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<strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong>/<br />
<strong>Jänner</strong> <strong>2022</strong><br />
Tewet, Schwat 5782<br />
#12, Jg. 10/#1, Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
„Das neue Österreich soll eine<br />
Chance von mir bekommen“<br />
Für den Schweizer JONATHAN<br />
KREUTNER ist die Erlangung der österreichischen<br />
Staatsbürgerschaft<br />
nach seinen vertriebenen Großeltern<br />
vor allem eine Frage der Gerechtigkeit<br />
12<br />
9 120001 135738<br />
„Warum wir Mozart lieben?<br />
Weil er die Musik unserer Seele<br />
niedergeschrieben hat!“<br />
BARRIE KOSKY über seine Arbeit an<br />
der Wiener Staatsoper, seine Wagner-<br />
Katharsis und das Wiener Publikum<br />
„Ein Leben ohne WINA?<br />
Möglich, aber nicht sinnvoll!“<br />
Wir sagen Danke – mit<br />
einem kleinen Rückblick<br />
unserer Autoren auf die<br />
letzten 10 Jahre<br />
„Vielleicht muss man den Lueger selbst<br />
auch ein bisschen absenken“<br />
Rektor der Akademie der bildenden<br />
Künste Wien, JOHAN F. HARTLE, über<br />
das Lueger-Monument, Gegendenkmäler<br />
und den Umgang mit Geschichte<br />
„Die Daten müssen Sie prüfen,<br />
und bitte essen Sie was!“<br />
Kreise schließen sich oft erst nach Jahren,<br />
und Erinnerungen können trügen.<br />
Zwei Versionen eines Happy Ends für<br />
MINNA BRAND-SLUZKAJA und ihren<br />
Enkel Aloisha Biz<br />
cover_1221.indd 1 27.12.21 18:12
Sehen Sie die Welt aus<br />
unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />
DiePresse.com/Sonntagsabo<br />
Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />
cover_1221.indd 2 27.12.21 18:12
Editorial<br />
Julia Kaldori<br />
Glückliche Menschen<br />
brauchen weniger<br />
Konsum und mehr<br />
Gemütlichkeit.<br />
Haben wir nicht alle die leise Hoffnung gehabt, dass <strong>2021</strong><br />
zu Ende gehen wird wie ein Jahr zu Ende gehen muss:<br />
Freunde, Feiern und viele gute Vorsätze. Kein Impfstoff,<br />
keine Lockdowns konnten das alte „Normal“ wieder herstellen.<br />
Es sind noch keine zwei Jahre, seit COVID-19 unsere Welt völlig<br />
durcheinander brachte, und doch wirken Bilder von Großveranstaltungen,<br />
Massenkonzerte und Flughafenstaus wie aus einem<br />
anderen Jahrzehnt. Und dieses Durcheinander erfasst alle<br />
Bereiche unseres Lebens. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche<br />
Umbrüche bringen unser Vertrauen in die Zukunft<br />
ins Wanken. Und ja, all das macht mit uns allen etwas. Als ob<br />
wir uns in einem Vakuum zwischen zwei Menschheitsgeschichten<br />
befänden. Das alte „Normal“ ist vermutlich unwiederruflich<br />
vorbei, das neue hat noch nicht begonnen.<br />
Und das wäre dann auch die Chance, die wir,<br />
die gemerkt haben, dass das „Normale“ doch<br />
nicht so normal war, dass das Immer-mehr,<br />
Immer-höher, Immer-schneller uns nicht nach<br />
vorne, sondern nur immer näher an den Abgrund<br />
treibt, ergreifen sollten. Denn die neue<br />
Geschichte können wir noch mitschreiben und<br />
miterzählen. Wir können Qualität statt Quantität,<br />
Müßigang statt Speeddating, Landpartie<br />
statt Weltreise wählen um unsere Lebensqualität<br />
zu steigern. Denn glückliche und zufriedene<br />
Menschen brauchen weniger Konsum um die<br />
Leere des Unglücklichseins zu stopfen.<br />
Wir können weniger Fleisch und mehr Secondhand<br />
kaufen, mehr reparieren und weniger<br />
wegwerfen. Wir können mehr einander zuhören<br />
und weniger aneinander vorbeischauen,<br />
mehr zurückgeben als wegnehmen, mehr Gemeinschaft leben<br />
als Ego-Trips unternehmen.<br />
Wir können es einfach gemeinsam gut und immer besser machen.<br />
Diese Chance haben wir nun durch die Krise erhalten,<br />
Wir können umblättern, eine gemeinsame Sprache finden und<br />
eine neue gemeinsame Geschichte schreiben, die irgendwann<br />
vielleicht ein Happy End kriegt.<br />
In 10 Jahren WINA-Geschichte haben wir unzählige Geschichten<br />
geschrieben und erzählt und so erzählen am Ende dieses<br />
Jubliäumsjahrgangs einige unserer Autoren Geschichten hinter<br />
den Geschichten, zeigen ihre schönsten Erinnerungsbilder<br />
aus einem Jahrzehnt. Wären die Zeiten andere, so hätten wir<br />
ein großes Fest ausgerichtet und Sie und all jene Autor:innen,<br />
Journalist:innen, Fotograf:innen und Mitarbeiter:innen, die<br />
uns auf dem Weg begleitet haben, eingeladen mit uns zu feiern<br />
– und immer noch hoffen wir, dies nachholen zu können. Spätestens<br />
beim nächsten Runden. Bis dahin bedanke ich mich für<br />
die lieben Glückwünsche, für Ihre Lesetreue und das Nachsehen,<br />
dass wir nicht immer perfekt sind. Doch stets versuchen<br />
wir unser Bestes um Ihnen mit jedem neuen Blatt eine neue Geschichte<br />
zu erzählen und streben stets ein Happy End an.<br />
Wir aus der WINA-Redaktion wünschen Ihnen erholsame<br />
Stille, schöne Gespräche, viel Muße zum Lesen und winterliche<br />
Gemütlichkeit wo und wie Sie auch immer Ihre freien Tage und<br />
den Jahreswechsel verbringen werden und freuen uns auf viele<br />
weitere gemeinsame Jahre und viele gemeinsame Geschichten.<br />
„COVID-19 ist<br />
wie der Aufenthalt<br />
in einer<br />
Entzugsklinik,<br />
durch den ein<br />
suchtkranker<br />
Mensch aus seiner<br />
Alltagsnormalität<br />
gerissen<br />
wird. Indem<br />
eine Gewohnheit<br />
unterbrochen<br />
wird, wird<br />
sie sichtbar gemacht.<br />
Damit<br />
wird sie von einem<br />
Zwang zu<br />
einer Entscheidung.“<br />
Charles Eisenstein<br />
© Science Photo Library / picturedesk.com<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
dezeber.indb 1 28.12.21 03:31
S.46<br />
Barrie Kosky erzählt im WINA-Gespräch<br />
über seine Arbeit an der Wiener Staatsoper<br />
und seine Wagner-Katharsis in Bayreuth.<br />
Wenige Parallelen sieht der Regisseur zwischen<br />
dem Wiener und Berliner Publikum.<br />
INHALT<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
05 An End to Antisemitism<br />
hieß die Konferenz, zu der der European<br />
Jewish Congress 2018 nach Wien<br />
lud. Die Ergebnisse sind nun in fünf<br />
Bänden erschienen.<br />
06 „Den Lueger absenken“<br />
Johan F. Hartle, Rektor der Akademie<br />
der bildenden Künste Wien, im WINA-<br />
Gespräch über das Lueger-Monument,<br />
Denkmäler und den Umgang mit Geschichte.<br />
KULTUR<br />
46 Die Musik unserer Seele<br />
Der international erfolgreiche Opernregisseur<br />
Barrie Kosky spricht über seine<br />
Inszenierung von Don Giovanni an der<br />
Wiener Staatsoper und seine Begegnungen<br />
mit Wien.<br />
49 Jüdisches Wien von heute<br />
Aus Anlass ihrer Ausstellung Wiener<br />
Begegnungen erzählt Fotografin Jana<br />
Enzelberger von ihrem Weg zu ihrer<br />
persönlichen „Jüdischkeit“<br />
OFFENLEGUNG GEM. § 25 MEDIENGESETZ:<br />
Medieninhaber:<br />
Jüdische Medien- und Verlags GmbH,<br />
Seitenstettengasse 4, A-1010 Wien<br />
Unternehmensgegenstand:<br />
Herausgabe und Vertrieb des Magazins WINA (10 x jährlich),<br />
diverse Sonderausgaben sowie Betrieb des<br />
gleichnamigen Internetportals <strong>wina</strong>-magazin.at<br />
Geschäftsführung:<br />
Jüdische Medien- und Verlags GmbH,<br />
vertreten durch Julia Kaldori<br />
Eigentumsverhältnisse:<br />
Israelitische Kultusgemeinde Wien IKG (100 %)Die IKG ist<br />
weiters Eigentümer des Magazins Gemeinde Insider.<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag): JMV – Jüdische Medien- und<br />
Verlags-GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
2 wına | Dez. <strong>2021</strong>/Jän. <strong>2022</strong><br />
09 Judenweg versus Israel-Trail<br />
„Denn der Jud und die Natur, das ist<br />
zweierlei, immer noch“, schrieb Paul<br />
Celan. Dieses Zitat überprüft Gisela<br />
Dachs facettenreich im von ihr herausgegebenen<br />
neuen Jüdischen Almanach.<br />
14 „Mut zur Sichtbarkeit“<br />
Ben Dagan leitet den Bereich Kommunikation<br />
der IKG Wien. Mit WINA sprach<br />
er über die Ziele und Herausforderungen<br />
einer professionellen Kommunikation<br />
für die Kultusgemeinde.<br />
16 „Eine Chance bekommen“<br />
Für Jonathan Kreutner ist es vor allem<br />
eine Frage der Gerechtigkeit, dass<br />
er die österreichische Staatsbürgerschaft<br />
seiner Großeltern wiedererlangen<br />
möchte.<br />
18 Architektur und Design<br />
Nicolas Gold erzählt im WINA-Gespräch,<br />
warum die Arbeit am 3D-Drucker<br />
nicht nur spannend, sondern auch<br />
ökologisch nachhaltig ist.<br />
20 Eine Synagoge für Ljubljana<br />
Auf Initiative von Elie Rosen wurde in<br />
Sloweniens Hauptstadt eine Synagoge<br />
eröffnet, um dort auch in Zukunft aktives<br />
jüdisches Leben zu ermöglichen.<br />
52 Wiener Dramaturgie<br />
Herbert-von-Karajan-Platz ja, Bruno-<br />
Walter-Platz nein: Der Musiker Michael<br />
Fritthum kämpft seit Jahren gegen<br />
Windmühlen und für Gerechtigkeit.<br />
55 75 und kein bisschen leise<br />
Das Theater in der Josefstadt begeht<br />
den Geburtstag von Nobelpreisträgerin<br />
Elfriede Jelinek mit ihrem eminenten<br />
Stück über das Massaker von Rechnitz<br />
im Jahr 1945.<br />
58 Der stille Visionär<br />
Thomas Trabitsch leitete das Theatermuseum<br />
in Wien 20 Jahre lang. Mit<br />
WINA erinnert er sich zum Abschied<br />
noch einmal an wichtige Meilensteine.<br />
62 Bilder und Menschen<br />
John Berger, der große englische Kunstkritiker<br />
und Romancier, wäre im November<br />
95 Jahre alt geworden.<br />
„Sie verbindet so viel, das<br />
unsere Geschichte ausmacht,<br />
ein Geschichtsbewusstsein<br />
der abendländischen und<br />
jüdischen Kultur.“<br />
Jossi Wieler über Elfriede Jelinek<br />
S.55<br />
dezeber.indb 2 28.12.21 03:31
10 JAHRE WINA<br />
Coverfoto: pollography / Photocase<br />
24 Schmökern und Schlemmen<br />
Zehn Jahre und vier Gänge – das Festtagsmahl<br />
zur Feierausgabe von Daniela<br />
Schuster.<br />
26 Es war mir eine Ehre<br />
Alexia Weiss führte für WINA 2018 ein Gespräch<br />
mit Rudi Gelbard – dem unvergesslichen<br />
Zeitzeugen und Kämpfer.<br />
28 Die Daten müssen Sie prüfen<br />
Kreise schließen sich oft erst nach Jahren,<br />
und Erinnerungen können trügen: zwei Versionen<br />
eines Happy Ends für Oma und Enkel<br />
von Anita Pollak.<br />
31 Fotograf fotografiert<br />
Fotografen<br />
Daniel Shaked über seine Begegnung mit<br />
David Rubinger in Israel.<br />
32 Ein Leben ohne WINA<br />
ist möglich, aber nicht sinnvoll, meint<br />
Marta S. Halpert und blickt zum Jubiläum<br />
noch einmal zurück.<br />
34 Wer war Gedalja?<br />
Esther Graf über eine Geschichte ihres<br />
Vaters Georg Haber in der ersten Ausgabe<br />
von WINA.<br />
36 Bau am Picknickplatz<br />
Daniela Segenreich-Horsky über das rasante<br />
Wachstum in Tel Aviv und wo sich<br />
die Stadt weiter hin entwickelt.<br />
38 Kultur des Widersprechens<br />
Nobelpreisträger Dan Shechtman sprach<br />
2016 mit Reinhard Engel im WINA-Interview<br />
über Start-up-Erfolge, aber auch die<br />
Defizite der israelischen Wirtschaft.<br />
42 Das letzte Mal – Ihr erstes Mal<br />
Über 250 Fragen hat WINA-Autorin Nicole<br />
Spilker in den vergangenen Jahren Menschen<br />
nach ihren letzten Malen gestellt –<br />
zum Jubiläum muss sie nun selbst ran.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Mendy Cahan auf Herbergssuche<br />
für seine 90.000 Bücher in jiddischer<br />
Sprache. Von Gisela Dachs<br />
22 Zehn Jahre<br />
Covers aus einer Dekade WINA – zum<br />
Schmökern und Erinnern.<br />
33 Urban Legends<br />
Alexia Weiss über den WINA-Geburtstag<br />
und wie ein ans Herz gewachsenes<br />
Baby groß geworden ist.<br />
64 KulturKalender<br />
Wiener Kunst- und Kultur-Tipps<br />
von Angela Heide<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
„Das Deutsch,<br />
das ich gelernt hatte, und<br />
das Wienerische,<br />
mit dem ich es nun tagtäglich<br />
zu tun hatte:<br />
Da lagen<br />
Welten dazwischen.“<br />
Jana Enzelberger<br />
S.49<br />
Jana Enzelberger erzählt im<br />
WINA-Interview anlässlich ihrer<br />
Ausstellung Wiener Begegnungen,<br />
wie schwer, hindernisreich<br />
und bewegend der Weg zu<br />
ihrer persönlichen Jüdischkeit<br />
war.<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
dezeber.indb 3 28.12.21 03:31
HIGHLIGHTS | 01<br />
20 Jahre<br />
_erinnern.at_<br />
Vor 20 Jahren bildete sich die Plattform<br />
_erinnern.at_, die sich inzwischen<br />
als Institut für Holocaust<br />
Education für den österreichischen Bildungsbereich<br />
etabliert hat. Kernbereiche<br />
sind einerseits Fortbildungen für<br />
Lehrer und Lehrerinnen, andererseits<br />
das Erarbeiten und Zur-Verfügung-Stellen<br />
von Unterrichtsmaterialien. Das Buch<br />
Nationalsozialismus und Holocaust. Materialien,<br />
Zeitzeugen und Orte der Erinnerung<br />
in der schulischen Bildung, herausgegeben<br />
von Werner Dreier und Falk<br />
Pingel (Studien Verlag), stellt nun die vielen<br />
Arbeits- und Themenbereiche von<br />
_erinnern.at_ vor. Dazu gehören die Vermittlung<br />
von Zeitzeugen und -zeuginnen<br />
ebenso wie das Schaffen von virtuellen<br />
Angeboten.<br />
Der Band bietet aber auch viel Reflexion.<br />
So argumentiert etwa der Geschichtsdidaktiker<br />
Peter Gautschi, wieso<br />
„der nationalsozialistische Völkermord<br />
im Geschichtsunterricht thematisiert<br />
werden soll“. Angelika Laumer, die das<br />
Online-Videoarchiv weitererzaehlen.at<br />
von _erinnern.at_ aufgebaut hat, befasst<br />
sich unter dem Titel Das sind Fragen, die<br />
ganz daneben gehen! mit digitalen Zeitzeugeninterviews.<br />
Und der Historiker<br />
Albert Lichtblau führt in die neue Österreich-Ausstellung<br />
in der KZ-Gedenkstätte<br />
Auschwitz ein, einen Ort, der auch<br />
von heimischen Jugendlichen teils mit<br />
der Schule besucht wird.<br />
Fazit: Wer in Österreich im Bereich Holocaust<br />
Education tätig ist, findet<br />
hier anregenden Lesestoff<br />
und auch den<br />
einen oder anderen<br />
neuen Aspekt,<br />
wenn es um die<br />
Vermittlung der<br />
Schoah geht. wea<br />
30<br />
Prozent<br />
27.050 jüdische Neueinwanderer gab<br />
es <strong>2021</strong> in Israel. Das sind laut Jewish<br />
Agency fast um 30 Prozent mehr als<br />
2020. Mehr als die Hälfte der Neueinwanderer<br />
sind unter 35 – unter ihnen<br />
viele, die gut ausgebildet sind und<br />
im Gesundheitswesen bzw. in der IT-<br />
Branche arbeiten werden.<br />
Als Gründe für die Einwanderung<br />
werden antisemitische Tendenzen<br />
im eigenen Land, gute berufliche<br />
Möglichkeiten und das gute öffentliche<br />
Gesundheitssystem in Israel<br />
genannt. Einwanderungsministerin<br />
Pnina Tamano-Schata ist von diesem<br />
„unglaublichen Wachstumsmotor“<br />
begeistert.<br />
„Der Sinn unseres<br />
Daseins ist es, unseren<br />
kleinen Planeten<br />
Erde zu einem<br />
besseren Ort zum<br />
Leben zu machen,<br />
Kriege zu beenden,<br />
Atomraketen abzurüsten,<br />
Krankheiten<br />
und Umweltverschmutzung<br />
zu<br />
stoppen.“ Uri Geller<br />
Der Magier: Uri Geller<br />
feierte im <strong>Dezember</strong><br />
seinen 75. Geburtstag.<br />
Horizon<br />
Europe forscht<br />
gemeinsam<br />
mit Israel<br />
Die EU hat Israel als Drittstaat in<br />
ihr Forschungsprogramm Horizon<br />
aufgenommen. Das soll eine bereits<br />
eingespielte Zusammenarbeit<br />
weiter intensivieren.<br />
Israel ist in das EU-Forschungsprogramm<br />
Horizon aufgenommen worden.<br />
Das Abkommen wurde Anfang <strong>Dezember</strong><br />
in Brüssel von Mariya Gabriel,<br />
EU-Kommissarin für Innovation, Forschung,<br />
Kultur, Bildung und Jugend,<br />
und vom israelischen Botschafter bei<br />
der EU und der NATO, Haim Regev, unterzeichnet.<br />
Damit können israelische<br />
Forscherinnen und Forscher sowie wissenschaftliche<br />
Einrichtungen unter den<br />
gleichen Bedingungen an dem Programm<br />
teilnehmen wie jene aus EU-Mitgliedsstaaten.<br />
Das aktuelle Horizon Europe-Programm<br />
dauert von <strong>2021</strong> bis 2027 und<br />
ist mit einem Gesamtbudget von gut 95<br />
Milliarden Euro das weltweit größte Forschungs-<br />
und Innovationsförderprogramm.<br />
Israels Forschungsministerin<br />
Orit Farkash-Hacohen sagte dazu, Israel<br />
nehme bereits seit 25 Jahren an einschlägigen<br />
EU-Programmen teil. Seit<br />
1996 haben die EU und Israel<br />
mehr als 5.000 gemeinsame<br />
Forschungsprojekte erarbeitet,<br />
nun soll die Dynamik weiter erhöht<br />
werden. Im Rahmen des vorherigen EU-<br />
Programms Horizon 2020 hätten israelische<br />
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />
Unterstützungen in<br />
Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden<br />
Euro erhalten. „Wir erwarten,<br />
dass sich dieser Wert weiter steigern<br />
wird“, sagt die Ministerin. RE<br />
© flash 90<br />
4 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 4 28.12.21 03:31
MEHR ALS 2.200 SEITEN<br />
ZU ANTISEMITISMUS<br />
Antisemitismus ist ein Jahrtausende<br />
altes Phänomen. In Österreich sei er<br />
spätestens seit dem Mittelalter virulent,<br />
betonte der Judaist Armin Lange, einer<br />
der Organisatoren der Konferenz und<br />
Mitherausgeber der Buchreihe, bei deren<br />
Präsentation in Wien. „Er geht auf den paganen<br />
und christlichen Judenhass der Antike<br />
zurück und hat seinen traurigen Höhepunkt<br />
während der Schoah erreicht.“ Heute<br />
müsse man aller Opfer – ob jener der Wiener<br />
Gesera oder des Holocaust – gedenken, nur:<br />
Gedenken allein sei nicht genug. Juden und<br />
Jüdinnen müssten ohne Angst und Gefahr<br />
leben können – und die Bekämpfung von<br />
Antisemitismus gehe alle, also die ganze Gesellschaft<br />
an. „Judenverfolgung ist nur ein<br />
Schritt auf dem Weg der Intoleranz und des<br />
Hasses. Wer Jüdinnen und Juden verfolgt,<br />
wird nicht zögern, auch alle anderen zu verfolgen,<br />
die ihm missliebig sind.“<br />
EJC-Vizepräsident Ariel Muzicant betonte,<br />
die jüdische Gemeinde schaffe es<br />
heute zwar, Antisemitismus zu dokumentieren,<br />
und die meisten Gemeindemitglieder<br />
seien auch selbstbewusst genug, um mit<br />
den Anfeindungen fertigzuwerden. „Aber<br />
es ist kein Zustand. Und es ist kein Zustand,<br />
dass meine Enkel in die Schule gehen und<br />
bewacht werden müssen.“<br />
Was also tun? Antworten darauf sollten bei<br />
dem Kongress gesucht werden. Die Experten<br />
formulierten dabei eine Vielzahl an<br />
Vorschlägen. Lange fasst dazu nun zusammen:<br />
„Wir raten zu einer dualen Strategie,<br />
die aus kurzfristig und langfristig wirksamen<br />
Maßnahmen besteht. Kurzfristig gilt<br />
es, Jüdinnen und Juden vor Verfolgung jedweder<br />
Art zu schützen und antisemitische<br />
Täterinnen und Täter durch konsequente<br />
Strafverfolgung abzuschrecken. Langfristig<br />
haben wir ein Konzept entwickelt, von<br />
dem wir hoffen, dass es den Judenhass<br />
aus den Herzen der Menschen entfernen<br />
kann.“<br />
Konkret soll die Antisemitismusbekämpfung<br />
in der Gesetzgebung jedes Landes<br />
verankert werden, idealerweise in der<br />
Verfassung. Antisemitismusbekämpfung<br />
und -erforschung müssen in unabhängigen<br />
Institutionen erfolgen, die ohne Regierungskontrolle<br />
arbeiten können. Die<br />
Geschichte des Antisemitismus, aber auch<br />
Wer sich über den aktuellen Stand der Wissenschaft zu Antisemitismus<br />
und Strategien, wie man dem gleichzeitig so alten und<br />
dennoch so aktuellen Phänomen begegnen kann, informieren<br />
möchte, hat nun ein neues Kompendium zur Verfügung. An End<br />
to Antisemitism! hieß eine Konferenz, zu der der European Jewish<br />
Congress und die Universitäten Wien, New York und Tel Aviv 2018<br />
Expertinnen und Experten aus aller Welt nach Wien luden. Die<br />
Ergebnisse sind nun in fünf Bänden erschienen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Wissen über das Judentum müssten im gesamten<br />
Bildungssystem vermittelt werden.<br />
Begleitend brauche es neben dieser rationalen<br />
Aufklärung auch positive emotionale<br />
Erfahrungen mit dem Judentum. Und<br />
schließlich benötige all das auch eine entsprechende<br />
Finanzierung: Jedes Land, jede<br />
Institution, Organisation und Gruppierung<br />
sollten daher jährlich einen bestimmten<br />
Prozentsatz seines oder ihres Budgets zur<br />
Antisemitismusbekämpfung verwenden.<br />
Nationalratspräsident Werner Sobotka<br />
und Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler<br />
(beide ÖVP) bekräftigten bei der<br />
Präsentation der fünfbändigen Expertise<br />
zum Thema Antisemitismus denn auch ihr<br />
Bemühen, hier mit der Nationalen Strategie<br />
gegen Antisemitismus, die Österreich vorgelegt<br />
hat, einerseits gegen Judenfeindlichkeit<br />
einzutreten, andererseits ein blühendes<br />
jüdisches Leben zu ermöglichen.<br />
Genug könne man zwar nie tun, aber es<br />
passiere sehr viel, betonte Sobotka, der auf<br />
die alle zwei Jahre stattfindende Untersuchung<br />
im Auftrag des Parlaments dazu verwies<br />
und den neu ins Leben gerufenen Wiesenthal-Preis<br />
hervorhob. Dieser zeichnet<br />
zivilgesellschaftliches Engagement aus. Sobotka<br />
sprach auch Antisemitismus im Netz<br />
an. Hier forderte er ein globales Agieren.<br />
Dieses brauche es auch auf der Ebene der<br />
jüdischen Gemeinden, meinte Muzicant.<br />
Man debattiere, ob es für sie eine Zukunft<br />
in Europa gebe, traue sich aber gleichzeitig<br />
nicht, laut Klartext zu sprechen und für<br />
sich einzutreten.<br />
Vielleicht mache sich die Wiener jüdische<br />
Gemeinde nicht immer beliebt, aber<br />
sie sage, was zu sagen sei – und habe daher<br />
eine Chance, noch lange zu bestehen,<br />
wobei Muzicant betonte: „Wir tun das nicht<br />
nur für uns, sondern auch für die politische<br />
Hygiene dieses Landes.“ Und genau diese<br />
ist wichtig, wie auch ECJ-Präsident Moshe<br />
Kantor betonte. Denn die Novemberpogrome<br />
1938 seien auch deshalb möglich gewesen,<br />
weil es in der Gesellschaft Gleichgültigkeit<br />
gab. Heute sei der Kampf gegen<br />
Antisemitismus daher auch ein Gradmesser<br />
für den Zustand der Demokratie in einem<br />
Land.<br />
BUCHREIHE<br />
„AN END TO ANTISEMITISM!“<br />
Herausgegeben von Armin Lange, Kerstin<br />
Mayerhofer, Dina Porat, Lawrence H. Schiffman,<br />
erschienen im Verlag De Gruyter<br />
Band 1: Comprehending and<br />
Confronting Antisemitism<br />
Band 2: Confronting Antisemitism<br />
from the Perspectives of Christianity,<br />
Islam and Judaism<br />
Band 3: Comprehending Antisemitism<br />
through the Ages: A Historical Perspective<br />
Band 4: Confronting Antisemitism<br />
from Perspectives of Philosophy and<br />
Social Sciences<br />
Band 5: Confronting Antisemitism in Modern<br />
Media, the Legal and Political Worlds<br />
Mehr Informationen auf:<br />
degruyter.com/serial/aeas-b/html<br />
© European Jewish Congress<br />
5 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 5 28.12.21 03:31
INTERVIEW MIT JOHAN F. HARTLE<br />
„Vielleicht muss man ja den Lueger<br />
selbst auch ein bisschen absenken“<br />
Bewegung kam diesen November wieder in die lange<br />
andauernde Debatte, wie am besten mit dem Monument<br />
für Karl Lueger umzugehen ist. Der Antisemitismus<br />
des früheren Wiener Bürgermeister ist seit<br />
Jahren vielen ein Dorn im Aug. Nun gab Wiens Kulturstadträtin<br />
Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) bekannt, dass<br />
das Denkmal mit einer künstlerischen Kontextualisierung<br />
versehen werden soll. Doch auch das scheint<br />
nicht in Stein gemeißelt: Die Grünen forderten daraufhin<br />
einmal mehr die Entfernung der Statue. WINA<br />
sprach mit dem Rektor der Akademie der bildenden<br />
Künste Wien, Johan F. Hartle, über das Lueger-<br />
Monument, Gegendenkmäler und den Umgang mit<br />
Geschichte. Interview:Alexia Weiss; Fotos: Daniel Shaked<br />
WINA: Wir standen eben vor dem Lueger-Denkmal. Es ist<br />
derzeit beschmiert, seitlich findet sich eine wenig präsente<br />
Erklärtafel. Es gab einen Wettbewerb, das Siegerprojekt<br />
schlug ein leichtes Kippen des Denkmals vor, dieses wurde<br />
aber nicht umgesetzt. Es gibt immer wieder Forderungen,<br />
das Monument zu entfernen. Inwiefern lässt sich gerade an<br />
diesem Denkmal die ganze Bandbreite an Möglichkeiten<br />
des Umgangs mit aus heutiger Sicht nicht mehr gewünschter<br />
Würdigung ablesen?<br />
Johan F. Hartle: Bis jetzt sind die Möglichkeiten ja<br />
noch gar nicht ausgeschöpft. Das Einzige, was wir sehen,<br />
ist eine Kommentierung aus einer sozialen Bewegung<br />
heraus, die Bemalung mit dem Wort „Schande“.<br />
Ich finde es eigentlich ganz gut, dass das seit über einem<br />
Jahr in dieser Form besteht, weil es viel klarmacht<br />
und eigentlich schon eine Richtigstellung darstellt.<br />
Gleichzeitig hat man die Chance, wie das in Wien ja<br />
auch am Judenplatz beispielhaft geschehen ist, ein<br />
international relevantes Kunstprojekt auf die Beine<br />
zu stellen, mit dem auch ein Geschichtsbild revidiert<br />
und kontextualisiert wird, denn, um ehrlich zu sein,<br />
man wird auch in Wien nicht immer im Kaiserreich<br />
stehen bleiben können. Irgendwann muss man auch<br />
im Städtebau und in der Stadtgestaltungspolitik darüber<br />
hinauswachsen.<br />
„Ich habe<br />
versucht, verschiedene<br />
Motive,<br />
mit denen<br />
man ein Monument<br />
kommentieren,<br />
übermalen,<br />
überschreiben<br />
kann, miteinander<br />
zu<br />
vergleichen.“<br />
Johan F. Hartle<br />
Sie haben nun gemeint, das Wort „Schande“, das mehrmals<br />
auf das Monument gesprayt wurde, ist schon sehr passend.<br />
Sind Sie also eher dafür, das Denkmal stehen zu lassen und<br />
richtig einzuordnen, oder sagen auch Sie, räumen wir es<br />
ganz weg?<br />
I Das ist eine wichtige Kontroverse, und ich habe da<br />
keinen eindeutigen Standpunkt. Allgemein ist meine<br />
Haltung eher, dass man historische Ambivalenzen<br />
sichtbar lassen muss, das heißt, man muss Überschreibungen<br />
anbringen. Die Überschreibung muss<br />
in diesem Fall aber so deutlich sein, dass eine Ehrung<br />
in Zukunft nicht weiter möglich ist. Das ist ja auch von<br />
den Initiativen, die sich um die Kommentierung bemühen,<br />
sehr deutlich so formuliert.<br />
Ich habe versucht, verschiedene Motive, mit denen<br />
man ein Monument kommentieren, übermalen,<br />
überschreiben kann, miteinander zu vergleichen.<br />
Es gibt ein sehr interessantes Beispiel von<br />
Alfred Hrdlicka in Hamburg, wo ein Soldatenmonument<br />
durch ein Gegenmonument entkräftet wurde.<br />
Das ist ein sehr martialisches Soldatenbild im Sinn<br />
von „Deutschland soll leben, auch wenn wir sterben“.<br />
Hrdlicka hat mit verschiedenen Figuren und Motiven<br />
aus dem Kriegsschrecken diesen Lack angekratzt.<br />
Eine solche Überbauung halte ich für interessant, obwohl<br />
der Lueger-Platz vielleicht irgendwann überfordert<br />
sein wird, weil das Schönste an ihm ja in Wahrheit<br />
die Platane ist, die man auch sichtbarer machen<br />
könnte, als sie es jetzt ist.<br />
Es gibt aber auch sehr interessante Beispiele der<br />
Mediengestaltung, der Überschreibung mit Licht, mit<br />
digitalen Ergänzungen. Das Ernst-Thälmann-Denkmal<br />
am Prenzlauer Berg ist da ein sehr interessantes<br />
Projekt. Und von Jenny Holzer gab es eine leider<br />
nur temporäre Kommentierung des Völkerschlacht-<br />
Denkmals in Leipzig, bei der mit Licht überschrieben<br />
und dadurch eine Kontextualisierung hergestellt<br />
wurde, durch die der maskuline, martialische und der<br />
nationalistische Gedanke der Völkerschlacht sozusagen<br />
ins rechte Licht gerückt wurden. Das sind Herangehensweisen,<br />
die alle zur Verfügung stehen.<br />
Auf diesem Platz wurde mit einer erklärenden Tafel gearbeitet,<br />
warum sieht man, dass das nicht funktioniert?<br />
6 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 6 28.12.21 03:31
Kommentieren, übermalen, dekonstruieren<br />
JOHAN F. HARTLE,<br />
geb. 1976 in Hannover, ist Philosoph und Kunstwissenschafter.<br />
Seit Herbst 2019 ist er Rektor der Akademie<br />
der bildenden Künste in Wien. Zuvor war er<br />
Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie<br />
sowie kommissarischer Rektor an der Staatlichen<br />
Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.<br />
I Die Tafel ist einen halben Meter groß und versteckt<br />
sich hinter Lueger. Die liest nur, wer sie lesen will. Für<br />
alle anderen bleibt Lueger ein Prachtjunge aus der Geschichte<br />
des Kaiserreiches. Das ist nicht die Art und<br />
Weise, wie man Geschichte kontextualisieren sollte.<br />
Auf dem Heldenplatz ist derzeit eine Freiluftausstellung<br />
zu sehen, die zeigt, dass die Radikalität in Bezug auf Antisemitismus<br />
mit dem „Anschluss“ schon eine ganz andere<br />
als in Deutschland war. Gerade Lueger hat den Antisemitismus<br />
hier gefördert – und in dieser Stimmung wurde Hitler<br />
sozialisiert, der sich Lueger auch zu seinem Vorbild nahm.<br />
Wie opportun ist es tatsächlich, so jemandem im Stadtbild<br />
derart prominent Raum zu geben?<br />
I Das ist ganz klar: Lueger ist einer der wichtigsten Demagogen,<br />
eine der Schlüsselfiguren in der Geschichte<br />
des politischen Antisemitismus, und das nicht erst als<br />
Bürgermeister, sondern schon davor. Man kann das<br />
auch nicht damit relativieren, dass man sagt, oh, er<br />
musste, um das große Infrastrukturprojekt auf eine<br />
populäre Grundlage zu bringen, die Welle des Antisemitismus<br />
reiten. Das stimmt nicht, Lueger war auch<br />
davor bereits in hohem Maße Antisemit, etwa in der<br />
Interessenpolitik des Handwerkertums gegen Juden<br />
und Jüdinnen. Lueger ist kein Unschuldiger, und ihn<br />
zu ehren, ist einfach das falsche Signal.<br />
Ein Ansatz ist, wie von Ihnen schon angesprochen, eine<br />
Gegenöffentlichkeit, ein Gegendenkmal zu schaffen. Wie<br />
müsste das bei diesem überdimensional angelegten Monument<br />
gestaltet werden, um überhaupt sichtbar zu sein?<br />
I Vielleicht muss man den Lueger selbst auch ein bisschen<br />
absenken. Er könnte zum Beispiel nur noch mit<br />
dem Kopf zu sehen sein und in seinem eigenen Sockel<br />
verschwinden. Für mich ist völlig offen, ob das<br />
Denkmal in dieser Form überhaupt stehen bleiben<br />
kann. Vermutlich ist es in den Ausmaßen zu groß, um<br />
es noch kommentieren zu können. Wahrscheinlich<br />
muss man es tatsächlich ein bisschen demontieren.<br />
Aber diese Demontage könnte selbst ein künstlerischer<br />
Akt sein: dass man es buchstäblich zerlegt, so<br />
wie man Geschichte analysiert. Und das Analysieren<br />
ist eine Arbeit des Zerlegens. Das könnte ich mir ganz<br />
gut vorstellen.<br />
Rektor Johan<br />
F. Hartle:<br />
„Lueger ist kein<br />
Unschuldiger,<br />
und ihn zu<br />
ehren, ist das<br />
falsche Signal.“<br />
wına-magazin.at 7<br />
dezeber.indb 7 28.12.21 03:31
Alternative Geschichtserzählung<br />
Es gibt bereits als Ergebnis eines Wettbewerbs<br />
einen Entwurf, bei dem das Denkmal<br />
gekippt wird. Können Sie diesem etwas<br />
abgewinnen, oder ist er schon wieder<br />
passé?<br />
I Ich finde den Entwurf ganz interessant,<br />
weiß aber gar nicht, ob das<br />
Kippen gereicht hätte, um das Monument<br />
in seiner Wucht auch zu dekonstruieren.<br />
Aber ich glaube, ihn<br />
jetzt nochmal hervorzuholen, würde<br />
der öffentlichen Relevanz und der internationalen<br />
Sichtbarkeit einen Abbruch<br />
tun, und man sollte ein neues<br />
Projekt starten.<br />
Der Sturz der Denkmäler ist keine neue<br />
Entwicklung – es fielen Hitler-Statuen<br />
ebenso wie etwa kommunistische Büsten<br />
nach dem Fall der Mauer und dem Ende<br />
der DDR. Heute sind Monumente, die<br />
Herrscher oder Eroberer des Kolonialismus ehren, in der<br />
Kritik. Ist es tatsächlich sinnvoll zu versuchen, Geschichte<br />
auszuradieren?<br />
I Meine Position ist in der Tat, dass Straßennamen und<br />
die Namen von Plätzen immer wieder geändert wurden<br />
und dass das relativ unspektakulär ist. In der Geschichte<br />
des wiedervereinigten Deutschland war das<br />
der Alltag, und es ist ein bisschen ironisch, wenn die<br />
konservativen Kräfte jetzt das Beibehalten von Namen<br />
von Plätzen und Straßen für die oberste Staatsraison<br />
halten. Hier gibt es eine gewisse Unaufrichtigkeit.<br />
Aber es stimmt natürlich, dass die Vergangenheit<br />
nicht einfach ausgelöscht werden kann und soll, sondern<br />
dass man aus ihr lernen und Aspekte davon neu<br />
bewerten muss. Und diese Art des Neubewertens findet<br />
vielleicht am sinnvollsten in der Auseinandersetzung<br />
mit dem tatsächlichen Monument statt.<br />
War es im Rückblick nicht richtig, im Osten Deutschlands<br />
alle Marx- und Lenin-Büsten zu entfernen? Ist man hier<br />
heute einen Schritt weiter?<br />
I Ich glaube, dass die Ambivalenz aus der Geschichte<br />
des Kommunismus, eines gescheiterten Emanzipationsversprechens,<br />
nicht einfach geleugnet und ignoriert<br />
werden kann, sondern dass die Auseinandersetzung<br />
damit wichtig bleibt, und das Gleiche gilt<br />
natürlich auch für andere Geschichtsstränge. Meiner<br />
Meinung nach ist in der Aufarbeitung des Realsozialismus<br />
sehr viel mehr Geschichtsarbeit passiert als zum<br />
Beispiel in der Aufarbeitung der sozialkonservativen<br />
Tradition, die offenbar bis heute mit einem Lueger<br />
noch zu wenig Probleme hat, um eine relevante Kommentierung<br />
in Gang zu setzen.<br />
Hat das auch damit zu tun, dass bis vor Kurzem in der breiteren<br />
Wahrnehmung die Kontinuität des Antisemitismus<br />
völlig geleugnet wurde?<br />
I Das ist ganz sicher so. Die Vorstellung, dass Österreich<br />
eine saubere, nicht koloniale, bürgerliche Weste<br />
„Die Komplexität<br />
eines<br />
zivilgesellschaftlichen<br />
Diskurses<br />
wird auch<br />
durch künstlerische<br />
Projekte vorangetrieben,<br />
und sie wird<br />
auch durch<br />
künstlerische<br />
Projekte dauerhaft<br />
in den<br />
öffentlichen<br />
Raum eingeschrieben.“<br />
hat, die dann durch externe, radikale Elemente beschädigt<br />
worden sei, hält sich relativ hartnäckig und<br />
ist natürlich nicht zutreffend.<br />
Die aktuellen Debatten zeigen eines: Geschichte ist nichts<br />
Statisches, der Blick in die Vergangenheit wird vielmehr<br />
immer wieder einer neuen Bewertung und Analyse unterzogen.<br />
War dies immer schon so, oder läuft da gerade ein<br />
Paradigmenwechsel ab?<br />
I Die Vorstellung, dass die Geschichte die Geschichte<br />
großer Männer ist, die ist nicht richtig. Die ist schon<br />
lange falsch. Es gibt natürlich sozialgeschichtliche<br />
Strömungen, die das auch schon davor problematisiert<br />
haben. Aber ein Einzelmonument von einem Einzelbürgermeister,<br />
der dazu noch ein politischer Demagoge<br />
sondergleichen gewesen ist, zeugt schon von<br />
einem absurden Geschichtsbild, das in der Tat zu demontieren<br />
und auch einzubetten ist in die tatsächliche<br />
Leidensgeschichte derjenigen, die historisch aktiv gewesen<br />
