat zu verabschieden, wären<br />
auch die politischen Verhältnisse erst einmal<br />
bis auf Weiteres geklärt.<br />
Hält die bunte Koalition tatsächlich<br />
weiter durch, wird sich das vermutlich<br />
Von Gisela Dachs<br />
Hält die bunte Koalition tatsächlich weiter<br />
durch, wird sich das vermutlich bald<br />
in den Theorien der Politikwissenschaft<br />
niederschlagen.<br />
bald in den Theorien der Politikwissenschaft niederschlagen,<br />
Es hat sich ja längst herumgesprochen,<br />
dass hier gerade ein Modell ausprobiert, das<br />
in Zeiten zunehmend fragmentierter Gesellschaften<br />
– trotz aller Unterschiede – durchaus auch woanders<br />
Schule machen könnte. Gefragt sind Expertisen<br />
in Dissent-Management und bei der<br />
Konsensfindung. So erkundigte sich, gleich nach<br />
der Wahl in Deutschland, ein FDP-Mann schon<br />
einmal vorsorglich bei einem Knesset-Abgeordneten<br />
von Yesh Atid, ob er denn Tipps habe, wie<br />
man sich in einem divers angelegten Bündnis am<br />
besten zusammenraufen könnte. Gegenseitiger<br />
Respekt, so war die Antwort. Bisher scheint es zu<br />
funktionieren.<br />
Und wenn es so bleibt, wird in zwei Jahren Yair<br />
Lapid nach dem vereinbarten Rotationsprinzip<br />
Premierminister sein. Derzeit ist er Außenminister,<br />
und als solcher hat er vor Kurzem auch Journalisten<br />
in seinem Büro empfangen. Lapid, einst<br />
ein prominenter Fernsehmoderator, kam im Anzug<br />
und gab sich im Kreis seiner ehemaligen Berufskollegen<br />
jovial. Die Regierung bezeichnete er<br />
als eine Truppe moderater Leute, die sich im Dialog<br />
miteinander befänden, nicht korrupt seien<br />
und weiterhin „voll guten Willens“. Klar sei der<br />
Spielraum beschränkt, räumte er ein, weil es ja<br />
durchaus ideologische Unterschiede gäbe, deshalb<br />
dürfe man auch keine bahnbrechende Politik<br />
erwarten. Anders als Premier Bennett sei er ein<br />
klarer Befürworter der Zweistaatenlösung, und<br />
auch wenn er diese derzeit zwar nicht als machbar<br />
ansehe, weil es dazu auf beiden Seiten hapere,<br />
würde er dennoch einiges anders angehen.<br />
18 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Außenminister Yair<br />
Lapid gilt als wahrer<br />
Schmied der ungewöhnlich<br />
bunten Koalition, die<br />
als Vorzeigemodell in die<br />
politikwissenschaftliche<br />
Theorie eingehen könnte.<br />
Hält sie durch, so wird<br />
Lapid in zwei Jahren Ministerpräsident<br />
Israels.<br />
© Olivier Fitoussi/FLASH90<br />
Dazu gehört der Umgang mit dem alternden Palästinenserpräsidenten<br />
Mahmud Abbas. Sieben<br />
Jahre lang hatte sich kein israelisches Kabinettsmitglied,<br />
geschweige denn ein Ministerpräsident,<br />
mehr mit ihm getroffen. Verteidigungsminister<br />
Benny Gantz war nun im Sommer zu ihm<br />
nach Ramallah gefahren. Die Unterredung dauerte<br />
nur 90 Minuten, schlug aber auf beiden Seiten<br />
große Wellen. Lapid fand den Besuch richtig.<br />
Bennett hat klargestellt, dass er Abbas nicht<br />
treffen möchte. Sollte er seine Meinung ändern,<br />
könnte das die fragile Koalition auseinanderbringen.<br />
Man ist sich einig, dass man sich nicht einig<br />
ist. Das ist der Deal, auf den sich alle eingelassen<br />
haben.<br />
So gibt es nun Ansätze, die nicht unbedingt neu<br />
sind, aber trotzdem ein bisschen frische Luft ins<br />
Geschehen hineinbringen. Das Zauberwort heißt,<br />
den Konflikt „zusammenzuschrumpfen“, wie es<br />
Bennett formuliert, oder zu „minimisieren“, wie<br />
es Lapid gerade dem amerikanischen Außenminister<br />
Blinken gegenüber erklärt hat. Konkret soll<br />
das heißen: bessere Lebensbedingungen für die<br />
Palästinenser jenseits der Grünen Linie, mehr<br />
Kontakt zu ihren offiziellen Vertretern, ein besseres<br />
Internet, mehr Baugenehmigungen, mehr<br />
Arbeitsplätze in Israel, mehr Bewegungsfreiheit<br />
und weniger penible Bürokratie. Also vieles, das<br />
das Leben im Alltag erleichtert, wenn auch ohne<br />
großen Wurf. Nach einer jüngsten Umfrage des<br />
Palestinian Center for Policy and Research halten<br />
56 Prozent der Palästinenser diese Entwicklung<br />
für positiv. Eine Hälfte der Befragten spricht<br />
So gibt es nun Ansätze, die nicht unbedingt<br />
neu sind, aber trotzdem ein bisschen frische<br />
Luft ins Geschehen hineinbringen.<br />
sich allerdings auch für den bewaffneten Widerstand<br />
gegen die Besatzung aus.<br />
Woanders in der arabischen Welt tut man sich da<br />
leichter mit Kooperation. Als Außenminister ist<br />
Lapid stolz auf die neuen offiziellen Vertretungen<br />
in den Vereinigten Emiraten, in Bahrain und<br />
Marokko, die er eröffnet hat. „Geschichte wird gemacht,<br />
allerdings in Babyschritten“, sagt er. Seit<br />
Anfang <strong>Oktober</strong> starten – erstmals seit dem Friedensabkommen<br />
mit Ägypten 1979 – Direktflüge<br />
der Egyptair von Kairo nach Tel Aviv. Bis dahin<br />
gab es ausschließlich Flüge mit der Tochtergesellschaft<br />
Air Sinai, allerdings ohne jegliche nationale<br />
Identifikation. Wenige Wochen nach einem Besuch<br />
von Bennett bekennt Kairo jetzt also Farbe.<br />
In der Runde mit Lapid fragte dann noch jemand,<br />
ob es ihm, als dem wahren Schmied der Koalition,<br />
denn nicht schwer gefallen sei, einem anderen<br />
den Vortritt überlassen zu haben, der ja zudem<br />
noch sehr viel weniger Mandate mitgebracht<br />
hatte. Lapid fühlte sich sichtlich gebauchpinselt<br />
und antwortete: „Ich habe nicht das Gefühl, mich<br />
aufgeopfert zu haben. Ich habe das Richtige gemacht.<br />
Ich habe Kinder in diesem Land.“ Man<br />
darf gespannt sein, wie es weitergeht.<br />
wına-magazin.at<br />
19
Ikonische Funktionskleidung<br />
Der Erste Weltkrieg brachte einer<br />
Textilfirma in den provinziellen<br />
englischen Midlands Aufträge<br />
wie nie zuvor. Der Bedarf an wasserfesten<br />
Stoffen für die Soldaten in den schlammigen<br />
Schützengräben Frankreichs wuchs in<br />
ungeahnte Höhen. „Die Fabrik von Eli Belovitch<br />
expandiert schlagartig und beliefert<br />
das Militär mit Capes, Zelten und Planen“,<br />
liest man in einer Firmenchronik.<br />
Doch auch nach dem Ende des Booms<br />
hatte Belovitch kommerziell interessante<br />
Ideen. Er verfolgte mit Eifer die Rennen<br />
der tollkühnen englischen Motorradfahrer,<br />
und er wusste um ihre Probleme. Um<br />
den Staub auf den damals noch unbefestigten<br />
Pisten zu bändigen, spritzte man<br />
eine säurehaltige Lösung auf die Rennstrecken,<br />
mit äußerst unangenehmen Folgen<br />
für die Bekleidung der Teilnehmer.<br />
Belovitch nutzte seine Erfahrung mit<br />
Militärbekleidung und entwickelte in<br />
den 1920er-Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
spezielle Motorradjacken. Gemeinsam<br />
mit seinem Schwiegersohn Harry<br />
Grosberg gründet er 1927 die Marke Bellstaff<br />
(bis in die 1930er-Jahre mit zwei „l“<br />
geschrieben). Der<br />
Name setzt sich aus<br />
den Anfangsbuchstaben<br />
von Belovitch<br />
und der Region<br />
Staffordshire<br />
„Die Fabrik von<br />
Eli Belovitch<br />
expandiert<br />
schlagartig<br />
und beliefert<br />
das Militär mit<br />
Capes, Zelten<br />
und Planen.“<br />
A. d. Firmenchronik<br />
zusammen. Die<br />
Firma begann in<br />
der Nähe von Stokeon-Trent,<br />
funktionelle,<br />
wasserfeste<br />
Kleidungsstücke<br />
mit dem Fokus auf<br />
Motorradfahrer zu<br />
produzieren, erst<br />
für Männer, dann<br />
auch für Frauen. Einer der berühmtesten<br />
Motorradcracks der Zeit, Malcolm<br />
Campbell, wurde zum Vorzeigekunden<br />
der wachsbeschichteten Lederjacken.<br />
Und auch der Forscher, Spion und Abenteurer<br />
Thomas Edward Lawrence zählte<br />
bald zu den treuen Abnehmern. Anfang<br />
der 1930er-Jahre kleideten sich die Luftfahrtpionierinnen<br />
Amelia Earhart und<br />
Amy Johnson in Belstaff.<br />
In der Firmenchronik liest man: „Da<br />
das Unternehmen seine Führungsrolle<br />
in der Spitzentechnologie nicht verlieren<br />
soll, begibt sich Grosberg auf ausgedehnte<br />
Soldaten, Motorradfahrer<br />
und City-Flaneure<br />
Es ist kaum bekannt, dass die internationale Luxusmarke<br />
Belstaff einen jüdischen Gründer hatte.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Belstaff war weltweit die erste Firma,<br />
die ägyptische gewachste Baumwolle<br />
zur Herstellung atmungsaktiver<br />
und dennoch wasserfester Kleidung<br />
verarbeitet.<br />
Reisen durch Europa und Asien<br />
auf der Suche nach neuen Stoffen<br />
und Herstellungsmethoden. Belstaff<br />
wird weltweit die erste Firma,<br />
die ägyptische gewachste Baumwolle<br />
zur Herstellung atmungsaktiver<br />
und dennoch wasserfester Kleidung<br />
verarbeitet.“<br />
1939 zieht sich Eli Belovitch aus<br />
dem Unternehmen zurück, das nun<br />
von seinem Schwiegersohn und seiner<br />
Tochter Esther geleitet wird.<br />
Unter ihrer Führung erfolgt die<br />
zweite Kriegsexpansion 1940 bis 1945 mit<br />
zusätzlich 600 Arbeitskräften. Nach deren<br />
Ende und der Rückkehr zur Motorradbekleidung<br />
beginnt eine Entwicklung, wie<br />
sie auch viele andere Bekleidungsmarken<br />
durchlaufen: Unterschiedlichste Investoren<br />
kaufen sich ein und verabschieden<br />
sich wieder. Erst ist dies in England<br />
James Halstead, dann folgt die Sponsor<br />
SA aus Italien, darauf die amerikanische<br />
Labelux Gruppe, auf sie die JAB Luxury<br />
GmbH der deutschen Unternehmerfamilie<br />
Reimann, zu der zeitweise auch Bally<br />
und Jimmy Choo gehören.<br />
Man eröffnet Flagship-Stores in zahlreichen<br />
Städten zwischen Mailand, New<br />
York und Tokio. Berühmte Testimonials<br />
sind etwa Steve McQueen, später David<br />
Beckham, Kate Moss oder Liv Tyler.<br />
2017 übernimmt schließlich der britische<br />
Chemiekonzern Ineos Belstaff.<br />
Ineos war über Jahre vom Unternehmer<br />
Jim Ratcliffe aus unterschiedlichen petrochemischen<br />
Töchtern anderer Konzerne<br />
zusammengebaut worden und erzielte<br />
2020 einen Umsatz von 60 Mrd. Dollar.<br />
Ratcliffe erlaubt sich Investitionen in<br />
branchenfremde, aber typisch britische<br />
Erzeugnisse. Neben Belstaff ist das etwa<br />
eine Autofirma, die sich zum Ziel gesetzt<br />
hat, jene Lücke zu füllen, die die Einstellung<br />
des klassischen Land Rover Defender<br />
hinterlässt. Der Ineos Grenadier, ein<br />
kantiger allradgetriebener Geländewagen,<br />
wird ab kommendem Jahr in einer<br />
französischen Fabrik der Smart-Daimler-<br />
Gruppe produziert. Entwickelt wurde er<br />
bei Magna Steyr in Graz, und Autojournalisten<br />
aus der ganzen Welt reisten an, um<br />
erste Prototypen auf der Teststrecke am<br />
Grazer Hausberg Schöckl durch das steile<br />
Terrain zu jagen.<br />
© Isabel Infantes/PA/picturedesk.com<br />
20 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
HIGHLIGHTS | 02<br />
Saar Magal und<br />
das obsessive Patriarchat<br />
Als Regisseurin und Choreografin füllt sie stets die Zwischenräume<br />
von Choreografie, Oper, Schauspiel und Performance – derzeit auf<br />
Einladung des Wiener Burgtheaters im Kasino am Schwarzenbergplatz.<br />
Saar Magal: Die<br />
faszinierende israelische<br />
Künstlerin<br />
des performativen<br />
Cross-overs<br />
arbeitet erstmals<br />
am Wiener Burgtheater.<br />
In dieser Art habe ich noch nie<br />
gearbeitet“, lacht die 68-jährige<br />
Schauspielerin Elisabeth<br />
Augustin und bezieht sich auf<br />
die sechs Wochen harter künstlerischer<br />
Arbeit an (Ob)Sessions<br />
mit der israelischen Regisseurin<br />
und Choreografin Saar Magal.<br />
Auf Einladung des Wiener Burgtheaters<br />
entwickelte Magal im Kasino am<br />
Schwarzenbergplatz eine bildgewaltige<br />
Inszenierung. Die Obsession unserer<br />
Gesellschaft für Jugend und die<br />
Angst vor dem Alter, die Kritik am Patriarchat,<br />
der moderne Feminismus und<br />
das Aufbrechen von Klischees sind dabei<br />
zentralen Themen.<br />
Saar Magal studierte in ihrer Geburtsstadt<br />
Tel Aviv sowie in London<br />
und unterrichtet unter anderem am<br />
Theatre Department der Harvard University.<br />
Bisher entwickelte sie Projekte<br />
für die Batsheva Dance Company sowie<br />
die Bayerische Staatsoper<br />
und inszenierte in Berlin,<br />
Paris, Zürich, Brüssel,<br />
Melbourne und Warschau.<br />
Saar Magals Produktionen<br />
bewegen sich in den<br />
Zwischenräumen von Choreografie,<br />
Oper, Schauspiel und Performance.<br />
Das neunköpfige Ensemble<br />
aus Schauspielern des Burgtheaters,<br />
Tänzerinnen und Studierenden der<br />
Musik und Kunst Privatuniversität<br />
Wien macht begeistert mit. maha<br />
(Ob)Sessions<br />
Kommende Vorstellungen:<br />
19. u. 20.11.<strong>2021</strong>, 20 Uhr,<br />
Kasino am Schwarzenbergplatz<br />
120 Min. ohne Pause<br />
www.tipp<br />
Chuzpe<br />
Rap ist ein Genre, das sich offen gegen<br />
Ausgrenzung und Diskriminierung zur<br />
Wehr setzt. Gleichzeitig gibt es immer öfter<br />
Fälle antisemitischer Inzidenzen in der<br />
Szene. Und sie häufen sich rund um politische<br />
Auseinandersetzungen zwischen<br />
Israelis und Palästinensern. Der Deutsch-<br />
Israeli Ben Salomo stellte seine Veranstaltungsreihe<br />
Rap am Mittwoch ein und zog<br />
sich 2018 zurück, da die Judenfeindlichkeit<br />
im Rap-Milieu immer offener wurde.<br />
„Als Jude, Israeli und auch noch<br />
als jemand, der sagt, dass das<br />
Existenzrecht Israels nicht in<br />
Frage gestellt werden darf,<br />
habe ich die volle Ladung abbekommen.“<br />
Ben Salomo<br />
Wie jüdische Rapper mit diesen Entwicklungen<br />
umgehen, was sie selbst erlebt<br />
haben und wofür Rap für sie immer<br />
noch steht: Darüber sprachen die<br />
Rapper:innen Ben Salomo und G-Udit<br />
mit Moderatorin und Produzentin Avia<br />
Seeliger in ihrer aktuellen Podcast-Folge<br />
mit Chuzpe und Schmackes!<br />
anchor.fm/chuzpe<br />
„Ich habe zum Beispiel Anfang des<br />
Sommers ein T-Shirt designt, auf<br />
dem Be aware of my Jewish Space-<br />
Laser steht.“ G-Udit<br />
© Wilfried Hösl © Thomas Köhler; Elsa Okazaki<br />
wına-magazin.at<br />
21
INTERVIEW MIT ROBERT STREIBEL UND CHRISTIAN H. STIFTER<br />
WINA: Der erste Volksbildungsverein wurde in Wien 1887<br />
gegründet. Recht bald gab es dann die ersten fixen Orte<br />
mit der Urania und dem Volksbildungsheim Ottakring,<br />
wobei die Urania naturwissenschaftlich und bürgerlich<br />
orientiert war und man in Ottakring auf Arbeiterbildung<br />
setzte. Aus welchem Bedürfnis heraus wurden Volksbildungseinrichtungen<br />
geschaffen?<br />
Christian H. Stifter: Auf der einen Seite hat die Gründung<br />
der ersten Volksbildungsvereine im Wesentlichen<br />
die allgemeine Bildungsmisere zur Grundlage.<br />
Der Analphabetismus hatte sich von Mitte bis Ende<br />
des 19. Jahrhunderts zwar reduziert, lag aber immer<br />
noch bei über 30 Prozent in den 1880er- und 1890er-<br />
Jahren und betrug dann vor<br />
Robert Streibel. dem Ersten Weltkrieg an die 25<br />
„Man sieht, dass durch Prozent. Es gab zwar die Schulpflicht,<br />
aber wie Eduard Lei-<br />
den Eingriff der Nationalsozialisten<br />
1938 vieles sching, einer der Pioniere der<br />
weggefallen ist.“<br />
Wiener Volksbildung, konstatierte:<br />
Die Rekruten beim Militär<br />
waren funktionale Analphabeten. Sie hatten zwar<br />
Lesen und Schreiben gelernt, das hatte aber in der<br />
Folge zu wenig mit Schriftkultur an sich zu tun. Hier<br />
gab es Kompensationsbedarf.<br />
Auf der anderen Seite war die Universität trotz des<br />
Aufstiegs der Naturwissenschaften und Technik eine<br />
Eliteninstitution, und Frauen war es im Grunde erst<br />
in der Ersten Republik möglich, ein Unistudium zu<br />
absolvieren. Vor dem Hintergrund der wichtigen<br />
Rolle der Wissenschaft, neuesten Erkenntnissen in<br />
allen Bereichen, vor allem aber in den Naturwissenschaften,<br />
galt es eine neue Instanz, eine Plattform zu<br />
schaffen, die eine ganz neue Form von Lernen und<br />
Lehren ermöglicht hat. Das war ein Ermöglichungsraum<br />
für eine ganze Fülle von Angeboten.<br />
„Lernort ohne soziale<br />
Scheidewände“<br />
Mit dem Band Nationalsozialismus und Volksbildung legte<br />
das Österreichische Volksschularchiv nun eine Aufarbeitung<br />
der Rolle der Volksbildung in der NS-Zeit<br />
vor (siehe auch Kasten). WINA sprach mit<br />
Christian H. Stifter, dem Direktor des VHS-<br />
Archivs, und Robert Streibel, Leiter der VHS<br />
Hietzing, über die Entwicklung der Wiener Volksbildung<br />
in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus.<br />
Juden und Jüdinnen waren sowohl<br />
Unterstützer wie auch Vortragende.<br />
Interview: Alexia Weiss,<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
Es gab also schon zu Beginn der Volksbildung einen Spagat<br />
zwischen Wissensvermittlung über neue wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse und Basisbildung.<br />
Christian H. Stifter: Das ist einerseits richtig, andererseits<br />
würde ich nicht von einem Spagat sprechen.<br />
Das klingt nach einer mühsamen Aktion. Man hat<br />
das sehr elegant und kreativ gelöst, indem das Angebot<br />
vertikal und horizontal schön durchgegliedert<br />
wurde in den einzelnen Einrichtungen, aber auch<br />
zwischen den Einrichtungen. Der Wiener Volksbildungsverein<br />
hatte in seinem Angebot mehr oder weniger<br />
alles: Angebote zu allen Bereichen des Wissens,<br />
aber auch zu Kunst, Kultur, Musik, zu Gesundheitsbildung,<br />
es gab Bewegungskurse und natürlich auch<br />
das, was man heute als Basisbildung versteht: lesen,<br />
schreiben und rechnen.<br />
Wenn wir uns die Zeit bis zum Ende der Monarchie anschauen:<br />
Wer hat Volksbildung in Anspruch genommen,<br />
und wer hat sie finanziert?<br />
Christian H. Stifter: Im Wesentlichen war es ein zivilgesellschaftliches<br />
Projekt, das vom reformorientierten<br />
liberalen Stadtbürgertum genauso wie von<br />
der aufsteigenden Sozialdemokratie getragen war.<br />
22 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Pioniere der Volksbildung<br />
Das ging gegen die klerikal-konservative Obrigkeit,<br />
die sozusagen einen Deckel auf das Herrschaftswissen<br />
halten wollte. Angesprochen waren im Wesentlichen<br />
alle. Gemeint war das Volk in seiner breiten<br />
Zusammensetzung und Herkunft sowie in den unterschiedlichen<br />
weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen.<br />
Alter, Geschlecht, das hat alles keine Rolle<br />
gespielt. Das war ein ganz neuartiger, pluraler, sehr<br />
inhomogener, faszinierender Lernraum. Und das Programm<br />
ist enthusiastisch angenommen worden. 40<br />
Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen<br />
aus der Arbeiterschaft, aber auch Handelsangestellte<br />
und niedere Beamte waren vertreten. Und im Schnitt<br />
wurden die Kurse mehrheitlich von Frauen besucht,<br />
im Median waren es 55 Prozent, bei manchen Themen<br />
sogar bis zu über 70 Prozent. Es gab hier eine breite<br />
soziale Streuung.<br />
Treibende Kräfte waren also die liberale und die sozialdemokratische<br />
Bewegung. Inwiefern hat in diesen Kurse<br />
und Bildungsangeboten der Zeitgeist eine Rolle gespielt,<br />
Christian H. Stifter.<br />
„Es ist schier unglaublich, wer<br />
aller an den Volkshochschulen<br />
gewirkt hat. Es war das Who<br />
ist who der Zeit vertreten.“<br />
„Das ging gegen<br />
die klerikal-konservative<br />
Obrigkeit,<br />
die sozusagen<br />
einen Deckel<br />
auf das Herrschaftswissen<br />
halten wollte.“<br />
Christian H. Stifter<br />
dass die Monarchie ein Ende zu haben hat? War das ein<br />
Katalysator?<br />
Christian H. Stifter: Das war es ganz sicher, wobei<br />
es immer schwierig ist, solche Effekte wirkungsgeschichtlich<br />
zu quantifizieren. Rund um die Errichtung<br />
des Volksbildungsheimes Ottakring fanden zum Beispiel<br />
die ersten Demonstrationen für ein Allgemeines<br />
Wahlrecht statt. Und die Volksbildungseinrichtungen<br />
waren von den Statuten her partizipativ gestaltet, Hörer<br />
und Hörerinnen konnten über Vertrauensleute<br />
beim Programm mitbestimmen. Es war tatsächlich<br />
auch so etwas wie eine Schule der Demokratie, ein<br />
Lernort ohne soziale Scheidewände. Das gab es in der<br />
Zeit der Monarchie in dieser Form nirgendwo anders.<br />
Das Gebäude der VHS Ottakring ist auch mit Mitteln der<br />
Familie Rothschild erbaut worden. Wie war hier insgesamt<br />
der Beitrag von jüdischen Unterstützern und Lehrenden?<br />
Christian H. Stifter: Der Beitrag von jüdischen<br />
Künstlern, Literaten, Intellektuellen, Wissenschaftlern<br />
sowie Proponenten und Förderer war enorm.<br />
Das kann man aus heutiger Sicht nicht hoch genug<br />
schätzen.<br />
Können Sie hier konkrete Beispiele nennen?<br />
Christian H. Stifter: Emil Reich zum Beispiel. Alfred<br />
Adler war mit seiner Individualpsychologie präsent.<br />
Sigmund Freud war selbst kein Vortragender,<br />
aber hat das Volksheim Ottakring als förderndes Mitglied<br />
unterstützt. Der langjährige, über zwei Dekaden<br />
wirkende Generalsekretär des Volksheims Ottakring,<br />
Richard Czwiklitzer, war mosaischen Glaubens.<br />
Er durfte 1938 gerade noch das Archiv ordnen und war<br />
dann gezwungen, seine Besitzverhältnisse der Vermögensverkehrsstelle<br />
zu rapportieren. Mimi Grossberg,<br />
die aus anderen Kontexten sehr bekannt ist und<br />
in die USA emigrieren konnte, war Bibliothekarin an<br />
der VHS Ottakring. Amelia Sarah Levetus war eine bedeutende<br />
Kunsthistorikerin, die bereits vor der Jahrhundertwende<br />
von Birmingham nach Wien übersiedelt<br />
ist. Sie war die erste Frau, die an der Universität<br />
Wien Vorlesungen gehalten hat. Levetus hat Englischkurse<br />
an der VHS Ottakring gehalten und 1900 eine<br />
wichtige Studie zu „Imperial Vienna“ verfasst. Sie ist<br />
dann hochbetagt in Wien gestorben.<br />
Robert Streibel: Und dann wären da noch zu nennen:<br />
Elise und Helene Richter. Elisa war Romanistin und<br />