sind, und in die historischen Bewegungen, die<br />
die tatsächlichen Ereignisse vorangetrieben haben.<br />
Wie weit ist man mit der Demontage des Geschichtsbildes?<br />
Ist das noch eine Elfenbeinturmdebatte, oder sehen Sie<br />
schon eine Verästelung in die ganze Gesellschaft?<br />
I Ich bin kein Historiker und überlasse die Debatte<br />
den Historiker:innen, Kulturhistoriker:innen und<br />
Sozialhistoriker:innen. Aber es ist ganz sicher so,<br />
dass es alternative Geschichtserzählungen gibt und<br />
dass die imperiale große Geste der auf Einzelpersönlichkeiten<br />
fixierten Geschichtserzählung zunehmend<br />
zerstäubt.<br />
Kunst und Kultur, der Bereich, den Sie repräsentieren, ist<br />
gerade ein Bereich, der zur Verherrlichung von historischen<br />
Personen beigetragen hat. Was können Kunst und Kultur<br />
heute beitragen, um zu dekonstruieren?<br />
I Die Komplexität eines zivilgesellschaftlichen Diskurses<br />
wird auch durch künstlerische Projekte vorangetrieben,<br />
und sie wird auch durch künstlerische<br />
Projekte dauerhaft in den öffentlichen Raum eingeschrieben.<br />
Insofern ist das, was mit Rachel Whitereads<br />
öffentlicher Installation, ihrem Monument am<br />
Wiener Judenplatz passiert ist, modellhaft für das,<br />
was Kunst leisten kann, nämlich Mahnmale auch ambivalenter<br />
und alternativer Geschichtserzählung zu<br />
erzeugen.<br />
Ist es ein Sinnbild unserer Zeit, dass heute eher Mahnmale<br />
aufgestellt werden als Huldigungsstatuen?<br />
I Es wäre natürlich traurig, wenn es nicht auch Erfolgsgeschichten<br />
gäbe, auf die wir stolz sein können.<br />
Vielleicht werden wir in ein paar Jahrzehnten denjenigen,<br />
die es geschafft haben, im Rahmen der Klimabewegung<br />
wesentliche Elemente des Planeten zu retten,<br />
auch Denkmäler setzen und auf sie stolz sein. Vielleicht<br />
befinden wir uns momentan tatsächlich eher in<br />
der Aufarbeitung von Traumata und Schäden als in<br />
der Möglichkeit, emanzipatorische und zukunftsweisende<br />
Projekte zu würdigen und zu setzen.<br />
8 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 8 28.12.21 03:31
Von Judenwegen<br />
zum Israel-Trail<br />
Dass „der Jud“ vor allem ins Kaffeehaus<br />
gehört, wurde auch in koketter<br />
Selbstironie gern festgestellt.<br />
Dennoch finden sich zahlreiche Zeugnisse<br />
für eine besondere jüdische Naturverbundenheit,<br />
eine besondere Liebe zur Landschaft,<br />
gipfelnd in der sorgsamen Achtung<br />
vor der Schöpfung Gottes und aller<br />
seiner Wesen.<br />
Diaspora. In seinem Beitrag über „Deutschjüdische<br />
Landschaften“ stellt Michael<br />
Brenner fest, dass vor dem Krieg zwar<br />
90 Prozent der österreichischen Juden in<br />
Wien lebten, das Bild des urbanen Großstadtjudentums<br />
also einige Berechtigung<br />
hatte, es andererseits ab dem 16. Jahrhundert<br />
in Deutschland spezielle „Judenwege“<br />
gab, auf denen sich die jüdischen Hausierer<br />
abseits der allgemeinen Verkehrswege<br />
durch die ländliche Umgebung bewegten,<br />
auch um drohenden Übergriffen auszuweichen.<br />
Deutsche Juden liebten und idealisierten<br />
die Natur, junge Zionisten etablierten<br />
Wandervereine.<br />
„Die Alpen machen keinen Unterschied<br />
zwischen Jud und Christ oder Arier, sie<br />
werfen ab, wen sie wollen“, erklärt Robert<br />
Schindel die Liebe der Juden zu den<br />
Bergen. 1924 schloss der antisemitische<br />
Alpenverein jüdische Mitglieder aus, ein<br />
„Kurbäderantisemitismus“ sogar schon<br />
davor jüdische Sommerfrischler.<br />
Israel. Erst die Besiedlung Israels ermöglichte<br />
auch eine Rückkehr zur Natur,<br />
Gestaltung und Kultivierung der<br />
Landschaft. Die Wüste, für europäische<br />
Einwanderer ein mystisch-mythischer<br />
Rastlos, wurzellos wandert<br />
er seit Jahrtausenden durch<br />
die Geschichte des Abendlands.<br />
Mit einer besonderen<br />
Nähe zur Natur wurde<br />
der ewig „wandernde Jude“<br />
aber nie verbunden. „Denn<br />
der Jud und die Natur, das ist<br />
zweierlei, immer noch“, hat<br />
Paul Celan einmal gemeint.<br />
Gleichsam als Motto führt<br />
Gisela Dachs dieses Zitat<br />
in ihrem neuen Jüdischen Almanach<br />
an, der diesmal das<br />
Verhältnis zur „Natur“<br />
erkundet und damit Celans<br />
Behauptung überprüft.<br />
Von Anita Pollak<br />
Gisela Dachs (Hg.):<br />
Natur. Erkundungen<br />
aus der jüdischen Welt.<br />
Jüdischer Verlag im<br />
Suhrkamp Verlag,<br />
224 S., € 23,70<br />
Herkunftsort des biblischen Volkes, zum<br />
Blühen zu bringen, war das Ziel zionistischer<br />
Siedler. Ideologisch aufgeladen<br />
war die Aufforstung des Landes, übrigens<br />
fast ausschließlich mit Kiefern, wie<br />
es Irus Braverman in ihrem Beitrag über<br />
den Jüdischen Nationalfonds darstellt.<br />
Tel Aviv wurde als Gartenstadt konzipiert,<br />
allerdings „mit dem Rücken zum<br />
Meer“, zu dem die Gründerväter offenbar<br />
eine gespaltenes Verhältnis hatten,<br />
weshalb die Hauptverkehrsstraßen sich<br />
nicht zur Küste öffnen, wie Avrama Golan<br />
beobachtet.<br />
Ein neuer Zugang zur Natur und ihrem<br />
Schutz, zur Flora und Fauna des Heiligen<br />
Landes und eine neue Spezies des<br />
wandernden Juden etwa auf dem „Israel-<br />
Trail“ wird in anderen Beiträgen des Bandes<br />
offenbar. Für die innige Naturverbundenheit<br />
seiner Autor:innen weist die<br />
israelische Literatur viele Belege auf, ein<br />
schönes Beispiel findet sich in Meir Shalevs<br />
Betrachtung der Jahreszeiten.<br />
Wie in allen ihren bisherigen „Erkundungen<br />
aus der jüdischen Welt“ ist es Herausgeberin<br />
Gisela Dachs auch in ihrem<br />
jüngsten Almanach gelungen, ein sensibles<br />
Thema in<br />
einem breiten,<br />
„Die Alpen machen keinen<br />
Unterschied zwischen Jud<br />
und Christ oder Arier, sie<br />
werfen ab, wen sie wollen.“<br />
Robert Schindel<br />
bunten Spektrum<br />
zu beleuchten,<br />
das in seiner<br />
Gesamtheit Paul<br />
Celans eingangs<br />
erwähntes Zitat<br />
als überholt entlarvt.<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
dezeber.indb 9 28.12.21 03:31
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Der Zauber von<br />
Yung Yidish<br />
Wenn der Zentrale Busbahnhof im Süden von Tel Aviv wie geplant<br />
abgerissen wird, muss Mendy Cahan ein neues Zuhause für seine<br />
90.000 Bücher in jiddischer Sprache finden.<br />
m Süden der Stadt gibt es einen Ort, der aus der<br />
Welt gefallen scheint. Er ist dem Jiddischen als<br />
ein lebendiges säkulares Kulturgut gewidmet.<br />
Wer dorthin will, muss es allerdings erst einmal<br />
bis zu dem Studio 5008 im fünften Stock des allgemein<br />
verhassten Busbahnhofs in der Levinski<br />
Street schaffen. Das allein schon kommt einer<br />
abenteuerlichen Reise gleich.<br />
Der „neue“ zentrale Busbahnhof, wie er immer<br />
noch heißt, ist ein Monstrum. Er hat deshalb auch<br />
den guten Ruf seines Erbauers ruiniert. Bis dahin<br />
war Ram Karmi einer der erfolgreichsten Architekten<br />
im Land gewesen. Als junger Mann plante<br />
er die Knesset mit, auch der viel bewunderte Neubau<br />
des Obersten Gerichtshof entstand auf seinem<br />
Reißbrett. Dann wurde 1993 der Busbahnhof nach<br />
24 Jahren Bauzeit eröffnet. Doch die Idee einer Art<br />
fensterlosen Stadt unter einem Dach mit Verkehrsanbindung<br />
erwies sich als Fehler.<br />
Das Ausmaß macht einen schwindlig. 230.000<br />
Quadratmeter auf sieben Stockwerken – oder<br />
vierzehn, je nachdem, wie man zählt, denn jede<br />
Etage besteht aus zwei halben Stockwerken,<br />
verbunden durch Rolltreppen, die kreuz<br />
und quer laufen. In diesem Labyrinth<br />
kann man sich leicht verlaufen. Kein<br />
halbes Jahr nach der Eröffnung mussten<br />
die sechs Kinos im ersten Stock be-<br />
Von Gisela Dachs<br />
Die hohen Regale beben in regelmäßigen Abständen,<br />
wenn ein Busse direkt über der Decke<br />
losfährt. Dann wackelt auch die Theke am Eingang,<br />
samt der Flasche Pastis, den Bieren und<br />
den kleinen Gläsern mit Gefiltem Fish.<br />
reits schließen. Ganze Etagen gingen pleite und<br />
sind bis heute verwaist.<br />
Was lebt, sind die vielen kleinen Läden und Buden<br />
im Eingangsgeschoss. Sie orientieren sich an<br />
den Bedürfnissen der Arbeitsmigranten, die sich<br />
schon vor Jahren in der Nachbarschaft niedergelassen<br />
haben. Wechselstuben, afrikanischen Trachten,<br />
aufblasbare Weihnachtsmänner, indische Gewürzstände,<br />
philippinische Make-up-Läden mit<br />
viel Glitzer, eine Hotline-Station für Flüchtlinge.<br />
Durch all das muss man erst einmal durch, um<br />
zu Yung Yidish zu gelangen. Es ist halb acht Uhr<br />
Sonntagabend, und eine eklektische Mischung<br />
an Besuchern trudelt ein – junge Israelis, darunter<br />
Hipster und Punks, ältere Einwanderer aus der<br />
ehemaligen Sowjetunion und Frankreich, Chassiden.<br />
Sie alle kommen zusammen in dem riesigen<br />
Loft, das mit alten Teppichen ausgelegt ist und nach<br />
Wasserschäden riecht. In der Mitte stehen Holztische<br />
und Stühle. Ringsherum sind überall Bücher,<br />
90.000 Bände europäischer Literatur auf Jiddisch.<br />
Die hohen Regale beben in regelmäßigen Abständen,<br />
wenn ein Busse direkt über der Decke losfährt.<br />
Dann wackelt auch die Theke am Eingang, samt der<br />
Flasche Pastis, den Bieren und den kleinen Gläsern<br />
mit Gefiltem Fish. Wie jede Woche um diese<br />
Zeit lädt die „Klezmer-Bar“ zum Konzert ein. Die<br />
kleine Bühne, vor der ein Klavier steht, ist ebenfalls<br />
mit Bücherstapeln im Hintergrund versehen.<br />
Der Mann, der dieses Reich geschaffen hat, ist heute<br />
nicht da. Mendy Cahan sitzt im Flugzeug nach Belgien.<br />
Dort ist der Schauspieler, Sänger und Geschichtenerzähler<br />
einst mit Jiddisch als Muttersprache<br />
aufgewachsen. Dann hat er sich von<br />
Antwerpen nach Jerusalem aufgemacht, sein bis-<br />
© Corinna Kern / laif / picturedesk.com<br />
10 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 10 28.12.21 03:31
© Corinna Kern / laif / picturedesk.com<br />
heriges Leben hinter sich gelassen und begonnen,<br />
jiddische Literatur vor ihrem Verschwinden zu retten.<br />
Das war vor dreißig Jahren. Er las im israelischen<br />
Radio die Nachrichten auf Jiddisch und startete<br />
dort den Aufruf, wer immer jiddische Bücher<br />
habe, die er nicht mehr brauche, solle es ihm sagen,<br />
er komme vorbei und hole sie. Und es gab viele.<br />
Sie kamen aus der ganzen Welt, von Australien, von<br />
Johannisburg, von Brasilien, von Mexiko. 2006 zog<br />
er dann mit seiner damals schon beträchtlichen<br />
Sammlung in den Busbahnhof nach Tel Aviv um.<br />
Mit seiner Yung-Yiddish-Bewegung will Mendy<br />
Cahan außerhalb von Mea Shearim und Bnei Brak<br />
die jiddische Sprache lebendig halten und ihre<br />
reichhaltige Kultur zugänglich machen.<br />
Die große europäische Literatur wurde einst ins<br />
Jiddische übersetzt, man las sie mit Leidenschaft<br />
und eignete sie sich an, um dann auch den eigenen<br />
Teil dazu beizutragen.<br />
Für Mendy Cahan steht das Jiddische nicht im<br />
Gegensatz zum Hebräischen, die Diaspora nicht<br />
zum Zionismus. Er denkt nicht in solchen Kategorien,<br />
er will lieber versöhnen, betrachtet seine Bücher<br />
als Einwanderer. „Die Zionisten wollten eine<br />
neuen Juden schaffen, aber der war doch trotzdem<br />
die Fortsetzung des alten“, meinte er kürzlich in einem<br />
Interview. „Gab es nicht stehenden Beifall für<br />
Herzl, als er 1904 Vilnius besuchte, das Herz des<br />
Jiddischlands?“<br />
Yung Yidish hat längst enorme Sogwirkung entwickelt.<br />
Beim Sortieren der Bücher und Veranstaltungen<br />
helfen ein Dutzend Freiwillige, wie Dan und<br />
Yogev, die gerade ihre Matura in Hod haScharon<br />
machen. Dan hat einen langen grauen Mantel an<br />
und den Kopf voller Rasta. Er kommt seit zehn Monaten<br />
hierher, wann immer es geht, und lernt die<br />
Unterrichtsstunde.<br />
Mit seiner Yung-Yiddish-<br />
Bewegung will Mendy<br />
Cahan (hinten) die<br />
jiddische Sprache auch<br />
außerhalb von Mea<br />
Shearim und Bnei Brak<br />
lebendig halten und<br />
ihre reichhaltige Kultur<br />
zugänglich machen.<br />
Sprache durchs Zuhören, „wie ein Baby“, wenn die<br />
Menschen sich hier auf Jiddisch unterhalten. Die<br />
Sprache, deren hebräische Buchstaben er mühelos<br />
lesen kann, erinnert ihn an seinen Großvater in<br />
Kfar Saba. Dessen säkulare Eltern, die aus Litauen<br />
stammten, haben mit ihrem kleinen Sohn stets Jiddisch<br />
gesprochen, obwohl er in den 1930er-Jahren<br />
bereits im Land geboren worden war. Für Dan ist<br />
die Sprache wie ein emotionales Band.<br />
Andere kommen, weil sich an diesem schrägen<br />
Ort im Busbahnhof alle entfalten dürfen, die<br />
die Welt ein bisschen besser machen wollen. Dazu<br />
„Die Zionisten wollten eine neuen Juden<br />
schaffen, aber der war doch trotzdem die<br />
Fortsetzung des alten.“ Mendy Cahan<br />
gehören Vorträge über die schwierigen Lebensbedingungen<br />
von Flüchtlingen, über die LGBTQ-<br />
Community, Lesungen von Gedichten, Buchpräsentationen,<br />
Theaterproben.<br />
Inzwischen ist Yung Yidish kein Geheimtipp<br />
mehr. Spätestens seit der Ankündigung, dass der<br />
neue Busbahnhof bald umziehen und nach dreißig<br />
Jahren Betrieb abgerissen werden soll, sind Berichte<br />
über die notwendige Rettung von Yung Yidish<br />
auch in die großen hiesigen Medien vorgedrungen.<br />
Am 5.<strong>Dezember</strong> hätte Schluss sein sollen, so hatte<br />
es zunächst geheißen. Aber jetzt sieht es so aus, als<br />
würde es mit der Verlegung des Busbahnhofs noch<br />
eine Weile dauern. Manchmal ist es ja ein Glück,<br />
dass die Dinge nicht immer so schnell klappen wie<br />
geplant. So bleibt Zeit, um für Yung Yidish ein neues<br />
Zuhause zu finden.<br />
yungyidish.github.io/<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
dezeber.indb 11 28.12.21 03:32
Sie haben<br />
Fragen an das<br />
Bundeskanzleramt?<br />
service@bka.gv.at<br />
0800 222 666<br />
Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />
(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />
+43 1 531 15 -204274<br />
Bundeskanzleramt<br />
Ballhausplatz 1<br />
1010 Wien<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />
Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />
auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />
bundeskanzleramt.gv.at<br />
dezeber.indb 12 28.12.21 03:32
HIGHLIGHTS | 02<br />
Wohin mit dem „Nazi-Dreck“?<br />
Wenn bei der Räumung eines Hauses plötzlich NS-Devotionalien und Familienerinnerungsstücke aus<br />
der Zeit des Nationalsozialismus auftauchen, wollen viele Menschen nur eines: diese Sachen möglichst<br />
rasch loswerden. Doch dann stellt sich die Frage: einfach wegwerfen? Verkaufen? Oder wohin kann ich<br />
solche Dinge quasi in Obhut übergeben?<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />
Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum<br />
heißt die neue Ausstellung<br />
im Haus der Geschichte Österreich<br />
(HdGÖ), die dazu einen Diskussionsprozess<br />
anstößt. Die Schau begrüßt die Besucherinnen<br />
und Besucher mit drei Fragen:<br />
„Aufbewahren? Verkaufen? Zerstören?“<br />
Auf Kärtchen sind dazu typische Dinge<br />
aufgezeichnet, die immer wieder in Verlassenschaften<br />
auftauchen: eine Armbinde<br />
des „Volkssturms“ zum Beispiel, ein Teller<br />
mit einem „Reichsadler“-Stempel auf<br />
der Unterseite, „Reichsmark“-Münzen. Die<br />
Besucher:innen können dann ankreuzen,<br />
ob sie dieses Objekt entsorgen, behalten<br />
oder verkaufen würden, und dazuschreiben,<br />
warum sie so entscheiden würden.<br />
Die Ausstellungsmacher:innen wiederum<br />
weisen dann daraufhin, welche Implikation<br />
jede der drei Entscheidungen mit<br />
sich bringt: Was etwa darf ich zu Hause aufbewahren,<br />
und was fällt unter NS-Wiederbetätigung?<br />
HdGÖ-Direktorin und Mitkuratorin<br />
der Schau, Monika Sommer, erzählt<br />
etwa von Erben, die sich mit der Frage ans<br />
Museum wandten, was sie mit einer Lade<br />
voller „SA“-Dolche tun sollten. Solche Waffen<br />
privat zu besitzen, ist verboten. Dürfte<br />
man sie oder andere Dinge verkaufen? Auch<br />
darüber wird in der Ausstellung aufgeklärt.<br />
Und wo kann ich Dinge, die ich nicht zerstören,<br />
aber auch nicht behalten möchte,<br />
abgeben?<br />
Genau hier kommen Museen wie das<br />
HdGÖ ins Spiel. Bei 35 Prozent der Schenkungen<br />
an das HdGÖ handelt es sich um<br />
Objekte aus der Zeit des Nationalsozialismus,<br />
erklärt Sommer. Allerdings sagt sie<br />
auch klar: Nicht alles, was hier angeboten<br />
würde, könne auch in die Sammlung des<br />
Museums übernommen werden. Basis der<br />
Entscheidung, ob ein Objekt angenommen<br />
werde oder nicht, ist die Geschichte, die es<br />
dazu nach der NS-Zeit zu erzählen gibt.<br />
Das Plakat zur Ausstellung ziert eine<br />
Glühbirnenverpackung, auf die mit Edding<br />
„NAZI-Dreck“ geschrieben wurde. In<br />
Sich der Familiengeschichte<br />
stellen – erst<br />
damit finde auch<br />
Akzeptanz statt.<br />
Stefan Benedik<br />
ihr befanden sich viele kleine Abzeichen<br />
und Anstecker aus der NS-Zeit. Die Schachtel<br />
ist ebenso in der Ausstellung zu sehen<br />
wie andere Verpackungen. Warum? In der<br />
Schau stellte das Kuratorenteam die Situation<br />
der Übergabe und Begutachtung eines<br />
Objekts nach. Jedes ausgewählte Objekt<br />
steht auf einem Tisch, daneben wurde<br />
die Verpackung (vom Koffer bis zum Plastiksackerl)<br />
platziert, auf Kärtchen wird die Relevanz<br />
des Gegenstands für die Sammlung<br />
des Museums erklärt.<br />
Ins Auge sticht etwa ein Puppenwagen.<br />
Gefertigt wurde er aus einer Feldpostkiste,<br />
in der ein Soldat Raubgut aus Frankreich<br />
nach Hause geschickt hatte. Nach seiner<br />
Rückkehr zimmerte er einen Puppenwagen<br />
In welchen<br />
Objekten werden<br />
Erinnerungen an den<br />
Nationalsozialismus<br />
eigentlich aufbewahrt?<br />
Auch das ist<br />
Teil der Ausstellung.<br />
daraus. Das Adressfeld ist bis heute im Inneren<br />
des Wagerls zu sehen. Damit habe er<br />
die Erinnerung an diesen Feldzug bewusst<br />
belassen, erläutert Sommer.<br />
Was Co-Kurator Stefan Benedik mit dieser<br />
Ausstellung auch anstoßen will, ist der<br />
innerfamiliäre Diskurs, wie künftig mit solchen<br />
Objekten umgegangen werden soll.<br />
Denn es sei zu hinterfragen, ob das Entsorgen<br />
oder Weggeben immer der beste<br />
Weg sei. Sich der Familiengeschichte stellen<br />
– erst damit finde auch Akzeptanz statt.<br />
Und dann stelle sich die Frage: Warum eben<br />
zum Beispiel nicht das Fotoalbum mit dem<br />
Urgroßvater in NS-Uniform behalten und<br />
auch diese unliebsame Zeit in die Familiengeschichte<br />
integrieren, ohne sie aber zu verharmlosen<br />
oder zu erhöhen. wea<br />
„Hitler entsorgen.<br />
Vom Keller ins Museum“<br />
12. <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong> bis 9. Oktober <strong>2022</strong><br />
Haus der Geschichte Österreich<br />
Heldenplatz, 1010 Wien<br />
hdgoe.at<br />
© A. Weiss<br />
dezeber.indb 13 28.12.21 03:32
INTERVIEW MIT BEN DAGAN<br />
„Mut zur<br />
Sichtbarkeit“<br />
Ben Dagan leitet seit September den Bereich Kommunikation<br />
der IKG Wien. Der Politikwissenschafter und Sicherheitsexperte war<br />
zuvor in der politischen Kommunikation tätig, zuletzt als Pressereferent<br />
im Gesundheitsministerium. WINA sprach mit ihm über seine neue<br />
Aufgabe und die Ziele der damit nun weiter professionalisierten<br />
Öffentlichkeitsarbeit der Kultusgemeinde.<br />
WINA: Warum ist es auch für eine kleine Religionsgemeinschaft<br />
wichtig, sich professionell zu präsentieren?<br />
Ben Dagan: Bisher hat hier ein kleines Team einen<br />
immer größer werdenden Arbeitsauftrag hervorragend<br />
gemeistert. Und dass dieser größer wird, zeigt<br />
auch, wie lebendig die Gemeinde ist: mit verschiedensten<br />
Veranstaltungen, aktiven Vereinen und Abteilungen<br />
sowie als selbstbewusste Stimme in der<br />
Gesellschaft. Diesen Bereich auszubauen, war der<br />
logische nächste Schritt, den auch viele andere Gemeinden<br />
gemacht machen, und ich freue mich, Teil<br />
dieses Prozesses zu sein. Die Arbeit hat schon begonnen,<br />
wie jüngst mit dem SMS-Sicherheitshinweis für<br />
Mitglieder und der neuen Website.<br />
Sie kommen aus der politischen Kommunikation und waren<br />
zuletzt in zwei Ministerien – dem Justiz- und dem Gesundheitsressort<br />
– als Pressereferent tätig. Wie unterscheidet<br />
sich die Arbeit für die IKG von der Arbeit in der Politik?<br />
I Es geht darum, das jüdische Leben in Österreich in<br />
seiner Vielfalt sichtbar zu machen: das umfassende<br />
Kulturprogramm, Religion, Jugendarbeit, die Institutionen,<br />
um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen.<br />
Die Abwechslung ist definitiv größer, und das<br />
Korsett ist weniger eng. Gleichzeitig ist die Arbeit<br />
auf allen Ebenen von großer Bedeutung: vom Service<br />
für Gemeindemitglieder bis hin zum Kampf gegen<br />
Antisemitismus. Dabei geht es nicht zuletzt um eine<br />
wachsende, florierende Gemeinde, die den Weg für<br />
kommende Generationen in einem vielfältigen Österreich<br />
ebnet.<br />
Welche Ziele verfolgen Sie in der Kommunikation der IKG<br />
Wien?<br />
I Den Service für die Mitglieder zu unterstützen, die<br />
Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen<br />
zu intensivieren und die Außenwirkung zu vergrößern.<br />
Mit den neu geschaffenen Ressourcen, zum<br />
„Vielfalt<br />
ist Stärke<br />
und Herausforderung<br />
zugleich.“<br />
Ben Dagan<br />
Beispiel in der Content-Produktion, und dem Mut<br />
zur Sichtbarkeit werden wir diese Ziele auch erreichen.<br />
Welche Herausforderungen sehen Sie dabei?<br />
I Vielfalt ist Stärke und Herausforderung zugleich.<br />
Man muss zum Teil sehr unterschiedliche Bedürfnisse<br />
wahrnehmen und darauf eingehen. Damit die<br />
richtige Balance gelingt, braucht man Zeit, manche<br />
Dinge müssen wir auch vorsichtig ausprobieren und<br />
evaluieren. Gleichzeitig darf man das Umfeld nicht<br />
aus den Augen verlieren. Die jüngsten Zahlen aus<br />
dem Antisemitismus-Halbjahresbericht sind zum<br />
Beispiel Grund zur Sorge. Deshalb ist es auch richtig,<br />
dass sich die Gemeinde selbstbewusst in der gesellschaftlichen<br />
Debatte definiert – auch mit Themen<br />
über Antisemitismus hinaus.<br />
Inwiefern hilft Ihnen Ihr persönlicher Background bei<br />
dieser neuen Aufgabe?<br />
I Die neue Aufgabe ist eine Herzensangelegenheit.<br />
Mir war oft nicht bewusst, was ich an relevantem<br />
Wissen für die Aufgabe mitbringe. Natürlich gibt es<br />
auch Situationen, in denen ich blinde Fleck erkenne<br />
und umso dankbarer bin ich für die tollen Kolleginnen<br />
und Kollegen. Meine Großmutter freut sich sicher,<br />
dass ich mich endlich intensiver mit dem Judentum<br />
befasse. Red.<br />
BEN DAGAN,<br />
geb. 1989 in Ramat Gan/Israel, aufgewachsen in Tirol. Studium der Politikwissenschaft<br />
und Internationalen Sicherheit an den Universitäten Wien und Sciences Po Paris, dazwischen<br />
Israel Government Fellow in Jerusalem. Bisherige Arbeitsstationen unter anderem:<br />
Bezirksvorstehung Neubau, Europäisches Parlament, Campaigner bei den Grünen,<br />
Pressereferent für Justizministerin Alma Zadi und Gesundheitsminister Rudolf Anschober.<br />
Seit September <strong>2021</strong> Leiter der Kommunikation in der IKG Wien.<br />
14 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 14 28.12.21 03:32
Eine Herzensangelegenheit<br />
© Daniel Shaked<br />
Ben Dagan auf dem Sprung.<br />
„Es geht darum, das jüdische Leben<br />
in Österreich in seiner Vielfalt sichtbar<br />
zu machen.“<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
dezeber.indb 15 28.12.21 03:32
Europäisches Judentum<br />
JONATHAN KREUTNER,<br />
1978 in der Schweiz geboren, hat<br />
allgemeine Geschichte, neuere<br />
deutsche Literatur und Staatsrecht<br />
in Zürich studiert und in Basel in<br />
Jüdischen Studien promoviert. Seit<br />
2009 ist er als Generalsekretär<br />
des Schweizerischen Israelitischen<br />
Gemeindebundes tätig. Er ist verheiratet<br />
und Vater zweier Kinder.<br />
„Das neue Österreich soll eine<br />
Chance von mir bekommen“<br />
Ich habe noch keinen Pass in der<br />
Hand“, erklärt Jonathan Kreutner<br />
gleich eingangs. Was gerade in seinem<br />
Fall eine gelinde Untertreibung ist.<br />
Denn eigentlich hat der gebürtige Schweizer<br />
als Sohn einer israelischen Mutter<br />
auch einen israelischen Pass, ist also bereits<br />
Doppelstaatsbürger. Mit dem österreichischen,<br />
den er seit einigen Monaten<br />
anstrebt, bekäme er also eine „Trinationalität“,<br />
wie er erklärt. Seit über einem Jahr<br />
haben Nachkommen von Opfern der NS-<br />
Diktatur die Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung<br />
der österreichischen Staatsbürgerschaft.<br />
Und dass seine Großeltern,<br />
Jakob und Ida Kreutner, solche Opfer waren,<br />
ist mehrfach gut dokumentiert.<br />
Warum möchte ein<br />
junger Schweizer Jude die<br />
österreichische Staatsbürgerschaft<br />
seiner Großeltern<br />
wiedererlangen? Für<br />
Jonathan Kreutner, seit<br />
13 Jahren Generalsekretär<br />
des Schweizerischen Israelitischen<br />
Gemeindebunds,<br />
ist es vor allem eine Frage<br />
der Gerechtigkeit.<br />
Von Anita Pollak<br />
Dramatische Flucht. Doch zurück zum Anfang<br />
oder „back to the roots“, zur Familiengeschichte,<br />
die in der Wiener Leopoldstadt<br />
ihren Ausgang nahm, wie Jonathan<br />
Kreutner erzählt. Hier heiratete das Paar<br />
1934, 1937 wurde ihr Sohn Robert, Jonathans<br />
Vater, geboren. Beide waren<br />
Mitglieder der IKG. Als in der Reichspogromnacht<br />
1938 die Gestapo Jakob<br />
niederschlug und schwer verletzte, versteckte<br />
Ida ihr Baby im Schrank. Nachdem<br />
Jakob notdürftig verarztet worden<br />
war, verließ die Familie Wien „Hals über<br />
Kopf“ und gelangte mit der Bahn nach<br />
Feldkirch. Bei Diepoldsau schwammen<br />
sie Ende November 1938 nach mehreren<br />
Fluchtversuchen mit dem kranken Baby<br />
bei eisiger Kälte über den Rhein in die<br />
Schweiz und wurden dort von Grenzbeamten<br />
aufgegriffen.<br />
„Meine Großmutter hat gesagt: ,Sie können<br />
mich erschießen, aber ich geh’ nicht<br />
© privat<br />
16 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 16 28.12.21 03:32
Späte Gerechtigkeit<br />
Jakob und Ida<br />
Kreutner mit<br />
ihrem Sohn Robert<br />
im Sommer 1939.<br />
andere Österreich soll auch eine Chance<br />
von mir bekommen. Meine Großeltern<br />
haben noch die Waldheim-Zeit erlebt,<br />
doch heute hat sich ein neues Geschichtsbewusstsein<br />
in Österreich entwickelt, zu<br />
dem ich auch stehen kann, sonst hätte<br />
ich es nicht gemacht. Ich habe das Gefühl,<br />
dass da ein Diskurs stattfindet, den<br />
ich unterstützenswürdig finde. Man darf,<br />
ohne die Vergangenheit zu vergessen, einen<br />
Blick in die Zukunft wagen. Man muss<br />
als selbstbewusster jüdischer Mensch leben,<br />
und dazu gehört auch, seine Rechte<br />
einzufordern.“<br />
© privat<br />
zurück.‘ Da hat der Grenzchef von Diepoldsau<br />
den Polizeihauptmann Paul Grüninger<br />
in St. Gallen angerufen, und der<br />
hat gesagt: ,Die kannst du reinlassen, wir<br />
finden eine Lösung.‘ Freilich war das illegal.<br />
Sie wurden sogar vom Polizeichef von<br />
Diepoldsau aufgenommen, kamen dann<br />
in ein Flüchtlingslager und irgendwie im<br />
Laufe der Vierzigerjahre nach Zürich.“<br />
Genau diese dramatische Rettungsaktion<br />
kommt im Film Die Akte Grüninger vor<br />
und ist auch im Jüdischen Museum von<br />
Hohenems dokumentiert. „Weil meine<br />
Großeltern sehr früh einen Dokumentarfilm<br />
über sich drehen ließen, sind sie<br />
zwei der ganz wenigen österreichischen<br />
Flüchtlinge, deren Geschichte bereits<br />
früh und gut aufgezeichnet wurde. Sie<br />
ist daher auch exemplarisch für jüdische<br />
Flüchtlinge, die in die Schweiz gekommen<br />
sind. Mein Vater und ich wurden<br />
auch im Schweizer Fernsehen als ,Grüningers<br />
Erben‘ porträtiert.<br />
Ich wurde am 30. November 1978 geboren,<br />
auf den Tag genau 40 Jahre nach<br />
der Rettung meiner Großeltern, die mein<br />
Großvater als Beginn seines zweiten Lebens<br />
bezeichnet hat.“<br />
Partielle Amnesie. Zunächst als Staatenlose<br />
geduldet, erhielt die Familie 1955 die<br />
Schweizer Staatsbürgerschaft. Davor habe<br />
„irgendwann einmal“ Österreich den<br />
Staatenlosen wieder die österreichische<br />
Staatsbürgerschaft angeboten, allerdings<br />
verknüpft mit Bedingungen, die Großeltern<br />
hätten das aber abgelehnt. Schriftliche<br />
Belege dafür gebe es aber keine.<br />
Immer wieder hat der Enkel versucht,<br />
Informationen und Geschichten zu erfahren.<br />
„Aber mein Großvater hatte eine<br />
„Meine Großeltern<br />
sind Ende November<br />
1938 mit dem kranken<br />
Baby bei eisiger<br />
Kälte über den<br />
Rhein in die Schweiz<br />
geschwommen.“<br />
Art partieller Amnesie, seine Erinnerungen<br />
haben am 9. November 1938 aufgehört,<br />
nur meine Großmutter hat bruchstückhaft<br />
Erinnerungen an seine Familie<br />
gehabt. Meines Wissens haben sie auch<br />
nie wieder Österreich besucht. Ich habe<br />
dann später als Historiker viel über die<br />
Familiengeschichte recherchiert. Erst<br />
im Nachlass meiner Großeltern haben<br />
wir Heimatscheine und Geburtsurkunden<br />
gefunden und dann erst verschollene<br />
Verwandte gesucht und gefunden und sogar<br />
ein Familientreffen organisiert.“<br />
Auch sein Vater, der heute 85 ist, habe<br />
mit der für ihn überwiegend belasteten<br />
Vergangenheit abgeschlossen und würde<br />
nie die österreichische Staatsbürgerschaft<br />
anfordern. Beim Sichten der nötigen Dokumente<br />
seien bei ihm wieder viele ungute<br />
Gefühle hochgekommen.<br />
„Ich habe keine direkte persönliche Erfahrungen,<br />
doch meine Großeltern und<br />
mein Vater wurden entrechtet und ausgebürgert,<br />
und ich will auch für meine<br />
Kinder dieses Recht in Anspruch nehmen.<br />
Ich erlebe heute ein anderes Österreich<br />
als noch vor 20 Jahren, und dieses<br />
Europäische Identität. Auslöser für diesen<br />
Schritt war für den Generalsekretär des<br />
Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds<br />
letztlich ein Gespräch mit seinem<br />
Kollegen Benjamin Nägele, dem Generalsekretär<br />
der IKG.<br />
„Er fragte mich, wie ich mich heute<br />
diesbezüglich fühle. Nun, ich lebe das<br />
Schweizer Judentum jeden Tag, habe mich<br />
aber immer auch als Europäer gefühlt<br />
und der europäisch-jüdischen Geschichte<br />
verbunden. Durch eine EU-Staatsbürgerschaft<br />
werde ich auch Teil dieses europäischen<br />
Zusammenhalts, das war für mich<br />
ebenso ein entscheidender Trigger. Es bedeutet<br />
für mich auch zurück zu den Wurzeln,<br />
weil alle meine Urgroßeltern eigentlich<br />
Europäer waren. Ich bin sehr eng mit<br />
dem Schweizer Judentum und Israel verbunden,<br />
Hebräisch ist meine Muttersprache,<br />
aber meine Kernidentität ist eine<br />
europäisch-jüdische – schon auf Grund<br />
meines Familienhintergrunds.“<br />
Dieser bringt es mit sich, dass er im Gegensatz<br />
zu seiner Frau, die über Generationen<br />
und Jahrhunderte Wurzeln in der<br />
Schweiz hat, eigentlich kein typischer<br />
Schweizer Jude ist.<br />
„Meine beiden Kinder, die heute vier<br />
Jahre und wenige Monate alt sind, haben<br />
durch ihre Mutter eine Verbindung zu<br />
diesem urschweizerischen Judentum und<br />
bekommen durch mich jetzt eine Verbindung<br />
zum europäischen Judentum, das<br />
unser aller Werte, Kultur und Geschichte<br />
über Generationen geprägt hat, das ist<br />
mir auch als Historiker wichtig.“<br />
Materielle Forderungen, etwa in Hinblick<br />
auf eine Restitution, habe er nicht.<br />
Und wie lange dieser nunmehr eingeleitete<br />
Prozess zur Staatsbürgerschaft noch<br />
dauern kann, ist Jonathan Kreutner „eigentlich<br />
wurscht, solange diese späte<br />
Form der Gerechtigkeit umgesetzt wird“.<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
dezeber.indb 17 28.12.21 03:32
Design aus dem 3D-Drucker<br />
„JUDE ZU SEIN, IST EIN TEIL VON MIR“<br />
Geboren wird Nicolas Gold 1985 in<br />
Argentiniens drittgrößter Metropole,<br />
Rosario. Die Urgroßeltern<br />
waren aus Polen in das Land gekommen,<br />
die Großeltern und Eltern werden bereits<br />
in Argentinien geboren. Nicolas besucht<br />
die jüdische Gemeinde seiner Heimatstadt<br />
und „träumt von der Alija“. Mit<br />
16 Jahren geht er, vorerst allein, nach Israel.<br />
Aufgrund der anhaltend schwierigen wirtschaftlichen<br />
Situation in Argentinien ziehen<br />
bald die Eltern und Geschwister nach<br />
und leben noch heute in Nahariya.<br />
„Homebase“ Wien. 2008 beginnt Nicolas<br />
Gold mit dem Architekturstudium an<br />
der Tel Aviv University. Am Tag studiert<br />
er, abends arbeitet er als Grafikdesigner.<br />
Nach dem Abschluss seines Bachelorstudiums<br />
will der junge Architekt jedoch noch<br />
weiterlernen. „Also habe ich lange gesucht,<br />
wo auf der Welt ich mit meinem Interesse<br />
noch weiterstudieren kann, und kam auf<br />
den Masterstudiengang der Universität für<br />
angewandte Kunst in Wien bei Zaha Hadid.<br />
Da ich schon in Israel ein großer Bewunderer<br />
ihrer Arbeit war, habe ich hier dann von<br />
2014 bis 2017 den Master gemacht.“<br />
In Israel, wo Nicolas Gold 12 Jahre lang<br />
lebte, kam er nie wirklich an. „Es ist ein<br />
verrücktes Land, chaotisch, stressig.“ Dass<br />
Wien das absolute Gegenprogramm sein<br />
würde, war in den ersten Monaten auch<br />
nicht einfach. Die Stadt war für den jungen<br />
Designer, in dem bis heute das israelische<br />
Kreativfeuer brennt, „am Anfang<br />
viel zu langsam, und ich habe zum Beispiel<br />
nicht verstanden, dass ich abends<br />
nicht mehr einkaufen gehen kann. Aber<br />
wenn man den Rhythmus einmal kennt,<br />
lebt man gerne hier“, lacht Gold, der sich<br />
rasch in Wien verliebt, das für ihn heute<br />
die feste „Homebase“ ist, von der aus er seit<br />
einigen Jahren mit seinem Label „Sheyn.“<br />
mit großem Erfolg und in beachtlicher Geschwindigkeit<br />
expandiert.<br />
Nicolas Gold lebt seit sieben<br />
Jahren in Wien. Vor fünf<br />
Jahren hat er mit seinem Partner<br />
Markus Schaffer das Label<br />
„Sheyn.“ gegründet, seit<br />
einem knappen Jahr führen<br />
die beiden ihren eigenen Studio-Store<br />
in der Lerchenfelder<br />
Straße. Dass Gold in Wien gelandet<br />
ist, hat der in Argentinien<br />
geborene Architekt und<br />
Designer dem Studium zu verdanken.<br />
Dass daraus ein Erfolgskonzept<br />
mit spannender<br />
Zukunft entstehen würde, hat<br />
sich dann fast wie von selbst<br />
ergeben. Im Gespräch mit<br />
WINA hat Nicolas Gold über<br />
seinen Weg nach Wien erzählt<br />
und warum die Arbeit am 3D-<br />
Drucker nicht nur spannend,<br />
sondern auch ökologisch<br />
nachhaltig ist.<br />
Von Angela Heide<br />
„Für mich ist diese<br />
Mischung aus<br />
architektonischem<br />
Denken und Design<br />
ideal.“<br />
Nicolas Gold<br />
Perfekte Partnerschaft. Während des Studiums<br />
lernt Nicolas Gold den aus Graz kommenden<br />
Wirtschaftsinformatiker und IT-<br />
Consultant Markus Schaffer kennen. 2016<br />
lädt Gold seinen Freund ein, gemeinsam<br />
den Schritt in Richtung Selbstständigkeit<br />
zu machen. Die beiden gründen in diesem<br />
Jahr Sheyn<br />
– ein innovatives<br />
Designstudio,<br />
das sich zuerst<br />
auf Schmuck<br />
und bald schon<br />
auf Homeware<br />
aus dem 3D-Drucker<br />
spezialisiert.<br />
„Markus und ich wollten einen Namen finden,<br />
der in unseren beiden Sprachen funktioniert<br />
– und sheyn bedeutet sowohl im österreichischen<br />
Dialekt wie im Jiddischen<br />
,schön‘, das hat also perfekt gepasst.“<br />
In den ersten Jahren arbeiten beide auch<br />
noch in anderen Jobs, doch Sheyn wächst<br />
derart rasch, dass sich zuerst Nicolas und<br />
seit <strong>2021</strong> auch Markus vollzeitlich dem gemeinsamen<br />
Betrieb widmen.<br />
Design aus dem Drucker. Die ersten Objekte,<br />
die Nicolas Gold für den 3D-Drucker<br />
entwirft, sind Schmuckstücke, die bis heute<br />
vorwiegend in den Niederlanden produziert<br />
werden. Als er dann die Idee hat, einen<br />
eigenen kleinen 3D-Drucker zu kaufen, mit<br />
dem man selbst die Präsentationsobjekte<br />
herstellen kann, in denen der Schmuck auf<br />
Märkten und bei Händler:innen präsentiert<br />
werden soll, wissen die beiden Gründer<br />
noch nicht, dass sich mit dem Kauf ein<br />
ganz neuer kreativer Weg eröffnen wird.<br />
Die Maschine kann nämlich wesentlich<br />
mehr als erwartet, Markus Schaffer stellt<br />
sich neben seinem kaufmännischen auch<br />
als technisches Talent heraus – und statt<br />
einfach nur Präsentationsobjekte zu kreieren,<br />
beginnt Gold, Vasen für den Drucker<br />
zu designen. Die kommen derart gut<br />
bei den Kund:innen an, dass die beiden<br />
Gründer fast gänzlich auf die Produktion<br />
von Homeware umstellen. Heute bieten<br />
Nicolas Gold und Markus Schaffer mit<br />
Sheyn die Möglichkeit, aus elf Farben Vasen<br />
in unterschiedlichen Formen und<br />
Mustern in Auftrag zu geben:<br />
„Es gibt mehrere Texturen, also Oberflächenmuster,<br />
die ich alle digital entwerfe<br />
und die alle einen eigenen Namen<br />
haben. In Kombination mit der Form, die<br />
ich ebenfalls entwickle, ergibt sich etwa<br />
auch, wie groß eine Vase wird. Und zu jeder<br />
Textur gibt es eine ,Designfamilie‘ von<br />
verschiedenen Objekten.“<br />
© Berenice Pahl/Lebendige Lerchenfelder Straße; Sheyn.<br />
18 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 18 28.12.21 03:32
Israelisch-wienerische Symbiose<br />
© Berenice Pahl/Lebendige Lerchenfelder Straße; Sheyn.<br />
Eigenes Studio, eigener Store. 2020 folgt der<br />
nächste Schritt: Im November des Jahres<br />
eröffnen Gold und Schaffer ihren ersten eigenen<br />
Shop am Beginn der Lerchenfelder<br />
Straße, wo man sie fast täglich und stundenlang<br />
arbeiten sieht: die 19 3D-Drucker,<br />
die im ganzen Showroom verteilt<br />
die Wünsche der Käufer:innen erfüllen.<br />
Gearbeitet wird dabei mit den biologischen<br />
Kunststofffasern PLA, die in Fäden<br />
auf Spulen geliefert werden und sichtbar<br />
im hinteren Bereich des jungen Neubauer<br />
Designladens lagern.<br />
Da neben den ausgestellten Produkten<br />
fast jedes auch auf Wunsch produziert<br />
Sheyn in Wien:<br />
Ausblick ins<br />
Lerchenfeld;<br />
Nicolas Gold beim<br />
Begutachten einer<br />
seiner Vasen; einer<br />
von 19 3D-Druckern<br />
bei der Arbeit; das<br />
junge österreichisch-israelischargentinische<br />
Gründerduo im eigenen<br />
Studio-Store<br />
in der Lerchenfelder<br />
Straße.<br />
SHEYN.<br />
Studio & Shop<br />
Lerchenfelder<br />
Straße 7, 1070 Wien<br />
sheyn.at<br />
GOTTFRIED<br />
& SÖHNE<br />
Jewish Museum Shop<br />
Dorotheergasse 11,<br />
1010 Wien<br />
gottfriedundsoehne.com<br />
werden kann, ist der ökologische Fußabdruck<br />
des Unternehmens so minimal wie<br />
möglich: Es gibt weder lange Transportwege<br />
noch große Lager oder Überproduktion.<br />
„Dass wir kein Lager brauchen,<br />
empfinde ich als wesentlichen Vorteil“,<br />
erzählt Nicolas Gold. „Wir drucken nur,<br />
was die Menschen bestellen.“<br />
Eine Vase von Sheyn braucht dabei<br />
je nach Muster und Design beeindruckende<br />
drei bis neun Stunden. Und wem<br />
das dann doch mal zu langsam geht, der<br />
findet im Lerchenfelder Store mit Sicherheit<br />
auch ganz spontan Schönes fürs Eigenheim<br />
oder zum Verschenken.<br />
Alles bei Sheyn ist klug durchdacht.<br />
Auch die Partnerschaften, die Gold und<br />
Schaffer bald schon aufzubauen beginnen.<br />
Die längste und bis heute intensivste<br />
ist mit dem im Jüdischen Museum beheimateten<br />
Designstore Gottfried & Söhne.<br />
Gold erzählt: „Das Konzept von Elisabeth<br />
M. Gottfried, Produkte von israelischen beziehungsweise<br />
jüdischen Designer:innen<br />
zu verkaufen, hat perfekt zu dem gepasst,<br />
was wir tun. Wir verkaufen dort seit der<br />
Eröffnung und bis heute und sind sehr<br />
dankbar, dass sie uns von Beginn an in ihr<br />
Sortiment aufgenommen hat.“<br />
Und so kann es auch schon mal passieren,<br />
dass eine Kundin vorbeischaut, weil<br />
sie ein Stück im Jüdischen Museum entdeckt<br />
hat, das sie gerne in einer anderen<br />
Farbe hätte. Und es gibt sogar „Kunden,<br />
die immer wieder kommen und eine bestimmte<br />
Vase in verschiedenen Farben<br />
kaufen. Das Konzept, eine Vase nur für<br />
jemanden zu produzieren, der sie wirklich<br />
haben will, ist eines, das auch bei unseren<br />
Käufern sehr gut ankommt.“<br />
Mitten im Lockdown des letzten November<br />
ein Geschäft zu eröffnen, war ein<br />
mutiger Schritt. Bis jetzt ist alles mehr als<br />
gut gegangen. Im multifunktionalen kleinen<br />
Wiener Studio-Shop wird gemeinsam<br />
kreiert, geplant, konzipiert, entworfen,<br />
programmiert, produziert, verkauft<br />
und expandiert. Es ist schön, freut sich<br />
Gold, den in den letzten Jahren aufgebauten<br />
und stetig wachsenden Stock an<br />
Kund:innen nun auch persönlich im eigenen<br />
Geschäft empfangen und beraten zu<br />
können. „Sie können bestellen und dann<br />
vorbeikommen, um das nur für sie hergestellte<br />
Objekt abzuholen. Es existiert nur<br />
für sie.“<br />
Auch wenn es zu Beginn schwer war,<br />
sich an die Wiener Langsamkeit zu gewöhnen<br />
und in der jüdischen Community<br />
dieser Stadt seinen Platz zu finden:<br />
Nicolas Gold ist heute in Wien angekommen<br />
und hat ein großes und vielfältiges<br />
Netzwerk aufgebaut, zu dem unter anderen<br />
auch der Kibbutz Klub zählt, „wo<br />
israelische und jüdische Musik gespielt<br />
wird und wo ich Menschen kennenlerne,<br />
die eine ähnliche Art von Verbindung mit<br />
dem Judentum haben wie ich.“<br />
Für die nahe Zukunft heißt es also für<br />
Nicolas Gold und seinen Partner Markus<br />
Schaffer: „Wir wollen neue Produkte entwickeln<br />
und neue Märkte entdecken.“<br />
Und das von der traditionellen Wiener<br />
Lerchenfelder Straße aus.<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
dezeber.indb 19 28.12.21 03:32
Jüdisches Slowenien<br />
Eine Synagoge<br />
für Ljubljana<br />
„In Slowenien<br />
sind Schächten<br />
und Brit<br />
Mila untersagt,<br />
daher<br />
können wir als<br />
Möglichkeit<br />
diese traditionellen<br />
Riten<br />
in Graz oder<br />
Triest anbieten.“<br />
Elie Rosen<br />
Dank der Initiative des Präsidenten<br />
der Jüdischen Gemeinde Graz, Elie<br />
Rosen, wurde in der Hauptstadt<br />
Sloweniens eine Synagoge eröffnet,<br />
um auch in Zukunft aktives jüdisches<br />
Leben zu ermöglichen.<br />
Von Viola Heilman<br />
schen für das jüdische historische Erbe<br />
Sloweniens. Vor allem israelische Touristen<br />
besuchen Slowenien<br />
auf den Spuren jüdischen<br />
Lebens.<br />
Rabbi Ariel Haddad<br />
wurde 1993 Rabbiner in<br />
Triest und besuchte seit<br />
dem Jahr 2000 regelmäßig<br />
auch die kleine Gemeinde<br />
in Ljubljana. Einmal, als er<br />
vor Pessach zur örtlichen<br />
Gemeinde kam, wurde er<br />
eingeladen, den vielleicht<br />
ersten Seder in Slowenien<br />
seit dem Krieg zu halten.<br />
„Sowohl in Triest wie<br />
auch in Ljubljana leidet<br />
die Gemeindearbeit unter<br />
denselben Problemen:<br />
die Überalterung der Mitglieder<br />
und das Desinteresse<br />
junger Juden. Obwohl<br />
Triest seit über 500 Jahren eine jüdische<br />
Gemeinde hat, wird es immer schwerer,<br />
die Mitglieder zu jüdischem Gemeindeleben<br />
zu motivieren.“ Der große Wunsch<br />
der kleinen jüdischen Gemeinde in Slowenien,<br />
jüdische Kultur wieder aufleben<br />
zu lassen, hat bewirkt, dass der in Rom geborene<br />
Rabbi Haddad 2003 Rabbiner von<br />
Slowenien wurde. Auf den ersten Blick ist<br />
Rabbi Haddad eine seltsam widersprüch-<br />
Schon im 5. Jahrhundert n.u.Z.<br />
gab es in Slowenien jüdische<br />
Siedlungen, die hauptsächlich<br />
in und um Maribor lagen.<br />
Die erste Synagoge in Ljubljana<br />
wird 1213 erwähnt, als es Juden erlaubt<br />
wurde, das linke Ufer des Flusses Ljubljanica<br />
zu besiedeln. Noch heute erinnern<br />
Straßennamen aus dieser Zeit. Der slowenische<br />
Name Ljubljana wird als „geliebte<br />
Stadt“ übersetzt, obwohl es auch<br />
die weniger romantische Erklärung gibt,<br />
wonach die Stadt nach dem lateinischen<br />
Flussnamen Aluviana benannt wurde. Im<br />
deutschsprachigen Raum blieb auch der<br />
historische deutsche Name<br />
Laibach aus dem 12. Jahrhundert<br />
erhalten.<br />
Obwohl in Slowenien<br />
nie mehr als 1.000 Juden<br />
lebten, unterscheidet sich<br />
ihre Geschichte über die<br />
Jahrhunderte nicht von<br />
der, die Juden in ganz Europa<br />
erleben mussten. Antisemitismus,<br />
Vertreibung<br />
und Tötung zeichnen das<br />
traurige Bild auch dieser<br />
jüdischen Gemeinde. Ab<br />
1945 gab es immer wieder<br />
Versuche, jüdisches Leben<br />
in Slowenien auszubauen,<br />
es scheiterte aber immer<br />
wieder am Geldmangel.<br />
Diese zarten Versuche einer<br />
Wiederbelebung jüdischen<br />
Lebens wurden brutal durch den<br />
Bürgerkrieg 1991 vernichtet. Jüdische Sehenswürdigkeiten,<br />
Synagogen und Gedenkstätten<br />
wurden zerstört, jüdische<br />
Menschen flüchteten nach Italien.<br />
Trotz des schmerzvollen Rückschlags<br />
errichteten slowenischen Juden 1991 ein<br />
winziges jüdisches Gemeindezentrum in<br />
einem Tabakgebäude in Ljubljana. Seitdem<br />
interessieren sich immer mehr Menliche<br />
Ergänzung slowenisch-jüdischer<br />
Kultur. Juden von Ljubljana sind mehrheitlich<br />
säkular, ihre Verbindung zur<br />
strengen Orthodoxie ist seit Langem nicht<br />
mehr vorhanden. „In Slowenien hat die<br />
politische Geschichte viel verhindert“, erklärt<br />
der Rabbiner. Ariel Haddad ist ein<br />
Chabadnik, ein Absolvent einer New Yorker<br />
Jeschiwa mit schwarzem Hut und einem<br />
langen, struppigen Bart, den er beim<br />
Denken streichelt. Er wohnt mit seiner<br />
Frau, sieben Söhnen und einer Tochter<br />
in Triest, ist Mitglied der Lubawitscher<br />
chassidischen Schule und glaubt fest daran,<br />
dass „mit einer Thoraschule jede jüdische<br />
Gemeinde blühen kann“. Haddad<br />
ist es wichtig, jüdische Tradition und Religion<br />
für alle zugänglich zu machen. „Eine<br />
g-ttliche Fügung hat mich mit Präsident<br />
Elie Rosen zusammengebracht“, erklärt<br />
der 54-jährige Rabbiner.<br />
© wikimedia; Eli Rosen<br />
20 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 20 28.12.21 03:32
Internationaler Verband<br />
Rabbi Ariel Haddad,<br />
Präsident Elie Rosen sowie<br />
internationale Vertreter aus<br />
Politik, Religion und Gesellschaft<br />
kamen zur Eröffnung der neuen<br />
Synagoge des Verbandes der<br />
jüdischen Gemeinden von Graz<br />
und Laibach.<br />
© wikimedia; Eli Rosen<br />
Die Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinden<br />
Ljubljana und Graz kann auf<br />
eine fast zwei Jahrhunderte alte Vergangenheit<br />
blicken. Die historischen Wurzeln<br />
gehen bis in das Jahr 1880 zurück, und bis<br />
heute verwahrt die Grazer Gemeinde alle<br />
wichtigen Dokumente für die Gemeinden<br />
in Slowenien. Auch die Standesregister<br />
der Juden Ljubljanas werden bis heute im<br />
Archiv der Jüdischen Gemeinde Graz aufbewahrt.<br />
„Als ich vor einem Jahr feststellen<br />
musste, dass das kleine Büro der jüdischen<br />
Gemeinde in Ljubljana nicht mehr<br />
existierte, wollte ich diesen Zustand nicht<br />
auf sich beruhen lassen, und so planten<br />
wir gemeinsam mit Rabbiner Haddad den<br />
Neubau der jetzt eröffneten Synagoge.“<br />
Im August <strong>2021</strong> wurde auf Initiative von<br />
Elie Rosen der Verband der jüdischen Gemeinden<br />
Graz und Ljubljana begründet.<br />
„Diese grenzüberschreitende Koopera-<br />
tion ist einzigartig für Europa und bietet<br />
beiden Gemeinden und ihren Mitgliedern<br />
die Möglichkeit der Erhaltung und Entfaltung<br />
jüdischer Werte sowie der Entwicklung<br />
jüdischen religiösen Lebens und der<br />
Bekämpfung des Antisemitismus“, erläutert<br />
Präsident Rosen den neuen Zusammenschluss.<br />
Am 9. November <strong>2021</strong> wurde mit einem<br />
Festakt die Synagoge des Verbandes der Jüdischen<br />
Gemeinden von Graz und Laibach<br />
eröffnet. Das 220 Quadratmeter große<br />
Bethaus liegt in einem Wohnhaus im Zentrum<br />
der slowenischen Hauptstadt. Präsident<br />
Elie Rosen und die Jüdische Gemeinde<br />
Graz werden die Administration<br />
der Jüdischen Gemeinde Sloweniens weiterhin<br />
mitbetreuen. „In Slowenien sind<br />
Schächten und Brit Mila untersagt, daher<br />
können wir als Möglichkeit diese traditionellen<br />
Riten in Graz oder Triest anbieten.“<br />
Rabbi Ariel Haddad bewundert die<br />
Initiative von Präsident Elie Rosen, dieses<br />
Thema auch bei der slowenischen Regierung<br />
bereits zur Sprache gebracht zu<br />
haben. „Slowenien ist das einzige Land in<br />
Europa, dass diese jüdischen Traditionen<br />
verbietet“, erklärt Elie Rosen.<br />
Erst durch die einzigartige Gründung<br />
des offiziellen Verbandes zwischen den<br />
beiden Gemeinden im Jahr <strong>2021</strong> war eine<br />
Durchführung des Synagogenbaus möglich.<br />
„Wir mussten nicht sehr viel renovieren<br />
und haben mit österreichischen<br />
Firmen in wenigen Monaten das Bethaus<br />
fertig gestellt.“ Anlässlich der Eröffnung<br />
hob Moshe Kantor, Präsident des European<br />
Jewish Congress, in seiner Rede die<br />
wertvolle Arbeit und den Einsatz beider<br />
Gemeinden hervor, die jüdisches Leben in<br />
Slowenien weiterbeleben werden.<br />
Das Datum für die Eröffnung am 9. November,<br />
dem Gedenktag der Novemberpogrome,<br />
wurde bewusst gewählt. Zur feierlichen<br />
Zeremonie kamen der slowenische<br />
Staatspräsident, Borut Pahor, der Erzbischof<br />
der katholischen Kirche, Stane Zore,<br />
der Mufti von Slowenien, Nevzet Pori ,<br />
und zahlreiche weitere hochrangige internationale<br />
Vertreter:innen aus Politik,<br />
Religion und Gesellschaft, darunter auch<br />
die österreichische Botschafterin Elisabeth<br />
Ellision-Kramer.<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
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Bei WINA denke ich an ein sehr gut gemachtes Journal, das<br />
Informatives gut lesbar und scheinbar leichtfüßig präsentiert.<br />
Wie schon oben geschrieben, gefällt mir vor allem die Art der<br />
Präsentation, wie zum Beispiel die Ausgewogenheit von Bild<br />
und Text. Tipp an einen Freund, eine Freundin: Wenn du eine<br />
gut gemachte Zeitung lesen möchtest, schau dir mal WINA<br />
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Stefan Fleischhacker, Sänger, Theater L.E.O.<br />
Es gibt viele Arten,<br />
jüdisch zu sein –<br />
WINA bildet diese<br />
Vielfalt jüdischen<br />
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Weise ab. Auch die<br />
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beeindruckt mich<br />
immer wieder. Sie<br />
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der Beitrag über<br />
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Bürgermeister von<br />
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Entwicklungen in<br />
Israel bis hin zu<br />
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Ausstellungen wie<br />
z. B. im Museum<br />
der verlorenen<br />
Generation in Salzburg.<br />
Und Paprikasch<br />
ist immer ein<br />
Genuss! Ich freue<br />
mich auf viele weitere<br />
Ausgaben.<br />
Dr. Dwora Stein<br />
Aufsichtsratsvorsitzende<br />
des Jüdischen<br />
Museums Wien<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
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Medium, das unterschiedlichste<br />
Themen aus jüdischer Perspektive<br />
auf bemerkenswerte Art und Weise<br />
behandelt, ob Kulturelles, Religiöses<br />
oder auch Kontroversielles, immer<br />
bestens recherchiert, differenziert,<br />
mit Substanz und Tiefgang.<br />
WINA ist ein Magazin, das vor allem<br />
in dieser Qualität im deutschsprachigen<br />
Raum gefehlt hat.<br />
Masel tov dem gesamten WINA-<br />
Team, das seit zehn Jahren Monat<br />
für Monat so tolle Arbeit leistet.<br />
Oskar Deutsch, Präsident der IKG Wien<br />
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STOLZ & DEMÜTIG<br />
Während des Jahres vertritt<br />
TOMMY GROSS seine Klienten<br />
vor Gericht, zu den Hohen Feiertagen<br />
Betende vor dem Höchsten Gericht<br />
Kritisch, jüdisch, klangvoll –<br />
mit Jedermanns Juden,<br />
Bariton BENJAMIN BERNHEIM<br />
und Regisseur JOSSI WIELER<br />
SIE KAMEN,<br />
UM ZU TÖTEN<br />
40 Jahre nach dem Attentat<br />
beim Wiener Stadt tempel am<br />
29. August 1981 erinnern sich<br />
Helden und Überlebende<br />
zurück<br />
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Über die radikale Szene in<br />
Österreich und Auswege aus ihr<br />
spricht Islamismus forscher und<br />
Deradikalisierungs experte MOUSSA<br />
AL-HASSAN DIAW im Interview<br />
NICHT SCHWEIGEN,<br />
wenn Unrecht geschieht! EVA<br />
GEBER erhält den Theodor-Kramer-<br />
Preis und spricht über Frauenrechte,<br />
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WINA – die Zierde<br />
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Schulamit Meixner,<br />
Schriftstellerin<br />
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22 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
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Elul 5781 / Tischrei 5782<br />
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WINA ist immer ein korrektes Spiegelbild<br />
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Judentums, immer voll mit neuen<br />
Informationen und Anregungen.<br />
Nur so weiter! Herzlich,<br />
Prof. Paul Lendvai, Publizist<br />
DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
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Ein Blick in das Regierungsprogramm von Antisemitismus<br />
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Der Verein erinnern.at und die AG „Frauen im Exil“ Vergessen<br />
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Erinnerungen und lassen die NS-Verbrechen nicht vergessen<br />
• Radikalisierung<br />
Jugendanwalt Ercan Nik Nafs’ Arbeit für eine wirksame Integration<br />
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und immer noch kein bisschen leise. Danke an unsere Leserinnen<br />
und Leser für die Treue, für die herzerwärmenden Glückwünsche<br />
und für die große Portion Motivation, um die nächsten zehn Jahre<br />
weiterzumachen.<br />
9 120001 135738<br />
DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
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Bini Guttmann – IST PRÄSIDENT<br />
der European Union of Jewish Students und spricht<br />
über die Situation junger Juden in Europa.<br />
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für jüdische Angelegenheiten in der IKG Wien und erzählt<br />
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und fühlt sich stets als Mittelsmann. Nun debütierte der Israeli mit<br />
Vögel von Wajdi Mouawad in vier Sprachen am Akademietheater.<br />
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RAKETEN, SOCIAL<br />
MEDIA UND<br />
APFELSTRUDEL<br />
Israel unter Beschuss:<br />
Berichte und Analysen<br />
NORMALES LEBEN<br />
NACH DER IMPFUNG<br />
Pfizer: Ein jüdischer und ein<br />
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ISRAELS<br />
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Ein eigenes Museum rückt Heldinnen<br />
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Eine orthodoxe Familie erobert die<br />
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GRAUEN NEU<br />
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Vorbei die Opferthese –<br />
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Auschwitz-Birkenau<br />
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VERLORENE &<br />
VERGESSENE GENERATION<br />
Kunstwerke vertriebener und ermordeter<br />
jüdischer Künstler:innen in Salzburg<br />
WIE WEIBLICH IST<br />
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Über G’ttes weibliche Seite spricht<br />
Kuratorin FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />
FREUD UND EIN<br />
AMERIKANER IN WIEN<br />
Autor ANDREW NAGORSKI über<br />
Sigmund Freuds Flucht nach England<br />
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EINSAMKEITEN<br />
Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie –<br />
Gespräch mit SUSANNE F. WOLF<br />
WINA ist für mich die gut gemachte,<br />
regelmäßige Erinnerung daran, dass<br />
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Judentum konstitutiv für ein<br />
weltoffenes Wien ist. Ich freue mich<br />
immer darauf und lese es gern.<br />
Liebe Grüße,<br />
Dr. Andreas Mailath-Pokorny, Rektor der<br />
Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien<br />
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GEBER erhält den Theodor-Kramer-<br />
Preis und spricht über Frauenrechte,<br />
Klimakrise und Flüchtlingsarbeit<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
Bleiben<br />
wir zu<br />
Hause.<br />
Achten wir aufeinander!<br />
„Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst<br />
entsteht eine innere Kraft. Die Welt ‚endet‘,<br />
aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind,<br />
entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.“<br />
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher<br />
wına-magazin.at<br />
23<br />
dezeber.indb 23 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
Daniela<br />
Schuster<br />
Schmökern<br />
und Schlemmen<br />
Die jüdische Küche trägt – wie kaum<br />
eine andere – die Geschichte ihres<br />
Volkes in sich. Und so ist auch dieses Jubiläumsmenü<br />
mehr als eine Zusammenstellung<br />
von schön verpackten Kalorien,<br />
um die Familie an einer festlich gedeckten<br />
Tafel zu verwöhnen. Unsere vier Gänge<br />
versammeln all das auf den Tellern, was<br />
seit der Gründung vor zehn Jahre die Zutaten<br />
für das Erfolgsrezept von WINA sind<br />
und nach dem die Redaktion jede Ausgabe<br />
geschmack- und liebevoll für Sie „zubereitet“:<br />
Wien als Ausgangspunkt und Anker,<br />
Inspirationen für das Leben einer vielfältigen,<br />
jüdisch-urbanen Kultur,<br />
Nachhaltigkeit im (Re)Agieren, auch wenn<br />
es nicht immer bequem ist, und der<br />
Anspruch, auch einmal über den Tellerrand<br />
hinauszuschauen.<br />
24 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
VORSPEISE<br />
Tafelspitzsalat<br />
mit grünem Apfel<br />
Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />
Für den Tafelspitz:<br />
800 g Tafelspitz vom heimischen<br />
Biorind<br />
2 Lorbeerblätter<br />
10 schwarze Pfefferkörner<br />
5 Wacholderbeeren<br />
1 Bund Suppengemüse<br />
Salz<br />
Für den Salat:<br />
1 großer grüner Apfel<br />
2 mittelgroße rote Zwiebeln<br />
Saft einer halben Zitrone<br />
40 g Kürbiskerne<br />
1 Bund Schnittlauch<br />
Für die Vinaigrette:<br />
6 EL koscherer Aceto-Balsamico (bestellbar:<br />
balsamico.shop/de/koscher-balsamico)<br />
Salz, Pfeffer<br />
5 EL Kürbiskernöl<br />
Wir<br />
wünschen Ihnen<br />
viel Vergnügen beim Nachlesen<br />
der Highlights aus zehn Jahren<br />
WINA und natürlich beim Nachkochen!<br />
Auch die Redaktion wird das Menü zum<br />
Jubiläum von WINA, genießen – aufgrund der<br />
Covid-19-Bestimmungen zwar nicht zusammen,<br />
aber doch gemeinsam im Geiste.<br />
Wir würden uns freuen, wenn auch Sie beim<br />
Genuss von Tafelspitzsalat und Co. im Herzen<br />
bei unserem Festmahl dabei sind und mit<br />
uns feiern!<br />
Zubereitung<br />
1. Für den Tafelspitz in einem großen Topf<br />
drei Liter mit den Gewürzen aufkochen.<br />
Fleisch in das kochende Wasser einlegen<br />
und ca. 1,5 Stunden bei schwacher Hitze<br />
köcheln lassen. Von Zeit zu Zeit den entstehenden<br />
Schaum vom Sud abschöpfen.<br />
2. Suppengemüse putzen, waschen und<br />
ggf. schälen, klein schneiden und zum<br />
Sud geben. Nach einer weiteren Stunde<br />
Köcheln das gare Fleisch herausnehmen.<br />
Nach dem Abkühlen in hauchdünne<br />
Scheiben schneiden. Die Brühe in ein Einmachglas<br />
füllen und im Kühlschrank aufbewahren,<br />
sie ergibt eine schöne Suppengrundlage<br />
für die nächsten Tage.<br />
3. Für die Vinaigrette den Balsamico-Essig<br />
mit Salz und Pfeffer verrühren. Kürbiskernöl<br />
nach und nach unterschlagen.<br />
4. Die Tafelspitzscheiben mit der Kürbiskernöl-Vinaigrette<br />
vermengen und mindestens<br />
30 Minuten marinieren.<br />
5. In der Zwischenzeit die Zwiebeln schälen<br />
und in sehr dünne Ringe schneiden.<br />
Den Apfel waschen, entkernen und feinblättrig<br />
aufschneiden. Damit die<br />
Apfelblätter nicht braun werden,<br />
sofort mit dem Zitronensaft beträufeln.<br />
6. Die Zwiebel, Apfelstreifen und<br />
das marinierte Fleisch mischen.<br />
7. Die Kürbiskerne in einer<br />
Pfanne ohne Fett rösten. Nach<br />
dem Abkühlen grob hacken. Den<br />
Schnittlauch waschen, mit Küchenkrepp<br />
trocken tupfen und<br />
in feine Röllchen scheiden.<br />
8. Den Tafelspitzsalat vor dem<br />
Servieren noch mit Salz, Pfeffer<br />
und ggf. zusätzlichem Aceto abschmecken<br />
sowie mit den Kürbiskernen<br />
und dem Schnittlauch<br />
bestreuen.<br />
dezeber.indb 24 28.12.21 03:32
10 Jahre, 4 Gänge, 1 Jubiläumsmenü:<br />
Im <strong>Dezember</strong> kommt WINA gleich doppelt auf<br />
Ihren Tisch – als Feierausgabe und als Festtagsmahl.<br />
ZWISCHENGANG<br />
Rote-Rüben-Suppe<br />
mit Kokos<br />
Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />
900 g rote Rüben (rote Bete)<br />
3 mittelgroße reife Birnen<br />
1 große rote Zwiebel<br />
50 g Ingwer<br />
150 g Knollensellerie<br />
3 EL Olivenöl<br />
600 ml Gemüsebrühe<br />
600 ml ungesüßte Kokosmilch<br />
60 g Kokosraspeln<br />
2 TL gemahlener Zimt<br />
Salz, Pfeffer<br />
Zubereitung<br />
1. Die Roten Rüben und die Birnen waschen<br />
und in kleine Würfel schneiden. Tipp: Einmalhandschuhe<br />
schützen die Hände vor<br />
dem stark färbenden Saft der Bete. Die<br />
Hälfte der Birnenwürfel für das spätere Topping<br />
der Suppe zur Seite stellen.<br />
2. Zwiebel, Sellerie und Ingwer schälen und<br />
fein würfeln.<br />
3. Olivenöl in einem Topf erhitzen. Zwiebelund<br />
Ingwerwürfel darin bei mittlerer Hitze<br />
3 bis 4 Minuten dünsten.<br />
4. Rote Rüben, Sellerie und die eine Hälfte<br />
der Birnen zur Zwiebel-Ingwer-Mischung<br />
geben. Kurz dünsten, dann mit der Gemüsebrühe<br />
ablöschen.<br />
5. Die Suppe 30 Minuten bei mittlerer Hitze<br />
köcheln lassen.<br />
6. In der Zwischenzeit Kokosraspeln in einer<br />
Pfanne ohne Öl bei mittlerer Hitze unter<br />
Rühren anrösten, bis sie goldbraun sind. Aus<br />
der Pfanne nehmen und abkühlen lassen.<br />
7. Nach Ablauf der Kochzeit die Suppe fein<br />
pürieren, anschließend die Kokosmilch<br />
unterrühren. Mit Salz, Pfeffer und Zimt abschmecken.<br />
8. Die Suppe auf Schälchen verteilen und<br />
mit dem Rest der Birnenwürfeln und den<br />
Kokosraspeln bestreut servieren.<br />
HAUPTSPEISE<br />
Portwein-Rippchen<br />
mit Chicorée und Feigen<br />
Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />
1,2 kg Rippchen vom heimischen Biorind<br />
3 große Feigen<br />
3 Chicorée<br />
900 ml koscherer Portwein<br />
1,5 TL zerstoßener Pfeffer<br />
2 TL Rapsöl<br />
2 EL gehackte Mandeln<br />
Salz, Zucker<br />
Zubereitung<br />
1. Das Backrohr auf 180 °C (Ober- und Unterhitze)<br />
vorheizen.<br />
2. Die Rippchen für zwei Stunden im Rohr<br />
schmoren lassen. Danach herausnehmen<br />
und etwas abkühlen lassen. Das Fleisch vom<br />
Knochen lösen und in zirka drei Zentimeter<br />
große Würfel schneiden.<br />
3. Die Feigen und den Chicorée waschen,<br />
trocken tupfen und vierteln.<br />
4. Den Portwein gemeinsam mit dem zerstoßenen<br />
Pfeffer in einen Topf geben. Bei mittlerer<br />
Hitze so weit reduzieren lassen, bis der<br />
Portwein Sirupkonsistenz hat.<br />
5. In einer Pfanne etwas Öl erhitzen. Zunächst<br />
die Mandel daran anrösten und wieder<br />
herausnehmen. Ggf. etwas Öl nachgießen,<br />
dann den Chicorée hinzugeben, leicht<br />
salzen und zuckern. Solange schmoren, bis<br />
der Chicorée von allen Seiten karamellisiert<br />
ist.<br />
6. Braten Sie die Fleischwürfel nochmal<br />
scharf an, bis sie schön braun sind.<br />
7. Zum Servieren das Fleisch mit Chicorée,<br />
Feigen und den gerösteten Mandeln anrichten<br />
und mit der Portwein-Reduktion übergießen.<br />
8. Tipp: Für sehr hungrige Gäste passt dazu<br />
ein Erdäpfel-Sellerie-Püree. Dafür die Milch<br />
und Butter durch vegane Alternativen ersetzen.<br />
DESSERT<br />
Birnen-Gin-Sorbet mit<br />
Ingwerstreuseln und<br />
Sabayon<br />
Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />
Für das Sorbet:<br />
1 kg Birnen (Sorte Abate)<br />
60 g Zucker<br />
2 El Zitronensaft<br />
3 EL Crème fraîche (vegan, z. B. Creme vega)<br />
6 cl Gin<br />
1 Prise Salz<br />
Für die Ingwerstreusel:<br />
1 EL frisch geriebener Ingwer<br />
50 g Butter (vegan, z. B. Mandelbutter)<br />
100 g Mehl<br />
1 EL Zucker, 1 Prise Salz<br />
Für das Sabayon:<br />
4 Eigelb (M)<br />
40 g Staubzucker<br />
80 ml koscherer<br />
trockener Weißwein<br />
Zubereitung<br />
1. Für das Sorbet die Birnen schälen, das Kerngehäuse<br />
entfernen und klein würfeln. Mit dem Zucker<br />
und Zitronensaft vermischen und in einem<br />
Topf kochen, bis die Birnen weich sind.<br />
2. Die Birnen pürieren und die Masse ggf. mehrmals<br />
durch ein Sieb streichen, sodass keine<br />
Stückchen bleiben. Mus gut abkühlen lassen.<br />
3. Mit der Crème fraîche und dem Salz vermischen.<br />
Den Gin zugeben und in einer Eismaschine<br />
über 60 Minuten zu einem cremigen<br />
Sorbet gefrieren, anschließend für drei Stunden<br />
ins Gefrierfach geben. Wer keine Eismaschine<br />
hat, gibt die Masse in einer Box am besten<br />
über Nacht in den Tiefkühler. In der ersten<br />
Stunde alle 5 Minute durchrühren.<br />
4. Für die Ingwerstreusel alle Zutaten von Hand,<br />
mit Knethaken oder in einer Küchenmaschine<br />
so lange kneten, bis der Teig bröselig klumpt.<br />
5. Teig auf ein mit Backpapier ausgelegtes<br />
Blech bröseln und im vorgeheizten Backrohr<br />
bei 200°C (Ober-/Unterhitze) etwa 20 Minuten<br />
backen, bis die Streusel fest und goldgelb sind.<br />
6. Zehn Minuten vor dem geplanten Servieren<br />
des Desserts für das Sabayon Eigelb und Zucker<br />
in einer Metallschüssel zu einer glatten, hellen<br />
Creme aufschlagen.<br />
7. Wenig Wasser in einem Kochtopf erhitzen<br />
und die Schüssel mit der Creme in den heißen<br />
Dampf hineinhängen. Die Schüssel darf das<br />
Wasser nicht berühren. Den Wein langsam zugeben<br />
und mit dem Schneebesen gut aufschlagen,<br />
bis die Creme beinahe steif ist. Sabayon aus<br />
dem Wasserbad heben. Solange weiterschlagen,<br />
bis das Sabayon nur noch lauwarm ist.<br />
8. Sofort auf einem Teller anrichten. Sorbet danebensetzen<br />
und mit den Ingwerstreuseln garnieren.<br />
Gleich servieren.<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
dezeber.indb 25 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
© Stanislav Jenis<br />
Lieber Rudi, es war<br />
mir eine Ehre, dich<br />
zu porträtieren! Und<br />
danke für alles, das<br />
du an Persönlichem<br />
und an Gedanken mit<br />
mir geteilt hast.<br />
Es war mir eine Ehre<br />
Anfang 2018 erschien das große Porträt von Rudi Gelbard in WINA. Es<br />
sollte eines seiner letzten Gespräche mit den Medien werden, deren es so<br />
viele gab und die alle Zeugen seines stets wachen Geistes, seines Kampfgeistes<br />
gegen Antisemitismus und Ausgrenzung und seiner faszinierenden<br />
Persönlichkeit waren.<br />
Von Alexia Weiss<br />
M<br />
Foto: Daniel Shaked<br />
„Überleben ist<br />
ein Privileg, das<br />
verpflichtet. Ich habe<br />
mich immer wieder<br />
gefragt, was ich für<br />
die tun kann,<br />
die nicht überlebt<br />
haben.“<br />
Rudi Gelbard<br />
eine erste Begegnung mit Rudi<br />
Gelbard war keine auf Augenhöhe:<br />
Ich war eine junge Journalistin im<br />
Wissenschafts- und Bildungsressort<br />
der Austria Presse Agentur, und Rudi<br />
war eine Auszeichnung zuerkannt<br />
worden: die Josef-Samuel-Bloch-<br />
Medaille der Aktion gegen Antisemitismus<br />
in Österreich. Der Ressortverantwortliche beschloss,<br />
ja, da soll doch bitte eine Meldung geschrieben<br />
werden, und im <strong>Jänner</strong> 1997, Wochen vor der eigentlichen<br />
Verleihung im März, saß ich da nun mit ihm, mitten<br />
in der Hektik des Großraumbüros, und er packte<br />
Papier um Papier aus und erzählte und erzählte. Heraus<br />
kam eine nüchterne Agenturmeldung, die aber<br />
doch viel von dem umriss, was Rudi wichtig war – vor<br />
allem sein Selbststudium in Sachen Zeitgeschichte und<br />
sein Wirken als Zeitzeuge.<br />
Von da an grüßte er mich bei jedem Termin, bei dem<br />
wir aufeinandertrafen, ob auf einer Pressekonferenz,<br />
einer Ausstellungseröffnung oder einer Diskussionsveranstaltung<br />
im Gemeindezentrum, mit den Worten<br />
„Ich bin’s – Ihr Leser“. Es war ein running gag, und wir<br />
haben beide immer geschmunzelt. Irgendwann wurde<br />
aus dem Sie ein du und wir plauderten kurz bei zufälligen<br />
Begegnungen, bis ich ihn dann – im Herbst 2017 –<br />
um einen Interviewtermin bat. Ich wollte für WINA ein<br />
großes Porträt über ihn schreiben, eines, das ihn in all<br />
seinen Facetten erfassen sollte.<br />
Er war, obwohl gesundheitlich schon geschwächt,<br />
sofort bereit, allerdings zu seinen Konditionen: Zunächst<br />
ließ er mir ein ganzes Bündel an Informationen<br />
– eines seiner berühmten Dossiers – zukommen,<br />
durch das ich mich durcharbeitete. Dann machten wir<br />