wurde als erste Frau zum Außerordentlichen Professor<br />
ernannt. Helene war eine angesehene Anglistin<br />
und Theaterwissenschaftlerin. Beide haben auch in<br />
den Volkshochschulen Vorträge gehalten und wurden<br />
schließlich von den Nazis in Theresienstadt ermordet.<br />
Christian H. Stifter: Und auch Jean Améry, eigentlich<br />
Hans Mayer, war Bibliothekar in der Zweigstelle<br />
in der Landstraße. Es ist wirklich schier unglaublich,<br />
wer aller an den Volkshochschulen gewirkt hat. Es war<br />
das Who ist who der Zeit vertreten – man muss fast<br />
fragen: Wer war nicht dabei? Teilweise wurde nicht<br />
wına-magazin.at<br />
23
Jüdische Mäzene<br />
Die Wiener Volkshochschulen in der NS-Zeit<br />
Im Band Nationalsozialismus und<br />
Volksbildung, der im Rahmen der<br />
Reihe Spurensuche erschienen ist,<br />
beleuchtet das Österreichische<br />
Volkshochschularchiv die Rolle und<br />
Funktion der Volks- beziehungsweise<br />
Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus.<br />
Kritisch ist man zu<br />
sich selbst: Erst spät finde diese Auseinandersetzung<br />
statt. Und auch in<br />
der Sache wird in dem Band Tacheles<br />
gesprochen.<br />
Da schildert etwa der Historiker<br />
Thomas Dostal die Gleichschaltung<br />
der Wiener Volksbildungseinrichtungen<br />
nach dem „Anschluss“<br />
1938. Jüdische Vortragende, aber<br />
auch Hörer und Hörerinnen wurden<br />
ausgeschlossen, und auch das<br />
Programm und die Herangehensweise<br />
an den Unterricht veränderten<br />
sich. Es sei „das Ende der wissenschaftszentrierten<br />
Wiener Richtung<br />
der Volksbildung“ gewesen, so<br />
Dostal.<br />
SA-Sturmbannführer Anton Haasbauer<br />
etwa machte es sich zur Aufgabe,<br />
die Volksbildner entsprechend<br />
zu schulen. Denn, so seine Sorge: Ein<br />
Gros von ihnen stammte „noch aus<br />
der Zeit der liberalistischen Volksbildung“.<br />
Daher wurde hier eine<br />
Schulungsreihe unter dem Titel<br />
Volksbildung im Dienste der Volksgemeinschaft<br />
organisiert.<br />
Das Vortragsprogramm der Wiener<br />
Volkshochschulen umfasste in<br />
der NS-Zeit Themen wie „Adolf Hitler:<br />
Mein Kampf“, „Wegbereiter<br />
und Künder des Nationalsozialismus“,<br />
„Vom Ersten zum Dritten<br />
Reich“, „Gesundes Volk“<br />
oder „Rassenkunde und Rassenpflege“.<br />
Die Vortragsreihe<br />
Die Juden in Wien thematisierte<br />
an sechs Abenden mit Lichtbildern<br />
die „Geschichte der Einwanderung<br />
und Ausbreitung<br />
der Juden“ sowie „ihr Eindringen<br />
in die verschiedenen Bereiche<br />
des kulturellen und wirtschaftlichen<br />
Lebens“.<br />
Kurse, die der politischen Indoktrinierung<br />
dienen sollten,<br />
kamen aber meist aus Mangel<br />
an Hörern und Hörerinnen nicht<br />
zustande, schreibt Dostal. Insgesamt<br />
hatte man mit einem Teilnehmerschwund<br />
zu kämpfen:<br />
Jene Hörer, die politisch interessiert<br />
waren, boykottierten nun die Volksbildungseinrichtungen.<br />
Die Schwerpunkte<br />
des Programms lagen in der<br />
NS-Zeit beim Sprachenunterricht, bei<br />
kaufmännischen Fächern oder Praktischem<br />
wie Nähen.<br />
nur Geld gespendet, sondern ganze Bibliotheken.<br />
Und wir wissen heute aus unseren Untersuchungen,<br />
dass allein unter den Dozenten und Dozentinnen der<br />
Anteil der jüdischen Vortragenden rund 35 Prozent<br />
war. Das heißt aber nicht, dass das eine homogene<br />
Gruppe war. Hinzu kommt, dass es auch eine interessante<br />
Nachbarschaft zu Personen gab, die einem<br />
anderen Spektrum angehörten.<br />
Die etwa zum Kreis der Bärenhöhle zählten.<br />
Christian H. Stifter: Ja, die gab es. Sie haben an den<br />
Einrichtungen aber keine ideologisierenden Vorträge<br />
gehalten, sondern sich auf ihr Fachgebiet beschränkt.<br />
Robert Streibel: Es ist allerdings bezeichnend, dass<br />
der Anteil der jüdischen Dozenten und Dozentinnen<br />
und Unterstützer der Volkshochschulen erst so richtig<br />
durch das Gedenken oder Erinnern an die Opfer<br />
der Shoah ins Bewusstsein rückte. Im Rahmen eines<br />
Projekts haben wir ab 2008 begonnen, die Namen der<br />
Opfer der Shoah im Bereich der Wiener Volksbildung<br />
Nationalsozialismus<br />
und<br />
Volksbildung.<br />
Eine späte<br />
Annäherung.<br />
Österreichisches<br />
Volkshochschularchiv<br />
2020 (Spurensuche,<br />
29. Jg.),<br />
231 S., € 18,50<br />
Der Band kann<br />
unter archiv@<br />
vhs.at bestellt<br />
werden.<br />
zu eruieren. Wie viele Ermordete gab es, wie vielen ist<br />
die Flucht ins Exil geglückt?<br />
Christian H. Stifter: Mittlerweile haben wir in unserer<br />
Datenbank insgesamt rund 1.000 Personen, sind<br />
aber noch nicht fertig. Wobei für viele dieser Personen<br />
ihr Judentum nicht das zentrale Thema war. Auch<br />
Ludo Moritz Hartmann, die führende Gründerperson<br />
der Volkshochschulen in Wien, kam aus einem<br />
jüdischen Elternhaus, war in seinem Leben aber sehr<br />
profan durchorganisiert, das hat kaum eine Rolle gespielt.<br />
Gab es in der Zwischenkriegszeit und im Roten Wien einen<br />
weiteren Aufschwung für die Volkshochschulen?<br />
Oder auch eine stärkere Politisierung durch die Stadtregierung?<br />
Christian H. Stifter: Es war den jüdischen Mäzenen<br />
zu verdanken, dass die ersten Einrichtungen überhaupt<br />
ein Funding erhalten haben. Nur mit Begeisterung<br />
wäre das nicht auf die Beine zu stellen gewesen.<br />
Zu dem Zeitpunkt, an dem Karl Lueger Bürgermeister<br />
in Wien wurde, hat er sofort allen Volksbildungseinrichtungen<br />
die ohnedies minimale Unterstützung<br />
abgesprochen.<br />
Die erste tatsächliche Mitfinanzierung von kommunaler<br />
Seite her gab es im Roten Wien. Deshalb war es<br />
möglich, dass ab Mitte der 1920er-Jahre das von Beginn<br />
an gewünschte Prinzip der flächendeckenden<br />
Dezentralisierung sukzessive konkretisiert wurde.<br />
Es gab Zweigstellengründungen und einen weiteren<br />
Ausbau des Veranstaltungs- und Vortragsangebotes.<br />
Die wirkliche erste Hochblüte ist sicher in der Mitte<br />
dieses Kulturkampfes der Ersten Republik in den<br />
1920er-Jahren im Roten Wien zu verorten.<br />
Hat sich da dann bezüglich der vermittelten Inhalte etwas<br />
geändert?<br />
Christian H. Stifter: Bei den Inhalten hat sich nur<br />
im Bereich der methodischen Herangehensweise etwas<br />
geändert. Man hat versucht, das Prinzip der Augenhöhe<br />
auch methodisch-didaktisch weiterzuentwickeln,<br />
man wollte zum Beispiel eine Aussprache<br />
– heute würde man sagen Diskussion – nach den Vorträgen.<br />
Das war aber auch durch auf Zettel geschriebene<br />
Kommentare möglich, die dann verlesen wurden,<br />
damit sich auch Personen beteiligen konnten,<br />
die Schwierigkeiten hatten, vor großem Publikum<br />
zu sprechen. Von den Inhalten her gab es sicherlich<br />
eine massive Ausweitung des Angebots entlang der<br />
weiter ausdifferenzierenden Wissenschaftsdisziplinen<br />
sowie Anleitungen zu praktischen Anwendun-<br />
24 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Abwehr des Antisemitismus<br />
„Es ist bezeichnend, dass der Anteil der jüdischen Dozenten<br />
und Dozentinnen und Unterstützer der Volkshochschulen<br />
erst so richtig durch das Gedenken oder Erinnern an die<br />
Opfer der Shoah ins Bewusstsein rückte.“ Robert Streibel<br />
gen. Alfred Adler hat nicht einfach nur individualpsychologische<br />
Vorträge gehalten, sondern auch<br />
Bezirksberatungsstellen eingerichtet, etwa an der<br />
Volkshochschule. Gleiches gilt auch für Viktor Frankl.<br />
Waren das Therapieangebote?<br />
Christian H. Stifter: Weniger Therapie, Existenzberatung<br />
würde man heute vielleicht sagen.<br />
Robert Streibel: Die Volkshochschulen haben zwar<br />
durch das Rote Wien eine starke Unterstützung gehabt,<br />
aber die Angebote waren durchaus im bürgerlichen<br />
Mainstream. Das zeigt sich auch in späterer<br />
Folge. Man sieht etwa, dass durch den Eingriff der<br />
Nationalsozialisten 1938 vieles weggefallen ist, es<br />
aber trotzdem möglich war, dass manche ihre Vorträge<br />
– zwar leicht modifiziert, aber doch – die ganze<br />
Zeit über halten konnten. Manche haben auch nach<br />
1945 weiter unterrichtet. Hier muss man fragen, ob<br />
das nur Flexibilität war oder ob es einen Bereich gegeben<br />
hat, der scheinbar ideologiefrei war. Ich bin<br />
zwar skeptisch, dass es diesen Bereich gegeben hat,<br />
aber da und dort trifft man das schon. Ein Beispiel<br />
sind Buchhaltungskurse.<br />
Heißt das im Umkehrschluss, dass bis 1934 Antisemitismus<br />
in den Unterrichtsangeboten und den Haltungen der<br />
Lehrenden nicht vorgekommen ist?<br />
Christian H. Stifter: Ich habe das einmal für einen<br />
Konferenzbeitrag auf der Basis von schriftlichen<br />
Zeugnissen und anhand der Kursprogramme analysiert.<br />
Was sich mit Sicherheit feststellen lässt, ist,<br />
dass sich in den Kursen und Vorträgen anhand der<br />
Kurstitel Antisemitismus absolut nicht finden lässt.<br />
Das heißt aber nicht, dass nicht bei manchen Vorträgen<br />
zwischendurch antisemitische Äußerungen gefallen<br />
sind. Aber in der Einrichtung als solcher war<br />
Antisemitismus nicht präsent. Im Gegenteil: Von Beginn<br />
an hat man mit dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus<br />
in Wien kooperiert. Man war bereits<br />
vor dem Ersten Weltkrieg beim Ersten Antirassismus-Weltkongress<br />
in London vertreten. Ich würde<br />
sagen, ja, man vermisst aktive Vorträge gegen die Faschisierung<br />
der Gesellschaft. Aber sozusagen diese<br />
Vakzinierung, die Ludo Moritz Hartmann gesehen<br />
hat, durch kritisches Denken zu lernen, sich für demokratische<br />
Strukturen einzusetzen und für diese in<br />
der Gesellschaft einzutreten, die gab es.<br />
Christian H. Stifter: Es gab ja gerade in den 1920erund<br />
1930er-Jahren Anfälligkeit für autoritäre Ideologien,<br />
Anfälligkeit für völkische Ideologien, Anfälligkeit<br />
für Antisemitismus, Anfälligkeit dann ganz stark<br />
für den Anschlussgedanken, und all das bis auf das<br />
Letztgenannte trifft auf die Volkshochschulen nicht<br />
nur nicht zu, sondern es war das Prinzip des Denken-<br />
Lehrens etwas, das bereits nach 1934 ganz massiv<br />
attackiert wurde. Da hat sich der Austrofaschismus<br />
ganz entspannt zurückgelehnt und gesagt, endlich<br />
können wir diese Volkshochschulen frei machen von<br />
diesem jüdischen, analytisch-zersetzenden Prinzip<br />
einer wissenschaftsorientierten Volksbildung. Den<br />
Menschen zu ermöglichen, selbstkritisch und autonom<br />
zu agieren, das wurde als eine ganz große Gefahr<br />
gesehen.<br />
wına-magazin.at<br />
25
Freuds späte Flucht<br />
Ein Amerikaner in Wien<br />
Der US-Autor Andrew Nagorski bereitet ein<br />
Buch über Sigmund Freuds Flucht nach England<br />
vor und wer aller diesem dabei geholfen hat.<br />
Text und Foto: Reinhard Engel<br />
Eigentlich liegt das Manuskript<br />
schon beim Lektor in New York.<br />
Doch Andrew Nagorski ist – da<br />
man als geimpfter Amerikaner<br />
wieder nach Europa fliegen darf – noch<br />
einmal für ein paar Tage nach Wien gekommen,<br />
um ein paar Details zu checken,<br />
Atmosphärisches einzuatmen. Manches<br />
klingt nach Kleinigkeiten, aber auch die<br />
müssen stimmen. Ist Freud etwa von seiner<br />
Praxis und Wohnung in der Berggasse<br />
19 zum Verlag der psychoanalytischen Gesellschaft<br />
auf Nummer 7 hinunter oder<br />
hinauf gegangen?<br />
Nagorski, ein langjähriger internationaler<br />
Korrespondent für das US-Magazin<br />
Newsweek, ist es gewohnt, auch kleinste<br />
Details zu checken und noch einmal gegenzuchecken.<br />
Das gilt auch für seine<br />
historischen Bücher, von denen sich eines<br />
etwa der Wende im Zweiten Weltkrieg<br />
vor den Toren Moskaus im Winter<br />
1941 widmet (meist gilt erst Stalingrad<br />
zwei Jahre später als Kipppunkt). Ein anderes<br />
beschreibt die Sicht der Amerikaner<br />
in Europa auf den erstarkenden Nationalsozialismus<br />
und wie ungefährlich<br />
oder gefährlich sie diesen einschätzten.<br />
Nun aber Freud. Im Frühjahr soll das<br />
Buch Saving Freud. The Rescuers Who Brought<br />
Him to Freedom (Freuds Rettung. Die Helfer,<br />
die ihn in die Freiheit brachten) bei Simon &<br />
Schuster erscheinen. „Viele Menschen<br />
glauben, alles über Freud zu wissen“, erzählt<br />
Nagorski. „Aber das stimmt natürlich<br />
nicht, und viele haben auch eine ganz<br />
falsche Vorstellung. Selbst wenn schon<br />
zahlreiche Bücher existieren, gibt es immer<br />
noch interessante Aspekte, die nicht<br />
erzählt wurden.“ Sein aktuelles Freud-<br />
Buch wird sich auf dessen Retter konzentrieren,<br />
die den Professor in das sichere<br />
England brachten, wo er im November<br />
1939 an seinem Krebsleiden starb.<br />
Wie kam es zum Sprung von politischen<br />
und militärhistorischen Themen<br />
zum Begründer der Psychoanalyse?<br />
„Ich habe Autoren-Freunde, die wissen<br />
schon während sie noch an<br />
einem Buch arbeiten, was<br />
das nächste sein wird. Bei<br />
mir ist das nicht so. Ich bin<br />
ganz in meinem jeweiligen<br />
Thema vergraben, und<br />
dann braucht es eine Zeit<br />
der Ruhe und des Überlegens,<br />
wohin es beim nächsten<br />
Buch gehen soll.“<br />
Mit Wien verbunden. Auf<br />
Freud war er durch Stefan<br />
Zweigs Die Welt von Gestern<br />
gestoßen und auf die persönliche<br />
Beziehung der beiden<br />
Männer. Zweig war laut<br />
Nagorski sicher der politischere<br />
der Freunde, und<br />
er hatte sich früher für die<br />
Emigration entschieden. Bei Freud sollte<br />
es länger dauern, und er wollte die Notwendigkeit<br />
nicht sehen, hielt den österreichischen<br />
Ständestaat für weit weniger<br />
gefährlich als Nazi-Deutschland, dachte<br />
auch zunächst, er werde als alter Mann<br />
nicht mehr ins Ausland flüchten.<br />
Nagorski: „Er war sehr mit Wien verbunden,<br />
hatte seine täglichen Routinen<br />
mit Spaziergängen am Ring und Kaffeehaus-Besuchen,<br />
und trotz aller internationaler<br />
Kontakte als Arzt und in der psychoanalytischen<br />
Gesellschaft wollte er<br />
hier bleiben.“ Die USA waren ihm überdies<br />
nicht sympathisch, bei einem Besuch<br />
im Jahr 1907 beklagte er sich im klassischen<br />
Muster des gebildeten, versnobten<br />
Europäers, der auf die geldgierigen, oberflächlichen<br />
Amerikaner herabsieht.<br />
Und doch kümmerte sich eine Gruppe<br />
von sehr unterschiedlichen Menschen<br />
darum, dass der Professor nach dem<br />
„Anschluss“ rechtzeitig Großdeutschland<br />
verließ. Eine wichtige Rolle spielte<br />
dabei seine Tochter Anna, die bereits als<br />
Psychoanalytikerin arbeitete. Freud sagte<br />
einmal, nur weil sie noch ein Leben vor<br />
sich habe, sei er überhaupt bereit zu ge-<br />
„Wir machen<br />
es uns mit der<br />
Geschichte<br />
oft einfach,<br />
im Rückblick<br />
scheint alles<br />
logisch. Aber in<br />
der Zeit, in der<br />
man selbst lebt,<br />
sind die Dinge<br />
komplizierter“<br />
Andrew Nagorski<br />
hen. Für die praktischen Aspekte der Emigration<br />
sollten aber etwa folgende Personen<br />
von Bedeutung werden, und mit<br />
einer Ausnahme waren diese Helfer keine<br />
Juden: William Christian Bullet, ein amerikanischer<br />
Journalist, Autor und Diplomat,<br />
unter anderem Botschafter in der<br />
Sowjetunion und in Frankreich.<br />
Marie Bonaparte, eine<br />
Patientin Freuds und<br />
angeheiratete Prinzessin<br />
der griechischen<br />
und dänischen Königsfamilien.<br />
Sie streckte<br />
unter anderem Geld für<br />
die Reichsfluchtsteuer<br />
vor und brachte Freud<br />
auf der ersten Station<br />
der Flucht nach England<br />
in Paris bei sich unter.<br />
Ernest Jones, ein walisischer<br />
Psychoanalytiker,<br />
der nach dem Konflikt<br />
mit C. G. Jung eine<br />
zentrale Rolle unter<br />
Freuds Anhängern erlangt<br />
hatte. Jones verfügte<br />
laut Nagorski in<br />
London über beste Beziehungen und besorgte<br />
die notwendigen Papiere zu einer<br />
Zeit, als die westlichen Länder alles andere<br />
als freundlich gegenüber jüdischen<br />
Einwanderern waren.<br />
Max Schur war Freuds Arzt in Wien,<br />
Jude wie er, zwar um viele Jahre jünger,<br />
aber mit ihm sehr eng verbunden. Er<br />
sollte ihn auch in London bis zu seinem<br />
Tod weiter betreuen, nachdem er zuvor in<br />
Amerika die Bürokratie für die Flucht seiner<br />
eigenen Familie erledigt hatte.<br />
Und dann war da noch Anton Sauerwald,<br />
ein Wiener Nazi, der als Kommissarischer<br />
Leiter die „Arisierung“ von Freuds<br />
Praxis und des psychoanalytischen Verlags<br />
betrieb. Sauerwald begann während<br />
seiner „Arbeit“ Freud zu schätzen und<br />
half ihm insofern, als er nicht über dessen<br />
Fremdwährungskonten berichtete. „Das<br />
hätte ihm eventuell die Ausreise verunmöglicht“,<br />
erklärt der Autor.<br />
Zur persönlichen Motivation Nagorskis<br />
für dieses Thema: „Wir machen es uns mit<br />
der Geschichte oft einfach, im Rückblick<br />
scheint alles logisch. Aber in der Zeit, in<br />
der man selbst lebt, sind die Dinge komplizierter.<br />
Man kann manches nicht sehen<br />
26 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Retterinnen und Retter<br />
oder will es nicht sehen. Ich habe mich<br />
gefragt, ob ich – wäre ich zu dieser Zeit<br />
Korrespondent in Deutschland gewesen<br />
– verstanden hätte, wie sich die Lage entwickelt.“<br />
Und Nagorski hat noch eine persönliche<br />
Motivation: die Emigrationsstory seiner<br />
eigenen Familie. Sein Großvater, ein<br />
bürgerlicher Anwalt in Warschau, arbeitete<br />
in London während des Zweiten Weltkriegs<br />
für die polnische Exilregierung.<br />
Sein Vater, ein junger Offizier in der polnischen<br />
Armee, schlug sich, nachdem<br />
sein Panzerbataillon von den Deutschen<br />
überrollt worden war, auf abenteuerliche<br />
Weise über Ungarn und Jugoslawien<br />
nach Frankreich durch und meldete sich<br />
zur British Army. In Schottland wurde er<br />
zum Fallschirmjäger ausgebildet, kam<br />
aber nicht zum Einsatz, sondern arbeitete<br />
in einer Presseabteilung des Militärs.<br />
Andrew<br />
Nagorski<br />
wurde in Edinburgh<br />
geboren,<br />
startete seine berufliche<br />
Laufbahn<br />
als US-High-<br />
School-Lehrer in<br />
Geschichte, wurde<br />
internationaler<br />
Korrespondent<br />
und später Buchautor.<br />
Andy wurde 1947 in Edinburgh geboren,<br />
wuchs aber in den USA auf. „Meine<br />
Mutter hielt es in Schottland nicht aus,<br />
und mein Vater meinte, in Großbritannien<br />
werden wir nie dazugehören, die<br />
USA sind ein Einwandererland, wo jeder<br />
sein Glück machen kann.“ Die ersten<br />
Jahre der Nagorskis waren mühsam, der<br />
Vater verkaufte Enzyklopädien und Geschirr,<br />
doch dann bekam er einen Job im<br />
diplomatischen Dienst, schließlich sogar<br />
einige interessante Auslandsposten, auf<br />
die er die Familie mitnahm: Kairo, Seoul,<br />
Paris. Die häufigen Ortswechsel und verschiedenen<br />
Kulturen sollten später für<br />
Nagorski Junior als Auslandskorrespondent<br />
zu seinem beruflichen Leben werden.<br />
Doch Ost- und Mitteleuropa ließen<br />
ihn nie aus, hier hat er seine Wurzeln,<br />
hier sucht er auch weiter nach Details –<br />
über und unter der Oberfläche.<br />
AUSWEISUNG ALS<br />
ARBEITSBEWEIS<br />
Andrew Nagorski lernte als<br />
Newsweek-Korrespondent die<br />
unterschiedlichsten Menschen<br />
und Regime kennen.<br />
Nach dem Geschichtsstudium in Amherst<br />
unterrichtete Nagorski drei Jahre<br />
lang an einer US-High-School, hatte es bereits<br />
zur Pragmatisierung gebracht. Doch<br />
die Schule langweilte ihn, und obwohl er für<br />
eine Familie mit zwei kleinen Kindern verantwortlich<br />
war, kündigte er und zog nach<br />
New York, um es im Journalismus zu probieren.<br />
Zuvor hatte er erfolglos bei den Tageszeitungen<br />
Boston Globe und Christian<br />
Science Monitor angeklopft, das Magazin<br />
Newsweek gab ihm eine Chance. In seiner<br />
sechsmonatigen Probezeit war er wöchentlich<br />
kündbar, an den Stress erinnert er sich<br />
heute noch mit Schrecken. Er wurde aber<br />
aufgenommen und schrieb zunächst Korrespondentenberichte<br />
und Agenturmeldungen<br />
um, bis auch für ihn eine erste<br />
Auslandsstelle frei wurde: Hong Kong mit<br />
Zuständigkeit für eine Reihe südostasiatischer<br />
Länder.<br />
Dabei sollte es nicht bleiben. Er berichtete<br />
aus Bonn und Rom, aus Berlin und<br />
Moskau. Dort war er übrigens einer der<br />
letzten internationalen Reporter, der wegen<br />
kritischer Berichterstattung kurzfristig<br />
ausgewiesen wurde. Das sollte dann<br />
sein erstes Buch werden. Ehe er sich ganz<br />
dem freien Autorentum widmete, baute er<br />
noch für Newsweek eine Reihe von internationalen<br />
Tochtermagazinen auf: in Polen, in<br />
Russland, in Argentinien.<br />
Nagorski, damals in Bonn stationiert, engagierte<br />
mich als Wiener ständigen Mitarbeiter<br />
von Newsweek im Winter 1985, nach<br />
den Terroranschlägen auf Juden in Wien<br />
und Schwechat. Er hatte einen Stringer gesucht,<br />
ich war bereits der lokale Korrespondent<br />
der New Yorker Jewish Telegraphie<br />
Agency und schrieb für den Londoner<br />
Economist. Bald darauf sollte die Waldheim-Affäre<br />
eine intensivere Berichterstattung<br />
notwendig machen. Und noch<br />
einmal, viele Jahre später, arbeiteten wir<br />
wieder direkt zusammen, als Nagorski von<br />
Berlin aus für das vereinigte Deutschland<br />
und für Osteuropa verantwortlich war.<br />
wına-magazin.at<br />
27
Familientradition<br />
Zurück zu den<br />
jüdischen Wurzeln<br />
Tony Curtis und seine Tochter Jamie Lee Curtis,<br />
zwei Hollywood-Größen, waren und sind immer dabei,<br />
wenn es darum geht, die Restaurierung jüdischer Synagogen<br />
in Ungarn finanziell zu ermöglichen.<br />
Bericht von Marta S. Halpert<br />
„<br />
Viel Glück, Jamie, Du bist ein richtiger<br />
mentsch!“ Mit diesen emotionalen<br />
Worten beendete Maddy Albert<br />
ihren Bericht in der St. Louis Jewish Light, einer<br />
Gemeindezeitung im US-Bundesstaat<br />
Missouri, über die beliebte 62-jährige Hollywood-Schauspielerin<br />
und erfolgreiche<br />
Kinderbuchautorin Jamie Lee Curtis. Albert<br />
war entzückt, dass die Tochter von<br />
Schauspielerlegende Tony Curtis die Synagoge<br />
ihrer Großeltern im ungarischen Mátészalka<br />
in diesem Sommer gemeinsam mit<br />
dem Bürgermeister der Stadt restaurieren<br />
ließ. Curtis kam für die Dreharbeiten zu Borderlands,<br />
einer Science-Fiction-Komödie,<br />
die sowohl von jüdischen Produzenten wie<br />
auch einem solchen Regisseur produziert<br />
wurde, nach Budapest, u. a. mit Kollegin<br />
Cate Blanchett. In einer Wochenenddrehpause<br />
reiste Curtis in die 16.532-Einwohner-Stadt<br />
ihrer Vorfahren, die im Komitat<br />
Szabolcs-Szatmár-Bereg, 77 Kilometer<br />
nordöstlich von Debrecen, gelegen ist.<br />
Von dort aus erzählte sie in einem Instagram-Post,<br />
dass sie als finanzielle Partnerin<br />
der Stadt Mátészalka die Synagoge,<br />
in der ihre Großeltern gebetet hatten, als<br />
ein Gemeindezentrum für Feste, Kunst<br />
und Musik renovieren und wiederbeleben<br />
wolle. „Jetzt ist alles hier so leer und<br />
verlassen, da die gesamte jüdische Bevölkerung<br />
vernichtet wurde. Das ursprünglich<br />
1857 errichtete Bethaus steht noch<br />
und ist eine lebendige Hommage an jene,<br />
die hier gelebt haben“, so Enkelin Curtis.<br />
„Auch meine Großeltern Helen und Emanuel<br />
Schwartz haben hier gebetet.“<br />
Jamie Lee Curtis war zuletzt in der köstlich-bösen<br />
Krimikomödie Knives Out zu sehen.<br />
Bereits 1988 brillierte sie im gleichen<br />
Genre als Wanda Gershwitz an der Seite<br />
von Kevin Kline und den Monty-Python-<br />
Stars John Cleese und Michael Palin im<br />
Film A fish called Wanda und heimste zahlreiche<br />
Preise ein. „Ich repräsentierte hier<br />
und jetzt meine Familie bei der Eröffnung<br />
des Tony Curtis Memorial Museum und des<br />
Cafés, das zu Ehren meines Vaters gestaltet<br />
wurde, der 2010 im Alter von 85 Jahren verstorben<br />
ist.“ Die Tochter aus der ersten Ehe<br />
von Tony Curtis und der Schauspielerin Janet<br />
Leigh zeigte sich sehr gerührt von den<br />
„Ihre neue Initiative in Ungarn ist inspirierend und<br />
sehr bedeutend.“ Jüdische Gemeindezeitung St. Louis Jewish Light<br />
Ausstellungsobjekten: „Es gibt wunderschöne<br />
Fotos aus seinem Leben, man hat<br />
Kostüme aus seinen Filmen, diverse Auszeichnungen<br />
und seine Malerei zusammengetragen.“<br />
Erfreut war Curtis, die bisher<br />
acht Kinderbücher verfasst hat, dass<br />
das Museum ganz in der Nähe der Synagoge<br />
gelegen ist.<br />
Jüdisches aus Mátészalka. Im Jahr 1941 zählte<br />
die jüdische Gemeinde von Mátészalka<br />
1.555 Mitglieder und repräsentierte damit<br />
über 15 Prozent der Stadtbevölkerung.<br />
Bereits in diesem Jahr wurden die jüdischen<br />
Männer von den ungarischen Pfeilkreuzlern<br />
zur Zwangsarbeit eingezogen. Als<br />
die deutsche Wehrmacht 1944 Ungarn besetzte,<br />
begannen die Todeszüge in das Vernichtungslager<br />
Auschwitz-Birkenau zu rollen.<br />
1946 kehrten 150 Überlebende nach<br />
Mátészalka zurück. Nach der gescheiterten<br />
Revolution 1956, als die Kommunis-<br />
ten endgültig das Land übernahmen, gelang<br />
es noch einigen, nach Nordamerika<br />
oder Israel auszuwandern. Im Jahre 1959<br />
lebten noch 98 Juden in der Heimatstadt<br />
der Schwartz, späteren Curtis.<br />
Die Entdeckung des Bernard Schwartz.<br />
Bernard Schwartz, wie der sechsmal verheiratete<br />
spätere Hollywood-Star hieß,<br />
wurde am 3. Juni 1925 in New York geboren<br />
und hatte noch zwei Brüder. Seine Eltern<br />
betrieben eine Schneiderei, in der die<br />
Familie zeitweise auch lebte. Bis zu seinem<br />
sechsten Lebensjahr sprach Bernard/Tony<br />
nur Ungarisch und Jiddisch. Während seiner<br />
Zeit an der Highschool hielt er sich lieber<br />
im Kino und am Broadway auf als in der<br />
Schule. Ab 1943 und bis Kriegsende diente<br />
Curtis in der US-Marine auf einem U-Boot-<br />
Begleitschiff. Bei einem Arbeitsunfall verletzte<br />
er sich schwer, erhielt nach seiner<br />
Genesung eine Kriegsversehrtenrente und<br />
konnte erneut auf die Schule gehen.<br />
Ab 1947 nahm er beim legendären Theaterpädagogen<br />
und Regisseur Erwin Piscator<br />
Schauspielunterricht. Zu dessen Schülern<br />
zählten auch spätere Stars wie Marlon<br />
Brando, Walter Matthau und Harry Belafonte.<br />
Abends trat er in Statisten- und Nebenrollen<br />
in kleinen New Yorker Theatern<br />
auf, so im Frühjahr 1948 in Golden Boy.<br />
Hier wurde Bob Goldstein, Talentsucher<br />
der Universal Studios, auf den gut aussehenden<br />
jungen Mann aufmerksam:<br />
Bernie Schwartz, wie Tony Curtis<br />
zu diesem Zeitpunkt noch hieß, erhielt<br />
ein Flugticket nach Los Angeles<br />
und einen Vertrag bei den Universal<br />
Studios. Das war der Beginn einer großen<br />
Karriere. Am 4. Juni 1951 heiratete er seine<br />
Schauspielkollegin Janet Leigh. Aus dieser<br />
Ehe stammen die Töchter Kelly Lee Curtis<br />
und Jamie Lee Curtis, die beide zum Film<br />
gingen. Bei den Dreharbeiten zu Taras Bulba<br />
lernte Curtis 1961 die damals 16-jährige<br />
deutsche Schauspielerin Christine Kaufmann<br />
kennen – aus dieser Ehe hat Jamie<br />
Lee noch zwei Halbschwestern.<br />
1986 begann Tony Curtis eine neue Karriere<br />
als Maler und bildender Künstler und<br />
zog sich nach Hawaii zurück. Dort stellte<br />
er seine Bilder erstmals öffentlich aus.<br />
Die Ausstellung stieß auf große Resonanz,<br />
und seine Bilder finden seither auch unter<br />
Kunstkennern Beachtung. Bis zu seinem<br />
Tod stellte Curtis seine Werke regelmäßig<br />
in den USA, Europa und Asien aus.<br />
Die Preise für einen „echten Curtis“ bewegen<br />
sich zwischen 20.000 und 100.000 US-<br />
Dollar.<br />
28 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Renovierung von Bethäusern<br />
Tony Curtis mit seiner ersten Frau Janet<br />
Leigh und den gemeinsamen Töchtern Kelly<br />
Lee und Jamie Lee (li.).<br />
Schauspielerin Jamie Lee Curtis (u.).<br />
© mptv/picturedesk.com; Wikimedia; 123RF<br />
Baum des Lebens: Raoul Wallenberg<br />
Holocaust Memorial Park, geschaffen vom<br />
ungarischen Bildhauer Imre Varga, finanziert<br />
von Tony Curtis.<br />
den. Da sich die Große Synagoge mit einem<br />
Fassungsraum von 3.000 Plätzen an der<br />
Dohány utca (deutsch: Tabakstraße) befindet,<br />
wird sie allgemein auch als Dohánytemplom<br />
bezeichnet.<br />
Tony Curtis gründete 1998 die Emanuel<br />
Foundation for Hungarian Culture und<br />
fungierte bis zu seinem Tod am 29. September<br />
2010 – er starb an Herzversagen infolge<br />
seiner Lungenerkrankung – als Ehrenvorsitzender.<br />
Diese Stiftung arbeitet für die Restaurierung<br />
und den Erhalt von Bethäusern und<br />
1.300 jüdischen Friedhöfen in Ungarn; weiters<br />
unterstützte sie ein Kinderheim, das<br />
Pikler-Institut in Budapest.<br />
All dies hat Curtis der Erinnerung an<br />
die 600.000 jüdischen Opfern der Shoah<br />
gewidmet. Aber der US-Komödienstar<br />
mit dem großen Herzen wollte unbedingt<br />
auch der Überlebenden und vor allem deren<br />
Rettern während der NS-Herrschaft<br />
Tony Curtis, der Philanthrop. Das erneute<br />
Interesse an den ungarisch-jüdischen<br />
Wurzeln der Familie erwachte bei Vater<br />
und Tochter Curtis zu Beginn der 1990er-<br />
Jahre und fiel glücklicherweise auch mit<br />
den Plänen der Familie Estée Lauder und<br />
ihrem Sohn Ronald zur Wiederbelebung<br />
der Reste des jüdischen Erbes in Ungarn<br />
zusammen. Das war auch die Folge der<br />
neuen demokratischen Freiheiten in Mittel-<br />
und Osteuropa nach dem Zusammenbruch<br />
des Kommunismus.<br />
Die dreijährigen Renovierungsarbeiten<br />
an der 1859 vom Wiener Architekt Ludwig<br />
Förster im maurischen Stil erbauten Budapester<br />
Großen Synagoge konnten mit der<br />
fünf Millionen US-Dollar Grundfinanzierung<br />
durch die damalige ungarische Regierung<br />
begonnen werden. Aber erst durch die<br />
zwanzig Millionen US-Dollar-Spende der<br />
Familie Lauder und von Tony Curtis konnten<br />
1996 auch das Dach und die einzigartigen<br />
Details im Inneren der größten Synagoge<br />
Europas teilweise wieder hergestellt<br />
werden. Stilistisch beeinflusst ist der Bau<br />
von der Alhambra in Granada sowie von<br />
babylonischer und islamischer Architektur<br />
als Hinweis auf die orientalische Herkunft<br />
des Judentums. Auf der 1859 erbauten<br />
5.000-Pfeifen-Orgel der im neologen<br />
Ritus (liberal bis amerikanisch-konservativ)<br />
geführten Synagoge haben Franz Liszt<br />
wie auch Camille Saint-Saëns gespielt.<br />
Am 3. Februar 1939 bombardierten die<br />
Pfeilkreuzler das Gotteshaus; die Nazis sendeten<br />
dann ihre Radiopropaganda von dort<br />
aus und verwendeten es zeitweise sogar als<br />
Stall. Auch bei den Befreiungsschlägen der<br />
Sowjetarmee 1945 erlitt der Bau erhebliche<br />
Schäden. Unter dem kommunistischen Regime<br />
konnten intakte kleinere Teile des Gebäudes<br />
wieder als Betraum verwendet wergedenken.<br />
Daher finanzierte er allein ein<br />
ganz besonderes „Erinnerungsstück“ als<br />
Holocaust-Mahnmal: einen Baum des Lebens<br />
– auch Baum der jüdischen Märtyrer<br />
Ungarns genannt. Der ungarische Bildhauer<br />
Imre Varga schuf in Form einer Trauerweide<br />
aus Silber und Stahl einen riesigen<br />
Baum im Raoul Wallenberg Holocaust<br />
Memorial Park. Der silbrig schimmernde<br />
Baum, dessen Metallplättchen die Namen<br />
jener tragen, die der schwedische Rotkreuz-Diplomat<br />
Raoul Wallenberg gerettete<br />
hatte, befindet sich im Hinterhof der<br />
Großen Synagoge, am Beginn der Wesselényi<br />
útca, dort, wo einst das jüdische Ghetto<br />
begann. Jene, die in der zweiten und dritten<br />
Generation leben*, weil Wallenberg<br />
ihre Vorfahren vor der Vernichtung rettete,<br />
können zum Gedenken die Namen auf den<br />
Baumblättern eingravieren lassen.<br />
Jamie Lee Curtis, die den Verantwortlichen<br />
in Mátészalka versprochen hat, bei<br />
der Eröffnung des Synagogenbaus dabei zu<br />
sein, setzt die Tradition ihres Vaters damit<br />
fort. „Wir sind nicht überrascht, dass sich<br />
die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin<br />
für die Mitzwa der Synagogenrenovierung<br />
so engagiert“, schreibt die jüdische Gemeindezeitung<br />
St. Louis Jewish Light. „Curtis<br />
hilft ihrer Gemeinde seit vielen Jahren, zuletzt<br />
förderte sie ein Kinderspital in Los Angeles.<br />
Aber ihre neue Initiative in Ungarn<br />
ist inspirierend und sehr bedeutend“, fügt<br />
das Blatt hinzu und bittet Curtis, die Redaktion<br />
weiterhin über den Verlauf der Aktivitäten<br />
auf dem Laufenden zu halten: Best of<br />
luck, Jamie, you’re a true mensch!<br />
* Auch die Eltern der Autorin wurden von Wallenberg gerettet, und nur mit<br />
den zwei Namensgravuren auf den symbolischen Baumblättern kann ihm<br />
auf diese Weise gedankt werden.<br />
wına-magazin.at<br />
29
Grandioser Comedian<br />
Einem gewitzten Vogel ist jede<br />
Gelegenheit zum Spaßmachen<br />
recht. Mel Brooks war spät dran<br />
mit seinen Hand- und Fußabdrücken<br />
am Hollywood Walk of Fame. Aber<br />
der damals bereits 88-Jährige kam nicht<br />
unvorbereitet zur Zeremonie vor dem berühmten<br />
Kino Chinese Theater. Er hatte<br />
sich an einer Hand einen sechsten Finger<br />
angeklebt, macht elf insgesamt, die er in<br />
den weichen Beton hineinpresste. „Meine<br />
Damen und Herren. Ich danke ihnen, dass<br />
Sie alle heute hier sind bei dieser wunderbaren<br />
Farce. Ich liebe das.“<br />
Inzwischen ist Mel Brooks 95 Jahre alt.<br />
Er gehört als Schauspieler, Entertainer<br />
und Filmemacher zum exklusiven Kreis<br />
jener Künstler, die sich EGOT-Ausgezeichnete<br />
nennen dürfen, die also alle vier großen<br />
Preise der amerikanischen Unterhaltungsindustrie<br />
gewonnen haben: Emmy,<br />
Grammy, Oscar und Tony. Das sind neben<br />
Brooks etwa Audrey Hepburn, John<br />
Gielgud, Whoopi Goldberg, Andrew Lloyd<br />
Webber oder Richard Rodgers. Darauf<br />
angesprochen, feixte der Altstar einmal:<br />
„Frau des Jahres war ich noch nicht. Aber<br />
vielleicht kann das noch werden.“<br />
Diese Art von Humor, stets auf beiden<br />
Seiten der Grenze des guten Geschmacks<br />
unterwegs, changierend zwischen hochkreativ<br />
und brachial, ist das Markenzeichen<br />
von Mel Brooks. Seine Filme werden<br />
geliebt oder gehasst, gelten als intelligent<br />
und kritisch oder grobklotzig<br />
und primitiv, manchmal alles<br />
gleichzeitig. Sie bauen aber ganz<br />
klar auf einer Tradition auf, die<br />
Brooks mehr als verinnerlicht<br />
hat: jener der Jewish Stand-up<br />
Comedy, im Deutschen etwas<br />
holprig als Nummernkomödie<br />
übersetzt. Dabei tritt der Entertainer<br />
oder – seltener – die Entertainerin<br />
mit einer vorbereiteten<br />
Abfolge von Sketches auf,<br />
ist aber jeden Abend auch offen<br />
für Improvisation, aktuelle politische<br />
Bezüge oder Einwürfe des<br />
Publikums. Und diese raschen<br />
Reaktionen können halt feiner und eleganter<br />
ausfallen oder in der Hitze des Gefechts<br />
deutlich derber.<br />
In einem historisch-skurrilen Film hat<br />
Brooks für sich selbst als Schauspieler eine<br />
passende Figur ins Drehbuch geschrieben:<br />
den Stand-up Philosopher, der sich bei seinem<br />
Auftritt vor dem römischen Kaiser<br />
Nero mit dummen Sprüchen über einen<br />
korrupten, fetten römischen Politiker bei-<br />
11 FINGER, 15 GEBOTE<br />
Mel Brooks ist 95. Der amerikanische Filmemacher<br />
steht mit seinem intelligent-brachialen Humor fest<br />
in der Tradition der Jewish Stand-up Comedy.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Walk of Fame. Als Mel<br />
Brooks 2014 dran war, seine<br />
Hand- und Fußabdrücke zu<br />
hinterlassen, hatte er sich<br />
an einer Hand einen sechsten<br />
Finger angeklebt – es ist<br />
immer Zeit für klugen Spaß.<br />
Die verrückte Geschichte der<br />
Welt. In Mel Brooks Film aus dem<br />
Jahr 1981 wird die Menschheitsgeschichte<br />
von der Steinzeit bis zur<br />
Französischen Revolution parodiert –<br />
so verliert Moses die dritte Steintafel,<br />
und es bleiben nur 10 Gebote übrig.<br />
30 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Genialer Entertainer<br />
© imdb.com; Tony DiMaio / Action Press / picturedesk.com<br />
nahe um Kopf und Kragen<br />
blödelt.<br />
Brooks wusste schon<br />
sehr früh, wo seine Interessen<br />
und wohl auch Talente<br />
lagen. Er wurde als<br />
Melvin Kaminsky 1926 in<br />
Brooklyn geboren, sein<br />
Vater Max war ein deutscher<br />
Jude aus Danzig,<br />
die Mutter Kate, eine<br />
„Ich denke,<br />
man kann<br />
totalitäre<br />
Regierungen<br />
schneller zu<br />
Fall bringen,<br />
indem man<br />
sie lächerlich<br />
macht.“<br />
Mel Brooks<br />
geborene Brookman,<br />
stammte aus der Ukraine.<br />
Mel hatte drei ältere<br />
Brüder, und als er noch nicht drei Jahre<br />
alt war, starb der Vater. Mel sagte später<br />
einmal: „Da war sicher Zorn, ich war vielleicht<br />
auf G-tt zornig oder auf die Welt. Ein<br />
Gutteil meiner Comedy baut auf Zorn auf<br />
und auf Feindseligkeit. Aber da ich in Williamsburg<br />
aufgewachsen bin, habe ich gelernt,<br />
das in Comedy einzupacken, um mir<br />
Probleme zu ersparen, etwa einen Faustschlag<br />
ins Gesicht.“<br />
Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass<br />
Mel klein war, dafür gehänselt wurde, sich<br />
daher auf andere Talente als das Kämpfen<br />
verlegen musste. Und er hatte schon früh<br />
seine Sehnsucht nach dem Showbiz entdeckt.<br />
Als er neun Jahre alt war, nahm ihn<br />
sein Onkel mit zu einem Broadway-Musical,<br />
und er war begeistert, schwärmte<br />
vor allem für die Sängerin Ethel Merman.<br />
Schon vor seinem High-School-Abschluss<br />
begann er als Animator in einem Freibad<br />
zu arbeiten, nach einem Jahr Psychologie-<br />
Studium sollte er Profi-Entertainer werden.<br />
Zunächst kam ihm aber der Krieg<br />
dazwischen: Er wurde als Pionier und Minenräumer<br />
bei der Eroberung Deutschlands<br />
eingesetzt.<br />
Danach ging es aber los. Und er lernte<br />
es auf die harte Tour, vergleichbar jenen<br />
Burgtheater-Schauspielern, die erst durch<br />
die böhmische und deutsche Provinz tingeln<br />
mussten. Seine Grundausbildung erhielt<br />
er im so genannten Borscht Belt, in<br />
den Catskill Mountains nördlich von New<br />
York. Dort hatte sich – unter anderem wegen<br />
antisemitischer Embargos in manchen<br />
Hotels – eine Reihe von Betrieben auf die<br />
Beherbergung jüdischer – oft auch koscherer<br />
– Gäste spezialisiert. Es gab etwa Resorts<br />
mit 1.300 Sitzplätzen im Speisesaal,<br />
und auch mit entsprechendem Abendprogramm.<br />
Mel Brooks, wie er sich mittlerweile<br />
nannte, blödelte sich hier zum Chefentertainer<br />
hinauf.<br />
In den 1950er-Jahren begann<br />
dann seine Arbeit in<br />
New York. Er schrieb Texte<br />
für Shows, unter anderem gemeinsam<br />
mit Neil Simon oder<br />
Carl Reiner. Langsam wurde<br />
er bekannter, und gemeinsam<br />
mit Reiner verfasste er auch<br />
eine Reihe von Nummern<br />
über den 2.000 Jahre alten<br />
Mann. Darin ist etwa von Jesus<br />
die Rede, der mit seinen 12<br />
Freunden öfter in ein Zuckerlgeschäft<br />
kommt, „aber nie etwas<br />
kauft“. Und hier wurden<br />
wohl auch schon Ideen geboren,<br />
wie sie Jahrzehnte später im Film<br />
History of the World Part One (Die verrückte Geschichte<br />
der Welt) auftauchten: Dort tritt etwa<br />
Moses vor die Zuseher, in der Hand drei<br />
Steintafeln mit 15 Geboten. Eine fällt ihm<br />
hinunter und zerbricht: „Oj, nur zehn Gebote,<br />
aber die sind von allen einzuhalten.“<br />
In den 1960er-Jahren entdeckte er den Film<br />
für sich. Brooks hatte jahrelang an einer<br />
Idee für eine schrille Komödie über Hitler<br />
gebastelt, versuchte dafür Financiers<br />
zu gewinnen. Das gelang ihm schließlich,<br />
wenn auch nicht bei einem großen Studio.<br />
Springtime for Hitler sollte der Film heißen,<br />
schließlich nannte er ihn The Producers<br />
(Frühling für Hitler). Die schräge Story<br />
zeigt zwei erfolglose, aber abgedrehte Theaterimpresarios,<br />
die auf die Idee kommen,<br />
ihre Investoren abzuzocken. Sie<br />
wollen eine ganz fürchterliche Show produzieren,<br />
die floppt, dann brauchen sie<br />
den Risikokapitalgebern nämlich nichts<br />
auszuschütten, sondern können sich mit<br />
dem eingenommenen Geld nach Buenos<br />
Aires absetzen. Als Thema wählen sie ein<br />
geschmackloses Nazi-Musical mit Hitler<br />
und tanzenden Girls in SS-Uniformen.<br />
Doch ihr Plan geht nicht auf: Das Publikum<br />
findet das schräge Werk gelungen,<br />
sie müssen weit mehr auszahlen, als sie<br />
haben, und wandern als Betrüger ins Gefängnis.<br />
Der Film wurde zwar bei seiner Präsentation<br />
1967 von einem Teil der Kritiker zerrissen,<br />
war aber zunächst an den Colleges<br />
ein Geheimtipp, wanderte dann in die großen<br />
Kinos und wurde ein Erfolg. Seinem<br />
Autor und Regisseur brachte er einen Oscar<br />
ein. Brooks verteidigte sich gegen die<br />
Vorhaltungen, über die Schoah und Hitler<br />
dürfe man keine Witze machen so: „Wenn<br />
ich auf eine Kiste steige und gut argumentiere,<br />
dann wird das mit dem Wind verweht.<br />
Wenn ich Springtime for Hitler mache,<br />
wird es nie vergessen. Ich denke,<br />
man kann totalitäre Regierungen schneller<br />
zu Fall bringen, indem man sie lächerlich<br />
macht, als wenn man gegen sie protestiert.“<br />
Brooks hatte bei allem Gegenwind sein<br />
Genre gefunden. Seine brachial-komischen<br />
Filme sollten sich nun an unterschiedlichen<br />
Themen und auch an anderen<br />
Werken satirisch reiben. Bei Blazing<br />
Saddles (Der wilde, wilde Westen) knöpft sich<br />
Brooks das Genre Western vor und verdreht<br />
es bis zur Unkenntlichkeit: mit einem<br />
eleganten schwarzen Sheriff, mit<br />
korrupten Politikern und mit furzenden<br />
Cowboys am Lagerfeuer. Hier bringt er<br />
auch erstmals einen Kunstkniff an, den<br />
er später wieder verwenden wird, die sogenannte<br />
Zerstörung der vierten Wand.<br />
Sprich: Der Film bricht aus seinen Kulissen<br />
aus, wirft sie um, und die Schauspieler<br />
werden dabei gefilmt, wie sie eine<br />
andere Produktion im selben Studio ins<br />
Chaos stürzen. Hier werden Brecht’sche<br />
Theater-Verfremdungen auf unbekümmerte,<br />
freche Weise zu Wiedergängern.<br />
Die Hauptdarsteller von Blazing Saddles lassen<br />
am Ende des Films ihre Pferde stehen<br />
und fahren mit einem US-Straßenkreuzer<br />
in die untergehende Sonne.<br />
Brooks nahm sich auch Hitchcock-<br />
Krimis vor, er drehte satirische, scheinbar<br />
historische Dokumentationen, und<br />
er machte sich über die beliebte Serie Star<br />
Treck (Raumschiff Enterprise) sowie Filme wie<br />
2001 Space Odyssee (2001 Odyssee im Weltraum)<br />
oder Planet of the Apes (Planet der Affen) lustig.<br />
Ökonomisch konnte er damit große Erfolge<br />
einfahren, seine Filme gehörten zu<br />
den umsatzstärksten der 1970er-Jahre. Bei<br />
den meisten Produktionen arbeitete er im<br />
Team mit anderen Autoren, zahlreiche bekannte<br />
Schauspieler drehten für ihn, am<br />
intensivsten wurde die Kooperation mit<br />
Gene Wilder.<br />
1964 heiratete Mel Brooks eine außergewöhnliche<br />
Schauspielerin, Anne Bancroft,<br />
in zweiter Ehe. Sie hielt bis zu ihrem<br />
Tod im Jahr 2005. Wer ein Blitzlicht<br />
auf ein kreatives und glückliches Paar<br />
werfen möchte, sei auf einen kurzen You-<br />
Tube-Clip verwiesen, in dem Bancroft und<br />
Brooks tanzen und Sweet Georgia Brown singen,<br />
auf Polnisch. Da bleibt kein Auge trocken,<br />
ganz ohne brachiale Textzeilen.<br />