nicht nur, wie sonst üblich, einen Interviewtermin,<br />
sondern mehrere aus. Er empfing Daniel Shaked, den<br />
26 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 26 28.12.21 03:32
KONTINUITÄT STATT AUFARBEITUNG<br />
Von Alexia Weiss<br />
Sozialdemokratie, der er seit 1947 angehört,<br />
sind nicht nur seine Fragen, sondern<br />
itate. Kluge Worte von bekannten<br />
Persönlichkeiten,<br />
Buchbeiträge geschätzt. Er verschickt sie<br />
auch seine Dossiers aktueller Artikel und<br />
sie sind der Schatz und<br />
per Post, nicht per Mail, denn um das Internet<br />
macht Gelbard einen großen Bogen.<br />
gleichzeitig die Waffe von<br />
Rudolf „Rudi“ Gelbard. Sie<br />
„Ich weiß genau, ich gehe dann ins<br />
führt er an, wenn er im politischen Diskurs<br />
überzeugen will. Wer mehr über ihn<br />
eine gewisse Ruhe. Wir ehemaligen Häft-<br />
Uferlose. Das ist der Grund. Ich brauche<br />
persönlich erfahren möchte, dem sagt er<br />
linge – es gibt doch zu denken, dass der<br />
allerdings auch am liebsten in den Formulierungen<br />
anderer, wie er sich fühlt, was<br />
mord begangen hat. Dass der Auschwitz-<br />
Auschwitz-Häftling Jean Améry Selbstihn<br />
ausmacht. Bis er dann doch ein wenig<br />
sich selbst zum Vorschein kommen eignete sich nach seiner Rückkehr nach akov so viele Bücher über das Dritte Reich<br />
nalsozialisten in Österreich verwehrt blieb, Häftling Joseph Wulf, der mit Léon Poli-<br />
lässt, ein bisschen spitzbübisch manchmal,<br />
vor allem, wenn er sich an Szenen als außerordentlicher Hörer am Zeitge-<br />
hat.“ Ob er selbst auch schon solche düs-<br />
Wien teils in der Akademie der SPÖ, teils herausgebracht hat, Selbstmord begangen<br />
seiner Kindheit und Jugend erinnert und schichte-Institut der Universität Wien, teren Gedanken gehabt habe? „Nein. Aber<br />
im Wiener Dialekt, „in der Sprache der vor allem aber im Selbststudium geschichtliches<br />
und politisches Wissen an. ist Gelbard schwer krank. Doch auch ge-<br />
ich brauche Momente der Ruhe.“ Heute<br />
Pülcher“, zu erzählen beginnt. Doch er<br />
kann auch sehr nachdenkliche Töne anschlagen.<br />
Und dann gibt es noch die trau-<br />
in Theresienstadt kennen. „Links-sozia-<br />
ist immer wieder im Spital für Therapien.<br />
Seine ersten großen Lehrer lernte er gen seine Krebserkrankung kämpft er an,<br />
rigen, fast schon stillen Momente, etwa listisch-zionistische und sozialdemokratisch-zionistische<br />
Jugendführer“ seien sie Stimme zu erheben.<br />
Dennoch ist es ihm wichtig, weiter seine<br />
wenn es um seine viel zu früh verstorbene<br />
Tochter geht.<br />
gewesen (auch wenn er diese Einordung Als SOS Mitmensch ihn während der<br />
Von der Zeit in Theresienstadt aber, wohin<br />
er mit seinen Eltern 1942 als Zwölfnehmen<br />
konnte), die für ihn so wichti-<br />
FPÖ bat, kurz etwas zu den aktuellen in-<br />
erst mit seinem Wissen von später vor-<br />
Koalitionsverhandlungen von ÖVP und<br />
jähriger deportiert wurde, spricht Gelbard gen fünf jungen Männer, die allesamt von nenpolitischen Entwicklungen für ein Video,<br />
das dann auf Youtube verbreitet wurde,<br />
eher distanziert, verweist vor allem auf eigene<br />
Zitate, etwa aus seiner Biografie Die sollten: Fredy Hirsch, Aron Menczer, Sigi zu sagen, zögerte er nicht. Nur kurz reißt<br />
den Nazis in Auschwitz ermordet werden<br />
dunklen Seiten des Planeten, 2008 von Walter<br />
Kohl im Verlag Franz Steinmaßl publi-<br />
Ihnen hörte er zu, wenn sie diskutierten, glieder die Schoah nicht überlebt haben,<br />
Kwasnewski, Hardy Plaut, Louis Löwy. er darin an, dass 19 seiner Familienmitziert,<br />
oder Szenen aus dem Dokumentarfilm<br />
Der Mann auf dem Balkon von Kurt<br />
hier wurde er zum Zionisten, der er bis dann argumentiert er, weshalb eine Koalition<br />
mit den Freiheitlichen für wahre De-<br />
Brazda. Man merkt, er hat schon viele<br />
Male von dieser Zeit erzählt, man merkt<br />
aber auch: Darüber will er gar nicht gerne<br />
im Detail sprechen. Denn Rudi Gelbard<br />
hat sich nie als Opfer präsentiert, nie als<br />
Zeitzeuge, der nur vom selbst Erlebten<br />
berichten möchte. Rudi Gelbard ist zwar<br />
KZ-Überlebender, ja, aber er ist vor allem<br />
„ein Fighter“, wie er selbst sagt. Wie<br />
könnte man Gelbard sonst noch in einigen<br />
wenigen Schlagworten beschreiben? heute ist, hier erspürte er, was Sozialismus<br />
ist, was Kommunismus.<br />
mokraten abzulehnen sei. Was folgte war<br />
Als Antifaschisten, Zionisten, Sozialdemokraten,<br />
Aufklärer, Mahner.<br />
Gelbard gab sich selbst vor einigen Jahren<br />
den Spitznamen „Marcel Prawy des teil, dass Gelbard das Internet meidet. An-<br />
ein Shitstorm im Netz. Hier ist es von Vor-<br />
Ein Kämpfer aber war er, der inzwischen<br />
einen Professorentitel seinem Namen<br />
voraussetzen darf, eine der 16 Aus-<br />
man seinen Alltag nicht besser beschrei-<br />
genug begegnet, auch nach 1945, von An-<br />
Antifaschismus“, und tatsächlich könnte tisemitismus ist er in seinem Leben schon<br />
zeichnungen, die ihm für seine Verdienste ben: Wie Prawy in der Oper ein zweites gesicht zu Angesicht.<br />
als Zeitzeuge, als Erwachsenenbildner Zuhause fand, so ist Gelbard in Wien immer<br />
dort anzutreffen, wo es um Antifa-<br />
Differenzierter Blick. Rudi Gelbard<br />
zuteil wurden, sein Leben lang, und ein<br />
Kämpfer ist er bis heute. Zuerst ging es schismus, um Zeitgeschichte, den Holocaust,<br />
aber auch Neonazismus, die Rechte wuchs in Wien auf. Hier erlebte er auch<br />
kam im <strong>Dezember</strong> 1930 zur Welt und<br />
ums Überleben, später setzte er auch einmal<br />
Fäuste gegen Nazis ein, die kurz nach von heute geht.<br />
die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.<br />
Wichtig ist ihm zu betonen,<br />
1945 schon wieder an Einfluss gewinnen Rudi Gelbard gehört zu jenen, die sich<br />
wollten. Seit vielen Jahrzehnten aber sind gelegentlich im Anschluss von Podiumsdiskussionen<br />
zu Wort melden. Es sind alren.<br />
Da gab es auch den Widerstand, ei-<br />
dass auch 1938, 1939 nicht alle Nazis wa-<br />
seine Waffen Worte, Wissen, Zusammenhänge.<br />
Er, dem Schulbildung zunächst auf lerdings nie lange Co-Referate, nur kurze nerseits, und andererseits die, die bei den<br />
Grund der Machtübernahme der Natio-<br />
Hinweise, verbunden mit Fragen. In der Reibpartien nicht zusehen wollten, die sich<br />
NACHKRIEGSÖSTERREICH<br />
6 wına | Februar 2018 wına-magazin.at 7<br />
EIN RÜCKBLICK DER REDAKTION AUF 10 JAHRE WINA<br />
Z<br />
„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren<br />
kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch<br />
Stärkeren kämpfen viele Jahre. Aber die<br />
Stärksten kämpfen ein Leben lang, die sind<br />
unentbehrlich.“ Bertolt Brecht<br />
© Daniel Shaked<br />
„ Marcel Prawy des<br />
Antifaschismus“<br />
Er ist einer der letzten noch<br />
lebenden ehemaligen KZ-<br />
Häftlinge, und bis heute<br />
schweigt er nicht, wenn es<br />
rechtsextreme Tendenzen<br />
in der Öffentlichkeit aufzuzeigen<br />
gilt: WINA bat<br />
Rudolf Gelbard (87)<br />
um ein Gespräch über sein<br />
Leben, seine Haltungen,<br />
das, was ihm wichtig ist.<br />
Entstanden ist so das Porträt<br />
eines Zeitzeugen, der<br />
sich selbst nicht als Opfer,<br />
sondern als Kämpfer<br />
versteht.<br />
Erschienen im<br />
Februarheft 2018 und<br />
auf unserer Website.<br />
Fotografen, und mich in einem Hotel. Vor ihm lag ein<br />
Stapel Bücher, aus denen er dann während unserer Gespräche<br />
immer wieder Passagen vorlas. Rudi zu interviewen,<br />
war erst dann leicht, als ich aufgab, ihm konkrete<br />
Fragen zu stellen, ihn erzählen ließ und einhakte,<br />
wenn ich einen der Erzählstränge weiterfolgen wollte.<br />
Nach und nach formte sich in meinem Kopf sein Porträt,<br />
verdichteten sich die Linien.<br />
Die Schwierigkeit dabei war allerdings, all das auszublenden,<br />
was Rudi in diesen vielen Stunden erzählte,<br />
aber als off the record, also nicht zitierbar angab. On and<br />
off gingen erzählerisch ineinander über, waren aber<br />
auf dem Tonbandmitschnitt von ihm immer klar ausgewiesen.<br />
Es war am Ende also kein Problem, seinem<br />
Wunsch zu entsprechen. Auch wenn es schade war,<br />
dass manche Geschichten nicht erzählt werden durften.<br />
Es sind genau diese Geschichten, die mir bis heute<br />
im Kopf herumspuken, aus vielerlei Gründen. Was<br />
erzählt ein Mensch welchem Auditorium über sich?<br />
„Dieser Text ist nicht einfach<br />
nur ein beliebiger Text, er bedeutete<br />
uns beiden viel. Ich<br />
hoffe, dass das beim Lesen<br />
spürbar wurde.“<br />
Rudi Gelbard packte<br />
Papier um Papier aus und<br />
erzählte und erzählte.<br />
Aber auch: Wie möchte<br />
ein Mensch das Narrativ<br />
über ihn selbst lenken?<br />
Rückblickend gesehen<br />
war genau das Rudi<br />
sehr wichtig. Er wollte<br />
Herr seiner Geschichte<br />
sein. Und nicht nur das:<br />
Er wollte bestimmen,<br />
wie seine Geschichte<br />
erzählt wird. Sein Mittel<br />
der Wahl waren dabei<br />
Gedanken und Zitate großer Denker, Historiker,<br />
Schriftsteller, Politiker. Dieses Zusammensammeln<br />
von Informationen und Verdichten zu einem großen<br />
Ganzen, war ein Teil dessen, was Rudi ausmachte. Ein<br />
anderer war sein bedingungsloses antifaschistisches<br />
Engagement. Und was Rudi auch niemals sein wollte:<br />
ein armes Opfer. Er sah sich als Kämpfer.<br />
Und als Kämpfer habe ich ihn auch in Erinnerung<br />
behalten. Lieber Rudi, es war mir eine Ehre, dich<br />
zu porträtieren! Und danke für alles, was du an Persönlichem<br />
und an Gedanken mit mir geteilt hast.<br />
Erschienen ist das Porträt schließlich im<br />
Februar 2018. Rudi starb im Oktober darauf,<br />
und man kann ihn nun an seinem Ehrengrab<br />
der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof<br />
besuchen.<br />
Meine langen Gespräche mit ihm markieren<br />
für mich persönlich auch ein bisschen<br />
den Schlusspunkt der Möglichkeit, einem<br />
Zeitzeugen zuhören und ihm ausgiebig Fragen<br />
stellen zu können. Es ist das Ende einer<br />
Ära. Und ich freue mich besonders, dass zwei<br />
Jahrzehnte nach unserem ersten Gespräch<br />
über sein Leben ein zweites, viel fundierteres<br />
möglich war, eines, in dem die gegenseitige<br />
Wertschätzung und Sympathie spürbar<br />
waren. Dieser Text ist nicht einfach nur<br />
ein beliebiger Text, er bedeutete uns beiden<br />
viel. Ich hoffe, dass das beim Lesen spürbar<br />
wurde.<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
dezeber.indb 27 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
© Konrad Holzer<br />
Anita Pollak<br />
Was bleibt? Was bleibt nach<br />
fast einem halben Jahrhundert<br />
journalistischer Arbeit für mehrere Medien,<br />
das letzte Jahrzehnt davon für unser<br />
„Kind“ WINA, das schnell erwachsen<br />
wurde?<br />
Als Kultur- und Literaturredakteurin<br />
habe ich viel erlebt, vor allem aber unendlich<br />
viel gelesen. Tonnenweise Bücher<br />
wohl, erinnern kann ich mich nur<br />
an sehr, sehr wenige. Viel eindrücklicher<br />
waren und sind die Interviews mit<br />
Autor:innen, wie überhaupt die persönlichen<br />
Gespräche mit Menschen im Rahmen<br />
meiner Tätigkeiten. Eine Schar von<br />
Prominenten, mehrere Nobelpreisträger<br />
wie Günter Grass, Doris Lessing, Jose<br />
Saramago, Imre Kertész und Eric Kandel<br />
waren darunter. Beglückende, bereichernde<br />
Begegnungen, ein Privileg!<br />
Auch in den letzten Jahren haben mir Interviews<br />
die größte Freude bereitet, Treffen<br />
mit weniger prominenten, ja zum Teil<br />
fast unbekannten Menschen waren dabei<br />
die überraschendsten, Gespräche<br />
mit Zeitzeug:innen die emotional bewegendsten.<br />
Eine persönliche<br />
Notiz für die Autorin,<br />
die diese bis heute<br />
dankbar aufbewahrt.<br />
„Die Daten müssen<br />
Sie prüfen, und bitte<br />
essen Sie was!“<br />
Kreise schließen sich oft erst nach Jahren, und Erinnerungen können<br />
trügen. Zwei Versionen eines Happy Ends für eine Oma und ihren Enkel.<br />
Von Anita Pollak<br />
Fotos: Konrad Holzer<br />
EDEN TAG WOLLTE ICH<br />
ZURÜCK NACH WIEN“<br />
Minna Brand-Sluzkaja. WINA, Juli 2016<br />
Eine kleine, zarte alte Dame sprach mich nach<br />
einem Vortrag an, den ich im Maimonides-<br />
Zentrum über israelische Literatur hielt, Anfang<br />
2016 war das. Sie erkundigte sich über meine Arbeit<br />
und überreichte mir einen kleinen Zettel. „Minna<br />
Brand-Sluzkaja. Für mögliche Mitarbeit! Z. 619“ stand darauf<br />
in grüner Tinte. Ich begleitete sie zum Lift, fragte, ob<br />
sie sich hier wohl fühle. „Wissen Sie, mich stört es nicht,<br />
und meine Kinder beruhigt es“, antwortete sie weise lächelnd.<br />
„Aber ich würde gern noch was tun, denken Sie<br />
an mich!“<br />
Wenige Monate darauf bat ich sie, mir ihre Lebensgeschichte<br />
zu erzählen. Die Story erschien im Juli 2016,<br />
übrigens im selben Heft wie mein Gespräch mit der Psychoanalytikerin<br />
Vera Ligeti, der Witwe des Komponisten<br />
György Ligeti. Zwei alte Damen, Überlebende des Holocaust,<br />
zwei gänzlich verschiedene Schicksale. Vera Ligeti,<br />
die ich in ihrem Haus in Hietzing besuchte, arbeitet immer<br />
noch als Therapeutin, ihr Sohn Lukas ist Komponist.<br />
Minna Sluzkaja, die heuer 100 Jahre alt geworden<br />
wäre, verstarb 2018. Ihr Enkel Aliosha Biz ist Geiger und<br />
lebt mit seinen vier Kindern in Wien.<br />
Anfänglich wollte sie gar nicht über ihr Leben<br />
reden, dann tat sie es aber doch, bedächtig,<br />
gewählt und fast druckreif. „Die geschichtlichen<br />
Daten müssen Sie prüfen, und bitte essen<br />
Sie was!“, deutete sie auf einen Kuchenteller.<br />
Dass sie mit den Daten zu Recht etwas<br />
unsicher war, erfuhr ich erst später, als ich,<br />
ebenfalls im WINA, ein Porträt ihres Enkels<br />
Aliosha las. Doch davon später.<br />
28 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 28 28.12.21 03:32
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />
Erschienen im<br />
Juli 2016<br />
Links: das Jugendfoto, das<br />
sie mir schenkte<br />
Lassen wir noch einmal Frau Sluzkaja zu Wort kommen,<br />
die 1921 in Wien als einziges Kind des „Diamantenspezialisten“<br />
Selig Brand zur Welt kam. Dass sie der<br />
gleiche Jahrgang wie meine Mutter war, rührte mich besonders.<br />
Ihre kurzen Mädchenjahre hatte Minna glücklich<br />
in Erinnerung. Doch als sie die Handelsschule am<br />
Hamerlingplatz besuchte, „war schon der Hitler da,<br />
und man hat meinen Vater geholt. Er kam ins Lager.<br />
Wir wohnten in einer Mietwohnung in der Myrthengasse<br />
15. Um drei Uhr früh kam der Besitzer zu uns und<br />
forderte uns auf, uns anzuziehen und die Wohnung zu<br />
verlassen. Er war der Vater meiner Freundin, mit der<br />
ich in der Sandkiste gespielt hatte. Wir kamen in eine<br />
große Sammelwohnung in Döbling, bewacht von der SS.<br />
Von dort für einige Wochen in ein Lager, bis wir zu Bauern<br />
aufs Land flüchten konnten. Dort hat man uns sehr<br />
gut behandelt, das muss ich sagen.“ Der Mutter gelang<br />
es, sich mit Minna zu Verwandten nach Lemberg durchzuschlagen,<br />
wohin der Vater aus dem Lager nachkam.<br />
Das schöne junge Mädchen begann sofort als Mannequin<br />
in einem großen Kaufhaus zu arbeiten, und langsam<br />
konnte sich die Familie dort etablieren, „bis die<br />
Deutschen die Stadt einnahmen“. In Lemberg lernte<br />
Minna auch ihren zukünftigen Mann kennen. Er war als<br />
Dokumentarfilmer aus Moskau gekommen, „mit dem<br />
Auftrag, das damals noch polnische Lemberg als russische<br />
Stadt zu zeigen“. Also zu Propagandazwecken? „Ja,<br />
natürlich, wie immer in Russland. Da er schon damals<br />
ziemlich bekannt war, konnte er uns 1939 nach Moskau<br />
bringen. Mein Vater aber sollte gemeinsam mit anderen<br />
Wiener Flüchtlingen nach Sibirien abtransportiert<br />
werden. Es war dunkel und kalt, und wir suchten meinen<br />
Vater am Bahnhof. Meinem zukünftigen Mann gelang<br />
es, ihn aus dem Zug herauszubekommen, und ich<br />
habe ihn damals eigentlich aus Dankbarkeit geheiratet.“<br />
Tragischerweise kam der Vater wenige Wochen später in<br />
einem Lager um, während die meisten Wiener aus dem<br />
damaligen Transport Sibirien überlebten und zurückkehren<br />
konnten. „Wir haben ihn gerettet, und dadurch<br />
ist er umgekommen. Das ist doch unerhört, das war so<br />
ein Schlag für uns.“<br />
An der Seite von Michael Slutzky, der sich ihretwegen<br />
von seiner ersten Frau scheiden ließ, begann in Moskau<br />
„Wir haben alles mitgemacht,<br />
was Juden mitmachen<br />
müssen.“<br />
Minna Brand-Sluzkaja 2016<br />
ein fast privilegiertes Leben.<br />
Minna hat acht Jahre lang<br />
Russisch gelernt, an der Universität<br />
studiert und wurde<br />
Simultanübersetzerin.<br />
Ihre Tochter Galina wurde<br />
1946 dort geboren. „Aber jeden<br />
Tag beim Aufwachen<br />
wollte ich zurück nach Wien,<br />
obwohl wir ein gutes Leben<br />
hatten und eine schöne<br />
Wohnung, weil mein Mann<br />
berühmt war. Er hatte drei<br />
Stalin-Orden. Natürlich gab<br />
es Antisemitismus, aber die<br />
Juden, die er gebraucht hat,<br />
die hat Stalin in Butter gepackt.<br />
Leider ist mein Mann<br />
jung gestorben.“ Er war ihre<br />
große Liebe, obwohl, sie begann zu flüstern, da noch einige<br />
„interessante Männer“ waren. „Wir sagen immer<br />
Liebe, aber es war mehr als Liebe. Auch im Grab will<br />
ich nur seinen Namen tragen.“ Dass sie später in Moskau<br />
nochmals geheiratet hat, erwähnte sie eher beiläufig.<br />
Erst mit ihrem zweiten Mann sei sie dann 1985 nach<br />
Wien zurückgekehrt. „Vorher war’s ja nicht möglich.“ Und<br />
es war anfänglich sehr schwer, weil sie hier ja gar nichts<br />
hatten. Minna hat weiter als Übersetzerin gearbeitet. Ihre<br />
Tochter sei mit einem Kameramann in Rom verheiratet.<br />
Ein Foto zeigt das Paar bei einem Papst-Besuch.<br />
Ins Maimonides-Zentrum ist sie bereits mit ihrem<br />
Mann übersiedelt. „Er war sehr jüdisch. Ich bin hier sehr<br />
zufrieden. Ich lese und lerne viel, ich vervollkommne<br />
mein Englisch und übersetze auch noch. Meine Übersetzungen<br />
verkaufe ich aber nur noch selten.“<br />
Auf die Gretchenfrage nach der Religion wird die alte<br />
Dame nachdenklich. „Wir haben alles mitgemacht, was<br />
Juden mitmachen müssen, aber religiös waren wir weder<br />
in Wien noch in Moskau. In meiner Kindheit haben<br />
wir aber die Feiertage gefeiert und auch den Tempel besucht.“<br />
Im Alter sei sie vielleicht gläubiger geworden, auch<br />
weil sie im Maimonides-Zentrum wohne, meinte sie. „Ich<br />
wına-magazin.at<br />
29<br />
dezeber.indb 29 28.12.21 03:32
58 wına | Februar 2016<br />
Dobrek Bistro<br />
featuring David<br />
Krakauer.<br />
1 CD<br />
Dobrecords, 2015<br />
Von Marta S. Halpert<br />
er Violinist und sein Instrument<br />
verschmelzen im Spiel<br />
zu einer harmonischen Einheit.<br />
Der schlanke, energiegeladene<br />
Körper schwingt mit dem Bogen<br />
mit: Da man nur ein Ganzes sieht<br />
und hört, weiß man nicht, wo Aliosha Biz<br />
anfängt und seine Geige aufhört. „Schon<br />
Herbert von Karajan meinte, man müsse<br />
so spielen, dass man den Bogen gar nicht<br />
sieht“, lacht der 1970 in Moskau geborene<br />
Musiker, dem man seine 45 Jahre schwer<br />
glauben kann.<br />
Derzeit gibt ihm nur das Warten auf sein<br />
drittes Kind Bodenhaftung, denn beruflich<br />
ist gerade ein großer Traum in Erfüllung<br />
gegangen – und das verleiht ihm wahrlich<br />
musikalische Flügel. „Unsere Band Dobrek<br />
Bistro gibt es seit 15 Jahren, und fast genauso<br />
lang war es unser größter Wunsch,<br />
mit David Krakauer, dem bekanntesten<br />
amerikanischen Klezmer-Musiker und<br />
Klarinettisten, zusammenzuarbeiten“, erzählt<br />
Biz. Vor knapp zwei Monaten standen<br />
sie dann in Wien im Rahmen des 12.<br />
KlezMore-Festivals mit ihrem Stargast<br />
aus New York auf der Bühne. Doch das<br />
war nur ein Teil des Hochgefühls: Mit der<br />
Präsentation der brandneuen CD Dobrek<br />
Bistro featuring David Krakauer wurde die<br />
Hartnäckigkeit und Ausdauer sowohl von<br />
Aliosha Biz als auch seinem langjährigen<br />
musikalischen Weggefährten, dem<br />
polnischen Akkordeonisten Krzysztof<br />
Dobrek, belohnt. „Wir hatten<br />
schon 2005 ein kurzes Treffen mit<br />
Krakauer, aber erst 2012 ist es uns gelungen,<br />
ihn endgültig für unser Projekt<br />
zu gewinnen.“ Wie das gelang,<br />
© Biz<br />
ist eine Geschichte für sich und zeigt die wirst als Musiker leichter aus der Sowjetunion<br />
hinauskommen“, war der Vater musiziert“, lacht Aliosha.<br />
ben wir sogar in einem Haus gewohnt und<br />
phantasievolle Improvisationslust von Biz<br />
und Dobrek. „Ich war mit der Bahn unterwegs<br />
von Prag nach Wien. Die beiden sind dienstes drohte, drängte ihn auch die geschen<br />
Akzente im Repertoire zuständig:<br />
überzeugt. Als die „Gefahr“ des Militär-<br />
Aliosha Biz ist für die jüdisch-russi-<br />
in Brünn zu mir in den Zug gestiegen und liebte Großmutter zur Reise nach Ungarn, „Meine Wurzeln will und kann ich nicht<br />
ich konnte ihnen nicht mehr davonlaufen“, um von dort den Sprung nach Österreich abschneiden, daher sorge ich für den russischen<br />
Weltschmerz, die orientalischen<br />
erinnert sich Krakauer amüsiert.<br />
zu wagen. „Geh’, geh’, du schaffst es, sagte<br />
Aus den Gesprächen auf dieser unentrinnbaren<br />
Bahnfahrt entstand dann aber dass sie mich ermutigt und an mich ge-<br />
das Gefühl vom Once upon a time im Stetl.“<br />
sie zu mir. Ich bin ihr ewig dankbar dafür, Klänge und natürlich den Schmalz und<br />
nicht nur die Idee für ein Konzert und glaubt hat“, so Biz heute. Er bereitete auch Weil Biz aber seine Muttersprache nicht<br />
das Einspielen von einigen Musikstücken: die Rückkehr der Großmutter nach Wien verleugnen will, hat er mit weiteren drei<br />
Schlussendlich vereinten sich zwei Größen vor, die dann 1992 stattfand. Heute zählt russischstämmigen Musikern der heimischen<br />
Musikszene den Russian Gentlemen<br />
der internationalen Weltmusikszene, deren sie 94 Jahre und wohnt im Maimonidesmusikalische<br />
Herzen im unnachahmlichen Zentrum, wo sie öfter auch den Konzerten<br />
ihres Enkels lauscht.<br />
Frontman Georgij Makazaria (Gesang und<br />
Club gegründet: Mit dabei sind Russkaja-<br />
Gleichklang schlagen, auf einem faszinierenden<br />
Album. Die Musikzeitschrift music<br />
austria beschreibt es so: „In den Stücken ließ, studierte er Violine am Tschaikowsky- mer Reloaded, Akkordeon) sowie Roman<br />
Bevor Aliosha seine Geburtsstadt ver-<br />
Gitarre), Alexander Shevchenko (Klez-<br />
dieses außergewöhnlichen Kollektivs wird Konservatorium. In Wien besuchte er Grinberg (Frejlech, Piano). „Hier präsentieren<br />
wir eine bunte<br />
geweint, getanzt, gelitten und auch gefeiert. zwar die Hochschule für Musik und darstellende<br />
Kunst, richtig entdeckt wurde er russische Schlagershow<br />
Es ist das Gefühl, mit dem Dobrek Bistro<br />
und David Krakauer ihre Musik aufladen, aber auf der so genannten „Akademie der auf höchstem Niveau.“<br />
das den Unterschied ausmacht und einen Straße“, denn auch Biz musizierte auf der Doch den Spaß an der<br />
jeden Ton zu einem ungemein stimmungsvollen<br />
und berührenden Erlebnis werden fragten Theatermusiker (u. a. am Theater giebündel nicht nur den<br />
Kärntnerstraße. Er mauserte sich zum ge-<br />
Musik will das Ener-<br />
lässt. Ja, so etwa klingt die höchste Kunst in der Josefstadt und im Volkstheater) mit Erwachsenen vorbehalten:<br />
Seit einem halben<br />
der Weltmusik.“ Das Album dieser großartigen<br />
Virtuosen beweist, dass Biz und tete an diversen musikalischen Projekten Jahr engagiert er sich<br />
schauspielerischen Ambitionen und arbei-<br />
seine Kollegen von Dobrek Bistro schon mit Gerhard Bronner, Albert Thiemann für das Projekt Mozart-Konzerte,<br />
bei dem<br />
lange intuitiv erkannt hatten, dass sie mit oder Adi Hirschal zusammen. Doch der<br />
Krakauer gemeinsam auf außergewöhnlichen<br />
musikalischen Wellen reiten können: polnischen Akkordeonist Krzysztof Dobliche<br />
von Volksschu-<br />
große Durchbruch kam 1997, als er den Kinder und Jugend-<br />
Die fünf Musiker durchqueren in großartiger<br />
Weise die Welt des Jazz in Richtung ter an der Wien das erste Mal traf. Die bei-<br />
zu Mitmachkonzerten<br />
rek bei den Proben zu Anatevka am Thealen<br />
und Mittelschulen<br />
Klezmer, um von dort aus zu den feurigen den Musiker sprechen von Liebe auf den animiert werden. „Kinder<br />
sind das schwierigste und beste Publi-<br />
Rhythmen des Balkans zu rasen. Aber sie ersten Takt: Nach dem ersten Zusammenspiel<br />
wussten sie, dass sie ihre künstlerische kum. Wir können sie sowohl für Amadeus<br />
bleiben nicht dort, sie swingen zum Gypsy-Sound<br />
und landen schlussendlich bei Zukunft gemeinsam gestalten wollten. Zunächst<br />
folgten Auftritte im Burgtheater, zart begeistern“, so Biz.<br />
als auch den Türkischen Marsch von Mo-<br />
südamerikanischen Tänzen und Klängen.<br />
auch als Begleitmusiker von Maria Bill Dass er seine ersten Schritte und Erfahrungen<br />
in Wien als Neuling nicht verges-<br />
Die erste Geige — aus dem Möbelgeschäft.<br />
Doch ganz so einfach und be-<br />
beim Acoustic Drive Orchestra, ehe sie sen hat, beweist er jetzt auch in der Flücht-<br />
bei der Jacques-Brel-Revue und danach<br />
schwingt, wie das jetzt alles klingt, war es daran gingen, ihre eigene, unverkennbare lingskrise: „Man hat mir von einem jungen<br />
für den 19-jährigen Aliosha nicht, als er musikalische Sprache zu entwickeln. Das syrischen Musiker erzählt, der hier gestrandet<br />
ist. Er ist Schlagzeuger, und wir<br />
1989 in Wien ankam. Und das, obwohl die Quartett von Dobrek Bistro komplettieren<br />
der brasilianische Multiperkussionist haben ihn gleich zu einer Jam-Session ein-<br />
Familie österreichische Wurzeln hatte, jedenfalls<br />
mütterlicherseits. Die Großmutter Luis Ribeiro und der Wiener Jazzkontrabassist<br />
Sascha Lackner. Die Bezeichnung ßen Erlebnis.“ Damit schloss sich an dem<br />
geladen. Das wurde für alle zu einem gro-<br />
flüchtete 1938 noch in der Pogromnacht<br />
mit ihrer Mutter von Wien nach Lemberg. des französischen Lokals kommt vom russischen<br />
„bystro“ (schnell). Damit bezieht Tschiritsch, Musiker und Instrumenten-<br />
Abend ein ungewöhnlicher Kreis: Hans<br />
Künstlerisch ist Aliosha stark vorbelastet:<br />
Sein Vater war in Moskau ein bekannter sich das Quartett mit seinem Namen sowohl<br />
auf die virtuose Rasanz ihrer Dar-<br />
„er wiederum hatte mich vor 26 Jahre auf<br />
bauer, war bei der Jam-Session dabei – und<br />
Kameramann, die Mutter eine angesehene<br />
Dokumentarfilmerin. „Da wir für ein Klavier<br />
keinen Platz in der Wohnung hatten, sche Eleganz der Kompositionen, die alle Rothstein vorgestellt“, freut sich Aliosha.<br />
bietungen als auch auf die melancholi-<br />
der Kärntnerstraße aufgelesen und Lena<br />
ging mein Vater mit mir in ein Möbelgeschäft<br />
und kaufte mir dort eine Geige für Salsa zigeunerisch, der Tango wienerisch, cher Kreis für den virtuosen Musiker, der<br />
von Dobrek stammen: „Bei uns klingt der Aber es schließt sich noch ein persönli-<br />
21 Rubel. So begann ich schon mit sechs der Jazz jiddisch, und die Musette hat einen<br />
russischen Touch.“ Privates und Armen<br />
ist: Heute spielt sein siebenjähriger<br />
in Wien mit seiner Weltmusik angekom-<br />
Jahren zu spielen.“ Wie sich später herausstellte,<br />
hatte sein Vater auch gewisse Hintergedanken<br />
mit der musikalischen Aus-<br />
„Es wurde eine Wohnung bei uns im Haus Moskauer Möbelgeschäft. Die Zukunft<br />
beit verschmolzen dann auch miteinander: Sohn auf der 21-Rubel-Geige aus dem<br />
bildung seines talentierten Sohnes. „Du frei, und da ist Dobrek eingezogen. So ha- des Jungen ist voraussehbar. <br />
WELTMUSIK<br />
wına-magazin.at 59<br />
Foto & Redaktion: Ronnie Niedermeyer<br />
m Schicksalsjahr 1989, am 8. Juli, kam ich über<br />
Umwege durch Ungarn nach Wien. Rund um mich<br />
herum stürzten damals kommunistische Regimes<br />
zusammen, und Europa erfand sich neu. Die Donaumetropole<br />
war plötzlich wieder „mittendrin“ und nicht<br />
mehr „am Rande“. Und obwohl ich die Stadt ursprünglich<br />
nur als Zwischenstation betrachtete (jeder russische<br />
Musiker, der etwas auf sich hielt, wollte damals<br />
in die USA!), blieb ich hier. Wien umarmte mich und<br />
flüsterte mir dabei ins Ohr: „Bleib da!“ Doch Zufälle<br />
gibt es nicht: Schließlich wurde meine Oma, Minna<br />
Brand, hier geboren. 1938 flüchtete sie achtzehnjährig<br />
mit ihrer Mutter Berta nach Lemberg. Nach Unterzeichnung<br />
des Molotow-Ribbentrop-Pakts überfiel die<br />
Wehrmacht Polen von Westen; die Rote Armee folgte<br />
von Osten. Lemberg wurde zu Lwów. Dort lernte meine<br />
Großmutter den bekannten russischen Filmemacher<br />
Michael Slutzki und heiratete ihn. Mein Großvater, den<br />
ich leider nie kennenlernte, wurde bald darauf von den<br />
Stalin-Schergen verhaftet und nach Kasachstan in die<br />
Verbannung geschickt. Die beiden Wienerinnen Minna<br />
und Berta Brand folgten ihm. Erst Jahrzehnte später<br />
durfte Minna Slutzki-Brand ihre Heimatstadt wieder<br />
sehen. 1992 traf ich vor Ort die Vorkehrungen für ihre<br />
Rückkunft. In der Zwischenzeit sah ich mich schon als<br />
eingefleischten Wiener, als aktiven Teil des kulturellen<br />
Schmelztiegels und der wilden Musikszene. Von Klassik<br />
bis Jazz, von griechischem Rembetiko bis zur Klezmermusik,<br />
überall waren meine Geige und ich mit dabei.<br />
Bis heute hatte ich das Glück, immer von der Musik<br />
leben zu dürfen: Zum Beispiel als Fiedler auf dem Dach<br />
in knapp dreihundert Vorstellungen von Anatevka. Ab<br />
Oktober wird das Stück im Theater Baden wieder aufgeführt,<br />
und schon im November hat mein erstes Solomusikkabarettprogramm<br />
Premiere.<br />
Ich meinte ja schon vorhin, es gebe keine Zufälle: Als<br />
ALIOSHA BIZ,<br />
ich 1989 mit achtzehn Jahren nach Wien kam, beherbergte<br />
mich die Familie Ebner in der Leopoldsgasse 51.<br />
1970 in Moskau geboren, kam als<br />
Achtzehnjähriger nach Wien – und<br />
Viel später, nach dem Tod meiner Großmutter, fand<br />
geigte sich in den Himmel der Wiener<br />
ich in ihren Dokumenten eine Heiratsabsichtserklärung<br />
ihrer Eltern, unterzeichnet in der Leopoldsgasse<br />
Musikszene hinauf. Zusammenarbeiten<br />
folgten u. a. mit Maria Bill, Timna<br />
51 – justament in meinem ersten Quartier. Und nachdem<br />
ich 2004 meine Frau kennenlernte, stellte es sich<br />
Brauer, Herbert Föttinger, Elisabeth<br />
Kulman, Karl Markovics, Roland Neuwirth,<br />
Michael Schottenberg – und dem<br />
heraus, dass die gebürtige Leopoldstädterin 1989 mit<br />
den Kindern der Familie Ebner in die Schule ging. So<br />
Komponisten Hans Tschiritsch, der ihn<br />
schließen sich meine Wiener Kreise.<br />
1989 beim Musizieren in der Fußgängerzone<br />
entdeckte und förderte. Biz ist<br />
überzeugter Weltbürger, leidenschaftlicher<br />
Weintrinker und vierfacher Vater.<br />
Bäume hat er auch gepflanzt. Er bleibt<br />
für gebürtige und gelernte Wiener, die wissen, wo’s lang geht.<br />
in Wien – ganz sicher.<br />
32 wına |September 2020<br />
10 JAHRE WINA<br />
Erschienen im<br />
Februar 2016<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Das virtuose<br />
Energiebündel<br />
Aliosha Biz: Musik als grenzenloses Ereignis<br />
zwischen allen Sparten kann man mit dem<br />
russisch-jüdischen Violinisten erleben.<br />
D<br />
„ Da wir für ein<br />
Klavier keinen<br />
Platz hatten,<br />
ging mein Vater<br />
mit mir in ein<br />
Möbelgeschäft<br />
und kaufte mir<br />
dort eine Geige<br />
für 21 Rubel.“<br />
Aliosha Biz:<br />
Im Himmel der<br />
Wiener Musikszene<br />
I<br />
TIPP: Der Heuriger Hengl-Haselbrunner in Döbling hat nicht<br />
nur sensationellen Wein, sondern gilt auch als Mekka des Wienerliedes.<br />
Dienstags spielt Livemusik bis spät in die Abendstunden.<br />
Touristen verirren sich nur selten hierher: Es ist ein Ort<br />
Erschienen im<br />
September 2020<br />
Von Ronnie Niedermeyer<br />
bin hier immer beim Schabbat und den Feiertagen dabei.“<br />
Bis zum Schluss wollte Minna Brand-Sluzkaja gern<br />
helfen. Den Flüchtlingen, die nach Wien kamen, wollte<br />
sie gern Sprachunterricht geben.<br />
Stolz war sie auf ihren Enkel, den Geiger Aliosha Biz,<br />
der eine besondere Liebe zur jüdischen Musik hat und in<br />
diesem Umfeld in Wien bekannt geworden ist.<br />
„Ich habe ihn aus Moskau hergeholt und ans Konservatorium<br />
gebracht. Wir haben es geschafft.“ Minna Sluzkaja<br />
deutete auf sein Bild an der Wand und auf Fotos ihrer<br />
Urenkel.<br />
„SCHLIESSLICH WURDE MEINE<br />
OMA, MINNA BRAND, HIER<br />
GEBOREN.“<br />
Aliosha Biz. WINA, September, 2020<br />
Besagter Enkel Aliosha erzählte die Geschichte meinem<br />
Kollegen Ronnie Niedermeyer für das WINA-<br />
Heft September 2020 etwas anders: Nicht die Großmutter<br />
hätte ihn, vielmehr hätte er sie aus Moskau nach Wien<br />
geholt.<br />
„Im Schicksalsjahr 1989, am 8. Juli, kam ich über Umwege<br />
durch Ungarn nach Wien. Rund um mich herum<br />
stürzten damals kommunistische Regimes zusammen,<br />
und Europa erfand sich neu.<br />
Die Donaumetropole war plötzlich<br />
wieder ,mittendrin‘ und<br />
nicht mehr ,am Rande‘. Und<br />
obwohl ich die Stadt ursprünglich<br />
nur als Zwischenstation betrachtete<br />
(jeder russische Musiker,<br />
der etwas auf sich hielt,<br />
wollte damals in die USA), blieb<br />
ich hier. Wien umarmte mich<br />
und flüsterte mir dabei ins Ohr:<br />
,Bleib da!‘ Doch Zufälle gibt es<br />
„Sie hat Wien unglaublich<br />
geliebt und setzte<br />
stets auf Versöhnung.“<br />
Aliosha Biz<br />
nicht: Schließlich wurde meine Oma, Minna Brand, hier<br />
geboren. […]<br />
1992 traf ich vor Ort die Vorkehrungen für ihre Rückkunft.<br />
In der Zwischenzeit sah ich mich schon als eingefleischten<br />
Wiener, als aktiven Teil des kulturellen<br />
Schmelztiegels und der wilden Musikszene.“<br />
Hatte die alte Dame nicht eingangs gemeint, ich<br />
müsste die historischen Daten prüfen? Ihre Erinnerungen<br />
waren wohl schon etwas verklärt. Ganz unschuldig<br />
war sie aber dennoch nicht, dass Biz den Sprung nach Österreich<br />
gewagt und es damit „geschafft“ hatte.<br />
„Ich bin ihr ewig dankbar dafür, dass sie mich ermutigt<br />
und an mich geglaubt hat“, gestand er meiner Kollegin<br />
Marta S. Halpert bereits im Februar 2016. Und so<br />
schließen sich im WINA wieder einmal die Kreise.<br />
WAS BLEIBT?<br />
„Kommen Sie wieder? Sie haben ja gar<br />
nichts gegessen!“<br />
Natürlich versprach ich Minna, bald wiederzukommen,<br />
habe es aber leider nicht getan. Ihren handgeschriebenen<br />
Zettel bewahre ich, doch ihr schönes Jugendfoto,<br />
das sie mir schenkte, habe ich ihrem Enkel<br />
anlässlich der Premiere seines musikalischen Kabarettprogramms<br />
Der Fiddler ohne Ruf gegeben.<br />