wına-magazin.at<br />
31
MATOK & MAROR<br />
„Makom“: Ein Ort<br />
voller Lebensfreude<br />
Ein Lüfterl von Tel Aviv weht durch Schottenfeldgasse<br />
Kaum hat man die Türe geöffnet,<br />
strahlt einen das Lächeln von Michelle<br />
Ashurov an, die den Gast zu<br />
einem der rechteckigen Holztische führt.<br />
Blickt man über ihre lange dunkle Haarpracht<br />
an die rohe Ziegelwand, prangt dort<br />
der Spruch: Servus, tschüss & Baba Ganoush.<br />
Bei Hummus schmelze ich Tahini.<br />
Das zweite Lächeln. Das Makom ist ein Lokal,<br />
in dem man schon schmunzelt, wenn<br />
man die Speisekarte liest: Es springen einen<br />
so viele originelle und witzige Namen<br />
für die gut kombinierten Gerichte an, zum<br />
Beispiel Itzhak und sein Broccoli, Onkel Cohens<br />
Shakshuka, Falafel-Hummus-Hochzeit,<br />
Le’chaim sagt das Huhn, Tante Rachels<br />
Halva. Hier das dritte Lächeln, kein<br />
schlechter Einstieg.<br />
In der Schottenfeldgasse 18 (unweit der<br />
Mariahilfer Straße) ist das nicht-koschere<br />
Restaurant ganz im angesagten Shabby-<br />
Chic-Style eingerichtet: Die hohen Räumlichkeiten<br />
mit den unverputzten roten Ziegeln,<br />
die extralange Bar und das gelungene<br />
Lampenkonzept erinnern nicht nur an<br />
New Yorker Lofts, sondern auch an Lokale<br />
in Barcelona und Budapest. In Wien denkt<br />
man vielleicht an das ebenfalls israelisch<br />
angehauchte Seven North, weiter nördlich<br />
auf der Schottenfeldgasse.<br />
„Wir haben die israelische Lebenslust<br />
importiert und in Hauptspeisen verwandelt“,<br />
zitiert Michelle Ashurov das Motto<br />
von Makom. Diese Speisen kommen in mittelgroßen<br />
Portionen, sodass sich bei großem<br />
Hunger empfiehlt, gleich mehrere zu<br />
bestellen. Sehr fein zusammengepasst hat<br />
das Original-Shakshuka in würziger Tomatensauce<br />
mit Chilischoten und pochierten<br />
Bioeiern (9,90 €) mit Yaels Broccolipfanne<br />
mit frischen Zitronensaft, Chiliflocken, geriebenem<br />
Schafskäse und Tahini-Sauce auf<br />
Babyspinat (9,50 €). Zucchini à la Jaffa besteht<br />
aus Zucchini-Erdäpfel-Laibchen mit<br />
Granatapfelkernen und Tahini-Sauce, dazu<br />
ein kleiner israelischer Salat (9,50 €). Der<br />
legendäre im Ofen geröstete Karfiol darf<br />
„Wir haben die israelische<br />
Lebenslust<br />
importiert und in<br />
Hauptspeisen verwandelt.“<br />
Michelle Ashurov<br />
Original-Shakshuka<br />
in würziger<br />
Tomatensauce mit<br />
Chilischoten und<br />
pochierten Bioeiern.<br />
WINA- TIPP<br />
MAKOM<br />
Schottenfeldgasse 18, 1070 Wien<br />
Tel.: 01/431 50 33<br />
Mo. bis Fr., 9 bis 22, Sa. u. So. 8 bis 22 Uhr;<br />
Take-away während der Öffnungszeite n;<br />
Zustellung über Mjam und Lieferando<br />
makom.wien<br />
auch nicht fehlen: hier auf Baba<br />
Ganousch serviert (9,90 €).<br />
Frühstück ist sogar ganztägig<br />
erhältlich, z. B. Lox Benedict: getoastetes<br />
Biovollkornbrot mit geräuchertem<br />
Lachs, pochiertem<br />
Bioei, frischer Kresse, Babyspinat,<br />
hausgemachter Sauce Hollandaise<br />
und einem kleinen israelischen<br />
Salat um 10,90 €. Vegan<br />
frühstücken geht im Makom<br />
auch: Zur Auswahl stehen u. a.<br />
das Avocadobrot mit Rote-Rübe-<br />
Hummus und gerösteten Mandeln<br />
sowie Bubbies Ofensüßkartoffel,<br />
im Backofen zubereitete<br />
Süßkartoffelscheiben mit hausgemachtem<br />
Hummus, frischem Babyspinat,<br />
roter Rübe und Kichererbsen.<br />
Die dritte Möglichkeit:<br />
Flockenpracht, ein Smoothie-<br />
Bowl mit Mandelmilch, Frühstücksflocken,<br />
verschiedenen Nüssen und<br />
frischen Früchten (8,20 €). Dazu gibt es<br />
neben den üblichen Getränken sehr erfrischende<br />
hausgemachte Limonanas, etwa<br />
Orange-Ingwer oder Zitrone-Minze (4,30<br />
€), oder israelisches Bier. Bei gutem Wetter<br />
lockt der Schanigarten für 50 Personen.<br />
Es kann nur mit Bargeld gezahlt werden.<br />
„Die frischen und gesunden Zutaten<br />
sorgen dafür, dass man sich<br />
mit bestem Gewissen<br />
quer durch unsere<br />
Speisekarte essen<br />
kann“, ist auch die<br />
schlanke Michelle<br />
überzeugt. Makom<br />
ist das hebräische<br />
Wort für Ort. „Genau<br />
das möchten wir schaffen:<br />
einen gemütlichen Ort,<br />
an dem wir allen Wienerinnen und Wienern<br />
die Leichtigkeit und die Leidenschaft<br />
der israelischen Küche näherbringen können.“<br />
<br />
Paprikasch<br />
<br />
© Reinhard Engel<br />
32 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
WINAKOCHT<br />
Was hat Chuzpe mit Chutney zu tun,<br />
… und woher kommt eigentlich der Ausdruck „parve“? Die Wiener Küche steckt voller<br />
köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />
Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leser und Leserinnen fragen, WINA antwortet.<br />
Liebe Kulinarik-Experten,<br />
in einem alten Kochbuch der Wiener Küche stieß<br />
ich auf ein „Judenbratel“-Rezept. Doch Kalbsfaschiertes<br />
mit pikanter Rahmsauce ist ja alles andere<br />
als koscher. Woher daher der Name?<br />
<br />
Tobias M., Wien<br />
Der von Ihnen erwähnte Hackbraten<br />
taucht unter vielen verschiedenen<br />
Bezeichnungen in der Kochliteratur<br />
auf: Er wird unter anderem Heuchelbraten<br />
oder – aufgrund seiner Form – Falscher<br />
Hase genannt. Später kannte man<br />
ihn dann auch als Stefanie-Braten, nach<br />
der Gattin von Kronprinz Rudolf.<br />
Warum besagtes Gericht in Kochbüchern<br />
des frühen 19. Jahrhunderts auch<br />
unter „Judenbraterl“ firmiert, hat der Historiker<br />
Hannes Etzlstorfer erforscht, der<br />
vor einigen Jahren im Jüdischen Museum<br />
Wien die Ausstellung Kosher for … kuratierte.<br />
Einen antisemitischen Hintergrund<br />
schließt er aus. Es sei vielmehr das<br />
Gegenteil der Fall: In der Zeit der josephinischen<br />
Aufklärung fanden – neben zahlreichen<br />
Rezepten aus den Kronländern –<br />
auch viele jüdische Gerichte ihren Weg in<br />
Wiener Kochbücher. Damit wollte man<br />
den Vielvölkerstaat zwischenmenschlich<br />
festigen und einen Beleg für die kulturelle<br />
Vielfalt des Habsburgischen Reiches installieren.<br />
Die Aufnahme von Rezepten mit<br />
dem Beisatz jüdisch bzw. nach jüdischer<br />
Art sei mit der Absicht erfolgt, den Rang<br />
der Wiener Küche als Archiv nationaler<br />
Identitätskonstruktionen zu stärken, so<br />
Etzlstorfer. Dass das „Judenbratel“ nicht<br />
koscher ist – der in Milch aufgeweichten<br />
Semmel oder in anderen Varianten der<br />
Rahmsauce wegen –, sei nebensächlich<br />
gewesen.<br />
Hackbraten, egal welchen Namens, ist<br />
übrigens nach wie vor ein beliebtes Gericht, in der koscheren<br />
Variante auch in der jüdischen Küche. Dort heißt er dann gern<br />
„Klops“. Lily Brett hat ihm in ihrem Roman Chuzpe ein literarisches<br />
Denkmal gesetzt, das 2015 unter dem Titel Chuzpe –<br />
Klops braucht der Mensch auch verfilmt wurde.<br />
APFEL-TOMATEN-<br />
CHUTNEY<br />
FÜR KLOPSE<br />
ZUTATEN<br />
1 Apfel (z. B. Breaburn)<br />
5 Paradeiser<br />
1 Zwiebel<br />
½ daumendickes Stück Ingwer<br />
1–2 EL Rosinen oder<br />
fein gehackte Dörrpflaumen<br />
1 EL Apfelessig<br />
1 EL Senf<br />
1 TL Zucker<br />
Salz, Pfeffer, Olivenöl<br />
zum Anbraten<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Paradeiser waschen, den Strunk<br />
entfernen und klein würfeln. Apfel<br />
ebenfalls waschen, entkernen,<br />
entstielen und klein würfeln.<br />
Zwiebel schälen und fein würfeln.<br />
Den Ingwer schälen. Zwiebelwürfel<br />
in etwas Olivenöl anschwitzen.<br />
Die Paradeiser- und Apfelstücke<br />
sowie die Rosinen (alternativ:<br />
fein gehackte Dörrpflaumen)<br />
hinzugeben. Den Ingwer in die<br />
Soße reiben, den Essig und den<br />
Senf hinzufügen und das Ganze<br />
bei kleiner Hitze und ohne Deckel<br />
einkochen lassen, bis das Wasser<br />
verdampft ist. Mit Salz und Pfeffer<br />
abschmecken. Die Soße auskühlen<br />
lassen. In ein kleines Schälchen<br />
füllen und zu den Klopsen<br />
servieren.<br />
Egal, wie Sie Ihr Faschiertes künftig<br />
nennen möchten: Perfekt dazu passt das<br />
Apfel-Paradeiser-Chutney der Autorin.<br />
Das Rezept taucht im Buch als solches<br />
nicht auf. Protagonistin Walentyna beschreibt<br />
aber, wie ihre Freundin Zofia die<br />
Sauce zubereitet. Wir haben für Sie daraus<br />
eine Anleitung gebastelt. Ganz nach<br />
dem Motto: „Chuzpe – Chutney braucht<br />
der Mensch zum Klops.“<br />
Liebe „Wina kocht“-Redaktion,<br />
letztens wollte meine vegetarische lebende Tochter<br />
wissen, was „parve“ bedeutet. Dass sich die<br />
Bezeichnung im Rahmen der Speisegesetze auf<br />
Lebensmittel bezieht, die in keine der Kategorien<br />
von Fleisch- oder Milchprodukten fallen, ist ihr/<br />
uns klar. Doch woher der Ausdruck für die „kulinarische<br />
Neutralität“ kommt, konnten wir nicht<br />
rausfinden. Wisst ihr dazu mehr?<br />
<br />
Raffaela W., Klosterneuburg<br />
Über diese Frage zerbrechen sich Laien<br />
wie Gelehrte seit Langem den Kopf.<br />
Auch wir können uns der Antwort nur<br />
annähern. Eine Interpretation: Es gab im<br />
Tempel zu Jerusalem einen Beit HaParve,<br />
einen Raum, der angeblich nach einem<br />
persischen Spender benannt war (wobei<br />
es auch andere Auslegungen gibt, die von<br />
einem Einbrecher sprechen). Jedenfalls<br />
befand sich besagter Raum zur Hälfte im<br />
Bereich der Priester (Kohanim), zur anderen<br />
Hälfte im Bereich der gewöhnlichen<br />
Israeliten. Man könnte also sagen:<br />
Er war weder hier noch dort. Möglicherweise<br />
wurde der Begriff „parve“ deshalb zu<br />
etwas, das weder das eine noch das andere<br />
ist, weder fleischig noch milchig.<br />
Achtung: Parve Lebensmittel gelten<br />
zwar als neutral, sie können aber den<br />
Kaschrut-Status anderer Lebensmittel<br />
übernehmen, wenn sie mit ihnen gekocht oder serviert werden.<br />
So ist gebratenes Gemüse parve. Wurde es jedoch in einer<br />
Pfanne zubereitet, in der gewöhnlich Fleisch gebraten wird,<br />
kann das Gemüse zum Beispiel nicht mit Butter serviert werden,<br />
ohne die Gesetze der Kaschrut zu verletzen.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />
office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
33
LEBENS ART<br />
Sprechstunde!<br />
Wir haben Redebedarf: WINA kümmert sich in<br />
diesem Monat um das schöne Thema Therapie.<br />
Heilung durch Holunder<br />
Therapie tut weh. Manchmal sogar körperlich.<br />
Etwa dann, wenn man Holunderbeeren prockt<br />
und Rüben reißt, um der Seele etwas Gutes zu<br />
tun. Denn wie ein Sprichwort schon sagt: „Willst<br />
du einen Tag lang glücklich sein, so betrinke dich.<br />
Willst du ein Jahr lang glücklich sein, so heirate.<br />
Willst du ein Leben lang glücklich sein, so lege<br />
dir einen Garten an.“<br />
Über gartenundich.de<br />
Guter Rat ist ungeheuer<br />
Im Rahmen der Jüdischen Festwochen wird die wunderbare<br />
Doku Ask Dr. Ruth gezeigt. Der Film zeigt das lebendige<br />
Porträt der Holocaust-Überlebenden Karola Ruth<br />
Siegel, 1928 in Frankfurt am Main geboren, die als „Dr.<br />
Ruth“ in den 1980er-Jahren im US-Radio und -Fernsehen<br />
als Sextherapeutin bekannt wurde. Mit ihrer direkten Art<br />
und den offenen Ratschlägen rund um das Thema Sex<br />
wurde die nur 1,45 m große Frau, die noch heute 93-jährig<br />
publiziert und unterrichtet, international berühmt.<br />
21.11., 12.45 Uhr, Votivkino, votivkino.at<br />
In the meme-time<br />
Der virale Meme-Instagram-Account<br />
@MyTherapistSays navigiert urkomisch und<br />
hilfreich durch den Kampf des Alltags. Dabei<br />
erhellen die aufrichtigen Weisheiten der Autorinnen<br />
Nicole Argiris und Lola Tash (die nicht immer<br />
von Therapeuten anerkannt sind), gepaart mit<br />
den Ratschlägen ihrer eigenen Therapeuten (mit<br />
denen die Autorinnen nicht immer einverstanden<br />
sind), inzwischen sage und schreibe 6,6 Millionen<br />
(!) Follower.<br />
A Freud im Bett<br />
„Die Decke der Zivilisation ist dünn“, bemerkte<br />
der Psychoanalytiker Sigmund Freud einst. Ganz<br />
im Gegenteil zu diesem kuscheligen Exemplar<br />
aus Fleece, das mit dem ikonischen Denkerkopf,<br />
seiner Signatur und obligatorischem Rauchwerk<br />
verziert ist. Fehlt natürlich auch nicht auf dem<br />
bunten Deckendruck: Das Cover seiner – nona –<br />
Traumdeutung.<br />
Über redbubble.com<br />
Lustvolles Lernen<br />
Der Netflix-Serien-Hype Sex Education geht in die<br />
dritte Runde. Wer die Handlung des must-sees<br />
noch nicht kennt: Der Schüler Otis Milburn, Sohn<br />
einer bekannten Sextherapeutin (die fantastische<br />
Gillian „Scully“ Anderson), bietet seinen Mitschülern<br />
selbst Therapiestunden an, in denen er ihnen<br />
bei ihrem Sex- und Liebesleben mit Rat und Tat<br />
beiseite steht. Brüllend komisch und<br />
extratoll ausgestattet!<br />
Auf netflix.com<br />
Reif für die Couch?<br />
Der oben stehende Begriff wird häufig verwendet, wenn es um<br />
eine Psychotherapie geht. Und tatsächlich hilft das Möbelstück<br />
dabei, sich während der Behandlung vom Therapeuten<br />
abgewandt auf die eigenen Gedanken<br />
und Gefühle konzentrieren zu könne. Gefahr<br />
bei der besonders eleganten Chaiselongue<br />
„Vuelta“ von Wittmann: Ich, Es und Über-Ich einigen<br />
sich auf ein Nickerchen statt auf Analyse.<br />
wittmann.at<br />
Fotos: Hersteller<br />
34 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
WINA YOGA<br />
Loslassen<br />
Ein großes Wort, in dem so viele Freiheiten und Möglichkeiten<br />
stecken. Wir müssen es einfach nur tun.<br />
Von Lisa Prutscher, Yogashelanu<br />
as heißt es loszulassen?<br />
Wie oft im<br />
Leben sind wir bereits<br />
damit konfrontiert<br />
worden? Sei es, weil<br />
wir es selbst von innen heraus<br />
wollten, oder weil wir von<br />
außen dazu gebracht worden<br />
sind, gewollt oder auch ungewollt.<br />
In diesem Artikel möchte<br />
ich nicht nur aufgrund der<br />
Feste, die wir kürzlich gefeiert<br />
haben, daran erinnern, dass<br />
nun eine wunderbare Zeit des<br />
Loslassens ist und wir dazu das<br />
damit verbundene Auseinandersetzen<br />
brauchen. Auch da<br />
die Herbstzeit offen für neue<br />
Farben und zum Lösen da ist, so wie sich die Blätter<br />
verfärben und abfallen. Allein das zusammengesetzte<br />
Wort impliziert, dass es um lassen und lösen geht, um<br />
Aufbruch und Stille ohne Stillstand.<br />
Wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen – und<br />
damit mit uns selbst –, geht es auch um einen wertvollen<br />
Austausch mit anderen und kann das Loslassen für<br />
alle Beteiligten eine fruchtbare Basis für einen Neuanfang<br />
werden. Es darf aber auch schwerfallen, viel Kraft<br />
und Energie kosten, so lange wir daran glauben, dass<br />
wir jedes Mal, wenn wir tief hinunter gehen, dafür danach<br />
umso höher hinauf klettern werden.<br />
Wir Menschen sind an Gewohnheiten gebunden,<br />
und genau darum geht es beim Prozess des Loslassens.<br />
Wir halten an Gewohnheiten fest und scheuen Veränderung,<br />
weil sie ungewiss ist und wir Gewissheit haben<br />
wollen.<br />
Dabei geht es auch um Kontrolle. Das Kontrollieren<br />
kann dem Funktionieren gleichgestellt werden. Und<br />
genau dieses Festhalten an dem, was unveränderbar<br />
scheint, macht uns langfristig unzufrieden und unglücklich.<br />
Veränderung führt zu neuen Perspektiven,<br />
zu Freiheit auf anderen, neuen Ebenen. Im Judentum<br />
können wir das einmal im Jahr zelebrieren. Wir feiern<br />
ein süßes neues Jahr, werfen Altlasten in den Fluss<br />
und lassen alte und verstaubte Muster los, die uns nicht<br />
mehr gut tun. Wir rufen damit Neues. Und sind auch<br />
bereit dafür.<br />
Sich baumeln lassen, um Neues zuzulassen.<br />
Wir halten an Gewohnheiten fest<br />
und scheuen Veränderung,<br />
weil sie ungewiss ist und wir<br />
Gewissheit haben wollen.<br />
Jetzt ist die Zeit, um loszulassen.<br />
Auf der Gefühlsebene<br />
heißt das auch zuzulassen,<br />
traurig zu sein, dabei das<br />
große Ganze zu sehen, vor<br />
allem das Positive, und uns<br />
der Veränderung gegenüber<br />
zu öffnen.<br />
Die Freude, der Humor,<br />
der positive Sinn und der<br />
Glaube an das Gute sind dabei<br />
wichtige Begleiter.<br />
Dazu wieder eine Übung<br />
aus dem Yoga, bei der wir<br />
immer wieder den Kopf baumeln<br />
lassen:<br />
Stelle dich mit den Füßen<br />
hüftbreit auf den Boden,<br />
nimm die Hände in die<br />
Hüfte und beuge dich langsam nach vorne. Löse dann<br />
die Hände von den Hüften und setze sie auf den Boden<br />
oder auf die Unter- bzw. Oberschenkel. Atme noch einmal<br />
tief ein und dehne mit der Einatmung die gesamte<br />
Wirbelsäule. Dann lasse auch den Oberkörper nach unten<br />
sinken. Du kannst auch mit deinen Händen die Ellenbogen<br />
greifen, wenn das für dich angenehmer ist.<br />
Beuge dabei die Knie, wenn die Beine verhindern, den<br />
Oberkörper sinken zu lassen, und strecke sie danach<br />
langsam nach. So entsteht ein angenehm dehnender<br />
Zug auf der Rückseite der Beine.<br />
Auch der beliebte nach unten schauende Hund ist<br />
eine wunderbare Übung. Das Wichtigste ist auch hier,<br />
dass der Kopf nach unten baumelt, damit sich alle Gedanken<br />
neu sortieren können.<br />
Ich wünsche uns allen einen guten Übergang in die<br />
Herbstzeit und freue mich auf die positiven Veränderungen,<br />
die kommen dürfen.<br />
wına-magazin.at<br />
35
Thema<br />
wına-magazin.at<br />
36
HIGHLIGHTS | 03<br />
Alles Glas!<br />
Das Musée National Marc Chagall in<br />
Nizza zeigt Chagall als Glaskünstler<br />
Viele Maler wollten es bannen. Nur ganz<br />
wenigen gelang es tatsächlich. Licht zu<br />
malen. Licht einzufangen. Licht wiederzugeben.<br />
Auch Marc Chagall wollte es. Und es<br />
gelang ihm. Nicht mit dem Pinsel, nicht auf<br />
Leinwand – sondern mit Hilfe der Natur. Als<br />
Glaskunst.<br />
„Für mich“, sagte er einmal, der einen großen<br />
Teile seines sehr langen Lebens unter der<br />
Sonne der Provence in Südostfrankreich verbrachte<br />
und ansonsten ja mit tiefer reichenden<br />
theoretischen Erklärungen eher sparsam<br />
bis spärlich umging, „ist ein Bleiglasfenster<br />
eine durchscheinende Wand zwischen meinem<br />
Herz und dem Herz der Welt. Ein solches<br />
Fenster ist ein Jubel, es hat keine Schwerkraft<br />
und keinen Schmerz. Es lebt vom Licht, das<br />
durch es hindurchfällt.“ Die Ausstellung<br />
Marc Chagall – Le Passeur<br />
de Lumière, auf Deutsch:<br />
der Fährmann des Lichts, führt<br />
zauberhafte größere bis große<br />
Glaskunstarbeiten, allesamt poetisch-spielerisch<br />
und das Material<br />
geradezu in Leichtigkeit<br />
transformierend, nicht nur aus<br />
Beständen französischer Museen,<br />
sondern aus vielen Ländern<br />
zum ersten Mal am selben<br />
Ort zur selben Zeit zusammen.<br />
MARC CHAGALL – LE PASSEUR DE LUMIÈRE<br />
Musée National Marc Chagall<br />
bis 10. Jänner 2022<br />
musees-nationaux-alpesmaritimes.fr<br />
DIE LETZTE HÖLLE<br />
Es wird ein schwerer Abschied: Nach<br />
13 Programmen verabschiedet sich<br />
das großartige Ensemble des 2010<br />
rund um Schauspieler und Entertainer<br />
Georg Wacks wieder auferstandenen<br />
Kabaretts Die Hölle aus dem<br />
Souterrain des Theaters an der Wien.<br />
1906 hier gegründet, war das Etablissement<br />
eines der Urgesteine des<br />
Wiener jüdischen Kabaretts. Ab 4.<br />
November gibt es unter dem Titel<br />
Hol’s der Geyer! einen veritablen Abschiedsjubiläumsmulatschak.<br />
Schön<br />
war’s! theater-wien.at<br />
MUSIKTIPPS<br />
GIL & MOTI – FORGET & REMEMBER!<br />
Joods Historisch Museum, Amsterdam<br />
bis 28. November <strong>2021</strong><br />
jck.nl<br />
Alles Leben!<br />
„Forget & Remember“: Gil & Moti inszenieren<br />
ein Spiel namens Memoria<br />
Gil Nader, 1968 in Rishon Lezion geboren,<br />
und Moti Porat, der 1971 in Ramat Gan zur<br />
Welt kam, leben seit 1998 in Rotterdam, wo sie<br />
beide Kunst studierten. Privat wie professionell<br />
ein Paar, machen sie als Installations- und-<br />
Lebenskunst-Künstler auch das Paar-Sein zum<br />
Kunstwerk: oft identisch angezogen, angeblich<br />
nur ein Portemonnaie, ein Haustürschlüssel,<br />
ein Handy.<br />
In Gil & Moti – Forget & Remember (bis 28. 11.)<br />
im Joods Historisch Museum in Amsterdam<br />
stehen diesmal etwas weniger selbstbezogen<br />
sie selbst im Mittelpunkt als Motis Mutter und<br />
Gils Vater. Was ist Erinnerung, was bleibt, wieso<br />
sammelt man/n und frau Dinge an. Im Falle von<br />
Motis Mutter sind es gehobene Arbeiten israelischer<br />
Künstler aus den Jahren 1930 bis 1970. Die<br />
Kollektion von Gils Vater hingegen<br />
entstand durch Zufall, Strandgut<br />
nicht nur am Strand, sondern<br />
auch Funde von diesem und jenem,<br />
Kuriosem, Alltäglichem, alltäglich<br />
Unscheinbarem auf Straßen<br />
und Gassen. Rasch puppt<br />
sich aus dem scheinbar leichthändigen<br />
Spiel Schweres heraus,<br />
Tiefes, Aktuelles, Überzeitliches:<br />
Migration, Verlust, Familie, Sedimente<br />
gelebter Leben. A.K.<br />
KORNGOLD<br />
Die wenigen, die die Aufführung<br />
von Erich Wolfgang Korngolds<br />
Die tote Stadt im Herbst 2019 in der<br />
Bayerischen Staatsoper in München<br />
miterleben durften, waren begeistert. Nun kann<br />
man sich den 143 Minuten langen Mitschnitt<br />
pandemisch sicher zu Hause auf DVD oder Blu-<br />
ray ansehen und anhören. In den Hauptpartien,<br />
beide grandios: Marlis Petersen und Jonas Kaufmann.<br />
In Szene gesetzt von Simon Stone. Am Di-<br />
rigentenpult Kirill Petrenko. Chapeau.<br />
LATTÈS<br />
Operette? Nur in Wien. Und aus<br />
Wien. Plus Mörbisch. Richtig?<br />
Falsch! Le Diable à Paris (B Records) von Marcel<br />
Lattès, 1886 geboren und 1943 in Auschwitz<br />
umgebracht, beweist das Gegenteil. 1927<br />
uraufgeführt und nun vom Orchestre des Frivolités<br />
Parisiennes unter Dylan Corlay mit guter<br />
Gesangsbesetzung eingespielt, führt parodistischen<br />
Schwung und tänzerische Verve<br />
lustvoll perlend mit Jazz und Klingekunstmusik<br />
der Zwanzigerjahre zusammen.<br />
FEIGIN<br />
Wer meint, neuere klassische Musik<br />
sei bleischwer bis unverständlich,<br />
der höre sich Aviv (Toccata) von Joel Feigin<br />
(70) an, der in Santa Barbara, Kalifornien,<br />
lehrt. Im Titelstück mit Yael Weiss (Piano) und<br />
der Slowakischen Nationalphilharmonie, dirigiert<br />
von Kirk Trevor, zieht frisch und warm<br />
der Frühling heran, graziös die zwei Lieder aus<br />
Twelfth Night. Für die Streicherpièce Surging<br />
Seas wurde Feigin durch den Tsunami 2004<br />
angeregt. A.K.<br />
© musees-nationaux-alpesmaritimes.fr; jck.nl<br />
wına-magazin.at<br />
37
INTERVIEW MIT FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />
Wie weiblich ist<br />
DER HERR?<br />
„Frauenpower im Judentum“ ist das Motto des diesjährigen Festivals<br />
der Jüdischen Kultur mit vielfältigen Live-Veranstaltungen wie Konzerte<br />
und Filmvorführungen. Eine Podiumsdiskussion am 7. Dezember<br />
wird sich dem Thema „G’ttes weibliche Seite“ widmen, das Felicitas<br />
Heimann-Jelinek bereits für zwei großen Ausstellungen in<br />
Hohenems und Frankfurt aufbereitet hat.<br />
Interview: Anita Pollak<br />
WINA: Wir sind mit der Vorstellung von G’tt, dem Herrn,<br />
aufgewachsen. Die Frage nach dessen weiblicher Seite hat<br />
sich lange nicht aufgedrängt. Wie kam es zu dieser Fragestellung<br />
bzw. zu diesem feministischen Ansatz?<br />
Felicitas Heimann-Jelinek: Dazu ist es im Zusammenhang<br />
mit der Frauenbewegung am Ende des 19.<br />
und Beginn des 20. Jahrhunderts gekommen. Damals<br />
haben Frauen begonnen, das traditionelle männliche<br />
G’ttesbild in Frage zu stellen und auch zu überlegen,<br />
wie könnte man anders beten, könnte man<br />
G’tt anders, vielleicht auch ohne einen bestimmten<br />
Artikel ansprechen. In der Nachfolge dieser Überlegungen<br />
kam es zu einer kleinen Revolution innerhalb<br />
des rabbinischen Judentums, als Regina Jonas<br />
als erste Frau ein Rabbinatsstudium absolvieren und<br />
auch den Beruf als Rabbiner ausüben wollte. Das ist<br />
eine Entwicklung, die mit dem steigenden Selbstbewusstsein<br />
der Frau als Arbeitende und aktive Familienerhalterin<br />
Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und<br />
sich dann mit den Unterbrechungen durch die beiden<br />
Weltkriege in den USA ganz stark in verschiedenen<br />
religiösen Bewegungen im Christentum und Judentum<br />
gleichzeitig und auch im Austausch fortsetzt.<br />
Das ist aber doch zweierlei. Das eine wäre die Rolle der<br />
Frau im religiösen Ritus und das andere das G’ttesbild.<br />
Sprachlich gibt es in den Gebeten zwar die männliche<br />
Form der Ansprache, aber da wir ja keine Bilder haben, ist<br />
das G’ttesbild im Judentum doch eher abstrakt und damit<br />
geschlechtslos.<br />
I Trotzdem denkt jeder in männlichen Kategorien,<br />
was auf eine sehr lange Entwicklungsgeschichte zurückgeht,<br />
in die Frühzeit, in der sich langsam der<br />
Glaube an einen spezifischen Stammesgott und davon<br />
ausgehend der Glaube an einen einzigen G’tt<br />
herausgebildet hat. Nach der Landnahme Kanaans<br />
haben die Israeliten offenbar schon einen Wüstengott<br />
in das damalige kanaanäische Götterpantheon<br />
„Der ,männliche<br />
Monotheismus‘<br />
[…] hat<br />
generell die<br />
Entrechtung,<br />
die Unterdrückung<br />
der Frau<br />
in weiten Teilen<br />
der Gesellschaften<br />
mit<br />
sich gebracht.“<br />
Felicitas Heimann-<br />
Jelinek<br />
mitgebracht. In diesem gab es natürlich männliche<br />
und weibliche Gottheiten, weil man sich die Schaffung<br />
von Leben nur durch ein Paar vorstellen konnte.<br />
Das ist ja auch die fundamentale Aussage in der Genesis-Erzählung.<br />
„Im Angesicht G’ttes männlich und<br />
weiblich schuf Er sie.“ Wenn man sich die Kulturgutfunde<br />
aus dem heute israelischen Raum ansieht, findet<br />
man ebenso viele, wenn nicht sogar mehr weibliche<br />
Gottheiten bzw. Figurinen. Es gibt archäologische<br />
Funde, die auch sprachlich darauf hinweisen, dass<br />
El, der noch in Isra-El vorhanden ist, eine Ela, also<br />
ein weibliches Pendant hatte. Es gab also ein Götterpaar,<br />
das seinen Niederschlag eben in materiellen<br />
Zeugnissen fand. Im Laufe der Zeit verdrängte<br />
Israels Stammesgott Jahwe die kanaanäischen Gottheiten,<br />
und das zeigt sich auch darin, dass weibliche<br />
Namen und Endungen immer mehr eliminiert<br />
werden. Spätestens nach dem babylonischen Exil hat<br />
der Sieg des Monotheismus zur Folge, dass auch alle<br />
weiblichen Gottheiten wegfallen und vermutlich die<br />
ursprünglich matriarchalen Strukturen zurückgedrängt<br />
werden.<br />
Wie wichtig ist für einen feministischen Zugang zur<br />
Religion die Zuschreibung einer weiblichen Seite des<br />
G’ttesbilds? Wäre es nicht möglich, G’tt weiterhin männlich<br />
zu denken und trotzdem die Rolle der Frau im Ritus<br />
zu verstärken?<br />
I Der „männliche“ Monotheismus, der in allen drei<br />
Religionen noch immer mit einem patriarchalen System<br />
einhergeht, hat generell die Entrechtung, die<br />
Unterdrückung der Frau in weiten Teilen der Gesellschaften<br />
mit sich gebracht. Insofern wollen sich<br />
Frauen, die heute an allem auch aktiver teilnehmen,<br />
in dieser schöpferischen Kraft, in einem schöpferischen<br />
Prozess eingeschrieben sehen. Darum ist<br />
es uns in der Ausstellung gegangen, weniger um<br />
feministische Positionen, sondern eher um die<br />
38 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
G’tt anders ansprechen<br />
Frage, wie man diese Idee von einem gleichberechtigten<br />
weiblichen Element stärker in das Bewusstsein<br />
rücken kann.<br />
Einerseits ist das Judentum eine männlich dominierte Religion,<br />
was sich in den Riten, in der Liturgie zeigt, wo Frauen<br />
z. B. im Minjan im wahrsten Sinn gar nicht zählen, andererseits<br />
wird das Judentum maternal weitergegeben. D. h.<br />
die Frau ist als Mutter ganz wichtig, ihre Bedeutung zeigt<br />
sich bis hin zum Mythos der jiddischen Mame. Ist das ein<br />
Widerspruch?<br />
I Es ist ein völliger Widerspruch, der im Römischen<br />
Recht wurzelt, das besagte „Pater semper incertus<br />
est“. Deswegen hat man sich jüdischerseits auf den<br />
Standpunkt der Maternalität zurückgezogen. Das ist<br />
eine ziemlich späte talmudische Entwicklung. In der<br />
Thora wird die Frage nach dieser Maternalität ja gar<br />
nicht gestellt, wenn wir zum Beispiel an Ruth denken,<br />
die keine Jüdin war.<br />
©Ingrid Sontacchi; Jüdisches Museum Hohenems<br />
Hatte das eine Änderung der Stellung der Frau zur Folge?<br />
I Ich glaube, dass es in verschiedenen Regionen oft<br />
unterschiedliche Rollenzuschreibungen gegeben<br />
hat, dass die Bedeutung jüdischer Frauen in Aschkenas<br />
im Mittelalter eine ganz andere war als etwa im<br />
sephardischen Raum. Die gesellschaftliche Position<br />
der Frauen war aber wahrscheinlich überhaupt eine<br />
bedeutendere, als wir das heute annehmen. Da gab<br />
es durchaus schon Powerfrauen, die auch als solche<br />
wahrgenommen wurden. Erst in der Neuzeit wird die<br />
Frau in ihrer gesellschaftlichen Relevanz zurückgedrängt,<br />
die Erfindung der Frau als quasi unsichtbares<br />
Wesen ist erst etwa im Biedermeier entstanden.<br />
Es gibt seit etwa rund 100 Jahren auch Rabbinerinnen. Hat<br />
das eine Ausstrahlung auf das gesamte Judentum oder<br />
bleibt dieses Phänomen im Reformjudentum verhaftet?<br />
I Es hat eine Ausstrahlung wie überhaupt demokratische<br />
Formen, aber sie haben diese Ausstrahlung natürlich<br />
nur bis dorthin, wo sie akzeptiert werden. Ich<br />
glaube, das sind Langzeitprojekte, wie auch Demokratie<br />
etwas ist, an dem man immer wieder arbeiten<br />
muss. Man sieht es dort, wo Frauen es schaffen, als<br />
religiöse Leitbilder in Gemeinden hineinzuwirken,<br />
dort wird das immer „normaler“, und dort ändert<br />
sich auch das Denken und der Zugang schneller als<br />
dort, wo diese Frauen keine Wirkmöglichkeit haben.<br />
Im Gegensatz zum Christentum ist das Judentum ex lege<br />
nicht reformierbar, weil es keine Instanz, keine Autorität<br />
dazu gibt. Können sich solche Entwicklungen daher nur in<br />
Randbereichen vollziehen?<br />
I Im norddeutschen Bereich, wo es die ersten Rabbinerkonferenzen<br />
gab, sind in der späten ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts rabbinische Autoritäten<br />
aus beiden Lagern zusammenkommen, um genau<br />
das zu diskutieren, ob nämlich das Judentum in seinen<br />
Grundfesten veränderbar ist. Die Orthodoxie hat<br />
quasi „gewonnen“, weil nichts abgeschafft wurde. Beschneidung,<br />
Schabbat, Schächten etc. blieben, aber<br />
man hat Zugeständnisse gemacht, und man konnte<br />
mangels einer rabbinischen Autorität auch nichts dagegen<br />
unternehmen, dass sich die Reformidee bis<br />
heute weiterentwickelt hat.<br />
Alle Religionen sind ihrem Wesen nach konservativ, sie<br />
hängen an überkommenen Traditionen und Werten. Wie<br />
viel Feminismus verträgt das Judentum, ohne sich in einer<br />
Verwässerung aufzulösen?<br />
I Das würde ja bedeuten, dass nur Männer konservativ<br />
sein können. Frauen können genauso konservativ<br />
und fundamentalistisch sein, und es gibt genug<br />
Frauen, die in ihrem Feminismus wirkliche Fundamentalistinnen<br />
sind, auch in ihrem Bestreben, Teil<br />
dieses religiösen jüdischen Systems zu sein.<br />
„Frauenpower im Judentum“, also jüdische Frauen im Fokus,<br />
ist die säkulare Seite des Themas. Könnte man diese<br />
auch ohne religiösen Konnex betrachten?<br />
I Ich glaube, man muss diese Frage generell stellen,<br />
und da kommt man schnell in eine Identitätsdebatte,<br />
d. h. was bedeutet jüdisch, was jüdische Frau, was<br />
bedeutet dieses Adjektiv überhaupt, ist es eine Frage<br />
der Selbstdefinition, kann man das jenseits von jüdischer<br />
Erfahrung definieren? Das ist nur auf Frauen<br />
bezogen nicht beantwortbar.<br />
FELICITAS HEIMANN-JELINEK,<br />
Judaistin und Kunstwissenschaftlerin,<br />
war von 1993 bis 2011 Chef-Kuratorin<br />
des Jüdischen Museums der Stadt Wien.<br />
Sie ist als Kuratorin und Beraterin für<br />
verschiedene jüdische Institutionen und<br />
Museen tätig. Gemeinsam mit Michaela<br />
Feuerstein-Prasser kuratierte sie die<br />
Ausstellung Die weibliche Seite Gottes.<br />
FESTIVAL DER<br />
JÜDISCHEN KULTUR<br />
14. November bis<br />
9. Dezember <strong>2021</strong><br />
Programm:<br />
ikg-wien.at/festival<br />
wına-magazin.at<br />
39
WINA: Am 21. <strong>Oktober</strong> jährt sich der 90. Todestag von Arthur<br />
Schnitzler. Gerade rechtzeitig haben Sie für das Theater<br />
in der Josefstadt seinen ersten Roman Der Weg ins<br />
Freie in eine Bühnenfassung gegossen. Sie beschränken<br />
sich nicht auf eine spielbare Version des Romans, sondern<br />
reichern das Stück mit persönlichen Notizen Arthur<br />
Schnitzlers an, fügen teils originale, höchst erschreckende<br />
Stimmen der Zeit um 1900 hinzu. Der Abend heißt daher<br />
korrekt: „Susanne Wolf nach Arthur Schnitzler“. Fanden<br />
Sie den Roman nicht aussagekräftig genug?<br />
Susanne F. Wolf: Ich finde ihn extrem aussagekräftig,<br />
ich liebe dieses Buch, man muss sich darauf einlassen.<br />
Es ist ein relativ stilles und melancholisches<br />
Buch, in dem Schnitzler Unendliches geleistet hat.<br />
Er hat hier drei Themen verwoben: eine Auseinandersetzung<br />
mit dem Künstlertum, eine hochtragische<br />
Liebesgeschichte, und er hat ein Psychogramm<br />
der Wiener Gesellschaft im Fin de Siècle geschaffen,<br />
in einem bestimmten Ambiente, jenem des Salons.<br />
Die Arbeiterschaft streift er nur am Rande. Ich bezeichne<br />
es als „einen wienerischen Tanz der Einsamkeiten<br />
auf einem Vulkan der zunehmenden politischen<br />
Extreme“.<br />
Schonungslos direkt breiten Sie ein Panorama des Wiener<br />
Judentums am Ende der Monarchie aus: Sie zeigen<br />
auf, wie vielfältig und teils unsicher jüdische Menschen<br />
mit ihrer jungen gesellschaftlichen Emanzipation im aufkeimenden<br />
Antisemitismus umgehen: Da begegnet man<br />
dem realistischen Zionisten, dem peinlichen Anbiederer,<br />
dem notorischen Selbsthasser oder jenen, die in der Taufe<br />
oder im kämpferischen Sozialismus ihr Heil suchen. Wenn<br />
ich den Roman nicht gelesen und nur Ihre Bearbeitung für<br />
das Theater gesehen habe, frage ich mich: Stammen diese<br />
so wissenden, präzisen Charakterisierungen von Schnitzler<br />
oder von Ihnen?<br />
I Das stammt alles von Schnitzler, er hat mir den Boden<br />
dafür bereitet, es ist alles in den Figuren vorgezeichnet.<br />
Ich habe manches an den jüngeren Figuren<br />
politischer und kraftvoller herausgeschält, wie<br />
z. B. beim jüdischen Geschwisterpaar, Leo und Therese<br />
Golowski. Es geht ja darum, einen Stoff für die<br />
Bühne zu destillieren, spielbar zu machen, und<br />
da braucht man einen Kunstgriff, der sich vom Roman<br />
etwas entfernt. Der Arthur im Himmel möge<br />
mir verzeihen, aber manchmal braucht man Typen<br />
als theatrale Gegenstücke: wie den antisemitischen<br />
Politiker Ernst Jalaudek, großartig dargestellt<br />
von Michael Schönborn, der dem rechtsgerichteten<br />
Journalisten sagt, sie müssten jetzt den Antisemitismus<br />
etwas einbremsen, weil dann der jüdische Herr<br />
vielleicht mehr Geld für die Stadt Wien springen<br />
lässt. Echte Originalzitate der Zeit im Stück: „Lue-<br />
INTERVIEW MIT SUSANNE F. WOLF<br />
Wienerischer Tanz<br />
der Einsamkeiten<br />
Mutig und aktuell bringt das Theater<br />
in der Josefstadt Arthur Schnitzlers<br />
Roman Der Weg ins Freie in der sensiblen<br />
und kämpferischen Bearbeitung von Susanne<br />
F. Wolf zum 90. Todestag des<br />
Dichters auf die Bühne. Der bekennende<br />
Jude Arthur Schnitzler schrieb sich seine<br />
Wut über jene Glaubensgenossen von der<br />
Seele, die ihr Judentum verleugneten.<br />
Interview: Marta S. Halpert<br />
40 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Das Inhumane gärt wieder<br />
© Madame d‘Ora, Atelier/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com; Reinhard Engel<br />
ger soll regieren, alle Juden sollen krepieren“ oder:<br />
„Wien darf kein neues Palästina werden.“<br />
Antijüdisches zieht sich vom ersten Bild bis zum Schluss<br />
durch?<br />
I Ja, denn das Inhumane gärt in dieser Epoche bereits,<br />
bevor es vielfältig Tragisches nach sich zieht.<br />
Im ersten Bild, in dem Salonambiente, dominiert<br />
nur kurz die „gepflegte Konversation“, ähnlich wie<br />
in einem Stück von Oscar Wilde oder Hermann Bahr<br />
– heute würde man sagen, das ist der Small Talk der<br />
Seitenblicke-Gesellschaft. Aber plötzlich kippt das<br />
Ganze in bitterernste politische Gespräche. Else<br />
Ehrenberg, die Tochter der Salonière, fragt gerade<br />
noch indigniert, „Wen interessiert denn der Antisemitismus<br />
überhaupt?“, als ihr der junge Jude Leo<br />
Golowski sogleich über den Mund fährt: „Jüdische<br />
Mitschüler werden geschlagen, jüdische Beamte sollen<br />
entfernt werden, es solle keine jüdische Zuwanderung<br />
mehr geben. Daher muss das jeden interessieren.“<br />
Also hat sich Schnitzler zu seiner Zeit schon etwas getraut?<br />
I Ja, und sein Roman ist sehr mutig. Was mich auch<br />
so wütend macht, ist, dass die Qualität dieses Werkes<br />
nicht erkannt wurde. Was er da alles abgebildet<br />
hat, so klug und doch sanft beschreibt, was damals<br />
schon alles hochgekocht ist. Schnitzler war kein politischer<br />
Mensch, hat sich als deutscher Dichter definiert,<br />
bekannte, nicht unter seinem Judentum zu<br />
leiden, und beobachtete haarscharf. Seine Themen<br />
sind heute genau so relevant wie vor mehr als hundert<br />
Jahren: wie weit zionistische und religiöse Ideen<br />
hilfreich sind, wie weit der Antisemitismus noch immer<br />
ein brennendes Thema ist. Daher habe ich persönliche<br />
Aussagen von Schnitzler hineingenommen,<br />
z. B. wie er mit dem Zionismus und anderen Überzeugungen<br />
umgeht. Auch seine Wut über jene Juden,<br />
die durch Anbiederung versuchen, ihr Judentum zu<br />
verleugnen. Dieser Roman ist ein echtes Juwel.<br />
Renate Wagner, Kritikerin und Verfasserin einer Schnitzler-Biografie,<br />
steht allgemein Roman-Dramatisierungen<br />
eher skeptisch gegenüber. Zu Ihrer Fassung schreibt sie<br />
aber sehr lobend: „Die fast drei Stunden Spieldauer vergehen<br />
wie im Flug. Weil die Bearbeiterin begriffen hat, was<br />
der Autor sagen wollte.“ Haben Sie sich schon lange und<br />
viel mit den Werken von Schnitzler beschäftigt?<br />
I Ich habe schon früh in meinem Leben viel von ihm<br />
gelesen, witzigerweise kann ich mich sogar erinnern,<br />
wo ich den Weg ins Freie „verschlungen“ habe. Aber ich<br />
gestehe, ich bin keine Schnitzler-Spezialistin. Sig-<br />
„… sie müssten<br />
jetzt den<br />
Antisemitismus<br />
etwas<br />
einbremsen,<br />
weil dann der<br />
jüdische Herr<br />
vielleicht<br />
mehr Geld<br />
für die Stadt<br />
Wien springen<br />
lässt.“<br />
Susanne Wolf<br />
zitiert aus Schnitzler<br />
mund Freud hat über Schnitzler geschrieben, er sei<br />
überrascht, wie es dem Dichter gelingt, tief in die<br />
Seelen zu blicken und diese zu erkennen. Er selbst<br />
habe sich Jahrzehnte gequält, um diese Fähigkeiten<br />
zu entwickeln.<br />
Fragt man Sie auch, wie viel Wolf und wie viel Schnitzler<br />
drin ist?<br />
I Natürlich, ich sage meist vielleicht 60 Prozent<br />
Schnitzler? Jedenfalls habe ich mir zu Hause vor der<br />
Premiere ein Glas Sekt gegönnt – und mein Trinkspruch<br />
lautete: „Arthur, auf dich und auf mich!“ Ich<br />
fühle mich ihm sehr nahe.<br />
Sie beharren in Ihrer Bearbeitung auf aktuelle Bezüge?<br />
I Es ist ja erschreckend, wie jetzt in der Covid-Pandemie<br />
der Antisemitismus wieder hochkocht. Natürlich<br />
muss man das differenziert betrachten, damals<br />
und heute kann man nicht eins zu eins vergleichen.<br />
Für mich manifestiert sich die Aktualität insofern,<br />
als damals vieles schon angedacht wurde, das heute<br />
nicht nur normal, sondern salonfähig ist. Die Lueger-Zeit<br />
war eindeutig der Nährboden, auf dem sich<br />
Hitler ausbreiten konnte, und vieles von dem, worauf<br />
wir heute beharren, z. B. keine Zuwanderung,<br />
dass die Neuankömmlinge Deutsch lernen sollten<br />
– selbstverständlich hilft es, die Landessprache zu<br />
können –, wurde als Forderung mit Drohpotenzial<br />
geäußert. Es ist noch nicht so lange her, dass fast<br />
jede Woche judenfeindliche Aussagen ganz selbstverständlich<br />
getätigt worden sind, während Schwarz-<br />
Blau regierte. Das Thema ist erschreckend gegenwärtig,<br />
man darf es nicht wegschmeicheln.<br />
SUSANNE F. WOLF<br />
wurde 1964 in Mainz geboren.<br />
Sie absolvierte ihr Theaterwissenschaft-Studium<br />
in Wien, wo<br />
sie seit 1982 lebt. Als Gast- und<br />
Hausdramaturgin war sie u. a.<br />
am Schauspiel Frankfurt und<br />
Volkstheater Wien tätig.<br />
Seit 1990 schreibt sie Theaterstücke,<br />
Dramatisierungen, Libretti,<br />
Songs/Lyrics und Prosatexte für<br />
das Sprech- und Musiktheater.<br />
Wolf realisierte etliche Projekte für<br />
Theater in Österreich, aber auch<br />
für die Staatsoperette Dresden,<br />
Wiener Symphoniker, Esterházy<br />
Privatstiftung, Wien Modern,<br />
Jeunesse und seit Kurzem für die<br />
Philharmonie Luxembourg.<br />
Jüngst feierte sie Erfolge an der<br />
Komischen Oper Berlin, wo Intendant<br />
Barrie Kosky sie mit Libretti<br />
von Kinderopern beauftragte.<br />
wına-magazin.at<br />
41
Geschichte durch Geschichten erzählen<br />
Michael Schnitzler: Ein<br />
Leben für Musik und Natur<br />
ind Sie verwandt mit Arthur Schnitzler?“<br />
„SDas war sicher die häufigste Frage, die<br />
dem 1944 in Berkeley/USA geborenen Michael<br />
Schnitzler in seinem Leben gestellt wurde. Der<br />
geduldige Enkel verwies immer wieder darauf,<br />
dass er seinen berühmten Großvater nicht gekannt<br />
hatte, weil dieser 1931 gestorben war. Jene<br />
Erinnerungen, die Michael an seine weit verzweigte<br />
Familie hat, sind jetzt unter dem Titel<br />
Der Geiger und der Regenwald im Amalthea Verlag<br />
erschienen.<br />
Michael Schnitzler, der 50 Jahre lang Konzertmeister<br />
der Wiener Symphoniker war, arbeitete<br />
auch als Violinprofessor und gründete das<br />
Haydn-Trio Wien, mit dem er Jahrzehnte auf den<br />
Bühnen der Welt auftreten sollte. Doch sein persönliches<br />
Paradies entdeckt er 1989 im Regenwald<br />
von Costa Rica, wo er die sanften Klänge<br />
der Violine gegen die Rufe von Brüllaffen und<br />
Papageien tauscht. Der von ihm initiierte „Regenwald<br />
der Österreicher“ ist heute sein zweites<br />
Zuhause, wo er sich leidenschaftlich für den Erhalt<br />
der Natur und der Artenvielfalt einsetzt. Seit<br />
2005 betreibt er die Esquinas Rainforest Lodge<br />
im Süden des Landes.<br />
Michaels Vater Heinrich (1902–1982) war der<br />
einzige Sohn des Dichters. 1934 heiratete er die<br />
neun Jahre jüngere, wohlhabende Industriellentochter<br />
Lilly von Strakosch. „Nach der Hochzeit<br />
zogen meine Eltern in die Villa, die mein Großvater<br />
Arthur 1910 in Währung gekauft hatte: Sternwartestraße<br />
71“, schreibt der Enkel. „In diesem<br />
Haus lebte mein Großvater bis zu seinem Tod<br />
1931. In seinem Arbeitszimmer befand sich auch<br />
sein gesamter Nachlass – Manuskripte, Briefe,<br />
Skizzen, Tagebücher. Als meine Eltern 1938 quasi<br />
über Nacht fliehen mussten, ließen sie ihren gesamten<br />
Besitz zurück.“ Die komplizierte und<br />
spannungsgeladene Geschichte dieses Nachlasses<br />
wurde erst 70 Jahre später geklärt. Michael<br />
Schnitzler berichtet in seinem anekdotenreichen,<br />
lesenswerten Buch u. a. über eine Schlagzeile auf<br />
der Titelseite der Wiener Zeitung am 7. August<br />
1944, als er in Oakland geboren wurde: „Adolf<br />
Hitler: Zuversichtlich wie noch nie.“<br />