Humorvoll erzählt Aliosha Biz darin auch von seiner<br />
geliebten Großmutter, die in seinem abenteuerlichen Leben<br />
zwischen Moskau und Wien nicht nur eine Nebenrolle<br />
gespielt hat. „Was von meiner Großmutter bleibt,<br />
sind ihr Humor und ihre Haltung. Sie hat Wien unglaublich<br />
geliebt und setzte stets auf Versöhnung. Und<br />
diese Haltung hat sie an mich weitergegeben.“<br />
© Biz<br />
30 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 30 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
„Man lernt mit dem Alter,<br />
dass man nicht alles weiß“<br />
Im Juni 2014 porträtierte WINA-Fotograf Daniel Shaked den israelischen Fotografen<br />
und Fotojournalisten David Rubinger (1924 – 2017), der Israels Geschichte seit der<br />
Staatsgründung festgehalten hat, zu seinem Neunziger.<br />
Erschienen<br />
im Juni 2014<br />
Porträtfotografie besteht aus Begegnungen.<br />
Eine meiner prägendsten ereignete sich<br />
mit David Rubinger, einem Wiener, der wie<br />
kaum ein anderer das Bild des Staates Israel<br />
von Anbeginn an entscheidend mit prägte. Seine<br />
Fotos sind Ikonen der Pressefotografie und kollektives<br />
visuelles Gut. Dementsprechend nervös war ich, als<br />
ich ihn in seinem Haus in Jerusalem traf.<br />
„Ich kann den Holocaust<br />
nicht vergessen, ich will<br />
ihn nicht vergeben, aber<br />
ich will ihn nicht leben.“<br />
David Rubinger<br />
Wir hatten im Vorfeld einen<br />
Rahmen von etwa zwei Stunden<br />
ausgemacht. Aus zwei Stunden<br />
wurde ein gesamter Nachmittag<br />
und unter anderem dieses Foto,<br />
auf dem David mich fotografiert, als ich ihn porträtiere.<br />
Der Gegenschuss, den David in diesem Moment<br />
von mir machte, liegt in seinem Archiv.<br />
EIN BLICK HINTER DIE<br />
KULISSEN DER REDAKTION<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
dezeber.indb 31 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
Ein Leben ohne WINA-Magazin?<br />
Möglich, aber nicht sinnvoll!<br />
Gedanken zum zehnjährigen Jubiläum. Von Marta S. Halpert<br />
© Reinhard Engel<br />
nser WINA-Magazin kam mit einem Hörfehler<br />
zur Welt. Als wir vor zehn Jahren in<br />
Telefonaten das neue Projekt vorstellten,<br />
reagierten viele aus der Branche mit dem<br />
Ausruf: „Ja, kenne ich, den Wiener!“<br />
Mit dem Lifestyle-Magazin für Männer<br />
verwechselt zu werden, war nicht schlimm,<br />
aber auch nicht förderlich. Vor allem, weil sich<br />
der Frauenanteil bei unserem Magazin sehen lassen<br />
kann: Auf allen Ebenen ist die überwiegende Mehrheit<br />
weiblich. Dieser akustischen Fehleinschätzung wären<br />
wir entgangen, hätten wir das Monatsheft Chuzpe genannt,<br />
was anfänglich angedacht war.<br />
Dem zehnjährigen WINA-Kind passiert so eine Verwechslung<br />
heute nicht mehr, denn es hat sich einen festen<br />
Platz in der österreichischen Magazin-Familie erobert.<br />
Das Heft wird gekauft, abonniert und manchmal<br />
sogar erbettelt: Das schönste Erlebnis und der beste Beweis<br />
dafür sind Gesprächspartnerinnen und Interviewpartner,<br />
denen man beim Treffen ein WINA-Exemplar<br />
zeigt und die nicht nur höflich hineinblättern, sondern<br />
es einem gleich abspenstig machen. Zu dieser Gruppe<br />
zählten in den letzten Jahren einige Kanzler, Ministerinnen,<br />
Historiker, Schauspieler und Sängerinnen.<br />
Die Erklärung, dass WINA auf Iwrith „Wien“ heißt,<br />
wird sofort akzeptiert, obwohl der Untertitel auf dem<br />
Cover irreführend ist: Das jüdische Stadtmagazin. Ja, das<br />
sind wir auch — aber noch viel mehr. Denn es wäre kein<br />
jüdisches Magazin, würde es nicht unserer reichen Vielfalt<br />
frönen und eine große thematische Bandbreite aufweisen.<br />
Die aufmerksame Neugier über die Stadt und<br />
das Land hinaus ist eines der wichtigsten Merkmale.<br />
Das kultur- und gesellschaftspolitische Leben von Jüdinnen<br />
und Juden in Österreich in Gegenwart und Vergangenheit<br />
findet ebenso seinen Niederschlag wie der<br />
Blick auf die in der Welt verstreuten Juden und auf die<br />
Ereignisse in Israel.<br />
Unendlich dankbar bin ich für die Freiheit, in den letzten<br />
Jahren über den Zustand zahlreicher jüdischer Gemeinden<br />
in Mitteleuropa, in Griechenland, in der Türkei,<br />
im Irak und sogar in Mexiko berichten zu können.<br />
Die Freude der Bewohnerinnen und Bewohner im jüdischen<br />
Altersheim im rumänischen Temesvár über das<br />
Interesse aus Wien bleibt unvergessen. Unauslöschlich<br />
eingraviert ist die Reise nach Minsk und in den Wald von<br />
Maly Trostinec, der zehntausenden jüdischen Männern,<br />
Frauen und Kindern zur mörderischen Falle wurde.<br />
„Das schönste Erlebnis und<br />
der beste Beweis dafür sind<br />
Gesprächspartnerinnen und<br />
Interviewpartner, denen man<br />
ein WINA-Exemplar beim<br />
Treffen herzeigt und die nicht<br />
nur höflich hineinblättern,<br />
sondern es einem gleich abspenstig<br />
machen.“<br />
Marta S. Halpert<br />
im Gespräch für WINA<br />
mit dem Schauspieler<br />
Samuel Finzi.<br />
Aber nicht nur Emotionalem<br />
begegnet die Journalistin:<br />
In Polen und Ungarn muss<br />
man sich mit den demokratiefeindlichen<br />
und antisemitischen<br />
Fakten auseinandersetzen<br />
und diese öffentlich<br />
anprangern. Aber auch Nonkonformisten,<br />
wie die Philosophin<br />
Ágnes Heller oder<br />
die Literaten György Konrád<br />
und András Forgách, wurden<br />
gehört, ebenso der kritische<br />
polnische Politologe Dariusz<br />
Stola. Auch dieser Aufgabe<br />
geht WINA nach.<br />
Ich hatte und habe das<br />
Glück, solch belastende Themen<br />
mit seelisch aufbauenden<br />
Begegnungen ausgleichen<br />
zu dürfen. Wenn der 90-jährige<br />
Neurowissenschaftler und<br />
Nobelpreisträger Eric Kandel<br />
anno 2018 vor seinem Geburtshaus<br />
im 9. Wiener Bezirk<br />
nach seiner humorvollen Rede zu tanzen beginnt, dann<br />
ist die Reporterin privilegiert. Wenn Israels Staatspräsident<br />
und Spross einer berühmten Familie während eines<br />
Wahlkampfs Zeit für ein WINA-Interview hat, darf<br />
man ein klein wenig stolz sein.<br />
Von Freude erfüllt sind die Gespräche mit kreativen<br />
und darstellenden Menschen: Ich durfte in diesen Jahren<br />
viele österreichische und internationale Künstler<br />
und zahlreiche israelische Künstlerinnen in den verschiedensten<br />
Sparten kennenlernen und porträtieren:<br />
Manche, wie Samuel Finzi, Chen Reiss oder Itay Tiran,<br />
auch über fast zehn Jahre auf ihrem Karriereweg begleiten.<br />
Sogar der mehrfache Lockdown konnte uns<br />
Reporterinnen und Redakteuren nichts anhaben: Im<br />
Homeoffice wurde weiter fleißig „auf dem Trockenen“<br />
recherchiert und historischen Geschichten nachgegangen,<br />
die keine persönlichen Treffen erforderten.<br />
Da wir aber doch „DAS jüdische Stadtmagazin“ sind,<br />
das Wichtigste zum Schluss: WINA transportiert sehr bewusst<br />
lebendiges und gelebtes Judentum in eine nichtjüdische<br />
Mehrheitsgesellschaft. Nur hier finden dem jüdischen<br />
Alltag entliehene, manchmal sehr persönliche<br />
Reminiszenzen einen gesicherten Raum.<br />
32 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
EIN BLICK HINTER DIE<br />
KULISSEN DER REDAKTION<br />
dezeber.indb 32 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
URBAN LEGENDS<br />
Das war doch<br />
gerade erst<br />
Zehn Jahre und 100 Hefte: WINA feiert Geburtstag, und irgendwie<br />
ist damit ein ans Herz gewachsenes Baby groß geworden.<br />
mmer mal wieder meint unsere Chefredakteurin,<br />
wir könnten doch diese interviewen oder jenen. Und<br />
ich sage dann: Habe ich doch gerade erst gemacht!<br />
Und dann sehe ich nach und mein gefühltes gerade<br />
erst war vor drei Jahren oder gar vor fünf oder sechs.<br />
Die Zeit zieht an einem vorbei und man meinte, dies<br />
oder jenes sei doch noch gar nicht<br />
Von Alexia Weiss lange her gewesen.<br />
WINA ist inzwischen zehn Jahre<br />
alt. Zehn Jahre! Als wir begonnen haben, WINA zu<br />
gestalten und mit interessanten Inhalten zu füllen,<br />
ging meine Tochter noch in den Kindergarten und<br />
war fünf Jahre alt. Nun ist sie 15 und geht in die Oberstufe<br />
des Gymnasiums. Sie werden so schnell groß,<br />
die Kinder, sagt man allgemein – und es stimmt. Und<br />
genauso schnell sind auch diese zehn Jahre WINA<br />
verflogen.<br />
Die Gesprächspartner und -partnerinnen werden<br />
zunehmend jünger. Jugendliche und junge Erwachsene,<br />
die wir in der Anfangszeit von WINA als Zukunft<br />
der jüdischen Gemeinde porträtiert haben, haben<br />
nun ihren Platz in der Community gefunden. Da fällt<br />
mir zum Beispiel die Sopranistin Ethel Merhaut ein,<br />
sie war einer der Stars des diesjährigen Festivals der<br />
jüdischen Kultur, aber auch der inzwischen politisch<br />
sehr umtriebige Bini Guttmann.<br />
Die Kehrseite der Medaille: Gespräche mit Zeitzeugen<br />
und -zeuginnen werden von Jahr zu Jahr rarer.<br />
Genau das waren und sind aber die Interviews,<br />
von denen man auch persönlich viel mitnimmt. Man<br />
kann noch so viel über die Zeit des nationalsozialistischen<br />
Terrors gelesen haben – wenn Menschen<br />
aus ihrem Leben erzählen, das Erlebte mit einem<br />
teilen, dann sind das immer ganz besondere Momente.<br />
Diese Gespräche vergisst man nicht, sie erweitern<br />
den eigenen Horizont sehr. Und hoffentlich<br />
auch den der Leser und Leserinnen: Das ist ja so die<br />
leise Hoffnung, die wir Schreibenden immer haben.<br />
Denn wir schreiben ja nicht für uns, sondern für Sie.<br />
Für Sie richten wir auch immer ein Potpourri an<br />
Geschichten an, und ja, da mag dem einen oder der<br />
anderen das eine oder andere gut, sehr gut oder<br />
auch einmal gar nicht gefallen. So ist das aber in einer<br />
so bunten und inhomogenen Gemeinde wie der<br />
Wiener Gemeinde eben: Und das macht sie ja auch<br />
so spannend und liebenswert. Wir alle sind unterschiedlich<br />
und haben verschiedenste Interesse – genauso<br />
bunt sind daher auch die Menschen und Themen,<br />
von denen wir in WINA erzählen.<br />
Ja, manche Hefte sind schwerer und schwermütiger<br />
als andere, die fröhlich und farbenfroh in Ihren<br />
Postkasten flattern. Die Themen Antisemitismus<br />
Die Kehrseite der Medaille: Gespräche<br />
mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen<br />
werden von Jahr zu Jahr rarer.<br />
Genau das waren und sind aber die<br />
Interviews, von denen man auch<br />
persönlich viel mitnimmt.<br />
und das Gedenken an die Schoah gehören aber zu<br />
jüdischem Leben dazu. Und ein jüdisches Magazin<br />
reflektiert die Dinge, die eine Gemeinde beschäftigen.<br />
Es ist also nicht möglich, nur über Kunst und<br />
Kultur und erfolgreiche Entrepreneurs zu berichten<br />
und die unangenehmeren Töne einfach auszuklammern.<br />
Am Ende macht es jener Mix, der potenziell<br />
möglichst viele anspricht und auch die ganze Bandbreite<br />
jüdischen Lebens widerspiegelt. Darum bemühen<br />
wir uns jedenfalls Monat für Monat. In diesem<br />
Sinn: auf die nächsten zehn Jahre!<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
33 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 33 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
Esther Graf<br />
Ich kenne niemanden,<br />
der so intellektuell<br />
war und dabei<br />
so humorvoll wie er.<br />
Das Judentum bedeutete<br />
für ihn nicht<br />
praktizierte Religion,<br />
sondern intellektuelle<br />
Auseinandersetzung.<br />
Friedensaktivismus<br />
vs. Nationalstolz<br />
Wie Begebenheiten des jüdischen Altertums bis heute unser Handeln<br />
prägen. Ein Kommentar zu „Wer war Gedalja? Eine Geschichte über<br />
Frieden“ von Georg Haber sel. A. Von Esther Graf<br />
<br />
Vorbemerkung<br />
Er gehörte zu denjenigen in der<br />
IKG, die für das Projekt WINA – Das jüdische Stadtmagazin<br />
von Anfang an Feuer und Flamme waren.<br />
Nicht nur, dass er sich für die Idee begeisterte:<br />
Er unterstützte das Vorhaben auch mit all<br />
seiner Kompetenz. Die Rede ist von meinem Vater,<br />
Georg Haber sel. A., der 2019 bei einem Unfall<br />
ums Leben kam. Ich kenne niemanden, der<br />
so intellektuell war und dabei so humorvoll wie<br />
er. Das Judentum bedeutete für ihn nicht praktizierte<br />
Religion, sondern intellektuelle Auseinandersetzung.<br />
Judentum, das war für ihn, fußend<br />
auf Thora und Talmud, eine vielfältige und<br />
reichhaltige Kultur, für deren Geistesgeschichte<br />
er sich ganz besonders interessierte. Dabei fokussierte<br />
er nicht eine bestimmte Epoche, sondern<br />
begeisterte sich vielmehr für spannende Denkansätze.<br />
Er las unheimlich viele Sachbücher zu<br />
jüdischen Themen und liebte die Gespräche darüber,<br />
während er sich zu journalistischen Beiträgen<br />
nur von Zeit zu Zeit überreden ließ. Für<br />
die allererste Ausgabe von WINA (1/2011) steuerte<br />
er eine philosophische Auseinandersetzung<br />
Georg und Eli Haber, 2014<br />
Er war viele Jahre lang Co-Geschäftsführer des<br />
WINA-Verlages, davor Direktor des Jüdischen Museums<br />
Wien. Sie organisierte unter anderem das<br />
jüdische Straßenfest in Wien. Gemeinsam waren Eli<br />
und Georg Haber über Jahrzehnte Herzstück und<br />
soziales Gewissen der jüdischen Gemeinde.<br />
© Daniel-Shaked<br />
© Wikimedia Commons, Bernd Schwabe, Hannover 2013<br />
34 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 34 28.12.21 03:32
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />
Erschienen im<br />
November 2011<br />
„Den friedlichen Weg<br />
gewaltvollem Handeln<br />
vorzuziehen, hat sich tief<br />
in unsere jüdische Kultur<br />
eingegraben und wirkt<br />
spürbar bis heute nach.“<br />
© Daniel-Shaked<br />
© Wikimedia Commons, Bernd Schwabe, Hannover 2013<br />
mit der biblischen Ausnahmepersönlichkeit Gedalja<br />
bei. Seiner Aufforderung am Ende des Artikels – „Waren<br />
das nur kleine geschichtliche Episoden? Oder haben<br />
sie das Judentum nachhaltig geprägt? Es ist sicher<br />
wert, darüber nachzudenken“ – möchte ich mit meinem<br />
Beitrag nachkommen.<br />
Kernaussagen aus dem Artikel<br />
• GEDALJA ist die einzige biblische Persönlichkeit, der<br />
unabhängig von einem Feiertag ein eigener Fasttag gewidmet<br />
wurde (Zom Gedalja).<br />
• RABBINISCHE GELEHRTE haben mit dem Fasttag verankert,<br />
dass Juden es vorziehen sollen, fremde herrschende<br />
Autoritäten anzuerkennen, als ihrem Nationalstolz<br />
zu folgen und dadurch ein Blutvergießen zu<br />
verhindern.<br />
• DAS RELIGIÖSE JUDENTUM erklärt nur solche Persönlichkeiten<br />
zu Vorbildern, die friedliche Lösungen<br />
anstreben bzw. unterstützen.<br />
Was bedeutet das für unser<br />
jüdisches Handeln heute?<br />
Die Verknüpfung biblischer Bestimmungen und talmudischer<br />
Entscheidungen mit unserer Lebenswirklichkeit<br />
bildet den Nukleus des Judentums. Jede Generation<br />
ist dazu aufgefordert, den Tanach neu zu<br />
interpretieren. Das bedeutet konkret im Fall von Zom<br />
Gedalja, dass sich in Israel ein modernes Ritual entwickelt<br />
hat, an dem Fasttag eine Gedenkveranstaltung auf<br />
dem Rabin-Platz in Tel Aviv abzuhalten und damit eine<br />
Verbindung zwischen den beiden Friedensaktivisten<br />
Gedalja und Jitzchak Rabin herzustellen.<br />
Den friedlichen Weg gewaltvollem Handeln vorzuziehen,<br />
hat sich tief in unsere jüdische Kultur eingegraben<br />
und wirkt spürbar bis heute nach. Diese Prämisse<br />
bestimmt auch unser Tun, wenn es um den Umgang<br />
mit Anfeindungen und tätlichen Angriffen geht. In<br />
Anbetracht der sich häufenden antisemitischen Anschläge<br />
und Übergriffe von rechtsradikaler und islamistischer<br />
Seite hätten wir allen Grund, uns aggressiv<br />
zu wehren und unserer Wut mit Taten Ausdruck<br />
zu verleihen. Aber statt zur Ermordung islamistischer<br />
Hassprediger aufzurufen, wahllos arabisch gelesene<br />
Menschen auf der Straße zu beschimpfen oder Rechtsextremen<br />
aufzulauern, um sie zu verprügeln, tun wir<br />
nichts dergleichen. Wir orientieren uns, bewusst oder<br />
unbewusst, lieber an unseren Weisen und ziehen ähnlich<br />
wie Gedalja friedliches Handeln vor. Wir bleiben<br />
dabei nicht tatenlos, sondern nutzen die uns in einer<br />
demokratischen Gesellschaft zur Verfügung gestellten<br />
Mittel: Wir appellieren an Politiker:innen, bringen<br />
Vorkommnisse zur Anzeige, schreiben gegen die<br />
Bagatellisierung an, engagieren uns in antidiskriminierenden<br />
Vereinen und Gesprächskreisen und signalisieren<br />
unsere Gesprächsbereitschaft all denjenigen,<br />
die ebenso wie wir seit biblischen Zeiten in einer friedlichen,<br />
pluralen Gesellschaft leben wollen.<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
dezeber.indb 35 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
© Timna Segenreich<br />
Daniela<br />
Segenreich-Horsky<br />
Das Gefühl war unbeschreiblich:<br />
Ich sah<br />
über die Stadt, über<br />
die Zuggleise im Osten<br />
und bis zum Meer<br />
im Westen und spürte<br />
trotz des heißen<br />
Frühsommertags eine<br />
angenehme Brise.<br />
Unser Picknickplatz als<br />
größte Baustelle der Stadt<br />
Die Skyline von Tel Aviv wächst in rasantem Tempo. Hochhäuser sprießen<br />
aus dem Boden, und die Immobilienpreise sind so hoch, dass nun<br />
auch einige Grünflächen des Freizeitviertels Sarona den lukrativen<br />
Wohntürmen weichen mussten. Wohin entwickelt sich die Stadt?<br />
V<br />
Von Daniela <br />
Segenreich-Horsky<br />
Sarona wurde 1871 nach Straßenplänen<br />
des deutsch-jüdischen Architekten<br />
Theodor Sandels angelegt.<br />
or beinahe zehn Jahren schrieb ich meine<br />
erste WINA-Geschichte. Thema war die Abmachung<br />
zwischen einem großen Unternehmer<br />
und der Stadtverwaltung über die<br />
einstige Templersiedlung Sarona. Ich erinnere<br />
mich noch gut daran, wie ich damals,<br />
als ich an einem Wochenende in dem<br />
wegen der Renovierungsarbeiten abgegrenzten<br />
Gelände fotografieren wollte, über ein hohes Gittertor<br />
kletterte und dabei kurz oben steckenblieb. Das Gefühl<br />
war unbeschreiblich: Ich sah über die Stadt, über die<br />
Zuggleise im Osten und bis zum Meer im Westen und<br />
spürte trotz des heißen Frühsommertags eine angenehme<br />
Brise. Die Templer hatten den Standort gut gewählt,<br />
am zentralsten und höchsten Punkt zwischen dem<br />
Flussbett des Ayalon und der Küstenebene. Heute liegt<br />
Sarona mitten im Herzen von Tel Aviv und ist eine der<br />
teuersten Wohngegenden der Metropole.<br />
Die Siedler aus Deutschland brachten damals viele<br />
Neuerungen nach Palästina. Nun wird Sarona zum zweiten<br />
Mal in der Geschichte zum Schnittpunkt zwischen alt<br />
und neu. Wäre ich jetzt oben auf meinem Gittertor, dann<br />
wäre mir wohl die Aussicht verstellt und die Brise von<br />
den hohen Gebäuden ringsum abgeschnürt. Im letzten<br />
Jahrzehnt ist in Tel Aviv eine Skyline entstanden, die der<br />
einer modernen amerikanischen Stadt um nichts nachsteht.<br />
Die Bautätigkeit ist enorm, und die Wohnungspreise<br />
klettern mit den luxuriösen Wohntürmen um die<br />
Wette. Sie haben auch das historische Sarona verändert,<br />
das nun beide Extreme – die alten Ziegelhäuschen und<br />
die höchsten Wolkenkratzer der Stadt – vereint. „Als der<br />
erste Teil des Sarona-Projekts verwirklicht wurde, gab es<br />
noch nicht so viel Nachfrage, also wurden die Hochhäuser<br />
im südwestlichen Teil noch nicht errichtet“, erklärt<br />
Dr. Jeremie Hoffmann, Chef der Abteilung für Gebäudeerhaltung<br />
in der Tel Aviver Stadtverwaltung. Inzwischen<br />
© Wikimedia Commons, American Colony Photo Department or its successor the Matson Photo Service<br />
© Daniela Segenreich<br />
36 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 36 28.12.21 03:32
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />
Erschienen im<br />
Juni 2012<br />
t<br />
© Wikimedia Commons, American Colony Photo Department or its successor the Matson Photo Service<br />
© Daniela Segenreich<br />
„Gegenwärtig<br />
ist unser<br />
einstiger<br />
Picknickplatz<br />
die<br />
wohl größte<br />
Baustelle der<br />
Stadt.“<br />
Sarona wird nun<br />
zum zweiten Mal in<br />
der Geschichte zum<br />
Schnittpunkt zwischen<br />
alt und neu.<br />
ist ein großer Teil des 15.000 Hektar fassenden Areals zur<br />
Baustelle geworden. Dort sollen jetzt drei weitere Luxustürme<br />
vierzig Stock hoch wachsen.<br />
Der vor über zehn Jahren abgeschlossene Deal zwischen<br />
dem Unternehmer Ran Steinman und der Stadtverwaltung<br />
sollte es ursprünglich ermöglichen, den<br />
historischen Sarona-Komplex zu erhalten. Steinman sicherte<br />
der Stadtverwaltung die originalgetreue Restaurierung<br />
der 150 Jahre alten Templerhäuschen zu und erhielt<br />
im Gegenzug die Genehmigung zur Errichtung von<br />
drei Wohntürmen am südlichen Rand der Siedlung. Unter<br />
Denkmalschutz wurden nicht nur die 34 historischen<br />
Bauten des Viertels, sondern auch die alten Eukalyptusbäume<br />
und Palmen gestellt. Es entstand ein pittoreskes,<br />
offenes Freizeit- und Shoppingcenter – jedes der einstöckigen<br />
Häuschen beherbergte<br />
Boutiquen, Cafés<br />
oder Restaurants. Und im<br />
Parterre der Neubauten<br />
wurde der überdachte<br />
Sarona-Markt eingerichtet.<br />
Gegen Südosten gab<br />
es einen zauberhaften<br />
Park mit einem kleinen<br />
Teich, von Bäumen gezierten<br />
Wegen und einer<br />
weitläufigen Grünfläche,<br />
auf der wir damals unser<br />
im Restaurant „Little<br />
Italy“ in einem großen<br />
Weidenkorb erstandenes<br />
Picknick verzehrten.<br />
Gegenwärtig ist unser<br />
einstiger Picknickplatz<br />
die wohl größte Baustelle<br />
der Stadt. Kräne und<br />
Baugerüste räkeln sich<br />
in dem an die Ibn-Gvirol-Straße<br />
angrenzenden<br />
Teil Saronas in den<br />
Himmel, Wiese, Teich<br />
und ein Teil der Templerhäuschen<br />
sind verschwunden.<br />
Der Boden Tel Avivs ist wohl zu teuer<br />
für so viele Grünflächen und einstöckige Bauten<br />
geworden. Der Mindestpreis für eine Wohnung in<br />
einem der dort entstehenden Hochhäuser beträgt<br />
zurzeit etwa 60.000 Schekel (zirka 17.000 Euro) pro<br />
Quadratmeter.<br />
Der Stadtarchitekt versichert jedoch, dass das<br />
Projekt Sarona auch auf die andere Seite der Kaplanstraße<br />
ausgeweitet werden soll. Damit würden<br />
in einigen Jahren – genaue Zeitangaben gibt es dazu<br />
noch nicht – auch das aus Sicherheitsgründen abgesperrte<br />
Areal der sogenannten Kiria, wo sich die israelische<br />
Militärverwaltung befindet, der Öffentlichkeit zugänglich<br />
gemacht und in einen großen Park verwandelt<br />
werden. Die Büros des Militärs würden dann laut Plan<br />
in neuen Hochhäusern am nördlichen Rand<br />
von Sarona untergebracht. Und weil in Tel Aviv<br />
Wohnraum gebraucht wird, soll gleich anschließend<br />
gegen Norden der Stadt und entlang der<br />
Ayalon-Autobahn eine Wohn- und Business-<br />
Zone mit Türmen von bis zu 80 Etagen entstehen.<br />
„Es wird alles sehr dicht sein. Das Glück ist,<br />
dass der Flugkorridor zum Ben-Gurion-Flughafen<br />
freigehalten werden muss. Deswegen wird<br />
man in diesem Gebiet nicht alles so hoch verbauen<br />
dürfen“, meint Hoffmann dazu.<br />
Die gute Nachricht ist, dass der Denkmalschutz<br />
in Tel Aviv in den letzten 30 Jahren Fuß<br />
gefasst hat. Hoffmann bestätigt ein erhöhtes Bewusstsein<br />
für die historischen und die aus symbolischen<br />
Gründen wichtigen Teile der Stadt,<br />
die Gebiete um das alte Zentrum von Jaffo, Newe<br />
Zedek, die eklektischen Häuser in „Lev Tel Aviv“<br />
sowie natürlich die Bauten im Bauhausstil und<br />
sogar den alten Fleischmarkt am Schuk HaCarmel:<br />
„Wir wollen keine sterile Stadt, der Charme<br />
dieser Viertel soll erhalten bleiben“, betont er.<br />
Daher sei es wichtig, das fragile Gleichgewicht<br />
zwischen alt und neu auszubalancieren. „Die<br />
Dinge brauchen Zeit, das sind langfristige Projekte,<br />
aber wenn Sie in zehn Jahren wieder herkommen,<br />
dann wird hier in Sarona vielleicht<br />
wieder ein Park sein.“<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
dezeber.indb 37 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
© Manfred Weis<br />
Reinhard Engel<br />
FIRMEN, EXPORTE,<br />
KOOPERATIONEN<br />
Der WINA-Wirtschaftsteil hat seit zehn<br />
Jahren mehrere Säulen. Da sind einmal<br />
Porträts österreichisch-jüdischer Unternehmerinnen<br />
und Manager. Das können<br />
Chefs traditioneller Handwerks- oder<br />
Gewerbebetriebe sein, Gründer medizinischer<br />
Labors oder unterschiedlichste<br />
Dienstleisterinnen – von der Architektin<br />
bis zum Caterer.<br />
Dann berichten wir über Exporterfolge<br />
oder technische Kooperationen österreichischer<br />
Firmen in Israel, etwa den Bau<br />
eines Wassertunnels für Jerusalem durch<br />
den Konzern Strabag, die Cyber-Security-<br />
Tochter des Anlagenbauers Andritz oder<br />
die Lieferung eines hochmodernen Logistikzentrums<br />
für die Supermarktkette<br />
Shufersal durch den steirischen Spezialisten<br />
Knapp.<br />
Einen bedeutenden Raum nimmt die<br />
Berichterstattung über die israelische<br />
Wirtschaft ein. Dabei stehen naturgemäß<br />
Hightech-Themen im Vordergrund:<br />
autonomes Fahren oder Hacker-Abwehr,<br />
Drohnenentwicklung und Chip-Produktion,<br />
Roboter für Rückgratoperationen<br />
oder pharmazeutische Generika. Doch<br />
auch in ganz anderen Nischen können israelische<br />
Unternehmen Erfolge vorweisen,<br />
etwa beim weltweiten Verkauf von<br />
sensorgesteuerten Anlagen zur Tröpfchenbewässerung,<br />
beim Export hochwertiger<br />
Datteln oder beim Züchten von<br />
Stören für die Kaviarproduktion.<br />
An dieser Themenvielfalt zeigen sich<br />
auch österreichische Gesprächspartner<br />
höchst interessiert, die mit Israel bisher<br />
kaum zu tun hatten, mit denen ich bei<br />
anderen Gelegenheiten Kontakt hatte:<br />
für Artikel in internationalen Medien oder<br />
bei der Recherche für Wirtschaftsbücher.<br />
Das Interview mit Dan Schechtman ist ein<br />
gutes Beispiel, denn er spricht nicht nur<br />
über Technologie, sondern auch über<br />
die dazu passende kreative und kritische<br />
Mentalität.<br />
„Eine Kultur des Wider sp<br />
nicht des Gehorchens“<br />
Nobelpreisträger Dan Shechtman sprach 2016 im WINA-Interview<br />
über die Gründe der zahlreichen Start-up-Erfolge, aber auch die Defizite<br />
der israelischen Wirtschaft.<br />
Interview & Foto: Reinhard Engel<br />
WINA: Herr Professor Shechtman, wir befinden uns im<br />
Haus der österreichischen Industrie vor zahlreichen Porträts<br />
einst hier erfolgreicher Unternehmensgründer. Heute<br />
gilt Israel als das Land der Start-ups. Worauf basiert diese nicht<br />
nur ihm Nahen Osten, sondern im globalen Vergleich äußerst<br />
erfolgreiche Entwicklung?<br />
Shechtman: Viele der besten globalen Konzerne betreiben<br />
in Israel Entwicklungsfirmen, „Development Centers“.<br />
Ich spreche da von den Intels der Welt – und zahlreichen<br />
anderen dieser Spielklasse. Aber das sind nicht<br />
nur Entwicklungszentren, das sind vielmehr echte Innovationszentren.<br />
Und diese erarbeiten neue Konzepte für<br />
die künftige IT-Technologie. Hier entwickelt man sowohl<br />
Software wie auch Chips, aber meist werden die Chips<br />
nicht in Israel produziert.<br />
Mit der Ausnahme von Intel, dem größten industriellen Produzenten<br />
des Landes mit mehreren Fabriken.<br />
I Das stimmt, Intel hat einige Fabriken in Israel, aber<br />
die meisten anderen produzieren nicht im Land. Man<br />
könnte es eine Art internen „Brain Drain“ nennen, weil<br />
so viele gute Köpfe für ausländische Unternehmen arbeiten.<br />
Das ist die schlechte Seite der Sache. Aber es gibt auch<br />
eine gute Seite: Die vielen Tausend Frauen und Männer,<br />
die in diesen Unternehmen arbeiten, stehen an der<br />
Spitze der weltweiten Technologieentwicklung. Sie wissen,<br />
was in fünf Jahren in der IT-Branche passieren wird.<br />
Und wenn sie eine gute Idee haben, verlassen sie ihr Unternehmen<br />
und gründen ein Start-up. Das heißt also,<br />
dass sie die Produkte der Zukunft entwickeln können.<br />
Das kann aber nicht sämtliche Erfolge erklären.<br />
I Natürlich gibt es noch andere Gründe. Einer davon betrifft<br />
das Militär. Sie wissen sicher, dass heute die Kriege<br />
zunehmend von der Informationstechnologie abhängen.<br />
Themen wie Cyber-Kriegsführung haben daher eine<br />
38 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 38 28.12.21 03:32
WINA: Herr Professor Shechtman, wir befinden uns hier im<br />
Haus der österreichischen Industrie, vor zahlreichen Porträts<br />
einst hier erfolgreicher Unternehmensgründer. Heute gilt Israel<br />
als das Land der Start-ups. Worauf basiert diese nicht nur<br />
im Nahen Osten, sondern im globalen Vergleich äußerst erfolgreiche<br />
Entwicklung?<br />
Dan Shechtman: Viele der besten globalen Konzerne betreiben<br />
in Israel Entwicklungsfirmen, so genannte „Development Centers“.<br />
Ich spreche da von den Intels der Welt – und zahlreichen<br />
anderen dieser Spielklasse. Aber das sind nicht nur Entwicklungszentren,<br />
das sind vielmehr echte Innovationszentren. Und<br />
diese erarbeiten neue Konzepte für die künftige IT-Technologie.<br />
Hier entwickelt man sowohl Software als auch Chips, aber<br />
meist werden die Chips nicht in Israel produziert.<br />
Mit der Ausnahme von Intel, das ist ja, mit mehreren Fabriken,<br />
der größte industrielle Produzent des Landes.<br />
❙ Das stimmt, Intel hat einige Fabriken in Israel, aber die meisten<br />
anderen produzieren nicht im Land. Man könnte es eine Art<br />
internen „Brain Drain“ nennen, weil so viele gute Köpfe für ausländische<br />
Unternehmen arbeiten. Das ist die schlechte Seite der<br />
Sache. Aber es gibt auch eine gute Seite: Diese vielen Tausend<br />
Frauen und Männer, die in diesen Unternehmen arbeiten, stehen<br />
ganz an der Spitze der weltweiten Technologie-Entwicklung.<br />
Sie wissen, was in fünf Jahren in der IT-Branche passieren<br />
wird. Und wenn sie eine gute Idee haben, verlassen sie ihr Unternehmen<br />
und gründen ein Start-up. Das heißt also, dass sie die<br />
Produkte der Zukunft entwickeln können.<br />
Das kann aber nicht sämtliche Erfolge erklären.<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
INNOVATION CYBERWAR<br />
SPITZENFORSCHUNG UND<br />
❙ Natürlich gibt es noch andere<br />
Gründe. Einer davon<br />
KINDERFERNSEHEN<br />
Dan Shechtman wurde 1941 im damaligen<br />
britischen Mandatsgebiet<br />
betrifft das Militär. Sie wissen<br />
sicher, dass heute die<br />
Palästina geboren. Er studierte Materialwissenschaft<br />
am Tech-nion in Haifa Kriege zunehmend von der<br />
und promovierte dort 1972, daneben Informationstechnologie abhängen.<br />
Themen wie Cyber-<br />
absolvierte er ein Ingenieurstudium,<br />
das er mit einem BSc abschloss. Es Kriegsführung haben daher<br />
folgten Forschungsjahre in den USA,<br />
eine ganz entscheidende Bedeutung<br />
erlangt. Und es gibt<br />
unter anderem an der John Hopkins<br />
University. Seit 1975 arbeitet er am<br />
Technion, er hält dort den Lehrstuhl eine große Zahl von Soldaten<br />
für Materialwissenschaften. Mehrere in Israel, die an dieser Cyber-<br />
Monate im Jahr unterrichtet er dasselbe<br />
Fach an der Iowa State University.<br />
Kriegsführung arbeiten.<br />
Shechtman erhielt 2011 den Nobelpreis<br />
für Physik für seine Erforschung Die Armee rekrutiert ja bereits<br />
an den Gymnasien die<br />
der so genannten Quasi-Kristalle. Dabei<br />
geht es um regelmäßige, aber aperiodische<br />
Strukturen von Molekülen in gangs für ihre IT-Spezialein-<br />
besten Schüler jedes Jahr-<br />
bestimmten Metalllegierungen. Diese<br />
heiten.<br />
Entdeckung, die lange im internationalen<br />
Wissenschaftsestablishment umstritten<br />
war, dient unter anderem dazu, ten sind dann an der Spitze der<br />
❙ So ist es. Auch diese Solda-<br />
Stähle oder Aluminiumverbindungen technologischen Entwicklung.<br />
mit höherer Härte zu erzeugen, sei es Und die Cyber-Technologien<br />
für die Medizintechnik oder für industrielle<br />
Anwendungen.<br />
können sowohl militärisch als<br />
Shechtman ist mit einer Psychologie- auch im zivilen Bereich eingesetzt<br />
werden. Wenn diese Sol-<br />
Professorin verheiratet, das Paar hat<br />
vier Kinder und 11 Enkelkinder. Neben daten das Militär verlassen,<br />
seiner Lehrtätigkeit gestaltete Shecht- gründen sie Start-ups, oft gemeinsam<br />
mit ehemaligen Kameraden<br />
bestimmter Einheiten. Darüber hinaus gibt es genug<br />
Financiers, Risikokapital, nicht zuletzt von ehemaligen Gründern,<br />
die ihr Unternehmen um mehrere 100 Millionen Dollar<br />
an einen internationalen Konzern verkauft haben.<br />
Und die verjubeln ihr Geld nicht in der Karibik?<br />
❙ Nein, meist nicht. Sie investieren es wieder in neue junge Unternehmen.<br />
Sie wollen damit natürlich noch mehr Geld machen.<br />
Aber was fast noch wichtiger ist: Sie engagieren sich auch<br />
in diesen Start-ups, helfen den Gründern, Fehler zu vermeiden,<br />
beraten sie, binden sie in ihre bestehenden Beziehungsnetze<br />
ein, und damit geht es noch einmal schneller mit der Unternehmensentwicklung.<br />
Ich möchte Sie nicht nur zur technischen Seite befragen, sondern<br />
auch zur Unternehmenskultur, denn die spielt sicherlich<br />
in einer derartig modernen Branche eine entscheidende<br />
Rolle. Ich darf Ihnen ein Negativbeispiel aus der europäischen<br />
Industrie geben, aus einer durchaus erfolgreichen Branche,<br />
der Automobilindustrie. Dort sprechen Unternehmensberater<br />
von einer Lehm- und Lähmschicht mittlerer Manager.<br />
Das heißt, die Unternehmen sind recht hierarchisch und bürokratisch<br />
aufgebaut.<br />
❙ Das ist eben in Israel ganz anders. Nicht nur, weil die Firmen<br />
jünger sind und allein deshalb noch nicht so bürokratisch. Es geht<br />
insgesamt viel informeller zu: Auch ein einfacher Entwicklungs-<br />
12 wına | März 2016<br />
ingenieur kann direkt zum Chef gehen, wenn ihm etwas einfällt,<br />
er muss sich nicht mühsam über einige Hierarchiestufen hinaufarbeiten,<br />
bis er einen Termin bekommt. Übrigens kann auch das<br />
mit dem Militär zu tun haben: Denn die beiden Männer hatten<br />
eventuell beim letzten Reserveeinsatz umgekehrte Rollen,<br />
da hatte der CEO den niedrigeren Rang und mussten den Befehlen<br />
des Ingenieurs gehorchen.<br />
Aber fehlende Hierarchie allein kann wohl die grundlegende Innovationsbereitschaft<br />
nicht erklären.<br />
❙ Es gibt zwei weitere essenzielle Grundlagen dafür. Das eine ist<br />
eine Kultur des Widersprechens, nicht des Gehorchens. Das betrifft<br />
nicht nur die Unternehmen, das betrifft die gesamte Gesellschaft.<br />
Es ist nicht ganz einfach, in so einer Gesellschaft zu<br />
leben, es lebt sich bequemer unter Braven. Aber so eine Gesellschaft<br />
ist sicherlich innovativ. Und der zweite Aspekt betrifft die<br />
Möglichkeit des Scheiterns und dass man das riskiert. Wir Israelis<br />