Vater Heinrich war Schauspieler und Theaterregisseur,<br />
zuerst im Exil am Broadway. Ab der<br />
Rückkehr nach Wien 1957 inszenierte er am Theater<br />
in der Josefstadt, dessen Vizedirektor er zwei<br />
Jahre später wurde. „Auch wenn nie über die politische<br />
Vergangenheit geredet wurde, war das<br />
Verhältnis zu ehemaligen Nazis im Ensemble angespannt“,<br />
weiß Michael Schnitzler. „Er war ein<br />
Regisseur der alten Schule, galt als werktreuer,<br />
gewissenhafter Nestroy-, Strindberg- und Tschechow-Regisseur<br />
und wurde ‚Meister der Zwischentöne‘<br />
genannt – und natürlich war er prädestiniert,<br />
Stücke seines Vaters zu inszenieren.“<br />
Michael Schnitzler,<br />
Petra Hartlieb:<br />
Der Geiger und<br />
der Regenwald.<br />
Amalthea <strong>2021</strong>,<br />
272 S., € 28<br />
Der Weg ins<br />
Freie. Eine Auseinandersetzung<br />
mit<br />
dem Künstlertum,<br />
eine hochtragische<br />
Liebesgeschichte<br />
und ein Psychogramm<br />
der Wiener<br />
Gesellschaft im Fin<br />
de Siècle.<br />
Schnitzler hat Wiens Bürgermeister Lueger sehr früh<br />
durchschaut.<br />
I Bei seiner Verachtung für die Politik rührt Schnitzler<br />
an vielen Dingen, die uns an heute gemahnen.<br />
Er hat Lueger verachtet, weil er rechtspopulistisch<br />
agierte, aber gleichzeitig tarockierend mit jüdischen<br />
Geschäftsleuten am Tisch saß. Dieses unethische<br />
Verhalten hat ihn wild gemacht. Die Phrasen, die<br />
gedroschen wurden, hat er auf wunderbare Weise<br />
offen gelegt.<br />
Kann die heutige Jugend 90 Jahre nach Schnitzlers Tod<br />
noch etwas damit anfangen?<br />
I Ich bin überzeugt davon, dass man Geschichte<br />
nur über Geschichten-Erzählen verstehen kann.<br />
Die Bühnenfiguren sind natürlich historisierend.<br />
Aber die Seelenklänge berühren immer noch, auch<br />
die politischen Farben tragen wir bis heute in uns.<br />
Ebenso zeigen seine sensiblen Beschreibungen der<br />
Frauen auf, was unsere Vorgängerinnen erlitten und<br />
erlebt haben. Frauen stehen noch immer im Schatten<br />
der Männer, vieles ist schon erreicht, aber vieles<br />
noch ein weiter Weg. Die Bindungsangst, die Emanzipation,<br />
oder wie viel Freiheit lässt man einander,<br />
was ist Freiheit überhaupt und, ganz wichtig, was –<br />
und wo – ist Heimat? Schnitzlers Themen sind in ihrer<br />
Allgemeingültigkeit unübertroffen.<br />
Bei einigen Zeitgenossen Schnitzlers, darunter Hugo von<br />
Hofmannsthal, und auch bei Werner Welzig, Herausgeber<br />
seiner Tagebücher, verursachte der Weg ins Freie echte<br />
Verstimmung. Auch nach der Premiere am Theater in<br />
der Josefstadt herrschte unter einigen Besuchern eine<br />
gewisse Beklemmung und Reserviertheit: Ich vermute,<br />
dass das Thema auch heute vielen zu nahe kommt oder<br />
irgendwie peinlich ist. Stimmt mein Eindruck?<br />
I Ich bin an dieses Thema nicht blauäugig herangegangen:<br />
Es war und ist mir wichtig, dass es aufrüttelt.<br />
Ich hatte eine Bandbreite an Reaktionen, Ich erlebe<br />
Unterschiedlichstes, manche Zuschauer*innen<br />
können nichts damit anfangen. manche sind ergriffen<br />
und sehr berührt. Durch die Fokussierung auf<br />
die jüdische Thematik wusste ich, dass es eine Gratwanderung<br />
wird.<br />
© Roland Ferrigato<br />
42 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Eine Urgewalt<br />
Die ewig<br />
menschliche Hoffnung<br />
musikalisch umgesetzt<br />
Shira Karmon und Paul Gulda präsentieren mit The Spirit of Hope<br />
eine berückende und anspruchsvolle CD. Vorgestellt wird sie zur Erinnerung<br />
an das Novemberpogrom am 9. November im Wiener Alten Rathaus.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Die beiden herausragenden Musik-Interpreten<br />
machen, was sie<br />
besonders gut können und was<br />
ihnen thematisch am Herzen liegt: So entsteht<br />
eine künstlerisch perfekte Symbiose<br />
zwischen der israelischen Sängerin Shira<br />
Karmon und dem österreichischen Pianisten<br />
Paul Gulda.<br />
Hören und genießen kann man das<br />
jetzt auch privat: Die CD mit dem vielversprechenden<br />
Titel The Spirit of Hope<br />
spannt einen musikalischen Bogen von<br />
Mozarts Kantate KV 619 aus dem Jahr 1791<br />
bis zu den 2018 entstandenen Kompositionen<br />
von Paul Gulda und Marwan Abado<br />
mit dem Titel Pieces of Hope – Hopes of Peace:<br />
Hoffnung auf Frieden – Frieden, der wiederum<br />
Hoffnungen ermöglicht.<br />
„Von den Psalmen Davids und den Gesängen<br />
der Naturvölker über sakrale Musik<br />
aller Richtungen und bis in gewisse Werke<br />
der radikalen Moderne: Diese Sehnsucht<br />
und ihre künstlerische Umsetzung sind<br />
so alt und so verbreitet wie die menschliche<br />
Kultur“, erklärt Gulda die inhaltliche<br />
Klammer der innerhalb von fünf Tagen in<br />
Wien aufgenommenen Gramola-CD. Von<br />
Salomon Sulzers Trost (1846) über drei<br />
von Eyal Bat (Jahrgang 1966) vertonte Gedichte<br />
von Else Lasker-Schüler bis zu Leonard<br />
Bernsteins Vietnam-Song So Pretty<br />
(1968) findet man auf dieser Einspielung<br />
reichlich Stoff zum Nachdenken und Mitfühlen.<br />
„Denn“, so Gulda, „auch wenn<br />
diese Texte und Melodien von bestimmten<br />
Menschen erdacht, in Zeit und Ort definiert<br />
sind, bleiben sie universell gültig.<br />
Jedes Stück unserer Auswahl ist ein Teilstück,<br />
ein Splitter dieser großen und aufgeladenen<br />
Begriffe: von Freiheit, Frieden,<br />
„Jedes Stück unserer<br />
Auswahl ist ein Teilstück,<br />
ein Splitter dieser<br />
großen und aufgeladenen<br />
Begriffe:<br />
von Freiheit, Frieden,<br />
hohen Idealen<br />
ist die Rede […].“<br />
Paul Gulda<br />
hohen Idealen ist die Rede – wie auch von<br />
persönlichem Schicksal.“<br />
„Alles ist möglich – bei dieser Stimme!<br />
Es schwelt ein Feuer, eine Urgewalt, die<br />
einen alles um sich herum vergessen<br />
lässt“, lautet nur eine der vielen Pressestimmen<br />
zu den bisherigen zahlreichen<br />
Auftritten der Sopranistin Shira Karmon.<br />
Die Mutter zweier Mädchen, die in<br />
Tel Aviv ausgebildet wurde, gastierte u. a.<br />
am Staatstheater Saarbrücken, an der Komischen<br />
Oper und der Neuköllner Oper<br />
in Berlin, an der Kammeroper Hamburg.<br />
Auf europäischen Opernbühnen konnte<br />
man sie im schottischen Aberdeen und<br />
an der französischen Opéra de Strasbourg<br />
hören. Zu ihren Rollen zählen u. a. die<br />
„Mimi“ in La Bohème, die „Gräfin“ in Figaros<br />
Hochzeit, die „Donna Elvira“ in Don<br />
Giovanni. Als erfolgreiche Konzertsängerin,<br />
insbesondere des Liedguts des späten<br />
20. Jahrhunderts, trat sie im Concertgebouw<br />
Amsterdam, im Berliner Konzerthaus,<br />
im Lincoln Center New York, bei der<br />
Styriarte Graz auf. Karmon gestaltete mit<br />
Paul Gulda bereits Konzerte in New York,<br />
Washington und auf der Studiobühne<br />
der Wiener Staatsoper; gemeinsam absolvierten<br />
sie 2018 eine vielbeachtete Israel-Tournee<br />
mit Unterstützung des Austria<br />
Culture Centers. Im gleichen Jahr war<br />
Shira Karmon in Istanbul, im Brucknerhaus<br />
Linz und im Wiener MuTh zu erleben.<br />
Auf Einladung des Grazer IKG-Präsidenten<br />
Eli Rosen eröffnete sie zuletzt<br />
die Gala zu Rosch ha-Schana in der Grazer<br />
Synagoge.<br />
Der virtuose Pianist Paul Gulda, 1961 in<br />
Wien als zweiter Sohn des Pianisten Friedrich<br />
Gulda und der Schauspielerin Paola<br />
Loew geboren, zeichnet sich durch Spiritualität<br />
und Kreativität aus; dennoch setzt<br />
er sich laufend für realistische zivilgesellschaftlich<br />
Belange ein, u. a. für die Initiative<br />
REFUGIUS in Rechnitz. „Meine ersten<br />
Lehrer waren zwei Jazzer: Fritz Pauer<br />
und Roland Batik; mein Vater Friedrich<br />
Gulda hat mir unbedingte Hingabe an die<br />
Musik vermittelt. Die Summe daraus zu<br />
ziehen, sogar darüber hinaus zu gehen,<br />
dies an andere weiterzugeben, ist meine<br />
Aufgabe.“ Daher wundert es nicht, dass<br />
Shira Karmon und Paul Gulda die Präsentation<br />
von The Spirit of Hope für den 9. November<br />
<strong>2021</strong>, den Jahrestag der Novemberpogrome<br />
1938, angesetzt haben (Altes<br />
Rathaus, 1., Wipplingerstraße 8, 19 Uhr).<br />
wına-magazin.at<br />
43
Großes Panorama<br />
Zarte Erinnerung,<br />
sezierende<br />
Gesellschaftsanalyse<br />
Vor 150 Jahren wurde der große französische Romancier<br />
Marcel Proust geboren, von einer jüdischen Mutter in eine<br />
katholische Bürgerfamilie.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Die Szene mit der Madeleine gilt<br />
als der Eintritt in die Erinnerungs-Erzählung.<br />
Der Ich-Erzähler,<br />
der erwachsene Marcel,<br />
er heißt wie der Schriftsteller, spürt<br />
nach dem Eintauchen eines muschelförmigen<br />
Gebäcks in eine Tasse Tee überfallsartig<br />
denselben Geschmack wie einst, als<br />
ihm, dem Kind, eine Tante diese Köstlichkeit<br />
das erste Mal offeriert hatte. Und mit<br />
dem sinnlichen Erleben wird schlagartig<br />
das ganze Panorama der Kindheit wieder<br />
lebendig, mit allen Freuden und vor allem<br />
den vielen Ängsten.<br />
Eine andere kulinarische Erwähnung<br />
wird oft überlesen, und doch hat sie Marcel<br />
Proust ganz bestimmt bewusst gesetzt. Die<br />
Kindheit des Ich-Erzählers spielt sich in einem<br />
bürgerlich-kleinbürgerlichen, streng<br />
katholischen Milieu in der französischen<br />
Provinz ab, mit regelmäßigem Kirchgang<br />
und mit festen Regeln. Plötzlich wird da<br />
ein uraltes Rezept erwähnt, bei dem das<br />
Kitzlein nicht in der Milch der Mutter gekocht<br />
werden dürfe, ein eindeutiges Symbol<br />
für jüdische Speisegesetze.<br />
Die geliebte Mutter im großen Roman<br />
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />
füllt ihre Rolle in der rural-konservativen<br />
französischen Umgebung so aus, wie<br />
dies dort eben seit langer Zeit gefordert<br />
war. Prousts wirkliche Mutter Jeanne<br />
war allerdings eine Jüdin aus Lothringen,<br />
eine geborene Weil. „Sie leugnete<br />
ihre jüdische Herkunft nicht“, schreibt<br />
der deutsche Romanistik-Professor Karlheinz<br />
Biermann in seiner Proust-Monografie,<br />
„praktizierte aber nicht mehr die<br />
mosaische Religion im engeren Sinn“. Ihr<br />
Vater Nathé Weil hatte als Börsenmakler<br />
Karriere und Geld gemacht, ein Minister<br />
fungierte als Trauzeuge bei Jeannes<br />
Hochzeit mit dem katholischen Arzt und<br />
Wissenschaftler Adrien Proust. Die Söhne<br />
– auf Marcels Geburt 1871 folgte zwei Jahre<br />
später Robert – wurden getauft und katholisch<br />
erzogen. Biermann: „So koexistieren<br />
in dieser Familie – wie in dem sie<br />
umgebenden Milieu – die christlich-katholische<br />
und die jüdische Tradition, vereint<br />
im gemeinsamen Glauben an Kunst<br />
und Wissenschaft.“<br />
Der kleine Marcel war ein sensibles und<br />
kränkelndes Kind, mit neun Jahren hatte<br />
er seinen ersten schweren Asthmaanfall,<br />
was zu wiederholten Genesungsaufenthalten<br />
auf dem Land und vor allem am<br />
Atlantik führte. Dennoch absolvierte er<br />
das Gymnasium, einen einjährigen Militärdienst<br />
und anschließend, als Kompro-<br />
44 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Ausufernder Erzählstrom<br />
© Albert Harlingue/Roger Viollet/picturedesk.com<br />
ser oder die Leserin<br />
auch schnell hinein<br />
in einen sanften Erzählstrom.<br />
Doch dieser<br />
ufert mächtig aus,<br />
springt durch Zeitebenen, drängt hinein<br />
in das Innere der Figuren, zu ihren Spielereien,<br />
Bosheiten, Obsessionen und Ängsten,<br />
breitet die Äußerlichkeiten einer Umbruchszeit<br />
mit Luxus, Schein und Macht<br />
perfekt und reich geschmückt aus. „Hunderte<br />
von Personen treten in Prousts Verlorener<br />
Zeit auf“, schreibt Renate Wiggershaus<br />
in ihrer Monografie: „Herzoginnen<br />
und Diener, Grafen und junge Mädchen,<br />
Köchinnen und Schneider, Botschafter,<br />
Ärzte, Chauffeure, Kellner und Künstler.“<br />
Proust kannte alle diese Typen von seinen<br />
Jahren, in denen er die Salons des Adels<br />
und des Großbürgertums frequentierte.<br />
Was dabei nicht zur Sprache kommt –<br />
abgesehen von gedemütigten Dienstboten<br />
–, ist die gesamte Welt der Produktion, bemerkte<br />
einmal trocken der deutsche Kritiker<br />
und Philosoph Walter Benjamin. Und<br />
doch entwirft der Autor ein großes Panorama,<br />
analysiert präzise den in seiner gemiss<br />
für den Vater, eine Kombination aus<br />
Rechts- und Literaturstudien.<br />
Er sollte eigentlich eine Laufbahn als<br />
Diplomat einschlagen. Doch ihm waren<br />
die Künste näher, und auch die Pariser<br />
Salons. Unterstützt von den – relativ<br />
wohlhabenden – Eltern taucht er ein in die<br />
Jeunesse Dorée, macht als Dandy jungen<br />
Damen wie reiferen Frauen den Hof, erlebt<br />
aber heimlich wohl auch schon seine<br />
ersten homosexuellen Begegnungen. Er<br />
schreibt literarische und journalistische<br />
Arbeiten, übersetzt Werke des englischen<br />
Kunstkritikers John Ruskin, engagiert sich<br />
auch gemeinsam mit anderen Schriftstellern<br />
für den zu Unrecht verurteilten jüdischen<br />
Offizier Alfred Dreyfus. Freuden und<br />
Tage wird sein erstes publiziertes Werk,<br />
und schon da zeigen sich laut Kritikern<br />
kreative Ansätze, die er dann später in der<br />
Verlorenen Zeit brillant ausarbeiten<br />
wird: Da findet sich etwa<br />
der Flaneur, der als einsamer<br />
Beobachter distanziert,<br />
aber genau und ironisch die<br />
Schwächen seiner Umgebung<br />
analysiert, das Setting<br />
ist meist der großbürgerlich-adelige<br />
Salon. Und auch<br />
große Gefühle wie sehnsüchtige,<br />
unerfüllte Liebe und die<br />
Qualen der Eifersucht werden<br />
bereits thematisiert.<br />
Literarische Aufgabe. Ab 1907<br />
– Proust ist schon 26 und noch<br />
immer ohne eigenes regelmäßiges<br />
Einkommen – beginnt er etwas unstrukturiert<br />
mit der Arbeit an jenem gewaltigen<br />
Werk, das ihn letztendlich unter die<br />
ganz Großen der europäischen Literatur<br />
heben sollte. Noch wusste er nicht genau,<br />
ob er es eher essayartig oder als Roman anlegen<br />
wollte, und beriet sich darüber mit<br />
Schriftstellerkollegen, ehe er sich doch für<br />
die Fiktion entschied. 1913 erschien dann<br />
nach mehreren Ablehnungen durch Verlage,<br />
eine davon übrigens von André Gide,<br />
der das schon bald bedauern sollte, der<br />
erste Band bei Grasset (später wechselte<br />
Proust zum Verlagshaus Gallimard). Von<br />
diesem Band verkaufte Proust nicht mehr<br />
als 3.300 Exemplare. „Die Aufnahme des<br />
Werks in den Feuilletons ist gespalten“, so<br />
der Romanist Biermann. „Insgesamt lässt<br />
sich feststellen, dass die zeitgenössische<br />
Kritik die bahnbrechende Bedeutung des<br />
Romans nicht erkennt.“<br />
Doch Proust lässt nicht locker. Inzwischen<br />
ist er durch den Tod des Vaters und<br />
Zeitdokument.<br />
Das letzte handgeschriebene<br />
Manuskript von Auf<br />
der Suche nach der<br />
verlorenen Zeit.<br />
sein Erbe finanziell unabhängig geworden<br />
(auch wenn er dieses durch einige riskante<br />
Spekulationsgeschäfte wieder verkleinert).<br />
Und er glaubt an seine literarische<br />
Aufgabe. Nach dem Ersten Weltkrieg, im<br />
Jahr 1919, erhält Proust den prestigeträchtigen<br />
Prix Goncourt für den zweiten Band<br />
der Verlorenen Zeit. Nun ist er bekannt bis<br />
berühmt und arbeitet aufgrund seiner<br />
Krankheit immer öfter im Bett intensiv<br />
an den weiteren Folgen. Er soll diese nicht<br />
mehr vollenden, große Teil der Verlorenen<br />
Zeit erscheinen postum, manche erst Jahre<br />
später. Wenige Monate vor seinem Tod soll<br />
er seiner Haushälterin und Vertrauten Céleste<br />
Albaret gesagt haben, er habe in dieser<br />
Nacht das große Wort „Ende“ geschrieben,<br />
jetzt könne er sterben.<br />
Was für ein Werk ist dieser Riesenroman?<br />
Es beginnt zwar<br />
mit der Erinnerung des<br />
Knaben an seine Kindheit,<br />
zieht den Le-<br />
„So koexistieren in dieser<br />
Familie – wie in dem sie umgebenden<br />
Milieu – die christlich-katholische<br />
und die<br />
jüdische Tradition, vereint<br />
im gemeinsamen Glauben<br />
an Kunst und Wissenschaft.“<br />
Karlheinz Biermann<br />
schwätzigen Pracht stagnierenden Adel,<br />
die karrierebewusst aufstrebenden bürgerlichen<br />
Juden (eine der Hauptfiguren,<br />
Swann, zählt zu dieser Kategorie), lässt die<br />
beiden gesellschaftlichen Gruppen durch<br />
Heiraten wenn nicht verschmelzen, so einander<br />
doch annähern. Schon zu Prousts<br />
Lebzeiten war es ein beliebtes Salonspiel<br />
zu mutmaßen, welche Dame, welcher Herr<br />
wohl als Schablone für die einzelnen Charaktere<br />
gedient haben möge. Bis heute erscheinen<br />
Bücher, die dem nachgehen, etwa<br />
Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Der Autor<br />
selbst verwehrte sich gegen simple Einszu-eins-Muster.<br />
Die Romanfiguren setzten<br />
sich jeweils aus mehreren realen Personen<br />
zusammen, manchmal aus bis zu acht.<br />
Diese fragmentarischen Persönlichkeiten<br />
finden sich auch direkt im Roman, sowohl<br />
bei Männern wie auch bei Frauen.<br />
Sie sind in unterschiedlichsten Zusammenhängen<br />
oder Lebenssituation jeweils<br />
andere, von stabilen selbstbewussten<br />
Langzeitprofilen könne man nicht<br />
mehr ausgehen. Prousts Analyse zielt also<br />
nicht mehr nur auf das zwischenmenschliche<br />
Funktionieren der – oberen – Gesellschaftsschicht,<br />
sondern längst auch auf die<br />
un- und unterbewussten tieferen Strukturen<br />
der Individuen.<br />
Durchwoben, um nicht zu sagen dekoriert,<br />
ist dieser Erzählfluss mit einem<br />
breiten Wissen über Literatur, Musik und<br />
bildenden Kunst, Proust sparte trotz Salonglanz<br />
die moderne Technik nicht aus<br />
– sei sie zivil oder militärisch. Er ließ sich<br />
auch selbst mit einem offenen Auto durch<br />
Frankreich chauffieren – und verliebte<br />
sich dabei unglücklich in seinen jungen<br />
Fahrer. An der Frage, ob die vielen unerfüllten<br />
Liebesbeziehungen im Roman mit<br />
seiner eigenen sexuellen Ausrichtung zu<br />
tun haben, arbeiteten sich über die Jahre<br />
zahlreiche Kritiker ab. Es bleibt ein mächtiges,<br />
vielschichtiges, sensibles, kluges<br />
Werk – mit allen gewollten Unschärfen und<br />
dunklen, pessimistischen Regionen, die so<br />
einem Werk angemessen sind. Wer sich darauf<br />
einlässt, wird freilich reich belohnt.<br />
wına-magazin.at<br />
45
Dunkles Sodom<br />
Joshua Sobol:<br />
Der große Wind<br />
der Zeit.<br />
Aus dem Hebräischen<br />
von Barbara Linner.<br />
Luchterhand,<br />
528 S., € 24,70<br />
Einem Börsengewinn von hunderten<br />
Millionen Euro, den<br />
ihr Kibbuz mit einer europäischen<br />
Filiale gemacht hat,<br />
stehen die Alten eher hilflos<br />
gegenüber. Ihre zukünftigen Erben könnten<br />
mit den jeweiligen Anteilen der betagten<br />
Gründer da schon mehr anfangen.<br />
Doch noch ist der 90-jährige Dave<br />
Ben Chaim Herr über seine Harley Davidson,<br />
seinen Verstand und seine Freiheit.<br />
Längst haben sich seine vier Kinder von<br />
ihm entfernt. Sohn Gaby, ein höchst kreativer<br />
Systemanalytiker, würde gern das<br />
digitale Computersystem global vernichten,<br />
der Landwirt Duvesch sich von seiner<br />
Farm im Jordantal und seiner Ehefrau<br />
trennen, der rechte Politiker Maoz will<br />
Ministerpräsident werden, während Daves<br />
einzige Tochter Meirav erotisch aktiv<br />
durch Tel Avivs Nachtleben floatet. Überhaupt<br />
wird reihum kreuz und quer gevögelt,<br />
Mutter und Tochter gar mit demselben<br />
Liebhaber, alle doch letztlich als<br />
betrogene Betrüger.<br />
„Entlassungsurlaub“. Als heller Stern in<br />
diesem dunklen Sodom strahlt einsam<br />
Daves Enkelin Libby, eine junge Verhörspezialistin<br />
der Armee, die sämtliche arabischen<br />
Dialekte beherrscht. Ihr letzter<br />
Fall vor dem Entlassungsurlaub, ein kultivierter<br />
Palästinenser, der in England an<br />
seiner Doktorarbeit über den Zionismus<br />
schreibt, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise.<br />
Chufschat Schichrur, Entlassungsurlaub,<br />
lautet bezeichnenderweise der Originaltitel<br />
des bereits<br />
2017 auf Hebräisch<br />
erschienenen Romans<br />
und rückt damit<br />
Libby deutlich<br />
ins Zentrum. Im<br />
Haus des Großvaters<br />
stößt sie auf das<br />
Mit Weiningers Nacht hat Joshua Sobol 1983 erstmals<br />
die Weltbühne betreten und danach mit Stücken<br />
wie Ghetto und Alma auch weiter erobert. Mit<br />
seinen epischen Werken war der 1939 geborene israelische<br />
Dramatiker bisher weniger erfolgreich.<br />
Der große Wind der Zeit, ein Roman über vier Generationen<br />
einer Familie und hundert Jahre Geschichte<br />
„Erez Israels“, soll nun sein Opus Magnum sein.<br />
Von Anita Pollak<br />
„Kein Jubelgeschrei bei<br />
freudigen Anlässen, kein<br />
Heulen und Wehklagen, wenn<br />
sie das Unglück ereilte.“<br />
46 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Nostalgische Rückblicke<br />
„KEIN SCHLUSS –<br />
und nicht das Ende“<br />
© Andreas Friess / picturedesk.com<br />
Joshua Sobol. In den<br />
lebensechten Dialogen<br />
und zeitsatirischen Szenen<br />
wird auch in der Prosa der<br />
Dramatiker spürbar.<br />
Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva, die in<br />
den 1920er-Jahren aus ihrem großbürgerlichen<br />
Elternhaus in Wien allein nach<br />
Palästina aufbricht. Gemeinsam mit Gefährten<br />
gründet sie einen Kibbuz, bekommt<br />
mit einem jemenitischen Juden<br />
einen Sohn, Uri, der sich später Dave nennen<br />
wird, und verlässt beide, um als Ausdruckstänzerin<br />
durch das Berlin der Vorkriegszeit<br />
zu tingeln. Sie schläft mit Nazis<br />
ebenso wie mit dem „Lederjackett“, durch<br />
genussvoll ausgebreitete Klischees aus<br />
seiner Vita unschwer als Bertolt Brecht<br />
identifizierbar, ein Frauen verachtender<br />
Frauenheld, dem Eva nicht verfällt.<br />
Gerade noch rechtzeitig kehrt sie zurück<br />