haben keine Angst zu scheitern. In Europa und noch viel<br />
mehr in Asien gilt Scheitern als Schande. Das ist in Israel nicht<br />
so. Man scheitert und probiert es aufs Neue.<br />
In Israel konzentrieren sich die meisten Start-ups im Bereich<br />
von Software und IT. Sie selbst kommen von einer technischen<br />
Universität, dem Technion in Haifa, und auch von der Fakultät<br />
für Materialwissenschaften und Ingenieurswesen. Glauben Sie,<br />
dass diese Konzentration der israelischen Firmengründer auf<br />
Software auch ein Nachteil sein kann? Anders gefragt: Braucht<br />
Israel auch einen produzierenden Sektor?<br />
❙ Sie haben Recht, die meisten Start-ups finden sich im Softwarebereich.<br />
Und sie haben auch Recht, wir brauchen mehr als<br />
nur diese eine Spezialisierung. Wir müssen auch Güter erzeugen,<br />
die man angreifen kann. Die meisten Start-ups tun das nicht, aber<br />
es gibt auch solche, etwa im Bereich moderner Medizintechnik.<br />
Ich denke da etwa an Untersuchungsmethoden mit niedriger<br />
Strahlung und anderes. Auch meine Universität, das Technion,<br />
hilft zahlreichen Start-ups in den unieigenen Inkubatoren. Unsere<br />
Universitäten kümmern sich auch um die kommerzielle Umsetzung<br />
und Vermarktung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse.<br />
Das ist übrigens am erfolgreichsten im Pharmabereich,<br />
von dort kommt das große Geld, und mit den Einnahmen von<br />
dort kann man wieder andere Gründer mit finanzieren.<br />
Es hat in jüngster Zeit wiederholt Vorwürfe gegeben, die israelische<br />
Start-up-Szene habe ein wenig an Dynamik verloren.<br />
Teilen Sie diese Ansicht?<br />
❙ Ich denke eigentlich nicht, aber es könnte durchaus sein. Die<br />
Wirtschaft läuft niemals nur geradeaus, es ist ein ewiges Auf und<br />
Ab. Japan hat gezeigt, dass es seine Dynamik für 20 Jahre verloren<br />
hat. Vielleicht hat Israel einmal zwei schwache Monate gehabt.<br />
Aber die Zukunft kennen wir natürlich nicht. Wir bringen<br />
jedenfalls immer noch sehr gute Köpfe hervor, und auch das<br />
Universitätssystem funktioniert gut. Wir leiden allerdings an einer<br />
zu geringen Zahl an Interessenten für die wissenschaftlichen<br />
und technischen Studienfächer. Und dagegen kämpfe ich auch<br />
persönlich an in meinem Land.<br />
DIKTATUREN VON MINDERHEITEN<br />
Lassen Sie mich noch einmal auf die israelische<br />
❙ Ich habe gerade eine Stadt im Süden<br />
Wirtschaft insgesamt zurückkommen. Der Hightechsektor<br />
ist zwar erfolgreich international<br />
germeister gesprochen. Dort hat eine<br />
von Israel besucht und mit dem Bür-<br />
aufgestellt und bringt sowohl Devisen als auch<br />
Gruppe streng religiöser Mädchen beim<br />
Ruhm. Daneben gibt es aber ein ganz anderes<br />
landesweiten Abschlusstest, der hiesigen<br />
Israel, viel tiefer im Nahen Osten zuhause, viel<br />
Matura vergleichbar, 100 Prozent der<br />
weniger produktiv und in manchen Aspekten sogar<br />
rückständig.<br />
derbar, aber dann heiraten sie, bekom-<br />
Punkte erreicht. Das ist natürlich wun-<br />
❙ Das stimmt, und wir haben daran mit Schuld,<br />
men Kinder – und arbeiten nicht mehr.<br />
wir haben uns in der Vergangenheit selbst Schaden<br />
Hier bin ich in Israel sehr kritisch, sage<br />
zugefügt. Es liegt schon etwas länger zurück, aber<br />
das laut und werde dafür auch kritisiert.<br />
man hat in Israel ganz bewusst die mechanische<br />
Ich meine, wenn jemand seinen Kindern<br />
und handwerkliche Ausbildung zerstört. Es gibt<br />
durch die Schulwahl künftige Optionen<br />
daher einen gewaltigen Mangel an Menschen mit<br />
nimmt, beschädigt er die Zukunft dieses<br />
diesen Fähigkeiten, ich meine Menschen, die Maschinen<br />
bedienen können. Das müssen wir korri-<br />
bestraft werden wie körperliche Züchti-<br />
Kindes. Das sollte vom Gesetz ähnlich<br />
gieren, aber ich bin mir nicht so sicher, dass die Regierung überhaupt<br />
schon bemerkt hat, welchen Fehler sie da gemacht hat. Die<br />
gung. Wenn er sein Kind schlägt, wird er auch bestraft.<br />
Schuld daran trifft übrigens nicht die derzeitige Regierung, das Und wie sieht es bei den israelischen Arabern aus?<br />
liegt Jahre zurück. Aber wir sollten auf jeden Fall wieder gezielt ❙ Die Gruppe der Araber ist, was ihre Ausbildung betrifft, klar<br />
mit dieser Ausbildung beginnen, an der Schnittstelle zwischen gespalten. Die christlichen Araber sind sehr erfolgreich, das steht<br />
technischem Arbeiter und Ingenieur. Wir brauchen Menschen, ganz außer Frage. Bei den Muslimen sieht es anders, weit weniger<br />
gut aus. Diesem Problem sollte man sich ernsthafter stellen.<br />
die CNC-Maschinen betreiben können, und wir brauchen Menschen,<br />
die gut schweißen können. An denen mangelt es, aber es<br />
gibt erste Privatinitiativen, um das zu ändern.<br />
Sie haben am Anfang des Gesprächs den „Brain Drain“ erwähnt,<br />
zwar nur in Israel gegenüber ausländischen Firmen,<br />
Welche Rolle spielen in Israel streng religiöse Juden und aber doch. Wie bewerten Sie die Entwicklung, dass Tausende<br />
Araber am Arbeitsmarkt? Kann man nicht in diesen Gruppen<br />
neue Interessenten für wissenschaftliche und technische Berlin und Kalifornien. Werden sie alle wieder zurückkommen<br />
von jungen Israelis im Ausland leben und arbeiten, zwischen<br />
Berufe suchen?<br />
und ihr dort erworbenes Wissen wieder zurückbringen, oder<br />
❙ Vor allem bei Religiösen und bei Arabern gibt es große Probleme<br />
am Arbeitsmarkt. Wenn sie arbeiten, arbeiten sie oft unter dass ihre Kinder nicht in einer Region aufwachsen, in der es<br />
könnten sie dauerhaft verloren gehen? Etwa weil sie wollen,<br />
schlechten Bedingungen, vielfach auch schwarz, in der informellen<br />
Wirtschaft. Es ist ein Problem, wir haben nicht genug kluge ❙ Es wird da keine allgemeine Regel geben. Manche werden blei-<br />
keine Aussicht auf dauerhaften Frieden gibt.<br />
Köpfe, und manche Haredim hätten diese Köpfe, wollen aber ben, und manche werden zurückkommen. Ich erzähle Ihnen von<br />
nicht im IT-Sektor arbeiten, das gilt übrigens auch für manche meiner eigenen Familie, und schon da sieht man beide Möglichkeiten.<br />
Ich habe vier Kinder, drei von ihnen leben in Kalifornien,<br />
Araber. Wenn sie die richtige Ausbildung hätten, würden sie gut<br />
bezahlte Jobs finden.<br />
im Silicon Valley. Eine Tochter wird nicht mehr zurückkommen,<br />
weil sie dort ihre Familie hat. Die beiden anderen werden, denke<br />
Aber diese Ausbildung haben sie nicht?<br />
ich, zurückkommen. Auf jeden Fall einer meiner Söhne, der gerade<br />
als Dr. der Physik seine Postdoc-Ausbildung bei einem No-<br />
❙ In den religiösen Schulen werden nicht einmal die Grundlagen<br />
für Mathematik und Wissenschaft gelehrt, ganz bewusst. belpreisträger in Stanford absolviert. Er ist vor einigen Wochen<br />
Es wird fast nur Religion unterrichtet. Die Regierung lässt ihnen<br />
das durchgehen, weil man sie in der Koalition braucht. Daten,<br />
weil er einen Job sucht: am Technion, am Weizman-Insti-<br />
nach Israel gereist und hat an vier Universitäten Lectures gehalgegen<br />
kann man kaum etwas machen, und ihre<br />
tut, in Tel Aviv und an der Bar Ilan. Eine<br />
Zahlen nehmen noch zu, in den Grundschulen<br />
Woche später hatte er zwei Angebote. Er<br />
geht es in Richtung zwanzig Prozent an Kindern,<br />
kommt auf jeden Fall zurück, und seine<br />
die keine wissenschaftlichen Grundlagen lernen.<br />
Frau arbeitet für Intel.<br />
Das ist ein ganz großes Problem. In der Demokratie<br />
kann es manchmal zu Diktaturen von Minderheiten<br />
kommen.<br />
kann sie vermutlich bei der dortigen<br />
Das heißt, wenn sie nach Israel kommt,<br />
Niederlassung arbeiten?<br />
Und gäbe es bei den Frauen der streng Religiösen<br />
eine Chance, sie für Technik zu begeistern?<br />
kommen will, haben sie ihr gesagt: „Be-<br />
❙ Als sie gehört haben, dass sie zurück-<br />
Viele von Ihnen arbeiten ja.<br />
eilen Sie sich, wir warten schon auf Sie.“<br />
wına-magazin.at<br />
13<br />
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />
INTERVIEW MIT DAN SHECHTMAN<br />
r sprechens,<br />
„ Eine Kultur des Widersprechens,<br />
nicht des Gehorchens“<br />
Nobelpreisträger Dan<br />
Shechtman über die Gründe der<br />
zahlreichen Start-up-Erfolge<br />
und über Defizite der israelischen<br />
Wirtschaft. Interview &<br />
Foto: Reinhard Engel<br />
„Wir Israelis<br />
haben keine Angst,<br />
zu scheitern. In Europa<br />
und noch viel<br />
mehr in Asien gilt<br />
Scheitern als<br />
Schande.“<br />
Dan Shechtman<br />
„In der Demokratie<br />
kann es<br />
manchmal zu<br />
Diktaturen von<br />
Minderheiten<br />
kommen.“<br />
Erschienen im<br />
März 2016<br />
ganz entscheidende Bedeutung erlangt. Und es gibt eine<br />
große Zahl von Soldaten in Israel, die an dieser Cyber-<br />
Kriegsführung arbeiten.<br />
Die Armee rekrutiert bereits an den Gymnasien die besten<br />
Schüler jedes Jahrgangs für ihre IT-Spezial-Einheiten.<br />
I So ist es. Auch diese Soldaten sind dann an der Spitze<br />
der technologischen Entwicklung. Und die Cyber-<br />
Technologien können sowohl militärisch wie auch im<br />
zivilen Bereich eingesetzt werden. Wenn diese Soldaten<br />
das Militär verlassen, gründen sie Start-ups, oft<br />
gemeinsam mit ehemaligen Kameraden bestimmter<br />
Einheiten. Darüber hinaus gibt es genug Financiers,<br />
Risikokapital, nicht zuletzt von ehemaligen Gründern,<br />
die ihr Unternehmen um mehrere 100 Millionen Dollar<br />
an einen internationalen Konzern verkauft haben.<br />
Und die verjubeln ihr Geld nicht in der Karibik?<br />
I Nein, meist nicht. Sie investieren es wieder in neue,<br />
junge Unternehmen. Sie wollen damit natürlich noch<br />
mehr Geld machen. Aber was fast noch wichtiger ist:<br />
Sie engagieren sich auch in diesen Start-ups, helfen<br />
den Gründern, Fehler zu vermeiden, beraten sie, binden<br />
sie in ihre bestehenden Beziehungsnetze ein, und<br />
damit geht es noch einmal schneller mit der Unternehmensentwicklung.<br />
Ich möchte Sie nicht nur zur technischen Seite befragen, sondern<br />
auch zur Unternehmenskultur, denn die spielt sicherlich<br />
in einer derart modernen Branche eine entscheidende Rolle.<br />
Ich darf Ihnen ein Negativbeispiel aus der europäischen Industrie<br />
geben, aus einer durchaus erfolgreichen Branche, der<br />
Automobilindustrie. Dort sprechen Unternehmensberater<br />
von einer Lehm- und Lähmschicht mittlerer Manager. Das<br />
heißt, die Unternehmen sind recht hierarchisch und bürokratisch<br />
aufgebaut.<br />
„[...] eine Kultur des<br />
Widersprechens,<br />
nicht des Gehorchens.<br />
Das betrifft nicht nur<br />
die Unternehmen, das<br />
betrifft die gesamte<br />
Gesellschaft.“<br />
Dan Shechtman<br />
I Das ist in Israel ganz anders. Nicht<br />
nur weil die Firmen jünger sind und<br />
allein deshalb noch nicht so bürokratisch.<br />
Es geht insgesamt viel informeller<br />
zu: Auch ein einfacher Entwicklungsingenieur<br />
kann direkt zum<br />
Chef gehen, wenn ihm etwas einfällt,<br />
er muss sich nicht mühsam über einige<br />
Hierarchiestufen hinaufarbeiten,<br />
bis er einen Termin bekommt. Übrigens kann auch<br />
das mit dem Militär zu tun haben, denn die beiden Männer<br />
hatten eventuell beim letzten Reserveeinsatz umgekehrte<br />
Rollen, da hatte der CEO den niedrigeren Rang<br />
und musste den Befehlen des Ingenieurs gehorchen.<br />
Aber eine flachere Hierarchie allein kann wohl die grundlegende<br />
Innovationsbereitschaft nicht erklären?<br />
I Es gibt zwei weitere essenzielle Grundlagen dafür. Das<br />
eine ist eine Kultur des Widersprechens, nicht des Gehorchens.<br />
Das betrifft nicht nur die Unternehmen, das betrifft<br />
die gesamte Gesellschaft. Es ist nicht ganz einfach,<br />
in so einer Gesellschaft zu leben, es lebt sich bequemer<br />
unter Braven. Aber so eine Gesellschaft ist sicherlich innovativ.<br />
Und der zweite Aspekt betrifft die Möglichkeit<br />
des Scheiterns und dass man das riskiert. In Europa und<br />
noch viel mehr in Asien gilt Scheitern als Schande. Das<br />
ist in Israel nicht so. Wir Israelis haben keine Angst davor<br />
zu scheitern. Man scheitert und probiert es aufs Neue.<br />
In Israel konzentrieren sich die meisten Start-ups im Bereich von<br />
Software und IT. Sie selbst kommen von einer technischen Universität,<br />
dem Technion in Haifa, und von der dortigen Fakultät<br />
für Materialwissenschaft und Ingenieurswesen. Glauben Sie,<br />
dass diese Konzentration der israelischen Firmengründer auf<br />
Software auch ein Nachteil sein kann? Anders gefragt: Braucht<br />
Israel auch einen produzierenden Sektor?<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
dezeber.indb 39 28.12.21 03:32
10 JAHRE WINA<br />
I Sie haben Recht, die meisten Start-ups finden sich im<br />
Softwarebereich. Und Sie haben auch Recht: Wir brauchen<br />
mehr als nur diese eine Spezialisierung. Wir müssen<br />
auch Güter erzeugen, die man angreifen kann. Die<br />
meisten Start-ups tun das nicht, aber es gibt auch solche,<br />
etwa im Bereich moderner Medizintechnik. Ich<br />
denke da etwa an Untersuchungsmethoden mit niedriger<br />
Strahlung und anderes. Auch das Technion hilft zahlreichen<br />
Start-ups in den universitätseigenen Inkubatoren.<br />
Unsere Universitäten kümmern sich zudem um die<br />
kommerzielle Umsetzung und Vermarktung der wissenschaftlichen<br />
Forschungsergebnisse. Das ist übrigens am<br />
erfolgreichsten im Pharmabereich, von dort kommt das<br />
große Geld. Und mit den Einnahmen kann man wieder<br />
andere Gründer mitfinanzieren.<br />
Es hat in jüngster Zeit wiederholt Vorwürfe gegeben, die israelische<br />
Start-up-Szene habe ein wenig an Dynamik verloren. Teilen<br />
Sie diese Ansicht?<br />
I Ich denke eigentlich nicht, aber es könnte durchaus<br />
sein. Doch die Wirtschaft läuft niemals nur geradeaus, es<br />
ist ein ewiges Auf und Ab. Japan hat gezeigt, dass es seine<br />
Dynamik für 20 Jahre verloren hat. Vielleicht hat Israel<br />
einmal zwei schwache Monate gehabt. Aber die Zukunft<br />
kennen wir natürlich nicht. Wir bringen jedenfalls immer<br />
noch sehr gute Köpfe hervor, und auch das Universitätssystem<br />
funktioniert gut. Wir leiden allerdings an<br />
einer zu geringen Zahl an Interessenten für die wissen-<br />
Dan Shechtman<br />
erhielt 2011 den Nobelpreis<br />
für Chemie<br />
für die Erforschung<br />
der Quasikristalle.<br />
vellupt assimint,<br />
WACHSENDE WIRTSCHAFT,<br />
NEUE AKTEURE<br />
Israel wurde zwar wie viele andere Länder<br />
auch schwer von der Corona-Krise getroffen.<br />
Der Rückgang der Wirtschaftsleistung im<br />
Gesamtjahr 2020 betrug allerdings laut israelischem<br />
Finanzministerium vergleichsweise<br />
milde minus 2,4 Prozent. Dabei zeige sich laut<br />
einer Analyse der WKO „deutlich die geringere<br />
Abhängigkeit vom Realsektor und die starke<br />
Performance der Dienstleistungsindustrie, die<br />
im Digitalisierungsboom von 2020 ebenfalls einen<br />
starken Wachstumsmotor hatte“. Im ersten<br />
Halbjahr <strong>2021</strong> wuchs die israelische Wirtschaft<br />
um 15,4 Prozent, nicht zuletzt getrieben vom<br />
Privatkonsum. Für das Gesamtjahr <strong>2021</strong> rechne<br />
man daher trotz weiterer Reisebeschränkungen<br />
und neuer Virusvarianten mit einem Wirtschaftswachstum<br />
von 4,2 Prozent.<br />
Auch in den letzten Jahren vor der Pandemie<br />
entwickelte sich der israelische Hightech-Sektor<br />
inklusive technologieorientierter Start-ups<br />
sehr gut. Es gab umfangreiche Investitionen internationaler<br />
Konzerne, auch das industrielle<br />
Flaggschiff Intel wird seine Produktion in Israel<br />
noch einmal deutlich erweitern. Was zentrale<br />
Kritikpunkte Shechtmans betrifft, so bemühen<br />
sich die Technologieunternehmen zunehmend<br />
auch um religiöse jüdische Frauen und – etwas<br />
vorsichtiger – um arabische Israelis als qualifizierte<br />
Mitarbeiter. Dennoch besteht hier noch<br />
erheblicher Nachholbedarf.<br />
schaftlichen und technischen Studienfächer. Dagegen<br />
kämpfe ich auch persönlich an in meinem Land.<br />
Lassen Sie mich noch einmal auf die israelische Wirtschaft insgesamt<br />
zurückkommen. Der Hightech-Sektor ist zwar erfolgreich,<br />
international aufgestellt und bringt sowohl Devisen wie auch<br />
Ruhm. Aber daneben gibt es ein ganz anderes Israel, viel tiefer<br />
im Nahen Osten zuhause, viel weniger produktiv und in manchen<br />
Aspekten sogar rückständig.<br />
I Das stimmt, und wir haben daran mit Schuld, wir haben<br />
uns in der Vergangenheit selbst Schaden zugefügt.<br />
Es liegt schon etwas länger zurück, aber man hat in Israel<br />
ganz bewusst die mechanische und handwerkliche<br />
Ausbildung zerstört. Es gibt daher einen gewaltigen Mangel<br />
an Menschen mit diesen Fähigkeiten, ich meine Menschen,<br />
die Maschinen bedienen können. Das müssen wir<br />
korrigieren, aber ich bin mir nicht so sicher, dass die Regierung<br />
überhaupt schon bemerkt hat, welchen Fehler<br />
40 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 40 28.12.21 03:32
Technologieunternehmen bemühen sich<br />
zunehmend auch um religiöse jüdische Frauen<br />
und – etwas vorsichtiger – um arabische<br />
Israelis als qualifizierte Mitarbeiter. Dennoch<br />
besteht hier noch erheblicher Nachholbedarf.<br />
sie da gemacht hat. Die Schuld daran trifft übrigens nicht<br />
die derzeitige Regierung, das liegt Jahre zurück. Aber wir<br />
sollten auf jeden Fall wieder gezielt mit dieser Ausbildung<br />
beginnen, an der Schnittstelle zwischen technischem Arbeiter<br />
und Ingenieur. Wir brauchen Menschen, die CNC-<br />
Maschinen betreiben können, und wir brauchen Menschen,<br />
die gut schweißen können. An denen mangelt es,<br />
aber es gibt erste Privatinitiativen, um das zu ändern.<br />
Welche Rolle spielen in Israel streng religiöse Juden und Araber<br />
am Arbeitsmarkt? Kann man nicht in diesen Gruppen neue Interessenten<br />
für wissenschaftliche und technische Berufe suchen?<br />
I Vor allem bei Religiösen und bei Arabern gibt es große<br />
Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Wenn sie arbeiten, arbeiten<br />
sie oft unter schlechten Bedingungen, vielfach<br />
auch schwarz, in der informellen Wirtschaft. Es ist ein<br />
Problem, wir haben nicht genug kluge Köpfe, und manche<br />
Haredim hätten diese Köpfe, wollen aber nicht im IT-<br />
Sektor arbeiten, das gilt übrigens auch für manche Araber.<br />
Wenn sie die richtige Ausbildung hätten, würden sie<br />
gut bezahlte Jobs finden.<br />
Aber diese Ausbildung haben sie nicht?<br />
I In den religiösen Schulen werden nicht einmal die<br />
Grundlagen für Mathematik und Wissenschaft gelehrt,<br />
ganz bewusst. Es wird fast nur Religion unterrichtet.<br />
Die Regierung lässt ihnen das durchgehen, weil man sie<br />
in der Koalition braucht. Dagegen kann man kaum etwas<br />
machen, und ihre Zahlen nehmen noch zu, in den<br />
Grundschulen geht ihr Prozentsatz in Richtung zwanzig<br />
Prozent, von Kindern, die keine wissenschaftlichen<br />
Grundlagen lernen. Das ist ein ganz großes Problem. In<br />
der Demokratie kann es manchmal zu Diktaturen von<br />
Minderheiten kommen.<br />
Und gäbe es bei den Frauen der streng Religiösen eine Chance,<br />
sie für Technik zu begeistern? Viele von ihnen arbeiten ja.<br />
I Ich habe gerade eine Stadt im Süden von Israel besucht<br />
und mit dem dortigen Bürgermeister gesprochen. Dort<br />
hat eine Gruppe streng religiöser Mädchen beim landesweiten<br />
Abschlusstest, der hiesigen Matura vergleichbar,<br />
100 Prozent der Punkte erreicht. Das ist natürlich<br />
SPITZENFORSCHUNG<br />
UND KINDERFERNSEHEN<br />
Dan Shechtman wurde 1941 als Sohn ukrainischer<br />
Einwanderer im damaligen britischen<br />
Mandatsgebiet Palästina geboren. Er studierte<br />
Materialwissenschaft am Technion in<br />
Haifa und promovierte dort 1972. Daneben absolvierte<br />
er ein Ingenieurstudium, das er mit einem<br />
BSc abschloss. Es folgten Forschungsjahre<br />
in den USA, unter anderem an der Johns Hopkins<br />
University. Seit 1975 arbeitet er am Technion<br />
und hält dort den Lehrstuhl für Materialwissenschaft.<br />
Dan Shechtman erhielt 2011 den Nobelpreis<br />
für Chemie für seine Erforschung der so genannten<br />
Quasikristalle. Dabei geht es um regelmäßige,<br />
aber aperiodische Strukturen von<br />
Molekülen in bestimmten Metalllegierungen.<br />
Diese Entdeckung, die lange im internationalen<br />
Wissenschaftsestablishment umstritten war,<br />
dient unter anderem dazu, Stahle oder Aluminiumverbindungen<br />
mit höherer Härte zu erzeugen,<br />
sei es für die Medizintechnik oder für<br />
industrielle Anwendungen.<br />
Dan Shechtman ist mit der Psychologieprofessorin<br />
Tzipora Shechtman verheiratet, das<br />
Paar hat vier Kinder und zahlreiche Enkelkinder.<br />
Neben seiner Lehrtätigkeit gestaltete Dan<br />
Shechtman unter anderem Wissenschaftssendungen<br />
für Kinder im israelischen Fernsehen<br />
und versuchte 2014 erfolglos, für das Amt des<br />
israelischen Staatspräsidenten zu kandidieren.<br />
wunderbar, aber dann heiraten sie, bekommen Kinder<br />
und arbeiten nicht mehr. Hier bin ich in Israel sehr kritisch,<br />
sage das laut – und werde dafür auch kritisiert. Ich<br />
meine, wenn jemand seinen Kindern durch die Schulwahl<br />
künftige Optionen nimmt, dann beschädigt er die<br />
Zukunft dieses Kindes. Das sollte vom Gesetz ähnlich bestraft<br />
werden wie körperliche Züchtigung. Wenn jemand<br />
sein Kind schlägt, wird er auch bestraft.<br />
Und wie sieht es bei den israelischen Arabern aus?<br />
I Die Gruppe der Araber ist, was ihre Ausbildung betrifft,<br />
klar gespalten. Die christlichen Araber sind sehr erfolgreich,<br />
das steht außer Frage. Bei den Muslimen sieht es<br />
weit weniger gut aus. Diesem Problem sollte man sich<br />
ernsthafter stellen.<br />
Professor Shechtman, danke für das Gespräch.<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
dezeber.indb 41 28.12.21 03:32
noch lesen.<br />
war, .<br />
ich .<br />
Larissa Kravitz:<br />
Money, honey!<br />
Podcast:<br />
© Avi Kravitz<br />
das LeTZTe MaL<br />
eine ruhige Kugel ohne<br />
schlechtes Gewissen gescho-<br />
© Lukas Ilgner<br />
Das letzte Mal,<br />
wieder einmal „Shape Of You“ gesungen.<br />
Richtiger Ohrwurm!<br />
fee trinken kann.<br />
scha fst auch du.“<br />
gefühlt habe .<br />
länger aus.<br />
© Benjamin Ostertag<br />
56 wına | Mai 2017<br />
Das letzte Mal beeindruckt von<br />
einem filmischen Ereignis war<br />
ich …<br />
. bei der Berlinale. Dort gibt es so<br />
wundervo le Kinos in einer Dimen-<br />
filmen.<br />
Leben.<br />
sein.“<br />
als .<br />
einstigen Opere<br />
tendiva Fritzi<br />
der Malerin Eva<br />
He rmann (Julia<br />
Resinger) im<br />
Stück EXILLos-<br />
Angeles – # He-<br />
© X xxx<br />
kommen.<br />
da s ich dachte: „Es steckt doch mehr<br />
Orient als Melange in mir" war . als ich endgültig realisierte, da s ich<br />
bei aller Liebe zu Wien, der Stadt wo ich<br />
wohne und arbeite, den Ka fee ohne<br />
Milch und orientalisch zubereitet bevorzuge.<br />
war .<br />
Das letzte Mal, da s ich mir gewünscht<br />
habe, doch ein kleineres und leichteres<br />
Musikinstrument erlernt zu haben,<br />
Diesen Gedanken kenne ich von der<br />
Zeit, also ich noch KEIN Akkordeon<br />
besaß. Da spielte ich nämlich vorwiegend<br />
Klavier, manchmal auch elektronisches<br />
Keyboard. Und im Vergleich dazu<br />
war und ist das Akkordeon ein Leichtgewicht.<br />
ich . .<br />
Das letzte …<br />
Mal zu „The Sound of Music“<br />
gesungen habe ich …<br />
Ich summe lieber als zu singen. Der<br />
Soundtrack besteht aus vielen Ohr-<br />
Das letzte Mal, da s mich ein<br />
bestimmter Musicsound berührt<br />
hat, war …<br />
tern konnte …<br />
© Bernahrd Schramm<br />
© Xxx x<br />
Das letzte Mal<br />
ein bi sele Mazl ha te ich,<br />
als ich versucht habe, schauspielerisch<br />
gegen einen Türstock zu knallen,<br />
und mich beinahe wirklich am<br />
Knie verletzt hätte.<br />
Das letzte Mal, da s mir das Gegenteil<br />
davon − also ein Schlamassel<br />
− passiert ist, war,<br />
als ich einen Aufnahmetermin<br />
abends im ORF datummäßig verwechselte<br />
und ein ganzes Aufnahmeteam<br />
plus Ko legen im Studio<br />
auf mich warteten, während ich bereits<br />
im Pyjama vorm Fernseher lag.<br />
Das letzte Mal, da s ich in meiner<br />
Freizeit musiziert habe, .<br />
gab es nicht, denn ich singe jeden<br />
Tag vor mich hin.<br />
Das letzte Mal Lampenfieber<br />
ha te ich …<br />
vor dem ersten Wort einer neuen<br />
Lesung, die ich selbst zusammengeste<br />
lt ha te. Stimmen das Programm,<br />
das Timing, die Intensität<br />
…?<br />
Das letzte Mal als waschechter<br />
Wiener gefühlt habe ich mich …,<br />
als ich in den Nachrichten hören<br />
mu ste, da s sich die Beamten in<br />
den Aufnahmeverfahren Asylwerbern<br />
und deren Helfern gegenüber<br />
immer schlechter benehmen. Naja,<br />
wer’s nicht schon wu ste .<br />
1 wına | November 2018<br />
© Markus Morianz<br />
Moscovici mit seiner Panflöte sowie andere illustre Übe raschungsgäste erwartet.<br />
eröffnungsgala A bi sele Mazl,<br />
29. November, 19 Uhr, MuTh.<br />
yiddishculturevienna.at<br />
© Ernst Kainerstorfer<br />
10 JAHRE WINA<br />
DAS LETZTE MAL<br />
das LETZTE MAL<br />
das LETzTE MAL<br />
daS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal unter der Dusche gesungen<br />
habe ich …<br />
Das letzte Mal<br />
Das letzte Mal<br />
heute Morgen. Bei mir läuft immer das<br />
Radio im Badezimmer. Ed Sheeran hat<br />
würmern. Durch ständiges Mitsingen<br />
komme ich aber noch auf neue Ideen.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal .<br />
Das letzte Mal zu viel Geld für etwas<br />
ausgegeben habe ich .<br />
. für eine handgemachte Hochzeitskarte<br />
mit aufgeklebten Herzen aus Filz und Holz.<br />
Sie war dadurch so dick, da s sie kaum<br />
mehr durch den Schlitz der Hochzeitsbox<br />
pa ste. Als ich sie durchpre ste, ri s die<br />
Deko ab. Ich ho fe, man konnte den Inhalt<br />
Das letzte Mal eine Fehlinvestition<br />
getätigt habe ich, .<br />
. als ich überhastet eine Perücke gekauft<br />
habe. Sie liegt nun quasi ungebraucht im<br />
Schrank, und ich trage eine andere.<br />
Das letzte Mal viel Zeit in etwas<br />
Sinnvo les investiert habe ich, .<br />
. als ich mein Buch geschrieben habe.<br />
Ich las Dutzende Studien zu den Themen<br />
Finanzmathematik, Makroökonomie und<br />
Verhaltenspsychologie. Die Ergebni se<br />
von 120 dieser Studien ließ ich in den<br />
Text einfließen.<br />
Das letzte Mal, da s ich meinem<br />
Ehemann Finanztipps gegeben habe,<br />
. als ich ihm erklärt habe, wie er mi tels<br />
Stop-Lo s-Orders seine Wertpapierpositionen<br />
absichern kann.<br />
Das letzte Mal Lo to gespielt habe<br />
. vor ein p ar Wochen, bevor ich<br />
meine Oma besucht habe. Ich kaufe<br />
ihr gelegentlich einen Lo toschein.<br />
Als Zahlen nehme ich immer die<br />
Geburtstage ihrer Enkel und Urenkel.<br />
1 wına | März 2020<br />
Vorsorgen und Investieren<br />
für Einsteigerinnen.<br />
Kremayr & Scheriau, 2020.<br />
240 S., 2 €<br />
investorella.podig e.io<br />
GLÜCKS-<br />
ZAHLEN<br />
ben habe ich …<br />
letzten Mi twoch. Ich habe eine<br />
erfolgreiche und anstrengende<br />
Prüfung hinter mich gebracht<br />
und mir danach ein intensives<br />
Training mit anschließendem<br />
Saunabesuch im Hakoah-<br />
Zentrum gegönnt.<br />
Den letzten kulinarischen<br />
„Strike“ habe ich …<br />
… vergangenes Jahr zu Rosch<br />
ha-Schana hingelegt, als mir<br />
der Gefi lte Fisch besonders<br />
gut gelungen ist.<br />
Das letzte Mal aus der Bahn<br />
geworfen hat mich …<br />
… die Geburt meiner Töchter –<br />
im positiven Sinn!<br />
Meinen letzten großen<br />
sportlichen Moment habe<br />
ich gehabt …,<br />
… als ich mit meinem geliebten<br />
Bowling-Team den letzten Platz<br />
in der Liga erfolgreich verteidigen<br />
konnte.<br />
Das letzte Mal The Big Lebowski<br />
gesehen habe ich …<br />
… vor einem Monat, einmal<br />
im Monat muss es schon sein.<br />
Der Film ist Kult!<br />
56 wına | April 2017<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In<br />
diesem Monat ve rät uns Finanzexpertin Larissa Kravitz eine haarige<br />
Fehlinvestition, die besten Anlagen in sich selbst und wann die<br />
Börsenspezialistin auch mal Lotto spielt.<br />
Lari sa Kravitz kaufte bereits mit 14 Jahren ihre ersten Aktien.<br />
Sie studierte Bank- und Finanzwirtschaft in Wien sowie Quantitative<br />
Trading and Financial Engineering in Monaco und arbeitete als<br />
Aktienhändlerin. Mit 25 baute sie das Treasury Management für ein<br />
Solarenergieunternehmen auf, mit 32 Jahren war sie Aufsichtsrätin<br />
bei Immofinanz. 2018 konzentrierte sie sich dann<br />
auf das, was ihr am meisten am Herzen liegt: die finanzie le<br />
Autonomie von Frauen. Als „Investorella“ bietet sie Frauenworkshops<br />
zu Anlagethemen an, gestaltet einen feministischen Podcast<br />
über nachhaltiges Investment und bringt nun mit Money, honey!<br />
ein Buch heraus, das der ideale Begleiter für Frauen in die Welt<br />
des Geldes sein so l.<br />
Letzter PLatz?<br />
erfoLgreich<br />
verteidigt!<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch<br />
ein letztes. Daniel Rosenberg, Obmann des<br />
S.C. Hakoah Bowling in Wien, ve rät uns,<br />
welchen kulinarischen Strike er vergangenes<br />
Jahr hinlegte und was ihn einmal im<br />
Monat vor das TV-Gerät lockt.<br />
2011 gründete Daniel Rosenberg die Sektion<br />
Bowling beim S.C. Hakoah. Das Team trainiert<br />
jeden Dienstag von 16 bis 17.30 Uhr<br />
(außer feiertags) in der ehemaligen Brunswick-<br />
Bowling-Ha le im Prater. Bi te vorher anmelden:<br />
bowling@hakoah.at<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal…<br />
© privat<br />
etwas Neues gelernt habe ich .<br />
. von meiner Tochter. Sie ist ein ständiger<br />
Que l neuer Erkenntni se über moderne<br />
Kommunikationstechnologien: Kennen Sie<br />
den Snapchat-Hunde-Foto-Filter? Schlappohren<br />
stehen den wenigsten Menschen<br />
gut, habe ich festgestellt.<br />
Das letzte Mal, da s ich ehrlich optimistisch<br />
in Zeiten von Klimakatastrophe,<br />
politischem Populismus&Co in<br />
die Zukunft blickte, war .<br />
. jeden Morgen: Ohne Optimismus entsteht<br />
nichts Großes. Ich halte es mit<br />
Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist,<br />
wächst das Re tende auch.“<br />
Das letzte Mal froh darüber, nicht mehr<br />
in der Politik zu arbeiten, war ich . .. als ich meiner Nachfolgerin mit großer<br />
Zustimmung bei einer TV-Disku sion zugehört<br />
habe. He r Strache inklusive.<br />
Das letzte Mal Hummus gege sen<br />
habe ich .<br />
. kurz vor Weihnachten, beim Frühstück<br />
in einem kleinen Hotel.<br />
Das letzte Mal etwas Wienerisches in<br />
Israel vermi st habe ich .<br />
.. in der unergründlichen Rush-Hour in<br />
Tel Aviv: die Wiener U-Bahn.<br />
Das letzte Mal „Freundschaft“ gesagt<br />
habe ich .<br />
Es pa siert immer wieder, da s mich<br />
Menschen auf der Straße so begrüßen.<br />
Das freut mich und wird natürlich<br />
ko rekt erwidert.<br />
Das letzte Mal meine Frau während der<br />
gemeinsamen Arbeitszeit beeindruckt<br />
habe ich .<br />
Sie sagt: damit, da s ich mich in Meetings<br />
mit anderen Alphatieren wie ein normaler<br />
höflicher Mensch verhalte. Gut, das Gefühl,<br />
da s ich jemandem etwas beweisen<br />
mu s, habe ich längst abgelegt.<br />
64 wına | <strong>Jänner</strong>/Februar 2019<br />
VON SCHLAPPOHREN UND<br />
ALPHATIEREN<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat erklärt Ex-Kanzler Christian Kern,<br />
warum er in seiner neuen Heimat Tel Aviv die Wiener<br />
U-Bahn vermisst und womit er seine Frau während der<br />
gemeinsamen Arbeitszeit beeindruckt.<br />
Endgültiger Abschied von der Politik: Ende 2018 ist Ex-Kanzler<br />
Christian Kern als Dri teleigentümer in der Blue Minds Gruppe, der<br />
Firma seiner Frau Eveline Steinberger-Kern, eingestiegen. Das Unternehmen<br />
hat seinen Sitz in Wien und Israel – in Tel Aviv plant Christian<br />
Kern zukünftig die Hälfte seiner Zeit zu verbringen. Dort entwickelt<br />
die Gruppe Busine smodelle für digitale Transformation im<br />
Bereich der Energiesysteme.<br />
Das letzte Mal bei einem We tbewerb<br />
teilgenommen habe ich selbst …<br />
vor fast sieben Jahren, es ist also schon<br />
ziemlich lange her. Es war das alljährliche<br />
und traditione le Sportfest der Juko,<br />
bei dem a le Jugendorganisationen teilnehmen.<br />
Ich war damals im Hashomer<br />
Hatzair als Madricha – also Gruppenleiterin<br />
– mit, habe aber nicht nur meine Chanichim<br />
(Schützlinge) angefeuert, sondern<br />
auch selbst mitgespielt.<br />
Das letzte Mal, dass ich Wien wunderbar<br />
fand, war …<br />
eigentlich jedes Mal, wenn ich durch die<br />
Innenstadt gehe. Ich liebe die Architektur<br />
und den Charme, den sie mit sich bringt.<br />
Vor a lem im Sommer, wenn man dann<br />
auch noch im alten Burgarten umgeben<br />
von den Ringbauten einen kalten Eiskaf-<br />
Das letzte Mal an eine riesigen Tafel<br />
mit vielen Leuten saß ich …<br />
beim Shabbes Essen in der JÖH. Das<br />
neue Board der Jüdischen Hochschüler<br />
hat ein Shabbat-Dinner organisiert, an<br />
dem ungefähr dreißig Leute teilgenommen<br />
haben. Wir saßen a le gemeinsam an<br />
einem langen Tisch, plauderten und haben<br />
das gute Essen genossen. Ein wirklich<br />
gelungener Abend.<br />
Das letzte Mal einem guility pleasure im<br />
TV nachgegeben habe ich …<br />
vor etwa zwei Jahren mit meiner kleinen<br />
Nichte, die damals „Germanys Next Topmodel“<br />
geliebt hat. Nun ja, ich kann ihr<br />
kaum einen Wunsch abschlagen, also<br />
musste ich mir einen ganzen Abend lang<br />
Heidi Klum und die Zickenkämpfe unter<br />
den Teilnehmerinnen ansehen. Was tut<br />
man nicht alles für die Familie!<br />
64 wına | März 2017<br />
Von ChaniChim und<br />
der lieben<br />
misChpoke<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal –<br />
aber auch ein letztes. In diesem Monat<br />
berichtet „Jew-Factor“- Moderatorin Jenny<br />
Mitbreit über Eiska fee im Burggarten<br />
und GNTM mit der kleinen Nichte.<br />
Jenny Mitbreit, 22, studiert Judaistik an der Uni Wien<br />
und ist die Moderatorin von „THE JEW FACTOR 2017“.<br />
Bei der Talentshow ba tlen die Jüdischen Jugendorganisationen<br />
mit ihren Performances um Ruhm und Ehre<br />
und letztlich auch einen hübschen Siegerpokal.<br />
„THE JEW FACTOR 2017“, 5. März 2017,<br />
18.00 Uhr, Konzertsaal „Haus der Begegnung“,<br />
Praterstraße 1, 1020 Wien,<br />
Ticketverkauf bei den Jugendorganisationen<br />
oder bei der Abendka sa ab 17.30 Uhr.<br />
Das lETzTE MAl<br />
© SX x<br />
Das letzte Mal, dass ….<br />
… mir jemand eine wichtige<br />
„Regieanweisung fürs Leben“<br />
gegeben hat, war ….<br />
.. als mir meine 85-jährige Oma eine<br />
WhatsApp-Nachricht geschrieben hat<br />