in ihren „Swinging Kibbuz“, wie ihn ihre<br />
staunende Urenkelin angesichts der damals<br />
dort herrschenden Verhältnisse<br />
nennt. Ihre Eltern kann Eva nicht zur<br />
Abreise aus dem bereits braunen Wien<br />
überreden. Sie werden den Krieg nicht<br />
überleben.<br />
Lebendige Vergangenheit. Seitenlange Zitate<br />
aus Evas Tagebuch erlauben es dem<br />
Erzähler, die Vergangenheit im O-Ton<br />
sprechen, den Rückblick als Gegenwart<br />
lebendig werden zu lassen und so ein<br />
Jahrhundert Geschichte episch zu umspannen.<br />
Bisweilen überspannt Sobol<br />
diesen Bogen allerdings, überlädt ihn<br />
mit allzu viel Wissen, allzu schulmeisterlichen<br />
Belehrungen, allzu detailfreudigen<br />
Exkursen, über Leda und den Schwan<br />
ebenso wie beispielsweise über den genau<br />
protokollierten Ablauf der Berliner Bücherverbrennung,<br />
Dinge, die man heute<br />
auch dank Wikipedia nicht unbedingt in<br />
extenso ausbreiten muss.<br />
Spürbar wird die Pratze des Dramatikers<br />
allerdings in lebensechten Dialogen,<br />
in zeitsatirischen Szenen, die in ihrer<br />
Überdeutlichkeit jedoch manchmal<br />
übers Ziel schießen. So soll etwa bei einem<br />
Dinner in einem angesagten Lokal<br />
der Weg ins Amt des Premierministers<br />
ausgedealt werden, wobei unter anderem<br />
Jakobsmuscheln und ein „in Butter<br />
gebratenes Schweinefilet“ verdrückt<br />
werden. Wir haben schon verstanden, koscher<br />
ist es nicht!<br />
Vielleicht ist es kleinlich, in einem so<br />
ambitionierten Werk auf Unstimmigkeiten<br />
hinzuweisen, doch in der Spanischen<br />
Hofreitschule in Wien konnten<br />
junge Mädchen sicher nicht, wie es von<br />
Eva heißt, „die Reitkunst“ gelernt haben.<br />
Im Großen gesehen gelingt diesem<br />
weit ausufernden Roman aber vieles.<br />
Vor allem Geschichte aus erster Hand,<br />
kennt doch der ehemalige Kibbuznik<br />
Joshua Sobol das Land, seine Menschen,<br />
seine Konflikte wie eben nur ein alt gewordener<br />
Sabre und streut die Erkenntnisse<br />
seiner philosophischen Altersweisheit<br />
mit wohltuender Beiläufigkeit locker<br />
aus. Eines der berührendsten Miniporträts<br />
des Bandes ist einem schrulligen Pro-<br />
fessor gewidmet, einer „weltweiten Koryphäe<br />
für Quantencomputerisierung“, der<br />
sich im Alter als Messie der leidenschaftlichen<br />
Sammlung und Behandlung kaputter<br />
Fundstücke aus dem Müll, unter anderem<br />
schwer lädierter Puppen, hingibt.<br />
Liebevollst reinigt er sie, wäscht ihnen<br />
vorsichtig die Haare, föhnt und kämmt<br />
sie, während seine Frau, verzweifelt über<br />
diese Aktivitäten ihres einstmals weltberühmten<br />
Mannes, in der kunstvollen Zubereitung<br />
einer „Kalbsfußsülze“ aufgeht.<br />
Einfach wunderbar!<br />
Pioniere. Mehr oder minder nostalgische<br />
Rückblicke auf die so hoffnungsvolle<br />
Gründerzeit des Landes und seine<br />
zionistischen Pioniere sind mittlerweile<br />
Leitmotive in den Romanen großer israelischer<br />
Autoren der Gegenwart. Sie<br />
verschweigen dabei meist nicht, mit<br />
welchem Blutzoll auf beiden Seiten der<br />
Staat geboren wurde. Dabei stoßen Geschichtsnarrative<br />
aufeinander, kollidieren.<br />
Natürlich dürfen auch hier die edlen,<br />
gedemütigten Araber genauso wenig<br />
fehlen wie die selbst entsagenden frühen<br />
Siedler. „Kein Jubelgeschrei bei freudigen<br />
Anlässen, kein Heulen und Wehklagen,<br />
wenn sie das Unglück ereilte.“<br />
Ausgesprochen und unausgesprochen<br />
bilden diese Helden den Kontrast zum aktuellen<br />
Gesellschaftspanorama Israels, in<br />
den Mitgliedern der Familie Ben Chaim<br />
beispielhaft gespiegelt. Wie in Sobols Polydrama<br />
Alma folgt man ihnen quasi in simultanen<br />
Szenen durch Krisen ihres Lebens,<br />
geleitet durch zwei starke Frauen:<br />
Eva, die über Hundert wurde, und ihre Urenkelin<br />
Libby, gleichsam ihre Wiedergeburt.<br />
Und das ist noch „Kein Schluss – und<br />
nicht das Ende“, wie die letzte Zeile nach<br />
über 500 dichten Seiten verspricht. Wäre<br />
kein Wunder, wenn Netflix et al. an diesem<br />
Generationenthema Gefallen fänden.<br />
wına-magazin.at<br />
47
Verdeckte Codes<br />
Der neue<br />
Antisemitismus<br />
und seine alten Wurzeln<br />
In seinem nun erschienenen Buch Jud, Jahudi oder Zionist – der<br />
ausgegrenzte Feind spürt der langjährige Generalsekretär der IKG<br />
Wien, Raimund Fastenbauer, dem Phänomen des neuen<br />
Antisemitismus nach. Er seziert eindrucksvoll Ursprünge und<br />
Motive, präsentiert zahlreiche konkrete Beispiele und nimmt<br />
sowohl Europa wie auch die islamische Welt ins Visier. Entstanden<br />
ist ein mehr als ernüchternder Befund.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Raimund Fastenbauer:<br />
Jud, Jahudi oder<br />
Zionist – der ausgegrenzte<br />
Feind.<br />
Brill | Schöningh,<br />
329 S., € 73,83<br />
Der ‚Neue Antisemitismus‘ kombiniert<br />
rechten ‚Rassenantisemitismus‘,<br />
linken antizionistischen<br />
Antisemitismus (gerne<br />
auch mit dem Geldmotiv) und religiösen<br />
islamischen Antisemitismus (mit nationalistischen<br />
Hintergrund)“, lautet Raimund<br />
Fastenbauers Fazit. Israel werde zudem als<br />
„Jude unter den Völkern“ behandelt, europäische<br />
Mainstream-Medien würden „Israelkritiker,<br />
die als Juden und insbesondere<br />
als Israeli auftreten“, besonders gerne<br />
zu Wort kommen lassen.<br />
Fastenbauer setzt sich in seinem Buch<br />
mit der Linken – hier sieht er den Sieg Israel<br />
im Sechs-Tage-Krieg 1967 als Zeitenwende<br />
– ebenso auseinander wie mit<br />
Antisemitismus von muslimischer und<br />
anderer Seite. Am Ende vermengen sich<br />
die unterschiedlichen Formen beziehungsweise<br />
wirken aufeinander, vergangene<br />
wie aktuelle. Das ist der Hauptpunkt,<br />
den man nach der Lektüre dieses Bandes<br />
mitnimmt.<br />
In Europa habe sich eine Entwicklung<br />
vom „religiösen und rassistischen<br />
Antisemitismus“ (das<br />
ist das, was man herkömmlich<br />
unter „rechtem Antisemitismus“<br />
versteht) zum „sekundären Antisemitismus“<br />
und kombinierten<br />
modernen antizionistischen Antisemitismus<br />
als „cultural code“ beziehungsweise<br />
„negative Leitidee“<br />
einer globalisierten Welt in Verbindung<br />
mit der Infragestellung der Legitimität<br />
des Staates Israel herausgebildet,<br />
so Fastenbauer. Dieser europäische sekundäre,<br />
postnazistische Antisemitismus verbinde<br />
sich wiederum mit dem islamischen<br />
Antisemitismus zum neuen „antizionistischen<br />
Antisemitismus“. Dabei würden<br />
antisemitische Codes in Koran und Hadithen<br />
(mündliche Überlieferungen Mohammeds)<br />
kombiniert, wie das der „Juden<br />
umgewandelt in Affen und Schweine“ und<br />
das der Verschwörung mit solchen des islamisierten<br />
Antisemitismus, der von Europa<br />
in den Nahen Osten übertragen wurde.<br />
Religionskritik. Im neuen antizionistischen<br />
Antisemitismus fänden sich somit<br />
teilweise offene, teilweise als Code verdeckte<br />
antisemitische Motive älteren Datums.<br />
„Ihr Ursprung sind historische polemische<br />
Abgrenzungsbemühungen bzw.<br />
Polemik gegenüber jüdischen Stämmen<br />
im Zuge der kämpferischen Expansion<br />
des Islam.“ Diese religiösen historischen<br />
Wurzeln würden in der Antisemitismusforschung<br />
unterschätzt, konstatiert Fastenbauer.<br />
Er wolle daher mit seinem Buch<br />
auch einen „Beitrag zur Korrektur“ vorlegen.<br />
Während im Christentum nach der<br />
Schoa, dabei insbesondere nach dem<br />
Zweiten Vatikanischen Konzil, eine wenn<br />
auch nicht immer vollständige Abkehr von<br />
antisemitischer Polemik gelungen sei, „ist<br />
eine solche im Islam ausständig“, lautet<br />
Fastenbauers Vorwurf. „Sie wird durch die<br />
weitgehende Ablehnung jeder Form von<br />
Religionskritik erschwert.“<br />
48 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Ernüchternder Befund<br />
Beitrag zur Korrektur. Die religiösen historischen<br />
Wurzeln würden in der Antisemitismusforschung<br />
unterschätzt, analysiert Raimund Fastenbauer.<br />
© ikg<br />
„Manche Autoren<br />
sehen fälschlicherweise<br />
den muslimischen<br />
Antisemitismus<br />
lediglich<br />
als Resultat des<br />
Exportes des europäischen<br />
Antisemitismus<br />
in den<br />
Nahen Osten.“<br />
Raimund Fastenbauer<br />
Breiten Raum nimmt im Buch denn<br />
auch die Auseinandersetzung mit dem Islam<br />
und seinem Verhältnis zum Judentum<br />
ein. Fastenbauer geht dabei zurück bis in<br />
die Zeit Mohammeds und der damaligen<br />
Stammesgesellschaft. Die jüdischen<br />
Stämme auf der arabischen Halbinsel hatten<br />
sich Mohammed nicht angeschlossen<br />
und wurden schließlich in kriegerischen<br />
Auseinandersetzungen besiegt, zwei aus<br />
Medina vertrieben, ein dritter vernichtet<br />
und die jüdischen Frauen versklavt. Später<br />
seien die Juden und Jüdinnen Khaybars besiegt<br />
worden, die dann als erste nichtmuslimische<br />
Untertanen – Dhimmis – Schutzsteuer<br />
zahlen mussten.<br />
Es erinnert ein bisschen an den Umgang<br />
Martin Luthers mit Juden – und genau<br />
das streicht auch Fastenbauer hervor.<br />
„In Bukhari, Buch 2, Hadith 18, wird darauf<br />
hingewiesen, dass Angehörige anderer<br />
Religionen so lange bekämpft würden,<br />
bis sie bestätigen würden, dass nur Allah<br />
angebetet werden solle und Muhammed<br />
sein Prophet sei, dadurch und durch Abgaben<br />
könnten sie ihr Leben und ihren Besitz<br />
retten.“<br />
Die Passagen zu Juden, die Fastenbauer<br />
dokumentiert, lesen sich ernüchternd: So<br />
werden sie in Sure 3/19–20 als „Prophetenmörder“<br />
bezeichnet, in Sure 4/47 als „die<br />
von Allah Verfluchten“, in den Suren 2/65–<br />
66, 5/60–61, 7/166–167 als „Söhne von Affen<br />
und Schweinen“, in Sure 5/82 als „allschlimmste<br />
Feinde der Gläubigen“. In Sure<br />
33/26–30 heißt es, „das Land der Juden wird<br />
den Muslimen gehören“, in Sure 9/29–30,<br />
„kämpft gegen jene, bis sie erniedrigt sind<br />
und den Tribut errichten“, in Sure 63/6–7,<br />
„sie sind der Feind, also hüte dich vor ihnen“.<br />
Im Hadith würden Juden zudem beschuldigt,<br />
Mohammed vergiftet zu haben.<br />
Das Verschwörungsmotiv finde sich auch<br />
in der Geschichte von Abd Allah b. Saba,<br />
der vom Judentum zum Islam übergetreten<br />
war. Ihm wurde vorgeworfen, die innerislamischen<br />
Auseinandersetzungen, die zur<br />
Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten<br />
führte, verursacht zu haben.<br />
„Manche Autoren sehen fälschlicherweise<br />
den muslimischen Antisemitismus<br />
lediglich als Resultat des Exportes des europäischen<br />
Antisemitismus in den Nahen<br />
Osten – insbesondere in den Dreißigerjahren<br />
des 20. Jahrhunderts – oder als ‚islamisierten<br />
Antisemitismus“, kritisiert Fastenbauer,<br />
dessen nun erschienenes Buch<br />
auf seiner Dissertation an der Universität<br />
Wien, betreut von Klaus Davidowicz (Judaistik)<br />
und Ednan Aslan (Islamische Religionspädagogik),<br />
beruht. Islamischer<br />
Antisemitismus schöpfe aber eben aus<br />
mehreren Quellen: dem Koran, der Aufnahme<br />
christlicher und rassistischer Motive<br />
aus Europa sowie aus islamistischen<br />
Bewegungen wie der Moslembrüderschaft.<br />
Der islamische Antisemitismus<br />
habe dabei zwar weitaus länger als der<br />
christliche nur eine diskriminatorische<br />
Prägung gehabt – im letzten Jahrhundert<br />
seien aber eben auch zunehmend Vernichtungsphantasien<br />
entstanden.<br />
wına-magazin.at<br />
49
WINA WERK-STÄDTE<br />
Krakau<br />
Das 19. Jahrhundert hat in Osteuropa<br />
eine Reihe hervorragender Künstler hervorgebracht,<br />
unter anderem Mauricy<br />
Gottlieb, der viel zu jung verstarb.<br />
Von Esther Graf<br />
ls eines von elf Kindern wurde Mauricy<br />
Gottlieb 1856 in Drohobytsch<br />
in Galizien geboren. Mit nur 15<br />
Jahren begann er ein Studium<br />
der Malerei an der Akademie<br />
der bildenden Künste in Wien<br />
und ging anschließend nach Krakau, wo er<br />
Schüler von Jan Matejko wurde. Ein antisemitischer<br />
Vorfall mit seinen Kommilitonen<br />
trieb ihn allerdings nach nicht einmal einem<br />
Jahr nach Wien zurück. 1875 setzte er<br />
sein Studium in München fort und wandte<br />
sich erstmalig literarischen Themen zu. Als<br />
Motiv dienten ihm die Hauptfiguren Shylock<br />
und dessen Tochter Jessica aus Shakespeares<br />
Kaufmann von Venedig, nachdem er das Stück<br />
im Theater gesehen hatte. Gottlieb stellt Shylock<br />
als frommen, liebenden Vater dar, an den<br />
sich seine Tochter vertrauensvoll schmiegt.<br />
Ihr Blick ist jedoch den Bildbetrachter:innen<br />
zugewandt. Als Vorbild<br />
für die Darstellung<br />
Jessicas diente<br />
eine junge Frau namens<br />
Laura Rosenfeld,<br />
in die der Maler<br />
verliebt war und die<br />
er zu heiraten hoffte.<br />
Sie erwiderte seine<br />
Gefühle jedoch nicht und heiratete einen anderen.<br />
Mauricy Gottlieb war daraufhin dermaßen<br />
verzweifelt, dass er sich der Kälte aussetzte<br />
und mit nur 23 Jahren an den Folgen<br />
einer Unterkühlung starb.<br />
Trotz seiner kurzen Schaffensperiode hinterließ<br />
er um die 300 Bilder, von denen allerdings<br />
ein Teil unvollendet blieb. Das Ausnahmetalent<br />
Mauricy Gottlieb schuf eine<br />
Reihe jüdischer Historienbilder, die weltweit<br />
Beachtung fanden.<br />
Shylock als<br />
frommer, liebender<br />
Vater.<br />
Das Bild zählt zu<br />
NS-Raubgut aus<br />
Polen, sein Verbleib<br />
ist bis heute<br />
unbekannt.<br />
KRAKAU<br />
Nach einer ersten jüdischen Ansiedlung im 13. Jahrhundert flohen nach dem<br />
Pestpogrom 1348 viele Juden aus Mitteleuropa nach Krakau. Mit Errichtung einer<br />
Jeschiwa 1496 avancierte die Stadt zu einem geistigen jüdischen Zentrum, dessen<br />
bekannteste Autorität Moses Isserles war. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde<br />
Krakau zum Zentrum der zionistischen Bewegung und zählte 1939 130 Synagogen.<br />
Die meisten Einwohner des 1941 errichteten Ghettos wurden ermordet. Heute<br />
leben nur mehr um die 500 Juden hier.<br />
© Poeticbent, 2013, Commons Wikimedia<br />
50 wına |<strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
URBAN LEGENDS<br />
Wenden wir uns lieber<br />
der Zukunft zu<br />
Auf Reisen verläuft nicht immer alles wie geplant.<br />
Das muss aber nicht immer negativ sein.<br />
er zweite Pandemie-Sommer erlaubte ein entspannteres<br />
Reisen als der erste. So konnte ich<br />
mit meiner Tochter diesen August wieder nach<br />
Venedig – unser beider Sehnsuchtsort – reisen.<br />
Mehrmals waren wir in den vergangenen Jahren<br />
dabei bereits zu Besuch im Jüdischen Museum. Heuer<br />
Von Alexia Weiss<br />
hatten wir uns allerdings auch einen<br />
Besuch der Synagogen vorgenommen.<br />
Manches Mal sollen Dinge aber nicht sein. Das Jüdische<br />
Museum ist derzeit in einem Ausweichquartier untergebracht.<br />
Die Anzahl der Führungen ist gegenüber früheren<br />
Jahren offenbar beschränkt, und so hieß es, als wir an<br />
einem Donnerstagmittag ankamen: Heute gibt es leider<br />
keine Synagogentour mehr, bitte morgen wiederkommen.<br />
Eine Reservierung für den folgenden Tag war allerdings<br />
nicht möglich, man solle es doch einfach wieder probieren,<br />
hieß es. Eine mehr als unbefriedigende Auskunft.<br />
Wir ließen uns aber nicht verdrießen, ich kaufte mal<br />
wieder in einem der Judaika-Shops einen netten Magen-<br />
David-Kettenanhänger – „und den wirst du wieder nicht<br />
tragen, weil du nie Ketten trägst“, sagte meine Tochter ganz<br />
richtig, aber ich weiß nicht warum, in Venedig ist die Anziehungskraft<br />
solcher Schmuckstücke immer kraftvoll –, und<br />
dann aßen wir im Gam Gam zu Mittag. Die Speiseauswahl<br />
meiner Tochter führte uns von Pessach (Vorspeise: Matzeknödelsuppe)<br />
bis zu Chanukka (Hauptspeise: Latkes mit<br />
Apfelmus), ich machte einen kulinarischen Ausflug nach<br />
Israel (Hummus mit Champignons). Am Ende beschlossen<br />
wir, am nächsten Tag nicht mehr ins Ghetto zurückzukehren,<br />
sondern stattdessen die diesjährige Architektur-<br />
Biennale zu besuchen.<br />
Verhandelt wird dort heuer die Frage „How will we live<br />
together?“. Statt wieder einmal in die Vergangenheit einzutauchen,<br />
wandten wir uns also der Zukunft zu. Wie funktioniert<br />
der Wasserkreislauf in Städten (dänischer Pavillon)?<br />
Wie ordnet der Zugang zum Internet Teilhabe neu (österreichischer<br />
Pavillon)? Wie sieht eine moderne Landwirtschaft<br />
aus (israelischer Pavillon)?<br />
Da schwingen viele ethische und moralische Fragen mit.<br />
Da geht es um den Umgang des Menschen mit dem Planeten<br />
Erde und seinen Ressourcen, da geht es aber eben<br />
auch ganz stark um den Umgang der Menschen mit anderen<br />
Menschen, die Verteilung zwischen Nord und Süd – und<br />
omnipräsent ist das Thema Klimawandel.<br />
Und all das sind tatsächlich Fragen, auf die rasch Antworten<br />
gefunden werden müssen, sonst werden wir als<br />
Menschheit zwar eine Vergangenheit, aber keine Zukunft<br />
mehr haben. Und ja, manchmal würde ich mir wünschen,<br />
dass sich auch die Religionen mehr mit den Themen Erderwärmung,<br />
Umweltschutz, Ressourcenverteilung lautstark<br />
und hörbar auseinandersetzen. Das muss in den nächsten<br />
Jahren die eine beherrschende Aufgabe werden, der sich<br />
global alle widmen – Parteien und Regierungen, Schulen<br />
Die Frage „How will we live together?“<br />
darf nicht mehr nur an<br />
kulturelitären Orten wie einer Architektur-Biennale<br />
gestellt werden.<br />
und Universitäten, Wirtschaft, Landwirtschaft und Industrie<br />
sowie die Zivilgesellschaft und damit jeder Einzelne.<br />
Viel zu lange wurde bereits der „Fünf vor Zwölf“-Slogan<br />
bemüht. Jahr für Jahr sterben weitere Tierarten aus, leiden<br />
Menschen unter der zunehmenden Hitze, mehren sich die<br />
Naturkatastrophen. Die Frage „How will we live together?“<br />
darf nicht mehr nur an kulturelitären Orten wie einer Architektur-Biennale<br />
gestellt werden. Und die Antworten darauf<br />
müssen rasch mehr als Ideen und Debattenbeiträge<br />
sein. Globales gemeinsames Handeln ist gefragt.<br />
Unser Mittagessen im Gastgarten des Gam Gam sollte<br />
übrigens ein etwas nasses werden. Denn kaum fuhr ein<br />
Boot vorbei, schwappte Wasser auf den Gehsteig und damit<br />
auf unsere Schuhe, wir stellten die Füße schließlich auf<br />
die Beine des Tisches. Seit Jahren ist Venedig vom steigenden<br />
Meeresspiegel bedroht. Die Vergänglichkeit der Vergangenheit<br />
ist hier so plakativ und so stark greifbar wie<br />
kaum an einem anderen Ort. Und trotzdem hoffe ich, mir<br />
eines Tages wieder die alten Synagogen im Ghetto ansehen<br />
zu können.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
51
Drehbuchreife Familiensaga<br />
Von Aufstieg<br />
und Abstieg<br />
Mitglieder der einst in Hohenems ansässigen Familie Brunner<br />
haben dem Jüdischen Museum Hohenems Familienporträts,<br />
Fotos und jede Menge Dokumente und Objekte überlassen. Kurator<br />
Hannes Sulzenbacher hob den Schatz und goss die Geschichte und<br />
Geschichten der Brunners nun auch in Buchform. Heute leben die<br />
Familienmitglieder in aller Welt verstreut, und der einstige Glanz<br />
und der ganz große Wohlstand sind nicht mehr – aber man<br />
ist stolz auf das, was gewesen ist.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Hannes Sulzenbacher:<br />
Die Familie Brunner.<br />
Eine europäischjüdische<br />
Geschichte<br />
Hohenems – Triest – Wien.<br />
Bucher <strong>2021</strong>,<br />
240 S., € 19,95<br />
Man könnte auch sagen: Obwohl<br />
jede Familiengeschichte<br />
einzigartig ist, ist auch die der<br />
Brunners typisch für die einer jüdischen<br />
Familie. Die europäische Geschichte<br />
schrieb sich durch Brüche durch Verfolgung,<br />
Kriege und zunehmenden Nationalismus<br />
in das Leben der einzelnen Familienmitglieder<br />
ein. Andererseits waren die<br />
Brunners eben auch Europäer – die Familie<br />
lebte auf mehrere Länder verstreut<br />
und war dennoch immer verbunden. Eine<br />
europäisch-jüdische Geschichte. Hohenems –<br />
Triest – Wien wählte so Sulzenbacher auch<br />
als Untertitel für seinen Band Die Familie<br />
Brunner.<br />
Je mehr Freiheiten es in Bezug auf berufliche<br />
Möglichkeiten durch die Herrschenden<br />
– vor allem seitens der Habsburger<br />
– gab, desto größer wurde der<br />
Handlungsspielraum, desto wirtschaftlich<br />
erfolgreicher wurden die Brunners.<br />
Die Ahnen verdienten in Hohenems – beziehungsweise<br />
im nicht weit entfernten<br />
Sulz, als in Hohenems Juden und Jüdinnen<br />
wieder einmal nicht erwünscht waren<br />
– vorerst als Fleischhauer und Viehhändler<br />
den Lebensunterhalt, später<br />
waren sie im Handel mit Waren verschiedenster<br />
Art, im Bankenbereich, aber auch<br />
– vor allem in Italien – in der dann größer<br />
gedachten Landwirtschaft tätig. Hohenems<br />
blieb zwar Heimat, lange war die<br />
Anzahl der Familien, die dort leben duften,<br />
jedoch beschränkt – daher heirateten<br />
Töchter und Söhne in andere Orte und<br />
Länder, und zunehmend etablierte sich<br />
dabei ein Familienzweig in Triest.<br />
Sulzenbacher schildert anhand der<br />
erhaltenen Dokumente und verschriftlichten<br />
Erinnerungen<br />
bereits verstorbener<br />
Familienmitglieder,<br />
wie einerseits das Verheiraten<br />
von Töchtern<br />
dazu genutzt wurde,<br />
das Familienimperium<br />
zu stärken, und wie andererseits<br />
die religiöse<br />
Observanz immer<br />
mehr abnahm. Es gab<br />
„Von da an<br />
mussten sie<br />
sich erst daran<br />
gewöhnen,<br />
mehr eine Art<br />
modernes<br />
Netzwerk von<br />
kleinen Familieneinheiten<br />
zu sein, die in<br />
normalen Wohnungen<br />
lebten<br />
[…].“<br />
Ariel Brunner<br />
zwar weiterhin eine starke jüdische Identität,<br />