mit den Worten: „Ich denke, zehn<br />
Minuten pro Woche nichts tun<br />
… ich sprachlos war, war …<br />
. in negativer Weise am Wahltag.<br />
Und in positiver Weise immer dann<br />
(und das ist selten), wenn ich merke,<br />
dass ich jemanden wirklich mag.<br />
… ich mich auf eine abgelegene<br />
Insel gewünscht habe, war …<br />
. bei unserer letzten makemake-Inszenierung<br />
Atlas der abgelegenen<br />
Inseln, denn da geht es um die<br />
Utopie der abgelegenen Orte.<br />
… ich einen neuen Ort für mich hier<br />
in Wien erkundet habe, war .<br />
Ich befinde mich in einem konstanten<br />
Modus von aus Wien weggehen und<br />
in Wien ankommen – dabei verändert<br />
sich der Blick doch ständig, auch auf<br />
a les, was da schon lange und immer<br />
ist. Das mag ich sehr.<br />
… ich mich als echte Wienerin<br />
U f, ich weiß nicht. „Echte Wienerin“<br />
– das ist nicht meine Frage. Mich<br />
überfordert meist schon die Überlegung,<br />
ob ich ich bin. Diese Frage<br />
reicht mir dann auch erst mal für<br />
1 wına | <strong>Dezember</strong> 2017<br />
ich?<br />
Bin ich<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Regisseurin Sara Ostertag berichtet über die WhatsApp-Nachricht<br />
ihrer Oma und erzählt, was (und wer) sie sprachlos macht.<br />
Sara Ostertag wurde 1985 in Wien geboren und arbeitet als Regi seurin,<br />
Choreografin und Theaterpädagogin in Öste reich und Deutschland.<br />
2009 gründet sie mit anderen KünstlerInnen das Ko lektiv makemake<br />
produktionen, mit dem zahlreiche preisgekrönte Arbeiten im Bereich Theater für<br />
junges Publikum entstanden. Die Gruppe hat auch die aktue le Inszenierung von<br />
Sara Ostertag, Mu tersprache Mameloschn, koproduziert.<br />
Mu tersprache Mameloschn<br />
In dem sprachlich virtuosen und temporeichen Text der jungen Autorin Sasha Marianna<br />
Salzmann geht es um Frauen, die über Frauen sprechen. Genauer: um drei Generationen<br />
jüdischer Frauen, die sich an der unmöglichen Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens<br />
abarbeiten. Kosmos Theater, 5.–16.12.2017 und 4.–24.2.2018, 20 Uhr.<br />
kosmostheater.at<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich einen musikalischen Glücksmoment<br />
hatte …<br />
Glücklicherweise waren es sogar zwei Momente,<br />
und das erst vor kurzer Zeit: Der erste war unsere<br />
Live-Session mit Interview und Jam auf<br />
FM4. Mi ten in der Nacht in einer kleinen Sound-<br />
Booth. Kuschelig und cool haben wir dort viele<br />
schöne Live-Kommentare bekommen.<br />
Und ich bereite zur Zeit mit einem jungen Künstler<br />
ein Projekt vor, das ich selbst produziere und<br />
schreibe. Wir haben gemeinsam an einem Lied<br />
gearbeitet – und nach drei Stunden war der<br />
erste Versuch, das Lied als Ganzes zu singen, ein<br />
to ler „Aha-Moment“.<br />
Das letzte Mal, dass ich mich wie eine echte<br />
Wienerin fühlte .<br />
Den heutigen Abend verbrachte ich mit meinem<br />
Freund zu Hause, und er hat mich übe redet, Josef<br />
Hader anzuschauen .. Sämtliche Charaktere,<br />
die Hader in seinem Programm verkörperte,<br />
kannte ich bereits aus meinem Leben in Wien.<br />
Das letzte Mal, da s ich gerne wild gewesen<br />
wäre, es aber leider doch nicht war .<br />
Ein sehr jüdischer Moment: Ein Facharzt, den<br />
ich konsultierte, hat mir nur drei Minuten seiner<br />
Zeit gewidmet. Ich wo lte einfach schreien: „Ich<br />
bin mir sicher, da s du diese Unannehmlichkeiten<br />
überhaupt nicht kennst, also versuche zumindest,<br />
mir dein Mitleid vorzutäuschen! Ah –<br />
und gib mir eine konkrete Lösung!“ Im Ende fekt<br />
habe ich es dann doch nicht gemacht. Aber ich<br />
glaube, ich gehe in Zukunft ohnehin lieber zu einem<br />
anderen Arzt.<br />
Das letzte Mal zu richtigen Zeit am richtigen<br />
Ort war ich . Die Musik hat mich zur richtigen Zeit an den richtigen<br />
Ort gebracht, als ich meinen Freund kennen<br />
gelernt habe. Es waren verschiedene Zufä<br />
le, die uns zusammengebracht haben. Timing<br />
war sehr wichtig in unserem Fall – und ich bin<br />
seitdem sehr sehr glücklich :-).<br />
Das letzte Mal zu viel Geld ausgegeben<br />
habe ich …<br />
Zu viel gebe ich nie aus – aber ich habe einen<br />
Soft-Spot für Second-Hand-Kleidung und coole<br />
A cessoires. Wenn ich bei einem HUMANA-Shop<br />
vorbeifahre, mu s ich einfach hineinsehen – und<br />
es kommen immer wieder „Metzies“ dabei heraus.<br />
Als ich meine Familie in London zu Rosch<br />
ha-Schana besucht habe, bin ich auch mit einem<br />
vo len Ko fer nach Hause geflogen. Lieblingsstück<br />
daraus ist ein Blumenhut. Ich bin mir noch<br />
nicht sicher, zu welchem Event ich ihn tragen<br />
könnte, aber er is trotzdem sehr schön!<br />
1 wına | <strong>Dezember</strong> 2016<br />
Das LETZTE MAL<br />
sion, wie ich sie selbst nur aus Filmen<br />
kannte. Beim Film Beuys im<br />
vo len Friedrichstadtpalast blieb<br />
mir der Atem weg.<br />
Das letzte Mal filmreif gefeiert<br />
habe ich …<br />
. beim Sederabend auf Einladung<br />
meiner Mu ter, mit meinen Schwestern<br />
und unseren Kindern, also<br />
drei Generationen. Es war ein festliches<br />
Tohuwabohu, wir können ja<br />
a le nicht sti l halten. Das sind dann<br />
Szenen wie aus einem Woody-Allen-<br />
Film, ich würde das gerne mal mit<br />
Meine letzte oscarverdächtige<br />
Leistung war …<br />
. vie leicht, als ich unseren Kater<br />
mitten in der Nacht intuitiv gepflegt<br />
habe, als er von einem Marder völlig<br />
zerkratzt und zerbissen, nass und<br />
zi ternd nach Hause gekommen ist.<br />
Nach zwei Stunden hat er sich beruhigt,<br />
und am nächsten Tag wo lte er<br />
schon wieder strawanzen gehen.<br />
Das letzte große Drama in<br />
meinem Leben war …<br />
. die plötzliche Erkrankung meiner<br />
Tante. Sie kämpft tapfer um ihr<br />
Meine letzte wichtige „Regieanweisung“<br />
bekam ich …<br />
. von meiner Mu ter, als sie mir<br />
sagte: „Mirjam, du darfst glücklich<br />
Metzies<br />
iM Koffer<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber<br />
auch ein letztes. Noa Ben-Gur vom<br />
Soul-Funk-Projekt Playing Savage berichtet<br />
über glückliche Zufä le, den falschen Arzt<br />
und ihren Soft-Spot für Blumenhüte.<br />
Noa Ben-Gur aka Savage wurde in New York geboren und ist<br />
kla sisch ausgebildete Musikerin. Die 29-Jährige studierte<br />
von 2007 bis 2011 an der Universität Tel Aviv und von 2012<br />
bis 2014 an der Uni Wien. Im Jahr 2015 gewann sie in der<br />
Kategorie „Songwriter des Jahres“ für Thorsteinn Einar sons<br />
Song Leya den Amadeus Austrian Music Award. Seit 2015 arbeitet<br />
sie mit dem Wanda-Produzenten Paul Ga lister an dem<br />
Soul-Funk-Projekt Playing Savage. Das Album Wild erschien<br />
dieser Tage. De sen Lyrics hat die talentierte Musikerin übrigens<br />
innerhalb von zwei Wochen geschrieben.<br />
facebook.com/PlayingSavageMusic<br />
Vom<br />
Das lETZTE MAl<br />
Das letzte Mal<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes<br />
Mal. Regisseurin Mirjam Unger erzählt über filmreife<br />
Sederabende, einen oscarverdächtigen Pflegeeinsatz<br />
und die wichtigste Regieanweisung ihrer Mutter.<br />
Lampenfieber hatte ich …<br />
bisher bei jeder Premiere.<br />
Glücklichseindürfen<br />
Im Rahmen des Festivals der jüdischen Kultur 2017 läuft<br />
Mirjam Ungers Film Vienna’s Lost Daughters (2007).<br />
Im Film porträtiert die geborene Klosterneuburgerin acht<br />
jüdische Frauen, die 1938/39 vor dem National-<br />
sozialismus aus Wien nach New York geflüchtet sind, und<br />
zeichnet ihre traumatischen Erfahrungen mit Flucht und<br />
Ankunft in einem neuen ungewi sen Leben auf.<br />
Vienna’s Lost Daughters: 18.5., 18–20.30 Uhr, Votivkino, mit anschließendem Gespräch der Regi seurin mit Giora Seeliger<br />
Weitere Infos: ikg-kultur.at<br />
© Severin Wurnig<br />
© Christine Ebenthal<br />
Die letzte kulinarische<br />
Enttäuschung war …<br />
mein Frühstück.<br />
Das letzte Mal mir selbst ein<br />
Geschenk gemacht habe ich,<br />
ich mit meiner Tochter nach der<br />
Zeugnisvergabe Eis essen war.<br />
Die letzte perfekte Nacht im<br />
Hotel hatte ich …<br />
(darüber rede ich nicht.)<br />
Das letzte Mal stolz auf mich<br />
war ich, als .<br />
ich endlich meinen Keller aufgeräumt<br />
habe.<br />
Claudia Androsch streitet im<br />
Oktober leidenschaftlich als Helene<br />
Thimig mit der<br />
1 wına | Oktober 2017<br />
Ma sary (Erika<br />
Deutinger) und<br />
lene Thimig vergöttert Max Reinhardt.<br />
Premiere: 5.10.2017,<br />
weitere Termine: 6., 12., 13., 14.,<br />
19., 20., 21. 10.2017,<br />
Beginn: 19.30 Uhr<br />
KiP – Kultur im Prückel (Theater im<br />
Soute rain des Café Prückel),<br />
Biberstraße 2, 1010 Wien<br />
Keller-<br />
geschichten<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein<br />
letztes. Schauspielerin und Hotelmanagerin Claudia<br />
Androsch erzählt uns in dieser Ausgabe, womit sie<br />
sich (und ihre Tochter) belohnt.<br />
Claudia Androsch, bekannt aus der TV-Serie Kaisermühlenblues,<br />
absolvierte ihre Ausbildung bei Susi Nicoletti, Ida Kro tendorf<br />
und Uta Hagen in New York. Neben ihrer Film- und Fernsehtätigkeit<br />
reichen Engagements vom Theater in der Josefstadt,<br />
dem Stad theater Koblenz und der Theater Rampe Stuttgart über<br />
die Salzburger Festspiele bis hin zum niederöste reichischen Donaufestival<br />
und steirischen herbst. Zudem betreibt die Wienerin<br />
gemeinsam mit ihrer Schwester ein Fastenhotel in Altau see.<br />
Das LETzTE MAL<br />
Das letztes ….<br />
erfreuliches Erlebnis ha te<br />
ich .<br />
als ich bei meiner letzten<br />
Deutschland-Tournee das erste<br />
Mal mit einem großen Orchester<br />
gepfi fen habe.<br />
Das letzte Mal auf etwas<br />
gepfiffen habe ich .<br />
ebendort, und zwar auf einen<br />
Walzer von Johann Strauß.<br />
Das letzte Mal, dass mir jemand<br />
eine gute „Regieanweisung fürs<br />
Leben" gegeben hat, war .<br />
der Tipp eines Ko legen, da s man<br />
Steaks auch mithilfe von Staniolpapier<br />
und Bügeleisen garen<br />
kann.<br />
Meinen letzten bühnenreifen<br />
Kulinarik-Auftri t ha te ich .<br />
als Genießer von geräuchertem<br />
Aal in einer kleinen Fischerhü te<br />
irgendwo in Ostfriesland.<br />
Das letzte Mal als Wiener<br />
habe ich mich gefühlt .<br />
bei jedem Versuch, in Deutschland<br />
einen kleinen Espre so zu be-<br />
1 wına | Februar 2018<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Das Konzert von Ute Lemper im<br />
<strong>Dezember</strong> im Konzerthaus war außergewöhnlich<br />
und sensatione l. Auch ihr<br />
Auftri t am vergangenen Life Ba l mit<br />
„Sag mir wo die Blumen sind“ war sehr<br />
emotional.<br />
Die letzte rauschende Ba lnacht<br />
ha te ich .<br />
Beim diesjährigen Wiener Opernba l,<br />
der jedes Jahr eines meiner absoluten<br />
Winter-Highlights ist.<br />
Mein letztes persönliches Highlight<br />
beim Life Ba l war …<br />
Unser Relaunch im vergangenen Jahr.<br />
Es war emotional und stringent und<br />
auf den Punkt gebracht. Mit wenig<br />
Ablenkung hat der Ba l 2017 geprunkt,<br />
ohne zu prahlen und war unterhaltsamer<br />
denn je.<br />
Das letzte Mal, da s ich jemanden<br />
unerwartet für den Life Ball begeis-<br />
Unerwartet aber nicht weniger ho f-<br />
nungsvo l: mein Besuch bei Rodgers<br />
& Hammerstein in New York um die<br />
Rechte für „The Sound of Music“ zu<br />
besprechen. Wer den Ba l noch nie<br />
selbst erlebt hat, kann die We le der<br />
Hilfsbereitschaft, der Solidarität, des<br />
Miteinander schwer erme sen.<br />
56 wına | Mai 2018<br />
steak<br />
GebüGeltes<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes. In diesem<br />
Monat erzählt uns Stefan Fleischhacker, Theaterdirektor und Kunstpfeifer,<br />
von kulinarischen Aha-Erlebnissen und sagt,<br />
worauf er pfeift.<br />
Stefan Fleischhacker ist Bühnenbildner, Schauspieler, Tenor und pa sionierter<br />
Kunstpfeifer. Vor a lem aber betreibt der gebürtige Tiroler das „Letzte<br />
erfreuliche Operntheater“ (L.E.O.) im Dritten Bezirk, auf de sen Bühne der<br />
Mann mit Pfiff im Februar etwa den Tannhäuser spielt.<br />
stefanfleischhacker.at,<br />
theaterleo.at<br />
Das LeTzTe MAL<br />
Singen<br />
Vom Summen und<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In dieser<br />
Ausgabe berichtet Gery Keszler, Gründer und Organisator des legendären<br />
Life Ba l, wie er auf Ideen kommt und welcher Sound of Musik<br />
ihm im vergangenen Jahr besonders nahe gegangen ist.<br />
Für sein 25. Jubiläum hat sich der Life Ba l ein überaus öste reichisches Mo to ausgesucht.<br />
Denn am 2. Juni steht bei der Charity-Veranstaltungen, die a ljährlich im Wiener<br />
Rathaus sta tfindet und die zu den weltweit bedeutendsten AIDS-Benefizevents gehört,<br />
a les im Zeichen von „The Sound of Music". Der Musikfilm aus dem Jahr 1965 – besonders<br />
in Asien und Amerika beliebt – thematisiert die Flucht der singenden Familie Trapp<br />
aus dem Dri ten Reich. Genau wie beim Life Ba l wird auch in dem pi toresken Schauspiel<br />
somit ein ernsthafter Hintergrund im a lerbesten Unterhaltungsformat präsentiert. Dafür,<br />
dass der prunkvo le Ba l zu einer unverge sen Nacht wird, sorgen auch zahlreiche prominente<br />
FreundInnen Gery Keszlers aus dem In- und Ausland – wie auch die i lustre<br />
Heerschar an feierwütigen Gästen. Der Erlös geht an globale Hilfsprojekte.<br />
Life Ba l, 2. Juni 2018, alle Infos: lifeplus.org<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
In diesem Monat erzählt Schauspieler Cornelius<br />
Obonya vom Glück im Unglück und dem Pech, im<br />
Pyjama vor dem Fernseher zu sitzen, wenn man<br />
eigentlich dort drin zu sehen sein so lte.<br />
das LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal …<br />
Mazl unD<br />
schlaMassel<br />
übe rascht von Marie von Ebner-<br />
Eschenbach war ich …<br />
.. bei der Vorbereitung zu den aktuellen<br />
Proben von Maslans Frau. Die Protagonistin<br />
Evi legt eine Konsequenz an<br />
den Tag, die kaum zu überbieten ist.<br />
Der zentrale Liebeskampf ist erotisch,<br />
bi ter, hochmodern und spannend wie<br />
ein Krimi. Es lohnt sich, Krambambuli<br />
mal kurz zu verge sen und sich mit<br />
dieser De-facto-Zeitgeno sin zu<br />
konfrontieren.<br />
Das letzte Mal, da s ich die Rax<br />
leuchten gesehen habe, war …<br />
. bei Sonnenuntergang hinter dem<br />
Thalhof. Romantischer geht es nicht<br />
mehr. Dramatischer auch kaum .<br />
Das letzte Mal auf Sommerfrische<br />
war ich …<br />
In den raren Probenpausen, wenn der<br />
Wind durch die Bäume fährt, habe ich<br />
eine Ahnung von „Sommerfrische“.<br />
Für mich setzt sie allerdings erst so<br />
richtig im September ein … und das<br />
meistens im spätsommerfrischen Süden<br />
Europas.<br />
Das letzte Mal als echte Wienerin<br />
habe ich mich gefühlt …,<br />
.. als ich an der Academy for Drama<br />
and Cinema in Hanoi Mannerschni ten<br />
mit meinen StudentInnen geteilt habe.<br />
Das letzte Mal „Was denkst du?“<br />
gefragt worden bin ich …<br />
. heute auf der Probe. So eine Probe<br />
ist ja ein ständiges gegenseitiges „Was<br />
denkst du“, verbal und nonverbal. Oft<br />
zeigt sich, da s das Spiel das Denken<br />
quasi von links überholt und erfrischt.<br />
Gedankensommerfrische sozusagen …<br />
1 wına | Sommer 2018<br />
Das letzte Mal…<br />
Das letzte Mal, da s ich spontan mein<br />
Akkordeon ausgepackt und für Menschen<br />
musiziert habe, war ..<br />
in Jerusalem im Sommer 2018 nach<br />
einem Konzert in der Altstadt. Im Innenhof<br />
eines Wohnhauses ergab sich spontan<br />
eine Late-Night-Jamsession mit<br />
Musikerko legen und mehreren herumstreunenden<br />
Katzen.<br />
Das letzte Mal, da s ich mich in Graz<br />
als Wiener fühlte, war .<br />
im Zug ungefähr auf halber Strecke<br />
zwischen Wien und Graz, also ziemlich<br />
genau irgendwo am Semmering. Wobei<br />
da selbe in umgekehrter Richtung gilt .<br />
Das letzte Mal Tango getanzt habe<br />
ein paar kühne Schri te auf meiner<br />
Slack-Line im Garten, bevor ich den<br />
Tanz sprunghaft beenden mu ste :-)<br />
Die CD „Mélange Oriental“<br />
ist außerdem erhältlich<br />
über: stefanheckel.at<br />
SLACK-LINE-<br />
TANGO<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Musiker Stefan Heckel erzählt uns in diesem Monat von<br />
einer Jamsession für Katzen und warum sein Instrument,<br />
das Akkordeon, in Wahrheit eh ein echtes Leichtgewicht ist.<br />
Stefan Hecke lebt und arbeitet in Wien und Graz. Er studierte an der<br />
Kunstuniversität Graz Ja zklavier sowie an der Royal Academy of Music<br />
London Komposition. 2018 traf er auf dem Festival „Sounding<br />
Jerusalem“ mit dem Öste reicher Erich Oskar Hue ter (Violonce lo)<br />
und dem israelischen Perku sionisten Chen Zimbalista zusammen<br />
und sie gründeten das Trio Mélange Oriental. Im Rahmen des<br />
20. Internationalen A kordeon Festival 2019 spielen die Musiker<br />
mit den unterschiedlichsten kulture len und stilistischen Hintergründen<br />
jetzt ihre feine „Musik aus der Altstadt Jerusalems“.<br />
Do., 7. 3., 20 Uhr, Vindobona, 20., Wallensteinplatz 6,<br />
akkordeonfestival.at<br />
Cornelius Obonya erö fnet gemeinsam mit dem Wiener Klezmer<br />
Orchester das diesjährige Yiddish Culture Festival (25.11.–13.12.).<br />
A bi sele Maz lautet der Titel des Programms, bei dem Obonya Texte<br />
öste reichischer jüdischer Autoren liest, die vom Naziregime verfolgt, ins exil<br />
getrieben oder umgebracht worden sind. Als Special Guests werden auch<br />
Wiens bekanntester Ja z-Vibraphonisten, Martin Breinschmid, Constantin<br />
64 wına | März 2019<br />
42 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 42 28.12.21 03:32
43<br />
wına-magazin.at<br />
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />
Das letzte Mal, dass ich für mich<br />
persönlich eine Weisheit aus dieser Rubrik mitgenommen<br />
habe, war ...<br />
... aus dem Interview mit Filmemacherin Mirjam<br />
Unger, deren Mutter einmal sagte: „Du darfst<br />
glücklich sein.“ Ich habe mir daraufhin einige<br />
Gedanken darüber gemacht, warum die Menschen<br />
mit sich selbst manchmal so streng sind.<br />
Das letzte Mal, dass ich mir gewünscht habe,<br />
fremdsprachlich besser aufgestellt zu sein, war ...<br />
... am Ende eines Gesprächs mit dem großartigen<br />
Arik Brauer über Humor. Die Pointe seines<br />
Lieblingswitzes erzählte er nämlich auf<br />
Hebräisch.<br />
Das letzte Mal, dass mir bei meiner Arbeit für<br />
diese Rubrik ein wenig anders wurde, war ...<br />
... als mir der „Cyberagent“ Ari Kravitz nicht nur<br />
seine Antworten zuschickte, sondern auch gleich<br />
die geleakten Passwörter für all meine E-Mail-<br />
Accounts mit dem Rat, sie rasch zu ändern. Und<br />
dabei am besten etwas subtiler vorzugehen. Seitdem<br />
verwende ich nur noch komplizierte Kennworte<br />
– die ich regelmäßig vergesse.<br />
Das letzte Mal, dass mich Das letzte Mal mental<br />
ziemlich gefordert hat, war ...<br />
... beim Telefonat mit Crêperist und Spitzenkoch<br />
Royi Shwartz. Der Feinschmecker berichtete mir<br />
45 Minuten lang so detailliert vom Kochen, Essen<br />
und Genießen, dass ich noch Tage von fermentiertem<br />
Sauerteig, aromatischem Paprika, cremiger<br />
Burrata und Balsamico-Perlen fantasierte.<br />
Das letzte Mal, dass ich mich über etwas gewundert<br />
habe, war ...<br />
... heute! Nämlich darüber, dass bis auf eine einzige<br />
Ausnahme alle Fragen, die ich für diese Rubrik<br />
verschickt habe – und das waren immerhin<br />
über 250! –, immer anstandslos beantwortet<br />
wurden.<br />
© MICHAEL BEDNAR-BRANDT<br />
Über 250 Fragen hat WINA-Autorin Nicole Spilker in den vergangenen Jahren<br />
Menschen nach ihren letzten Malen gestellt – zum Jubiläum muss sie nun selbst ran.<br />
MEIN<br />
ERSTES MAL<br />
Eine kleine Auswahl:<br />
Nur einige der 50 lustigen,<br />
Nur einige der 50 lustigen,<br />
klugen und manchmal auch traurig stimmenden<br />
klugen und manchmal auch traurig stimmenden Letzten<br />
Letzten<br />
Male<br />
Male, die Nicole Spilker in den vergangenen Jahren zusam-<br />
, die Nicole Spilker in den vergangenen Jahren zusammengesammelt<br />
hat.<br />
mengesammelt hat.<br />
64 wına | September 2018<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein<br />
letztes. Und weil sich in diesem Monat das Jahr<br />
5778 verabschiedet, haben wir Obe rabbiner Arie<br />
Folger gebeten, den Blick noch einmal auf die<br />
vergangenen Monate zu richten.<br />
Schokoriegelmomente<br />
© Eli Itkin<br />
Das letzte Mal…<br />
dass sich einer meiner Neujahrswünsche<br />
erfü lt hat, war …<br />
. natürlich im vergangenen Jahr, als wir<br />
auch Neujahrsgebete sahen, die erfü lt wurden.<br />
Wir baten um Leben und sind da, um miteinander<br />
zu sprechen. Wir baten um Gesundheit,<br />
und trotz einiger sehr schmerzhafter<br />
Monate (Bänderze rung) bin ich heute wieder<br />
sportlich in Bewegung. Wir baten um Frieden,<br />
in Israel und in der Welt, und . na, ja, alles<br />
geht nicht gleich vor unseren Augen in<br />
Erfü lung. Dafür will der liebe G" t, da s wir<br />
vorerst geduldig werden.<br />
Das letzte Mal einen Neuanfang<br />
gestartet habe ich …<br />
. im Winter. Nach besagter Verletzung fing ich<br />
im <strong>Jänner</strong> wieder an, Ski zu fahren – und bin<br />
sogar besser geworden! Ich ha te auch vor,<br />
einige Bücher zu lesen, die auf meiner Liste<br />
stehen, schaffe aber nicht a le, die ich mir<br />
vorgenommen habe. Grade lese ich jedoch ein<br />
Buch, dass ich bereits anno 2010 lesen wollte:<br />
„Judaism: A Way of Being“ von David Gelernter.<br />
Ein gutes Buch, das viele Denkanstöße liefert.<br />
Das letzte Mal gedacht: ,5778 war eigentlich<br />
gar kein so übles Jahr’ habe ich …<br />
. als ich mir überlegte, wie viele Menschen<br />
ich in diesem Jahr kennengelernt und noch<br />
besser kennengelernt habe. Und nach Chanuka<br />
ist unsere Tochter geboren, eine kleine<br />
Wienerin.<br />
Das letzte Mal gedacht: ,Na endlich geht<br />
dieses Jahr zu Ende’ habe ich …<br />
. als ich von einigen Freunden und Bekannten<br />
Abschied nehmen mu ste oder Menschen<br />
begleitet habe, während sie Abschied von<br />
einem Familienmitglied nehmen mu sten.<br />
Das tut immer weh.<br />
Das letzte Mal, dass mir etwas Süßes<br />
pa siert ist, war ...<br />
... gestern. Es geschieht immer etwas Süßes.<br />
Und wenn das unsere Einste lung ist, dann<br />
finden wir immer etwas Süßes im Leben (und<br />
wenn nicht, hilft immer noch der Griff zum<br />
Schokoladeriegel).<br />
DaS LETzTE MAL<br />
56 wına | September 2017<br />
Fotograf Daniel Shaked erzählt uns in dieser<br />
Ausgabe, wo er sich das letzte Mal als echter Wiener<br />
gefühlt hat. Kleiner Spoiler: Es war nicht in der<br />
öste reichischen Hauptstadt ...<br />
KEIN<br />
KAFFEEHAUS<br />
IN SICHT<br />
Daniel Shaked, 1978 in Teheran geboren und in Wien<br />
aufgewachsen, gründete mit 17 Jahren das Hip-Hop-<br />
Magazin The Me sage. Seit 2007 ist der zweifache Vater<br />
hauptberuflich als freier Fotograf tätig – mit Vorliebe für<br />
schwarz-weiße Analogfotografie.<br />
danielshaked.com<br />
Von 10. bis 12. September sind Daniel Shakeds Bilder und die Exponate<br />
weiterer junger jüdischer KünstlerInnen aus Wien anlä slich des Tages<br />
der o fenen Tür der IKG in der Pop-up-Galerie,<br />
Rabensteig 3, 1010 Wien, zu sehen.<br />
ikg-wien.at<br />
© Luiz Lima<br />
Das letzte Mal,<br />
da s ich ein perfektes Bild<br />
fotografiert habe, war .<br />
Das perfekte Bild gibt es nicht, nur<br />
die Suche danach beziehungsweise<br />
die temporäre I lusion, dass das<br />
letzte Bild das beste wäre. Bis<br />
zum nächsten.<br />
Das letzte Mal wahnsinnig<br />
aufgeregt war ich .<br />
. bei der Geburt meines Sohnes.<br />
Das letzte Mal etwas verloren<br />
habe ich .<br />
. mit ziemlicher Sicherheit beim<br />
letzten Shooting. Ich verlege regelmäßig<br />
Sachen, während ich fotografiere.<br />
Mit Vorliebe die Objektivab-<br />
deckungen.<br />
Das letzte Mal einen Film<br />
entwickelt habe ich ..<br />
. vor 3, 4 Jahren. Ich entwickelte<br />
über viele Jahre lang meine Schwarzweiß-Filme<br />
ganz kla sisch im Badezimmer,<br />
um sie danach zu scannen.<br />
Seit meine Kinder auf der Welt<br />
sind, ziehe ich es vor, im Badezimmer<br />
nicht mehr mit Chemikalien zu<br />
hantieren.<br />
Das letzte Mal als „echter Wiener“<br />
fühlte ich mich .<br />
. als ich in Berlin verzweifelt nach<br />
einem gemütlichen Ka feehaus<br />
gesucht habe.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
64 wına | Juli_August 2019<br />
Es gibt für a les ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Audrey und Nuriel Molcho vom Hutlabel Nomade Moderne berichten in<br />
diesem Monat von brennenden Männern, dem Sesshaftwerden<br />
und 100 liebenswerten Menschen.<br />
Weil sie die perfekte Kopfbedeckung nicht fanden, erlernten Nuriel Molcho<br />
und seine heutige Ehefrau Audrey einfach selbst den Job des Modisten – und<br />
gründeten das Label Nomade Moderne. Mi tlerweile haben sie nicht nur<br />
einen kleinen Shop auf dem Naschmarkt, sondern liefern ihre individue len<br />
Maßhüte mit Materialien aus der halben Welt in die halbe Welt.<br />
Eines sind ihre Kreationen, die stets ein gewo ltes Makel wie eine<br />
ausgefranste Krempe oder kleine Brandmale haben,<br />
a lerdings immer noch nicht: perfekt. Und das ist auch gut so.<br />
nomade-moderne.com<br />
© Valerie Voithofer<br />
Das letzte Mal .<br />
gut behütet gefühlt haben wir<br />
uns …<br />
.. zu unserer Hochzeit in<br />
Marokko, umzingelt von den<br />
100 Menschen, die wir am<br />
meisten auf dieser Welt lieben.<br />
Das letzte Mal, dass wir eine<br />
ganz besondere Kopfbedeckung<br />
trugen, war …<br />
. vor ein paar Jahren am Festival<br />
Burning Man, ein spiritue les<br />
Kunstfest in der Mitte der Wüste<br />
Nevadas, für das wir ganz besondere<br />
Hüte kreiert hatten.<br />
Das letzte Mal, dass wir keinen<br />
Hut dabei hatten, aber dringend<br />
einen gebraucht hä ten, war …<br />
. . zur Paris Fashion Week, bei<br />
der wir leider unsere Hüte zu<br />
Hause vergessen ha ten.<br />
Es ha trotzdem geklappt, gute<br />
Kontakte zu machen.<br />
Das letzte Mal, dass wir an einem<br />
Ort gedacht haben, „hier könnten<br />
wir selbst als moderne Nomaden<br />
sesshaft werden“, war …<br />
. eigentlich immer mehr am<br />
Land, egal wo. Solange es grüne<br />
Natur und frische Luft gibt, fühlen<br />
wir uns dort wohl.<br />
Das letzte Mal auf etwas „den<br />
Hut draufg’haut“ haben wir .<br />
Wir hauen nur mit Absicht auf den<br />
echten Nomade-Moderne-Hut, als<br />
künstlerischer Ausdruck. Sich so<br />
über etwas zu ärgern, dass man<br />
wirklich den Hut schmeißt, ist<br />
eine Zeitverschwendung. Da muss<br />
schon einiges schiefgehen, aber<br />
auch dann glauben wir eher daran,<br />
ihn wieder aufzuheben . :-)<br />
DAS LETZTE MAL<br />
DER ZEITVERSCHWENDER<br />
ARGER<br />
56 wına | Juni 2019<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem<br />
Monat erklärt Avi Kravitz, Software-Unternehmer und White<br />
Hat-Hacker, wann er Passwörter vergisst und warum am<br />
Schabbes nichts bei ihm vibriert.<br />
VIRUS?<br />
NUR IN DER NASE!<br />
SAvi Kravitz macht sich mit seinem Start-up „Cyper Trap“ auf die Jagd nach<br />
Cyberkriminellen. Das Softwareunternehmen ist eines der führenden im IT-<br />
Security-Bereich der Täuschungs-Technologie (Deception Technology).<br />
Um große Unternehmen vor digitalen Angreifern zu schützen, legt „Cyber<br />
Trap“ eine virtuelle Falle aus. Dabei wird für den Angreifer eine möglichst<br />
attraktive, kontrollierte Umgebung geschaffen, in der er sich möglichst lange<br />
aufhält, damit sein Verhalten beobachtet und analysiert werden kann. Kravitz<br />
gehört zu den White Hat-Hackern, die ihr Wissen sowohl innerhalb der<br />
Gesetze als auch der Hacker-Ethik verwenden.<br />
cybertrap.com<br />
© Michaela Mejta<br />
Das letzte Mal dass ...<br />
mir jemand in meine ausgelegte<br />
CyberTrap ging, war …<br />
... vor wenigen Tagen. Es handelte<br />
sich um Hacktivisten aus dem mittleren<br />
Osten, die es mit geschickten<br />
Tricks fast geschafft hatten, ein<br />
Unternehmen zu kapern.<br />
Das letzte Mal, dass ich mein<br />
Passwort vergessen habe ...<br />
... war unmittelbar nach meinem<br />
letzten langen Urlaub. Ich konnte da<br />
wieder so richtig abschalten und die<br />
Dinge hinter mir lassen. Auch mein<br />
Passwort.<br />
Das letzte Mal, dass ich mir einen<br />
Virus eingefangen habe …<br />
... war im Winter des vorletzten<br />
Jahres. Das war so ein furchtbarer<br />
Schnupfen, Schuld war ein<br />
Rhinovirus.<br />
Das letzte Mal offline war ich …<br />
... letzten Shabbes. Ich bekomme<br />
täglich unzählige Mails, Nachrichten<br />
oder Anrufe (irgendwo auf der Welt<br />
ist immer Tag!) und ständig läutet<br />
oder vibriert irgendein Gerät.<br />
So eine Auszeit inklusive Digital<br />
Detox ist schon etwas Feines.<br />
Das letzte Mal abgestürzt bin<br />
ich ...<br />
... in der Nacht auf den 1.1.2018<br />
auf der philippinischen Insel Coron.<br />
Nach einem Motorradunfall<br />
mit kurzem Krankenhausaufenthalt<br />
entstand ein Long-Island-Iced-<br />
Tea-Moment in der Hotelbar kurz<br />
vor Mitternacht. Mit frisch verbunden<br />
Wunden, vollgepumpt mit Medikamenten<br />
und zerfetzen Klamotten<br />
habe ich auf das neue Jahr<br />
angestoßen.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
1 wına | Sommer 2018<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Regisseurin und Autorin Anna Maria Krassnigg erzählt WINA<br />
von ihren Proben zu Marie von Ebner-Eschenbach, dramatischen<br />
Sonnenuntergängen und geteilten Mannerschni ten in Hanoi.<br />
Gedankensommerfrische<br />
Anna Maria Krassnigg ist Regi seurin, Schauspielerin,<br />
Autorin und Universitätsprofe sorin für Regie am Max Reinhardt Seminar.<br />
Seit 2015 leitet die gebürtige Wienerin zudem das Kultur- und Wissenschafts-<br />
programm Wortwiege am Thalhof in Reichenau an der Rax. In diesem Sommer<br />
steht dort Marie von Ebner-Eschenbach im Mi telpunkt. Außerdem veranstaltet<br />
der Thalhof regelmäßig unter dem Mo to „Was denken Sie?“ Gesprächsrunden,<br />
am 19. August etwa mit Schauspielerin Erika Pluhar, am 1. September mit Scheidungsanwältin<br />
Helene Klaar. Und am 5. August findet das Raxleuchten I sta t,<br />
eine szenisch-musikalische Reise durch 200 Jahre Thalhof-Literatur.<br />
thalhof-wortwiege.at<br />
© Martin Schwanda<br />
Das letzte Mal …<br />
übe rascht von Marie von Ebner-<br />
Eschenbach war ich …<br />
. bei der Vorbereitung zu den aktuellen<br />
Proben von Maslans Frau. Die Protagonistin<br />
Evi legt eine Konsequenz an<br />
den Tag, die kaum zu überbieten ist.<br />
Der zentrale Liebeskampf ist erotisch,<br />
bi ter, hochmodern und spannend wie<br />
ein Krimi. Es lohnt sich, Krambambuli<br />
mal kurz zu verge sen und sich mit<br />
dieser De-facto-Zeitgeno sin zu<br />
konfrontieren.<br />
Das letzte Mal, da s ich die Rax<br />
leuchten gesehen habe, war …<br />
. bei Sonnenuntergang hinter dem<br />
Thalhof. Romantischer geht es nicht<br />
mehr. Dramatischer auch kaum .<br />
Das letzte Mal auf Sommerfrische<br />
war ich …<br />
In den raren Probenpausen, wenn der<br />
Wind durch die Bäume fährt, habe ich<br />
eine Ahnung von „Sommerfrische“.<br />
Für mich setzt sie a lerdings erst so<br />
richtig im September ein … und das<br />
meistens im spätsommerfrischen Süden<br />
Europas.<br />
Das letzte Mal als echte Wienerin<br />
habe ich mich gefühlt …,<br />
. als ich an der Academy for Drama<br />
and Cinema in Hanoi Mannerschni ten<br />
mit meinen StudentInnen geteilt habe.<br />
Das letzte Mal „Was denkst du?“<br />
gefragt worden bin ich …<br />
. heute auf der Probe. So eine Probe<br />
ist ja ein ständiges gegenseitiges „Was<br />
denkst du“, verbal und nonverbal. Oft<br />
zeigt sich, da s das Spiel das Denken<br />
quasi von links überholt und erfrischt.<br />
Gedankensommerfrische sozusagen …<br />
das LETZTE MAL<br />
56 wına | Juni 2017<br />
Das letzte Mal,<br />
begeistert von einem Kauf-<br />
hausbesuch war ich …<br />
vergangenen Herbst bei Ha rods<br />
in London, wo die labyrinthische<br />
Anordnung der Abteilungen auf<br />
sieben Stockwerken in Kombination<br />
mit dem aufwändigen, gleichsam<br />
bühnenhaften Interieur einen Sog<br />
ausübte, dem ich mich nicht zu<br />
entziehen vermochte. Noch mehr<br />
aber faszinierte mich die überdrehte<br />
Betriebsamkeit der unzähligen unter<br />
einem Dach getätigten Mikrogeschäfte,<br />
die mich an das systematisch<br />
chaotische Treiben an der<br />
Börse erinnerte.<br />
Das letzte Stück Textil, mit dem<br />
ich mich ausgiebig beschäftigt<br />
habe, war …<br />
ein spezialgefertigter Lederhandschuh,<br />
in dessen schulterhohem<br />
Armteil Anbringungen für Bleistifte,<br />
Papier und einen Handspiegel<br />
eingearbeitet sind.<br />
Das letzte Mal viel zu viel Geld<br />
habe ich ausgegeben für …<br />
einen secondhand gekauften<br />
Rock aus Transsilvanien.<br />
Das letzte It-Girl, das meine Aufmerksamkeit<br />
weckte, war …<br />
Clara Bow, das erste überhaupt so<br />
genannte „It-Girl“. In dem Film It<br />
(1927) spielt sie die Kaufhausangeste<br />
lte Be ty Lou Spence, die das Herz<br />
ihres großbürgerlichen Vorgesetzten<br />
mit einem Besuch im proletarischen<br />
Vergnügungspark gewinnt – zwischen<br />
Frittenbude, „Fun House“ und einer<br />
Fahrt mit einem „Social Mixer“ überschriebenen<br />
Karu se l!<br />
Das letzte Mal wienerisch habe<br />
ich mich gefühlt .<br />
bei einer recht stereotypen<br />
Interaktion mit einem Ke lner<br />
im Ka feehaus.<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
In diesem Monat wurde die Künstlerin Kathi Hofer zu<br />
Dingen befragt, um die es auch in ihrem Beitrag für das JMW<br />
geht: Kaufhäuser, It-Girls und Lederhandschuhe<br />
mit Bleistifthalterung.<br />
DAMEN-<br />
SPENDE<br />
Kathi Hofer wurde für die Au ste lung Kauft bei Juden!<br />
vom Jüdischen Museum Wien eingeladen, sich mit einer eigenen<br />
Arbeit auf die ausgeste lten Motive zu beziehen und dadurch<br />
neue Blickwinkel zu scha fen. Ihr Beitrag wurde von der „Damenspende“<br />
inspiriert, die die weiblichen Angeste lten des Kaufhauses<br />
Gerngro s auf einem Ba l im <strong>Jänner</strong> 1910 als Geschenk<br />
erhielten. Die 35-jährige Künstlerin ist in St. Johann im Pongau<br />
aufgewachsen und lebt und arbeitet in Berlin und Wien.<br />
kathihofer.com<br />
DAS LETZTE MAL<br />
© Hanna Putz<br />
Die Au ste lung „Kauft bei Juden! Geschichten einer Wiener Geschäftskultur“ läuft noch bis zum 19. November (siehe auch Seite xx)<br />
Weitere Infos: jmw.at<br />
1 wına | April 2020<br />
© corn.at/Deuticke<br />
Das letzte Mal, ..<br />
da s mich die berühmte Angst vor dem<br />
weißen Bla t ergri fen hat, war …<br />
… gerade eben. Unbeantwortete E-Mails haben<br />
den gleichen E fekt auf mich. Die Angst motiviert<br />
mich oft, etwas fertigzumachen.<br />