diese äußerte sich aber vor allem in<br />
der Unterstützung von Projekten für die<br />
jeweilige jüdische Gemeinde.<br />
Der Nationalsozialismus bedeutete für<br />
die Brunners den größten Einschnitt: Es<br />
konnten sich zwar fast alle Familienmitglieder<br />
retten – teils auch durch Kindertransporte<br />
–, nun lebten sie aber in aller<br />
Welt verstreut, manche von ihnen zum<br />
Beispiel in Israel, andere in den USA. Ein<br />
Anwesen in der Toskana wurde 1969 verkauft<br />
und war, wie sich Ariel Brunner erinnert,<br />
„ein wenig wie der letzte Akt des<br />
langen Niedergangs der Familie, der in<br />
diesem riesigen Wirtschafsimperium begann<br />
und dann das furchtbare 20. Jahrhundert<br />
vom Ersten Weltkrieg, dem<br />
Zusammenbruch des Habsburgerreichs<br />
und der Krise<br />
von 1929, den Rassengesetzen<br />
und dem Zweiten Weltkrieg<br />
durchleben musste“.<br />
Relativ zeitgleich starb<br />
auch Ariel Brunners Großvater<br />
Leone, dieser sei so etwas<br />
„wie der letzte physische<br />
Grundpfeiler einer vormodernen<br />
Familie“ gewesen,<br />
in der zu bestimmten Zeiten<br />
dutzende oder hunderte<br />
Menschen zusammenkamen.<br />
„Von da an mussten sie sich<br />
erst daran gewöhnen, mehr<br />
eine Art modernes Netzwerk<br />
von kleinen Familieneinheiten<br />
zu sein, die in normalen<br />
Wohnungen lebten und sich<br />
nur noch zu Hochzeiten und<br />
Beerdigungen und solchen<br />
Anlässen trafen“, so Ariel Brunner.<br />
Es ist eine Familiensaga, die nicht der<br />
Phantasie eines Literaten entspringt,<br />
sondern die das Leben genauso schrieb.<br />
Wenn sich hier jemand fände, der daraus<br />
ein Drehbuch verfasste, wäre das wunderbarer<br />
Filmstoff.<br />
52 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
OKTOBER KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
WANDERAUSSTEL-<br />
BUCHTIPP<br />
mandelbaum.at<br />
KONZERT<br />
16 bis 18 Uhr<br />
Wiener Rathaus, Arkadenhof<br />
Friedrich-Schmidt-Platz 1, 1010 Wien<br />
ikg-wien.at/event<br />
Begleitend zu den diesjährigen Wachau in<br />
Echtzeit-Programmpunkten am jeweiligen<br />
Veranstaltungsort<br />
www.wachauinechtzeit.at<br />
AB 28. OKTOBER <strong>2021</strong><br />
MENSCHEN UND<br />
STIMMUNGEN<br />
Aufatmen nennt die seit vielen Jahren in<br />
Wien lebende russisch-jüdische Fotografin<br />
Jana Enzelberger ihre aktuelle Fotoausstellung,<br />
die im Rahmen von Wachau in<br />
Echtzeit – dem seit einigen Jahren mit großem<br />
Erfolg von Publikumsliebling Ursula<br />
Strauss kuratierten etwas anderen niederösterreichischem<br />
Regionalfestival – an<br />
mehreren Orten in der ganzen Wachau zu<br />
sehen sein wird. Aufatmen, das war auch<br />
das Motto ihrer fotografischen Suche nach<br />
„Menschen und Stimmungen in der Wachau“<br />
der letzten Monate. Eine historische<br />
Kulturlandschaft wie die Wachau erzählt,<br />
auch in Bildern, ganz andere Geschichten<br />
als urbane Orte, denen sich die Fotografin<br />
in vielen ihrer hypnotisierend schönen<br />
Schwarz-weiß-Bildern widmet. Dabei<br />
suchte Enzelberger vor allem nach Gesichtern<br />
und Orten, Menschen und Landschaften,<br />
die davon erzählen, was es heißt,<br />
Luft zu holen, sich Zeit zum Nachdenken<br />
zu nehmen und auch einmal die Perspektive<br />
zu wechseln. Aktueller könnte ihre fotografische<br />
Bestandsaufnahme einer Region<br />
nicht sein.<br />
17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />
ERINNERN UND FEIERN<br />
„Musik entwickelt sich genauso wie sich Menschen<br />
entwickeln.“ (Roman Grinberg)<br />
Unter dem Motto Von Generation zu Generation<br />
stehen alle Konzerte anlässlich der Feierlichkeiten<br />
zu 1.700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen<br />
Raum, die am Sonntag, dem 17. <strong>Oktober</strong>, zwei<br />
Stunden lang im Arkadenhof des Wiener Rathauses<br />
erklingen werden.<br />
Seit der Spätantike sind jüdische Gemeinden nachweislich<br />
Bestandteil der europäischen Kultur, seit<br />
1.700 Jahren gibt es Dokumente für jüdisches Leben<br />
im deutschsprachigen Raum. Das ist, so die<br />
Veranstalter*innen, Grund genug, ein gemeinsames,<br />
Grenzen und Genres sprengendes Fest zu<br />
veranstalten und ein Programm zu präsentieren,<br />
das nicht nur die große zeitliche, sondern auch die<br />
eminente musikalische Bandbreite jüdischer Kultur<br />
abbildet.<br />
Roman Grinberg, Wiener Jüdischer Chor, Yiddish<br />
Swing Orchestra, Oberkantor Shmuel Barzilai,<br />
Münchner Synagogen Chor Schma Kaulenu und<br />
Star-Rapper Ben Salomo: Das Programm für dieses<br />
Fest kann sich sehen lassen und lässt kaum einen<br />
Wunsch offen. Die Werke reichen dabei von vertonten<br />
Gebeten über jahrhunderte altes Liedgut und<br />
die jiddische Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts<br />
bis zum Rap unserer Tage. Veranstaltet wird<br />
der von Roman Grinberg künstlerisch verantwortete<br />
gemeinsame Nachmittag des Erinnerns und<br />
Feierns von der IKG Wien und der IKG München, der<br />
deutschen Botschaft in Wien und der Stadt Wien.<br />
Herzlich willkommen!<br />
NEU IM HANDEL<br />
EIN UNGEWÖHNLICHES<br />
LEBEN<br />
Uli Jürgens, hervorragende Journalistin<br />
und bemerkenswerte Historikerin, ist<br />
immer wieder auch mit ihren wunderbaren<br />
Beitragen gern gesehene Autorin<br />
des WINA: Ihre Bücher bestechen jedes<br />
für sich und jedes Mal mit ebenso akribischen<br />
Recherchen wie überraschenden<br />
Entdeckungen, so auch ihr neuer<br />
Band Der Fadenzieher, das im Mandelbaum<br />
Verlag erschienen ist und auf 180<br />
Seiten „das ungewöhnli-che Leben des<br />
Arthur Gottlein oder: Wie Raimund und<br />
Nestroy nach Shanghai kamen“ nachzeichnet.<br />
Gottlein war, beschreibt die<br />
Autorin, weder ein Publikumsliebling<br />
von Bühne oder Kino noch ein bekannter<br />
Regisseur. Und dennoch zählt er zu<br />
den wichtigsten Protagonisten der österreichischen<br />
Filmland-schaft vor dem<br />
„Anschluss“. Als Jude emigriert Gottlein<br />
auf vielen Umwegen nach Shanghai,<br />
wo es im gelingt, österreichische Theaterkunst<br />
auf ungewöhnliche Weise am<br />
Leben zu erhalten und zu vermit-teln.<br />
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil ist er<br />
sowohl gewerkschaftlich wie humanitär<br />
bis zuletzt um-trieb und unersetzlich.<br />
Eine bestechendes und bewegendes<br />
Porträt einer zu Unrecht vergessenen<br />
viel-schichtigen österreichischen Persönlichkeit.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
53
OKTOBER KALENDER<br />
THEATER<br />
Kasematen, 2700 Wiener Neustadt<br />
tourismus.wiener-neustadt.at/<br />
die-kasematten<br />
BIS 17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />
NARREN, SCHURKEN,<br />
ENGEL<br />
Die in Wien lebende Regisseurin, Autorin<br />
und Intendantin Anna Maria Krassnigg<br />
zählt seit rund zwei Jahrzehnten zu den<br />
stets experimentierfreudigen und mit<br />
neuen Formaten überraschenden klugen<br />
Theatermacherinnen dieser Stadt. Immer<br />
wieder kreiert die u. a. am Reinhardt Seminar<br />
im Regie-Fach Lehrende neue<br />
theatrale Modelle an neuen Orten und<br />
mit neuen zeitgenössischen Stimmen –<br />
nach dem Salon 5 und der Thalhof wortwiege<br />
ist sie nun in Wiener Neustadt angekommen<br />
und präsentiert hier mit ihrer<br />
Theatercompagnie wortwiege erneut<br />
feines Literarisches in aktuellen dramatischen<br />
Gewändern. Am neuen Spielort,<br />
den faszinierenden Räumen der historischen<br />
Wiener Neustädter Kasematen,<br />
stellt die zweite Spielzeit und zugleich<br />
zweite Ausgabe ihres Bloody Crown-Zyklus<br />
zwei Stücke in den Mittelpunkt, die<br />
unterschiedlicher nicht sein könnten –<br />
und doch ein gemeinsames Thema umkreisen:<br />
Macht. Machtmissbrauch und<br />
Machtspiele, Machtverrat und Machtverlust:<br />
Büchners Dantons Tod und Nussschale<br />
nach Ian McEwans Bestseller, beide<br />
in eigenen Regiefassungen von Anna Maria<br />
Krassnigg und Jérôme Junod.<br />
AUSSTELLUNG<br />
Jüdisches Museum Wien,<br />
Museum Dorotheergasse,<br />
Dorotheergasse 11, 1010 Wien<br />
jmw.at<br />
AB 20. OKTOBER <strong>2021</strong><br />
BEGEGNUNGEN MIT WIEN<br />
Unter dem Titel Rendezvous in Wien (Rendez-<br />
Vous à Vienne) präsentiert der in Paris geborene<br />
Fotograf Ouriel Morgensztern im Jüdischen<br />
Museum aktuelle Arbeiten zum reichen<br />
und überaus diversen jüdischen Leben in Wien<br />
einst und heute.<br />
Ouriel Morgensztern wurde in Paris geboren<br />
und wuchs in einem kleinen südfranzösischen<br />
Dorf auf. Dann zog es ihn nach New York<br />
ebenso wie in einen israelischen Kibbuz, ehe es<br />
den Weltbürger nach Wien verschlug und die<br />
Stadt zu seinem persönlichen Lebensmittelpunkt<br />
wurde. Er studierte Fotografie und spezialisierte<br />
sich mit den Jahren auf Porträts, Reportagen<br />
und Architekturfotografie; daneben<br />
entwickelt er eigene künstlerische Projekte.<br />
Mit seiner sehr persönlichen Fotoreihe über<br />
Wien, die Stadt, in die der Künstler vor bald<br />
20 Jahren zog, präsentiert Morgensztern einen<br />
ebenso empathischen wie genauen Einblick in<br />
die vielfältige jüdische Welt, die er hier kennen<br />
gelernt hat und täglich neu kennenlernt. Und<br />
ergänzt seine ästhetische Hommage mit weiteren<br />
vielschichtig-vielgeschichtigen Bildern über<br />
viele seiner bisherigen Lebensstationen, ob<br />
New York oder Tel Aviv, ein Dorf in Ruanda oder<br />
auch das Dorf, in dem er selbst aufwuchs. Berührend<br />
ehrlich.<br />
NEUE MUSIK<br />
19 Uhr<br />
Votivkirche<br />
wienmodern.at<br />
2. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />
STARKES SOLO<br />
Nurit Stark, die 1979 in Tel Aviv geborene<br />
herausragende zeitgenössische<br />
Violinistin, ist <strong>2021</strong> bei Wien Modern,<br />
dem Festival für neue Musik, zu Gast.<br />
Stark studierte u. a. in Israel und New<br />
York, in Köln und zuletzt in Berlin, wo<br />
sie auch heute lebt. Sie spielt und gastiert<br />
mit den wichtigsten Orchestern<br />
und Ensembles weltweit und an den<br />
größten Häusern. Sie interpretiert eine<br />
ganze Bandbreite an zeitgenössischen<br />
Komponist*innen, von denen ihr zahlreiche<br />
Werke geschrieben und gewidmet<br />
haben. Für ihren Soloabende in Wien<br />
hat sich Stark selbst das Programm zusammengestellt<br />
und spielt drei Werke,<br />
die die enorme Bandbreite neuer Musik<br />
der letzten 20 Jahre gekonnt widerspiegeln:<br />
dirty white fields der irischen Komponistin<br />
Jennifer Walshe aus dem Jahr<br />
2001, Fanfarella der herausragenden<br />
südkoreanischen Komponistin Younghi<br />
Pagh-Paan aus 2018 und das 2019<br />
entstandene Violin-Solo über „kaum einen<br />
typischeren Akkord als den Dominantseptakkord“<br />
Adventures of the Dominant<br />
Seventh Chord, das der große<br />
ungarische Komponist Péter Eötvös<br />
Nuri Stark persönlich gewidmet hat. Das<br />
ganze an unterschiedlichen Stationen<br />
und bei freiem Eintritt!<br />
© Ouriel Morgensztern; Andrea Klem/wortwiege: Nekbakht Stiftung; Ludwig-Drahosch; Uwe Neumann<br />
54 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
Von Angela Heide<br />
FILM<br />
18:30 Uhr, Votivkino,<br />
Währinger Straße 12, 1090 Wien<br />
jmw.at<br />
ERZÄHLTHEATER<br />
19:30 Uhr<br />
Ateliertheater, Burggasse 71, 1070 Wien<br />
ateliertheater.wien<br />
8. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />
THERESIENKLANG<br />
Frauenpower im Judentum – unter diesem<br />
Titel begrüßt von 14. November bis 9. Dezember<br />
die Israelitische Kultusgemeinde<br />
Wien zum diesjährigen Festival der jüdischen<br />
Kultur. Bereits vor dem offiziellen<br />
Festivalstart gibt es am 8. November im<br />
Votivkino ein Sonderprogramm, bei dem<br />
Michael Pfeifenbergers <strong>2021</strong> fertiggestellte<br />
Dokumentation Theresienklang über die<br />
„Überlebensgeschichte von Helga Pollak-<br />
Kinsky“ präsentiert wird.<br />
Helga Pollak-Kinsky starb am 14. November<br />
2020. Geboren wurde sie am 28. Mai 1930<br />
in Wien als Tochter eines bekannten Kaffeehausbesitzers<br />
in Mariahilf. 1938 konnte<br />
das Kind noch zu Verwandten gebracht<br />
werden, fünf Jahre später sollte Helga<br />
Pollaks Martyrium beginnen – Theresienstadt,<br />
Auschwitz, Oederan, Theresienstadt<br />
… das Mädchen Helga überlebte. Und sie<br />
erzählte bis zu ihrem Tod unzählige Male<br />
über das Erlebte und Erlittene, beteiligte<br />
sich an Erinnerungsprojekten, an Filmprojekten,<br />
organisierte Treffen Überlebender<br />
und zählte u. a. zu den „letzten Zeugen“,<br />
denen Der Spiegel 2015 eine Titelgeschichte<br />
über das Überleben in Auschwitz widmete.<br />
Theresienklang ist auch für Regisseur<br />
Michael Pfeifenberger persönlich ein<br />
„aufwühlendes filmisches Zeitdokument“,<br />
in dem er die Kindheit und Jugend seiner<br />
Protagonistin ebenso nachzeichnet wie<br />
deren lebenslange mutige Auseinandersetzung<br />
mit den erlittenen Traumata.<br />
FILMFESTIVAL<br />
Metro Kinokulturhaus,<br />
Village Cinemas Wien Mitte,<br />
Stadtkino (Eröffnung)<br />
jfw.at<br />
3. BIS 17. OKTOBER <strong>2021</strong><br />
JÜDISCHES FILMFESTIVAL<br />
Ein Wiener Filmjahr ohne Jüdisches Filmfestival ist<br />
kaum vorstellbar – und noch weniger wünschenswert.<br />
Umso schöner ist es, dass diesen Herbst, zumindest<br />
während wir dieses Heft schreiben, eine<br />
neuerliche Ausgabe des dichten und immer wieder<br />
überraschenden Festivals vor der Tür steht. Eröffnet<br />
wird daher auch gleich mit einem Film, der<br />
Alles außer gewöhnlich (Hors normes, F 2019, Regie:<br />
Olivier Nakache, Éric Toledano) heißt und also<br />
wunderbar in die darauffolgenden beiden dichten<br />
Wochen einführt. Es folgen Klassiker wie E. W.<br />
Emos Wien 1910 (D 1943), Helmut Qualtingers Der<br />
Herr Karl (A 1961, Regie: Erich Neuberg) und Die<br />
Abenteuer Des Rabbi Jacob (F 1973) mit Louis de<br />
Funès in einer seiner wundbarsten Rollen, internationale<br />
Dokumentarfilme, darunter Marc Boettchers<br />
Belina – Music for Peace über die Shoah-<br />
Überlebende und spätere Folksängerin Lea-Nina<br />
Rodzynek (D <strong>2021</strong>) und Tomer Heymanns Dokumentarfilm<br />
Mr. Gaga über Ohad Naharin und dessen<br />
bahnbrechende Arbeit mit seiner Batsheva<br />
Dance Company (IL 2015), sowie eine feine Anzahl<br />
an Filmen der letzten Monate – von Brandon<br />
Trosts US-Komödie An American Pickler (2020)<br />
über Steven Oritts Schoah-Geschichte My name<br />
is Sara (USA/D/ PL 2020) bis hin zu Mano Khalils<br />
<strong>2021</strong> fertiggestelltem sensiblen Coming-ofage-Film<br />
Nachbarin und Pils ta pie upes des lettischen<br />
Theater- und Opernregisseurs Viesturs<br />
Kairišs. Rund 45 Filme, die zu zwei dichten und<br />
anregenden Wiener jüdischen Filmwochen einladen.<br />
Die Eröffnung findet mit einer Reihe prominenter<br />
Gäste im Stadtkino statt, gespielt wird von<br />
da an im Metro Kinokulturhaus und in den Village<br />
Cinemas Wien Mitte.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
9. & 10. NOVEMBER <strong>2021</strong><br />
DIE SUFIPRINZESSIN<br />
Noor-un-Nisa Inayat Khan wurde am 1. Jänner<br />
1944 in Moskau geboren. Die älteste<br />
Tochter eines indischen Sufi-Predigers und<br />
einer Amerikanerin wuchs mehrsprachig<br />
in London und Paris auf, wurde Krankenschwester,<br />
schrieb sufistische Märchen und<br />
Gedichte, komponierte und spielte selbst<br />
Harfe, Klavier und Vina – und trat wenige<br />
Monate nach Kriegsbeginn der Women’s Auxiliary<br />
Air Force bei, wurde Agentin der britischen<br />
nachrichtendienstlichen Spezialeinheit<br />
Special Operations Executive (SOE) und<br />
Unterstützerin der Résistance, innerhalb derer<br />
sie sich ganz ihrem überkonfessionellen<br />
„universellen Sufismus“ entsprechend<br />
für zahlreiche Jüdinnen und Juden in Frankreich<br />
einsetzte … Am 13. <strong>Oktober</strong> 1943 wurde<br />
die mit dem jüdischen Pianisten Elie Goldenberg<br />
verlobte mutige Widerstandskämpferin<br />
von der Gestapo verhaftet, wurde gefoltert<br />
und monatelang eingesperrt, ehe sie im<br />
September 1944 mit anderen SOE-Mitarbeiterinnen<br />
nach Dachau verbracht und am<br />
13. September 1944 kniend durch einen Genickschuss<br />
ermordet und danach verbrannt<br />
wurde. Die Schauspielerin und Erzählerin Birgit<br />
Lehner widmet sich in ihrer aktuellen Produktion<br />
der Geschichte dieser mutigen Frau,<br />
die bis heute in Frankreich als „Madeleine<br />
der Resistance“ geehrt wird, einer „Dichterin<br />
und Musikerin, die ihr Leben im Kampf gegen<br />
den Naziterror geopfert hat“. Begleitet<br />
wird Lehners berührende Erzählung mit Musik<br />
von Angela Stummer-Stempkowski an<br />
der Harfe und Rina Killmeyer an der Bansuri.<br />
wına-magazin.at<br />
55
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich einen filmreifen Moment hatte, war, …<br />
... vor einigen Wochen in der Straßenbahn, als eine etwas<br />
verwirrt wirkende Frau sich weigerte, eine Maske aufzusetzen,<br />
und darüber lautstark philosophiert hat, dass wir<br />
alle Habsburger sind. Andere Fahrgäste haben die Dame<br />
(in urwienerischem Dialekt) gebeten, Sie möge bitte eine<br />
Maske aufsetzen oder einfach aussteigen. Nach einigen<br />
Minuten Diskussion hat sich ein Sprechchor gebildet,<br />
der „Aussteigen! Aussteigen!“ rief. Das war an Skurrilität<br />
kaum zu überbieten. In dem Moment habe ich mich gefragt:<br />
„Wo ist die versteckte Kamera?“<br />
Das letzte Mal, dass ich etwas mit Marko Feingold<br />
erlebt habe, das unbedingt noch eine Fortsetzung<br />
gebraucht hätte, war …<br />
Jedes Treffen mit Marko war ein Erlebnis, das ich gerne<br />
wiederholt hätte. Er war über zehn Jahre Zeitzeuge bei<br />
den MoRaH-Reisen, und jede Reise mit ihm war anders,<br />
aber immer inspirierend und prägend. Als ich die Nachricht<br />
von seinem Tod erhalten habe, war ich gerade bei<br />
Starbucks, um die Zeit zwischen zwei Terminen zu überbrücken.<br />
Ich bin keine Person, die in der Öffentlichkeit so<br />
schnell zu weinen beginnt, aber in dem Moment, in dem<br />
ich über den Tod eines der für mich prägendsten Menschen<br />
erfahren habe, liefen die Tränen mitten im Café.<br />
Jedes Gespräch mit Marko hätte eine Fortsetzung gebraucht.<br />
Sein Charme, sein Humor, seine Liebe zum<br />
Leben waren große Inspirationen, an die ich immer<br />
gerne zurückdenken werde.<br />
Das letzte Mal, dass ich glücklich aus dem Kino kam,<br />
war …<br />
Vielleicht nicht unbedingt glücklich, aber sehr berührt<br />
und beeindruckt hat mich Fuchs im Bau. Der Film zeigt,<br />
wie wichtig Verständnis, Geduld und ein einfühlsamer<br />
Umgang mit Jugendlichen sind, dass man neue Wege gehen<br />
kann und für seine Ideale kämpfen muss.<br />
Das letzte Mal, dass ich eine brillante Idee für einen<br />
tollen Film gehabt habe, war …<br />
Vorgestern, als ich mit meinen Kollegen ein Meeting<br />
hatte. Da sprudelt es immer vor Ideen und Euphorie.<br />
Aktuell arbeiten wir an Kurzfilmprojekten mit Jugendlichen<br />
zum Thema Zivilcourage. Das ist auch Teil des<br />
MoRaH-Programms.<br />
Das letzte Mal, dass ich gerne etwas Zeit zurückgespult<br />
hätte, war …<br />
Immer an meinem Geburtstag, wenn man realisiert,<br />
dass man wieder ein Jahr älter ist :) Spaß! Ich habe vor<br />
Kurzem mit meiner Schwester darüber geredet, was<br />
man im Leben gerne anders gemacht hätte oder wo<br />
wir gerne die Zeit zurückspulen würden. Fazit: Es ist<br />
gut so, wie es ist, denn ich wäre heute nicht die, die<br />
ich bin, wenn ich nicht gute, nicht ganz so gute, prägende,<br />
lustige und traurige Situationen in meinem Leben<br />
gehabt hätte.<br />
„WO IST DIE<br />
VERSTECKTE<br />
KAMERA?“<br />
Produzentin Iris Singer berichtet über Sprechchöre<br />
in der Bahn, einen jährlichen Geburtstagswunsch<br />
und den inspirierenden Marko Feingold.<br />
Iris Singer hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft<br />
studiert und arbeitet seit 2008 im Medien- und<br />
Eventbereich. Sie ist Geschäftsführerin und Produzentin<br />
bei Licht und Linsen Film und Medienproduktion, freie<br />
Moderatorin und Sprecherin. Als stellvertretende Obfrau<br />
von MoRaH hat die gebürtige Wienerin über Jahre<br />
gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden Marko<br />
Feingold an der Gedenkveranstaltung March of the Living<br />
im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau teilgenommen.<br />
Für den im <strong>Oktober</strong> anlaufenden Film Marko Feingold –<br />
ein jüdisches Leben betreut sie die Zielgruppenarbeit.<br />
stadtkinowien.at, morah.at<br />
© Privat<br />
56 wına | <strong>Oktober</strong> <strong>2021</strong>
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RÖSSL am Wolfgangsee“.<br />
DiePresse.com/wolfgangsee<br />
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FESTIVAL DER JÜDISCHEN KULTUR<br />
14. NOV. BIS 9. DEZ. <strong>2021</strong><br />
FRAUENPOWER<br />
IM JUDENTUM<br />
www.ikg-wien.at/festival<br />
PROGRAMM: 14.11. Eröffnungskonzert „See You in Hollywood“ – Anna Rothschild Ensemble Wien mit Ethel<br />
Merhaut und Orsolya Korcsolán • 16.11. Filmvorführung „Hannah Arendt“ • 18.11. Lesung „Money Honey“ – Larissa<br />
Kravitz • 21.11. Filmvorführung „Ask Dr. Ruth“ • 24.11. Ausstellung „Schirat Dvora“ – Dvora Barzilai • 25.11.<br />
Filmvorführung „Geniale Göttin – Die Geschichte von Hedy Lamarr“ • 28.11. Lesung und Konzert „Charlotte<br />
Salomon - Therese Hämer und Julie Sassoon Quartet • 02.12. Konzert „Heute Abend: „So wie musikalisch, aber<br />
leakalisch!“ - Lea Kalisch und Bela Koreny • 07.12. Podiumsdiskussion „G´ttes weibliche Seite“ – Anita Pollak,<br />
Felicitas Heimann-Jelinek, Bea Wyler, Laura Cazés, Dalia Grinfeld • 09.12. Filmvorführung „Truus´ Children“<br />
Sonderprogramm: 08.11. Filmvorführung „Theresienklang“ -<br />
Dokumentation im Andenken an Helga Pollak-Kinsky