Manchmal a lerdings lähmt sie mich, und dann<br />
höre ich mi ten im Satz –<br />
Das letzte Mal einen handschriftlichen<br />
Brief geschrieben habe ich …<br />
… Anfang März, als ich in unserem Stiegenhaus<br />
einen Ze tel für meine Nachbarn aufhängte. Wer<br />
Hilfe beim Einkaufen brauche, könne sich an<br />
mich wenden. Bis jetzt hat sich noch niemand<br />
gemeldet, zum Glück. Ich ha se einkaufen.<br />
Das letzte Mal eine schöne Postkarte<br />
bekommen habe ich …<br />
… im Februar von meiner Cousine, die in Israel<br />
war. Sie zeigt ein gezeichnetes Kamel, das besserwisserisch<br />
durch eine Bri le schaut und dabei<br />
breit grinst. Vie leicht hat es sie an mich erinnert?<br />
Ich wi l es nicht wi sen.<br />
Das letzte Mal, da s mich ein Thema,<br />
über das ich geschrieben habe, nicht<br />
mehr losgela sen hat, war …<br />
… eines meiner letzten Interviews für „Generation<br />
unverho ft”. Ich habe für die Kolumne<br />
mehrere Menschen porträtiert, die erst als<br />
junge Erwachsene den Glauben für sich entdeckten<br />
und nun deutlich traditione ler als<br />
ihre Eltern leben. Mich haben ihre Entscheidungsproze<br />
se besonders intere siert.<br />
Das letzte Mal stolz auf einen Text von<br />
mir war ich …<br />
… heute Nachmi tag, als ich Freunden eine<br />
WhatsApp-Nachricht schrieb. Da bin ich viel<br />
lustiger als in meinen Artikeln und Interview-<br />
Antworten.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Autorin Anna Goldenberg berichtet in diesem Monat von<br />
einem be serwisserischen Kamel, motivierender Angst<br />
und ihrem Einkaufsha s.<br />
HORROR<br />
VACUI<br />
Anna Goldenberg, geboren 1989 in Wien, studierte Psychologie<br />
an der Universität von Cambridge sowie Journalismus an der Columbia<br />
University und war anschließend Redakteurin der Wochenzeitung<br />
Jewish Daily Forward in New York. Zurück in Wien begann<br />
sie für den Falter über Politik und Medien zu schreiben und den<br />
Podcast der Wochenzeitung zu betreuen. 2018 erschien ihr vielgelobtes<br />
Buchbebüt Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvate<br />
re tete (Zsolnay Verlag). Für WINA berichtete sie regelmäßig<br />
über die Generation unverho ft – in dieser Ausgabe leider zum<br />
letzten Mal.<br />
Versteckte Jahre.<br />
Der Mann, der meinen<br />
Großvater re tete.<br />
Zsolnay Verlag,<br />
189 S., 20,60 €<br />
56 wına | April 2019<br />
Das letzte Mal,<br />
da s ich dachte, „Therese“ hat noch<br />
immer aktue le Ansätze, ..<br />
... war, als bei der Mindestsicherung, die ja<br />
häufig von Alleinerzieherinnen in Anspruch<br />
genommen wird, und auch bei der Familienbeihilfe<br />
Einsparungen gemacht wurden.<br />
Da wird den Schwächsten, nämlich Kindern<br />
aus armen Familien, mit geringen Bildungschancen,<br />
noch etwas weggenommen. Das<br />
kann ich nicht verstehen. Auch Thereses<br />
Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Kinder<br />
eine gute Bildung erhalten.<br />
Das letzte Mal, da s ich auch gerne Teil<br />
des Wiener Fin de Siècle gewesen wäre,<br />
war, ...<br />
. als ich in den Filmbildern aus der<br />
Schnitzler-Zeit, die der Experimentalfilmer<br />
Erich Heyduck für unser Stück erstellt hat,<br />
die schönen Kleider und Hüte der Damen<br />
gesehen habe.<br />
Das letzte Mal, dass ich mich zu sehr mit<br />
einer meiner Bühnenfiguren identifiziert<br />
habe .<br />
Ja, ich gebe zu, das passiert schon mal,<br />
wenn ich mich intensiv in eine Geschichte<br />
hineinlebe. Da kann es passieren, dass ich<br />
durch Wien spaziere, mir die vielen Autos<br />
wegdenke, die schönen Gebäude bewundere<br />
und mir vorste le, ich wäre Therese.<br />
Je länger ich mich mit einem Stück beschäftige,<br />
umso mehr Para lelen entdecke ich<br />
zwischen der Bühnenfigur und mir. Wahrscheinlich<br />
suche ich mir intuitiv Sto fe aus,<br />
die mich stark ansprechen. Dann ist der<br />
innere Antrieb größer, das Stück wirklich<br />
auf die Bühne zu bringen.<br />
Das letzte Ma lieber mit einem riesigen<br />
Ensemble gearbeitet hä te ich gerne .<br />
Es wäre natürlich to l, wenn auch dieses<br />
Stück auf eine große Bühne käme. Ci sy<br />
& Hugo a Caracas – unser Musiktheater<br />
über Cissy Kraner und Hugo Wiener – war<br />
ja mehrmals im Akzent auf der großen<br />
Bühne, das hat schon eine super Wirkung.<br />
Das letzte Mal, da s ich dachte, gemeinsam<br />
mit meinem Mann zu arbeiten hat doch<br />
Vorteile, . .<br />
... war heute Morgen, als ich noch ein bi s-<br />
chen müde war und er mir erst einmal einen<br />
Ka fee mit einem Ku s am Schreibtisch<br />
serviert hat.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Es gibt immer ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
In diesem Monat berichtet uns Schauspielerin Rita Hatzmann-<br />
Luksch über die Aktualität von Schnitzler-Stücken und die<br />
Vorteile, mit dem eigenen Mann zu arbeiten.<br />
KAFFEE MIT<br />
KÜSSCHEN<br />
Rita Hatzmann-Luksch steht als Ein-Frau-Show auf der Bühne. Sie<br />
bringt Schnitzlers über 300 Seiten starken Roman Therese als ergreifende<br />
Geschichte einer Frau auf der Suche nach Liebe und<br />
Selbstbestimmung in neuer Fa sung auf die Bühne. Live eingebunden<br />
wird die Lebensgeschichte in die eigens dafür erste lten<br />
Kompositionen ihres Ehemanns Georg O. Luksch. Den malerischen<br />
Hintergrund für die Performance bietet eine visue l-experimente le<br />
Filmprojektion von Erich Heyduck mit Bildern aus der Schnitzler-Zeit.<br />
Therese: Samstag, 11. Mai 2019, 19 Uhr, Waldmü lerzentrum,<br />
Hasenga se 38, 1100 Wien, im Rahmen der Bezirksfestwochen<br />
Favoriten, Eintri t frei!<br />
Weitere Infos & Termine: ensemble21.at<br />
© Ensemble21<br />
ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
onat erzählt Schauspieler Cornelius<br />
Glück im Unglück und dem Pech, im<br />
em Fernseher zu sitzen, wenn man<br />
h dort drin zu sehen sein sollte.<br />
l unD<br />
laMassel<br />
erö fnet gemeinsam mit dem Wiener Klezmer<br />
jährige Yiddish Culture Festival (25.11.–13.12.).<br />
t der Titel des Programms, bei dem Obonya Texte<br />
er Autoren liest, die vom Naziregime verfolgt, ins exil<br />
racht worden sind. Als Special Guests werden auch<br />
a z-Vibraphonisten, Martin Breinschmid, Constantin<br />
anflöte sowie andere i lustre Überraschungsgäste ertet.<br />
erö fnungsgala A bi sele Mazl,<br />
29. November, 19 Uhr, MuTh.<br />
yiddishculturevienna.at<br />
© Ernst Kainerstorfer<br />
etztes! In dieser<br />
isator des legenr<br />
Sound of Musik<br />
gangen ist.<br />
und<br />
n<br />
isches Mo to ausgea<br />
ljährlich im Wiener<br />
enefizevents gehört,<br />
Jahr 1965 – besonenden<br />
Familie Trapp<br />
toresken Schauspiel<br />
t präsentiert. Dafür,<br />
h zahlreiche promiauch<br />
die i lustre<br />
ilfsprojekte.<br />
1 wına | September2020<br />
© Rainer Hosch_print<br />
Das letzte Mal .<br />
da s mir ein gut parfümierter Mann<br />
begegnet ist, war …<br />
… neulich auf dem Hochzeitsfest eines guten<br />
Freundes. Ich saß an einem Tisch neben<br />
einem graumelierten, braungebrannten<br />
Dandy; ebenso sympathisch wie wohlriechend.<br />
Die Projektion konnte ich zunächst<br />
nicht zuordnen. Nach einigen konzentrierten<br />
Atemzügen war’s dann unverkennbar:<br />
Cacharel pour L´Homme, ein Meisterwerk von<br />
Gerard Goupy – in der Vintage-Version von<br />
1981 wohlgemerkt.<br />
Das letzte Mal, da s ich von einem Geruch<br />
umgehauen wurde war …<br />
Bei a ler Freude für olfaktorische Phänomene<br />
jeder Art, verge se ich doch immer wieder<br />
wie herausfordernd bakterielle Eiweißzerfa<br />
lsprozesse sein können. Ich sag nur:<br />
Schwitzende Menschen in einer viel zu engen<br />
Aufzugskabine, die sich in Slow-Motion zu<br />
bewegen scheint ...<br />
Das letzte Mal, da s mich ein Geruch an<br />
meine Kindheit erinnert hat, war …<br />
… im Umkleideraum des alten Strandbades<br />
in Baden bei Wien. Die Holzkästchen, die<br />
Sonnenmilch und in der Sommerluft: eine<br />
leichte Schwefelnote.<br />
Das letzte Mal, dass ich ein Kompliment<br />
für meinen Duft bekommen habe, war …<br />
… als ich neulich den Prototyp meines, im<br />
kommenden Jahr erscheinenden Cologne<br />
Imperiale getragen habe: Eine Neuinterpretation<br />
des kla sisch-eleganten Colognes; zitrisch-frisch<br />
mit zarten Holznoten. Dezent<br />
präsent, mit einer klaren Duftaura, die unaufdringlich<br />
begleitet und sich sichtlich als Compliment-Getter<br />
entpuppt …<br />
Das letzte Mal, dass mir etwas gestunken<br />
hat, war …<br />
… als sta t der, in einem deutschen Online-<br />
Store beste lten, vermeintlichen zwei Paar<br />
Sneaker-Schnäppchen nach wochenlangem<br />
Warten und vergeblichen Kontaktierungsversuchen,<br />
ein kleines Päckchen aus China in<br />
der Post lag. Der Inhalt: zwei trashige, extrem<br />
nach Plastik stinkende Sonnenbri len ...<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! I<br />
n diesem Monat berichtet der Autor, Künstler und Duftexperte<br />
Paul Divjak über einen wohlriechenden Dandy, Schwitzen im<br />
Aufzug und unliebsame Post aus China.<br />
GUTER<br />
RIECHER<br />
Es gibt wenig, was Paul Divjak nicht macht: Er ist Doktor der Philosophie,<br />
künstlerisch in den Bereichen Literatur, Film, Fotografie, Musik, Performance<br />
und Insta lation tätig und Kolumnist, etwa für WINA! Sein olfaktorisches Intere<br />
se bündelte der Wiener bereits im E sayband „Der Geruch der Welt“, nun ist<br />
sein Sachbuch „Der parfümierte Mann“ erschienen. Paul Divjak komponiert zudem<br />
Düfte (siehe Seite #) und Duftinsta lationen, u. a. „Letztes Jahr in Jerusalem“<br />
im Garten des Jüdischen Museums in Hohenems – und er weiß sogar, wie es im<br />
Welta l duftet: Im Rahmen der Au ste lung Der Mond für das Naturhistorische<br />
Museum Wien gestaltete Divjak das Werk „Der Geruch des Mondes“.<br />
pauldivjak.com<br />
Paul Divjak:<br />
Der parfümierte Mann.<br />
Edition Atelier,<br />
152 S., € 20<br />
1 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />
© w.detailsi n.at<br />
Das letzte Mal,<br />
da s ich reisen wo lte, aber doch nicht<br />
durfte, war wenige Wochen nach der Geburt<br />
meines Kindes. Es ist ein Baby für<br />
Fortgeschri tene – ich bin Anfängerin.<br />
Diese Lautstärke bei gleichzeitig fehlendem<br />
Schlaf hat mich trotz der Freude hart<br />
erwischt. Da kam der Satz aus mir: „Wie<br />
schön wäre es, einfach für ein Wochenende<br />
auf Erholung zu fahren.“ Ich meinte<br />
natürlich ohne Baby.<br />
Das letzte Mal, da s ich mich gerne mit<br />
einem Wochenendurlaub belohnt hä te,<br />
ist eigentlich jetzt. Jetzt bin ich an einem<br />
Punkt, an dem ich uns gern dafür belohnen<br />
würde, wie gut wir mi tlerweile mit den<br />
Grenzerfahrungen des Elternseins umgehen.<br />
Unser Baby dürfte jetzt sogar mit.<br />
Das letzte Mal, dass ich von einer Reise<br />
am liebsten nicht wieder zurückgekommen<br />
wäre, war – wenn ich etwas antworten<br />
mu s – Pula in Kroatien. Eigentlich freue<br />
ich mich nämlich immer aufs Zurüc kommen<br />
zu unseren Katzen. Aber dieser Urlaub<br />
war der perfekte Sommer: ein Mobile<br />
Home direkt am Meer. Der Morgenka fee im<br />
Schlafgewand am Strand. Eine Wespe beobachten,<br />
wie sie sich Stück für Stück vom<br />
Schinken schneidet. Eine Reisegemeinschaft,<br />
die ich ins Herz geschlo sen habe.<br />
Das letzte Mal, da s ich etwas unfrisiert<br />
gemacht habe, war heute: ein Spaziergang<br />
im Prater mit dem H arknoten von vorm<br />
Schlafengehen am Vorabend. Für die Lesebühne<br />
bin ich dann doch zu eitel für keine<br />
Frisur, aber privat bin ich für eine Frisur, die<br />
sitzt, oft zu faul.<br />
Das letzte Mal, da s ich auf einer Veranstaltung<br />
mit perfekt frisierten Menschen<br />
war, war vie leicht bei meiner Sponsion.<br />
Außerdem war ich die einzige Frau mit<br />
Hose. Das hat mich doch etwas schockiert.<br />
Das war viel au fä liger als jegliche H artracht.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem Monat<br />
berichtet Autorin Nadine Kegele aus der Baby-Nachtschicht von<br />
einem Urlaub, der niemals hä te zu Ende gehen mü sen.<br />
VOM WEGFAHREN<br />
UND WESPEN<br />
Die Vorarlbergerin Nadine Kegele, 40, debütierte 2013 mit dem Buch Annalieder,<br />
im selben Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen und gewann<br />
dort den Publikumspreis. 2017 erschien ihre Protoko lsammlung Lieben mu s man<br />
unfrisiert über das Selbstverständnis von Frauen. Im Text für das Theaterstück Bin<br />
noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse beschäftigte sie sich mit Therese Zauser,<br />
geboren 1910, die als 19-Jährige Feldkirch verließ und als Artistin arbeitete. In<br />
Nordafrika und den Mi telmeerländern trat sie als Sängerin und Tänzerin (oder,<br />
wie sie es nannte, „danseuse et chanteuse fantaisiste“) auf. Nach einem Auftritt in<br />
Deutschland wurde Zauser wegen feindlicher Äußerungen gegenüber dem Naziregime<br />
denunziert, verhaftet und im Oktober 1941 in das KZ Ravensbrück transportiert.<br />
Dort verliert sich ihre Spur. Die Sterbeurkunde des KZ Ravensbrück ist auf<br />
den 1. Februar 1942 datiert.<br />
Bin noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse:<br />
30.6., 20 Uhr, Theater Hamakom,<br />
hamakom.at<br />
1 wına | August/September <strong>2021</strong><br />
© Andrea Pe ler<br />
Das letzte Mal,<br />
da s mich der Text eines Austropop-Kla sikers<br />
ein Stück klüger gemacht hat, war …<br />
. die Zeile „Denn immer, immer wieder geht die<br />
Sonne auf“. Als a leinerziehende Mama von drei<br />
Kindern und als Künstlerin ist es wichtig, immer<br />
ein Licht am Ende jedes Tunnels zu sehen. Wenn<br />
es nicht so ist, helfen mir die Musik und ihre Lyrik<br />
sehr schne l.<br />
Das letzte Mal, da s ich an einem Austropop-<br />
Song gescheitert bin, war …<br />
I am from Austria ist ein enorm gutes Lied in Text<br />
und Komposition. Dieses so umzusetzen, wie es<br />
das Ohr des Zuhörers gewohnt ist, fordert. Ich<br />
liebe diesen Song, er hat mich in der Zeit, als ich<br />
in Luxemburg gelebt habe, sehr oft intensiv berührt<br />
und zum Weinen gebracht, weil ich große<br />
Sehnsucht nach Wien ha te!<br />
Das letzte Mal, da s ich ein Lied auf<br />
Wienerisch für mich entdeckt habe, war …<br />
„A Mehlspeis, so a Kaiserschma rn, ist das<br />
Schönste weit und breit, der kitzelt so beim<br />
Runterfahr’n …“ – hach, ich liebe die süße<br />
Welt Wiens!<br />
Das letzte Mal, da s ich jemandem ein Stück<br />
„Mein Wien“ gezeigt habe, war …<br />
. zwischen den Lockdowns, und zwar einem<br />
Freund, der mich aus der Schweiz besuchen kam.<br />
Dieser hat dann seinen Aufenthalt zum Teil damit<br />
verbracht, a les in Wien zu Fuß zu erkunden. Ich<br />
mache in Wien a les mit dem Rad. Egal wie weit<br />
die Wege sind!<br />
Das letzte Mal gedacht, „Mein Wien – wie schön<br />
es doch ist!“, habe ich, …<br />
. als ich vorgestern durch die neu renovierte<br />
Zo lerga se im 7. Bezirk gegangen bin, wo sich die<br />
Kulturen und die Altersgruppen wunderbar mischen<br />
und miteinander leben und kommunizieren.<br />
Das letzte Mal gedacht, „Mein Wien – wie deppert<br />
es aber auch sein kann“, habe ich .<br />
Es fä lt mir schwer, diese Frage zu beantworten,<br />
weil ich nach vielen Jahren im Ausland und nach<br />
einem wunderbaren Aufenthalt in Eisenstadt einfach<br />
so glücklich bin, wieder in Wien zu leben, zu<br />
arbeiten, zu sein … Wien ist meine zweite Heimat<br />
nach Israel, denn dort bin ich geboren. Blut ist<br />
kein Wa ser, aber Wien berührt mich täglich mit<br />
seinen Gassen, Geschichten, Boshaftigkeiten und<br />
Herzlichkeiten.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat erzählt Sängerin Shlomit Butbul über die Krux<br />
mit I am from Austria und kitzelnden Kaiserschma rn.<br />
SÜSSE WIENER<br />
WELT<br />
Geboren in Israel und aufgewachsen in Wien – schon immer schlug<br />
Schlomit Butbuls Herz für zwei Städte. Aber auch für die Musik.<br />
Schließlich wurde ihr das künstlerische Talent bereits durch ihre<br />
Mu ter Martha Butbul aka Ja z Gi t in die Wiege gelegt. In diesem<br />
Sommer wagt sich die klassisch ausgebildete Sängerin, die auch in<br />
der Weltmusik zuhause ist, auf neues Te rain: Sie singt im Wiener<br />
Dialekt! In ihrem Programm Mein Wien widmet sie sich der Musik von<br />
Danzer & Fendrich, Udo Jürgens, Ralf Benatzky, Karl Hodina,<br />
Marianne Mendt und natürlich: Ja z Gi ti!<br />
Mein Wien: 7.8., 19.30 Uhr, Schutzhaus Wasserwiese,<br />
shlomitbutbul.com<br />
1 wına | Mai <strong>2021</strong><br />
© Go tfried & Söhne<br />
Das letzte Mal,<br />
da s ich am liebsten etwas aus meinem<br />
Shop selbst behalten hä te, war, …<br />
als ich für Pessach bei Adama, meiner Lieblingskeramikmanufaktur<br />
in Israel, eine Bestellung<br />
an Sederte lern aufgegeben ha te. Ich<br />
entdeckte eine neue Serie von Espre sotassen:<br />
stapelbar, multifunktional und in zahlreichen<br />
Farben. Eine erste Auswahl habe ich<br />
gleich mitbestellt. Sie sind wundervo l!<br />
Man will sie einfach alle haben!<br />
Das letzte Mal, da s ich einen Fehlkauf<br />
getätigt habe, war …<br />
Anfang des Jahres. Es war Lockdown, draußen<br />
war es eisig, die Fitne scenter geschlo sen.<br />
Hochmotiviert bestellte ich einen Ministepper.<br />
Klein und kompakt, sodass man ihn praktisch<br />
unter dem Be t verstauen kann. Dort steht er<br />
nun seitdem, unbewegt. So wie ich.<br />
Das letzte Mal, da s ich etwas geschenkt<br />
bekommen habe, was man nicht kaufen<br />
kann, war …<br />
zu meinem letzten Geburtstag ein selbst-<br />
geschriebener Song meines neunjährigen<br />
Sohnes mit dem Titel I love Mom.<br />
Das letzte Mal, da s ich einen kleinen<br />
Kaufrausch ha te, war, .<br />
als mir träumte, mein Geschäft wäre l ergekauft<br />
und ich müsse dringend alles und noch<br />
viel mehr nachbestellen. Ich fuhr – im Traum –<br />
nach Israel, London und Paris und beste lte in<br />
großen Mengen die schönsten Dinge der lässigsten<br />
Designer*innen. Ich erinnere mich an<br />
das Gefühl eines überwältigenden Farbenrausches,<br />
in den ich mein Geschäft hü len<br />
wo lte…<br />
Das letzte Mal, dass ich jemandem eine<br />
gute Idee von mir verkaufen konnte, war …<br />
beim Nachdenken darüber, wie man wieder<br />
gut aus der aktuellen wirtschaftlichen Krise<br />
kommt, wie man Sehnsüchte sti lt, die die<br />
Krise motiviert und mit wem man ideal kooperieren<br />
kann. Nach einem zehnminütigen<br />
Gespräch war a les geklärt. Das Ergebnis erwartet<br />
Sie im September bei GOTTFRIED &<br />
SÖHNE.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
In diesem Monat erzählt uns die Inhaberin vom Museum shop<br />
GOTTFRIED & SÖHNE über unbezahlbare Geschenke und was<br />
sich unter ihrem Be t nicht bewegt.<br />
IM FARBRAUSCH<br />
Von ihrem Urgroßvater, einem jüdischen Tuchhändler, hat Elisabeth<br />
M. Go tfried nicht nur den Nachnamen geerbt, sondern wohl auch die<br />
Freude an schön gestalteten Dingen. Kein Wunder also, da s es die studierte<br />
Kunsthistorikerin nach Stationen im Restaurierungsgewerbe und<br />
als Chefredakteurin von EIKON, der internationale Zeitschrift für Fotografie<br />
und Medienkunst, letztlich in diesen freundlichen Warenhau salon im<br />
Jüdischen Museum zog. Seit knapp drei Jahren betreibt die Wienerin hier<br />
ihren Concept Store für israelisches Design aus der ganzen Welt, der zugleich<br />
aber – sobald es Corona zulä st – auch wieder ein o fener Ort der<br />
Begegnung sein so l.<br />
GOTTFRIED & SÖHNE, 1., Dorotheerga se 1, Tel.: 01/512 28 51<br />
gottfriedundsoehne.com<br />
1 wına | April <strong>2021</strong><br />
© Ana Pozderac; Milkink Creative Studio<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich eine Crepe gege sen habe, war …<br />
Ich e se jeden Tag meine Crêpes – zum Frühstück,<br />
zum Abende sen, immer in abgewandelter<br />
Form. Die Initialzündung zu diesem Thema<br />
ha te ich aber in der „La Creperie de Hampstead“.<br />
Als ich in London bei Gordon Ramsay<br />
arbeitete, ging ich dort oft e sen. Was holt man<br />
sich, wenn man fünf Tage die Woche bis tief in<br />
die Nacht in der Küche arbeitet? Streetfood! Und<br />
was ich dort kennenlernte, hat meine Id e von<br />
einer Crêpe total auf den Kopf gestellt. Ich wo lte<br />
immer im fine dining Fuß fa sen, aber plötzlich<br />
fügte sich a les zusammen: Meine lebenslange<br />
Leidenschaft für Sauerteigbrot etwa und das<br />
Bedürfnis, direkten Kontakt mit glücklichen Gästen<br />
zu haben. Aus der Hauben-Küche habe ich<br />
mir die Liebe für die besten und frischesten Produkte<br />
mitgenommen. Also bin ich einfach ein<br />
traiteur of happine s, also ein Glückslieferant,<br />
geworden.<br />
Das letzte Mal, da s ich Tel Aviv vermisst<br />
habe, war .<br />
Jeden Tag! Am meisten vermisse ich meine Familie.<br />
Der einzige Grund, der für Wien als Standort<br />
sprach, war, dass man in vier Stunden wieder zu<br />
Hause ist (lacht). Denn eigentlich ist diese Stadt<br />
der schlimmste Ort für einen Str etfood-Laden,<br />
weil es einfach keine Kultur dafür gibt.<br />
Das letzte Mal, da s ich das Kochen von Haute<br />
Cuisine vermi st habe, war .<br />
Die harte Arbeit in der Sterne-Küche vermi se ich<br />
kein bi schen, da lobe ich mir meine jetzige Freiheit.<br />
Und an den Tagen, an denen ich frei habe,<br />
koche ich mir eben etwas Schickes mit guten<br />
Zutaten und funky Maschinen.<br />
Das letzte Mal, da s mir in der Küche etwas<br />
richtig mi slungen ist, war .<br />
Das pa siert mir täglich! Aber nicht nur beim<br />
Kochen. Vor einigen Tage ha te ich etwa das<br />
Pech, einen Charge Mü lsäcke mit Loch am<br />
Boden gekauft zu haben: So ergo s sich der<br />
ganzen Mist nach Feierabend über die Straße …<br />
Das letzte Mahl, das ich mir wünschen<br />
würde, ...<br />
Das ist einfach: Ich würde gerne meine erste<br />
Begegnung mit der Michelin-Sterne-Küche wiederholen,<br />
die 2002 sta tfand. Und zwar den<br />
ganzen Abend: Das Menü, die Getränke und<br />
der Service im ausgezeichneten New Yorker<br />
Restaurant von Daniel Boulud.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes. In<br />
diesem Monat berichtet uns Royi Shwartz, Koch und Crêperie-<br />
Betreiber in MAriahilf, über bewu stseinserweiterndes<br />
Streetfood und Sterneküche als Henkersmahlzeit.<br />
DER GLÜCKS-<br />
LIEFERANT<br />
Royi Shwartz hat bereits in den Küchen berühmter Köche wie<br />
Angela Hartne t, Charlie Tro ter und Gordon Ramsay gearbeitet.<br />
Seit Anfang des Jahres betreibt der Feinschmecker aus Tel Aviv,<br />
der außerdem am Culinary Institute of America in New York<br />
studierte, eine angesagte Crêperie, die eine Luxusversion des beliebten<br />
Teigfladens auf Sauerteigbasis anbietet.<br />
Royi's Crêperie, 6., Hofmühlga se 18,<br />
royiscreperie.com<br />
1 wına | Oktober <strong>2021</strong><br />
© Privat<br />
Das letzte Mal,<br />
da s ich einen filmreifen Moment ha te, war, …<br />
. vor einigen Wochen in der Straßenbahn, als eine etwas<br />
verwirrt wirkende Frau sich weigerte, eine Maske aufzusetzen,<br />
und darüber lautstark philosophiert hat, da s wir<br />
a le Habsburger sind. Andere Fahrgäste haben die Dame<br />
(in urwienerischem Dialekt) gebeten, Sie möge bi te eine<br />
Maske aufsetzen oder einfach au steigen. Nach einigen<br />
Minuten Disku sion hat sich ein Sprechchor gebildet,<br />
der „Au steigen! Au steigen!“ rief. Das war an Sku rilität<br />
kaum zu überbieten. In dem Moment habe ich mich gefragt:<br />
„Wo ist die versteckte Kamera?“<br />
Das letzte Mal, da s ich etwas mit Marko Feingold<br />
erlebt habe, das unbedingt noch eine Fortsetzung<br />
gebraucht hätte, war …<br />
Jedes Treffen mit Marko war ein Erlebnis, das ich gerne<br />
wiederholt hä te. Er war über zehn Jahre Zeitzeuge bei<br />
den MoRaH-Reisen, und jede Reise mit ihm war anders,<br />
aber immer inspirierend und prägend. Als ich die Nachricht<br />
von seinem Tod erhalten habe, war ich gerade bei<br />
Starbucks, um die Zeit zwischen zwei Terminen zu überbrücken.<br />
Ich bin keine Person, die in der Ö fentlichkeit so<br />
schne l zu weinen beginnt, aber in dem Moment, in dem<br />
ich über den Tod eines der für mich prägendsten Menschen<br />
erfahren habe, liefen die Tränen Mitten im Café.<br />
Jedes Gespräch mit Marko hä te eine Fortsetzung gebraucht.<br />
Sein Charme, sein Humor, seine Liebe zum<br />
Leben waren große Inspirationen, an die ich immer<br />
gerne zurückdenken werde.<br />
Das letzte Mal, da s ich glücklich aus dem Kino kam,<br />
war …<br />
Vie leicht nicht unbedingt glücklich, aber sehr berührt<br />
und b eindruckt hat mich Fuchs im Bau. Der Film zeigt,<br />
wie wichtig Verständnis, Geduld und ein einfühlsamer<br />
Umgang mit Jugendlichen sind, da s man neue Wege gehen<br />
kann und für seine Ideale kämpfen mu s.<br />
Das letzte Mal, da s ich eine brillante Idee für einen<br />
to len Film gehabt habe, war …<br />
Vorgestern, als ich mit meinen Ko legen ein Meeting<br />
ha te. Da sprudelt es immer vor Ideen und Euphorie.<br />
Aktue l arbeiten wir an Kurzfilmprojekten mit Jugendlichen<br />
zum Thema Zivilcourage. Das ist auch Teil des<br />
MoRaH-Programms.<br />
Das letzte Mal, da s ich gerne etwas Zeit zurückgespult<br />
hä te, war …<br />
Immer an meinem Geburtstag, wenn man realisiert,<br />
da s man wieder ein Jahr älter ist :) Spaß! Ich habe vor<br />
Kurzem mit meiner Schwester darüber geredet, was<br />
man im Leben gerne anders gemacht hä te oder wo<br />
wir gerne die Zeit zurückspulen würden. Fazit: Es ist<br />
gut so, wie es ist, denn ich wäre heute nicht die, die<br />
ich bin, wenn ich nicht gute, nicht ganz so gute, prägende,<br />
lustige und traurige Situationen in meinem Leben<br />
gehabt hä te.<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Produzentin Iris Singer berichtet über Sprechchöre<br />
in der Bahn, einen jährlichen Geburtstagswunsch<br />
und den inspirierenden Marko Feingold.<br />
Iris Singer hat Theater-, Film- und Medienwi senschaft<br />
studiert und arbeitet seit 2008 im Medien- und<br />
Eventbereich. Sie ist Geschäftsführerin und Produzentin<br />
bei Licht und Linsen Film und Medienproduktion, freie<br />
Moderatorin und Sprecherin. Als ste lvertretende Obfrau<br />
von MoRaH hat die gebürtige Wienerin über Jahre<br />
gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden Marko<br />
Feingold an der Gedenkveranstaltung March of the Living<br />
im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau teilgenommen.<br />
Für den im Oktober anlaufenden Film Marko Feingold –<br />
ein jüdisches Leben betreut sie die Zielgruppenarbeit.<br />
stadtkinowien.at, morah.at<br />
„WO IST DIE<br />
VERSTECKTE<br />
KAMERA?“<br />
56 wına | Februar 2017<br />
Das letzte Mal<br />
von einem Stück Handarbeit<br />
beeindruckt war ich …,<br />
als ich die Strickkünste meiner<br />
Mu ter sah. Leider strickt sie<br />
meinem Hund Waldi einen<br />
Pu lover und nicht mir.<br />
Das letzte Digital Detox<br />
war …<br />
nach Silvester, weil<br />
mein Handy in die Toile te<br />
gefallen war.<br />
Der letzte Fehlkauf war …<br />
ein weißer Blazer, den ich vor<br />
ca. zwei Jahren erstanden<br />
habe und der zu nichts zu passen<br />
scheint. Bis heute hängt er<br />
in meinem Kleiderschrank und<br />
ärgert mich.<br />
Der letzte gute Rat, den<br />
ich bekam, lautete …:<br />
„Lächle und die Welt gehört<br />
dir.“<br />
Das letzte Mal, dass ich ein<br />
Mitglied meiner Familie sehr<br />
zu schätzen wu ste, war …,<br />
als ich krank im Be t lag.<br />
Das letzte Mal, dass ich mich<br />
im besten Sinne erwachsen<br />
fühlte, war …,<br />
als ich meine Buchhaltung<br />
machte und bemerkt habe,<br />
dass ich meine Finanzen<br />
unter Kontro le habe.<br />
Für a les gibt es ein erstes Mal – aber<br />
auch ein letztes Mal. Bloggerin Leonie-<br />
Rachel Soyel erzählt von Hundepu lis,<br />
erwachsener Buchhaltung und einem<br />
denkwürdigen Hoppala in der<br />
Silvesternacht.<br />
ALLES UNTER<br />
KONTROLLE<br />
Die junge Wienerin betreibt ihren<br />
eigenen Lifestyleblog, in dem sich<br />
viel um Mode dreht, aber nicht a les:<br />
„Es ist eine Art Tagebuch über das<br />
Leben mit a l seinen Auf und Abs.“<br />
leonierachel.com<br />
DAS LETZTE MAL<br />
© Martin Phox<br />
wına | März <strong>2021</strong><br />
1<br />
© A na Hayat<br />
Das letzte Mal, ..<br />
. da s ich von einem weit entfernten<br />
Ort träumte, war .<br />
.. von meinem absoluten Lieblingsort auf<br />
der ganzen Welt: Madrid.<br />
Der letzte große Städtetrip war .<br />
. natürlich Madrid, und es war im Februar<br />
2020, nur zwei Wochen, bevor Covid-19 dazu<br />
führte, da s Europa seine Grenzen schlo s.<br />
Es ist eine Tradition, da s mein Mann und ich<br />
an meinem Geburtstag im Februar nach<br />
Madrid reisen. Wir kennen diese Stadt sehr<br />
gut, entdecken aber immer neue Orte.<br />
Ich habe dort viele Fotos für künftige I lustrationen<br />
gemacht, weil eines der nächsten<br />
Bücher über Madrid sein wird.<br />
Das letzte Mal, da s ich ein altes (Reise-)<br />
Tagebuch von mir in die Hand nahm, war ...<br />
Ich habe kein Tagebuch, es ist nicht wirklich<br />
mein Ding :-). Wenn ich mich an etwas erinnern<br />
möchte, gehe ich zu meinen Fotos.<br />
Von denen habe ich viele gemacht (ich<br />
meine: SEHR viel). Das bringt mich immer<br />
in eine schöne nostalgische Stimmung.<br />
Ein p ar dieser Erinnerungen kann man als<br />
I lustrationen auf meinem Instagram-<br />
A count unter @citykat_stories finden.<br />
Das letzte Mal, da s Tel Aviv mich<br />
beeindruckt hat, war .<br />
Jeden Tag! Das letzte Mal waren es riesige<br />
Bäume am Rothschild Boulevard, die ein<br />
scha tiges Dach über den Fußgängern<br />
bildeten. Ich plane schon, daraus eine<br />
I lustration zu machen.<br />
Das letzte Mal von einem Reiseziel<br />
en täuscht war ich .<br />
. in Bulgarien; es erinnerte mich zu sehr<br />
an die Sowjetunion in den 1980ern …<br />
DAS LETZTE MAL<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat berichtet die I lustratorin Ira Ginzburg aus<br />
Tel Aviv von scha tigen Bäumen, die wie gemalt sind, und von<br />
nostalgischen Ausflügen ins Fotoalbum.<br />
STADTGESCHICHTEN<br />
ZUM AUSMALEN<br />
Fürs Reisen gut vorbereiten: I lustratorin und Grafikdesignerin Ira Ginzburg hat<br />
für zukünftige Tel-Aviv-Trips einen Stadtführer mit Insidertipps, To-do-Listen,<br />
Wi senswertem über die lokale Kultur, E sen, Tre fpunkte und vieles mehr<br />
zusammengeste lt. In Tel Aviv Stadtgeschichten lä st die gebürtige<br />
Moskauerin aber auch viel Platz für eigene Zeichnungen, Bilder, Notizen und<br />
Geschichten: Der Urlaub ist vielleicht vorbei, aber die Erinnerungen bleiben<br />
in diesem hübschen Buch gebündelt.<br />
Ira Ginzburg:<br />
Tel Aviv Stadtgeschichten.<br />
Arie la Verlag, 18 €<br />
iraginzburg.com<br />
dezeber.indb 43<br />
dezeber.indb 43 28.12.21 03:32<br />
28.12.21 03:32
04<br />
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9 120001 135738<br />
Cover_0419_GR.indd 1 01.04.2019 13:38:23<br />
10<br />
februar 2016<br />
Sie über uns<br />
Vor einer Dekade haben wir (die IKG Wien) WINA gegründet.<br />
Durch die Unterstützung von Medienexperten und<br />
einem engagierten Team ist ein frisches, peppiges Magazin<br />
in einer neuen Erscheinungsform und mit qualitativ hochwertigen<br />
Inhalten namhafter Journalistinnen und Journalisten<br />
entstanden. Ein Produkt, das jüdisches und nicht<br />
jüdisches Lesepublikum verbindet und eine Visitenkarte<br />
der Kultusgemeinde darstellt. An dieser Stelle möchte ich<br />
jenen danken, die dabei entscheidend mitgeholfen haben:<br />
Alexander Rendi und den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe,<br />
den ehrenamtlichen Mitgliedern des Beirats und<br />
vor allem unserer seit zehn Jahren werkenden Chefredakteurin<br />
Julia Kaldori, der Anzeigenleiterin Manuela Glamm<br />
und dem ganzen Team. Ich denke, dass mit WINA vor zehn<br />
Jahren ein guter und wichtiger Weg beschritten wurde, und<br />
gratuliere allen, die dafür verantwortlich sind!<br />
Ariel Muzicant, Ehrenpräsident der IKG Wien<br />
Liebes WINA!<br />
Du warst ein Wunschkind, doch deine<br />
Geburt war kompliziert. Schon im Vorfeld<br />
präsentierte die Mischpoche ihre<br />
Vorstellungen darüber, wie du denn<br />
aussehen und was du alles werden<br />
solltest. Fesch solltest du sein und auch<br />
klug. Hochglänzend, aber bitte mit<br />
Tiefgang. Erwachsen, aber auch jung.<br />
Dynamisch im Auftreten, entspannend<br />
im Umgang. Urban, ganz gewiss – doch<br />
mit einem Hauch „Städtl“. Vor allem<br />
aber: Du solltest unabhängig sein und<br />
frei – und doch stets deiner Mutter<br />
verbunden!<br />
Robust geboren, hast du alle Kinderkrankheiten<br />
überstanden. Heute lebst<br />
du vergnügt mit all deinen Gegensätzen<br />
und Widersprüchlichkeiten – schließlich<br />
bist du ein jüdisches Kind – und<br />
repräsentierst die Vielfalt deiner Herkunftsfamilie.<br />
Verbindest uns untereinander<br />
und mit den Menschen in der<br />
Welt. Du bist unsere Stimme geworden<br />
und manchmal auch unser Gewissen.<br />
Wie alle Kinder bist du mal laut, ab und<br />
an auch aufmüpfig. Ja, und du kostest,<br />
oi – wie alle Kinder! Doch wie alle<br />
Kinder gibst du mehr, als du nimmst.<br />
Wir sind stolz auf dich. Wir lieben dich.<br />
Alles Gute zum Geburtstag!<br />
Robert Sperling, Journalist und<br />
ehem. Kultusvorstand der IKG Wien<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
9 120001 135738<br />
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DIE SUCHE NACH ANTWORTEN<br />
NATIONALRATSPRÄSIDENT WOLFGANG SOBOTKA<br />
ZUR NEUEN ANTISEMITISMUS-STUDIE<br />
Wir gratulieren WINA<br />
zum 10-jährigen<br />
Firmenjubiläum!<br />
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Diversität statt Multikulturalität<br />
für eine Weltstadt wie Wien.<br />
Stadträtin Elisabeth Wehsely im<br />
Interview_06<br />
P.b.b. 11Z039078 W | Verlagspostamt 1010 Wien | ISSN 2307-5341<br />
erinnern neu denken ein Königreich für die<br />
Über die neue Österreich-ausstellung<br />
in der Gedenkstätte tendste Sammlerin moderner israli-<br />
Kunst lily Elstein gilt als bedeu-<br />
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Flucht hat viele Gesichter<br />
hasem Kassabji stammt aus aleppo. Im Interview erzählt er seine<br />
Geschichte und erinnert sich auch an seine jüdische Großmutter<br />
44 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 44 28.12.21 03:32
HIGHLIGHTS | 03<br />
Der Riss in der Familie<br />
Family Matters: Gillian Laubs Album ihrer politisierten Familie<br />
Gillian Laub wuchs in<br />
einem gutbürgerlichen<br />
Suburbia-Vorort<br />
New Yorks auf in einer gutbürgerlichen<br />
jüdischen<br />
Familie, in der verbal alles<br />
mittels a lot definitorisch<br />
eingekreist wurde: a lot of<br />
people, a lot of money, a<br />
lot of love.<br />
1999 begann sie ihre Familie<br />
zu fotografieren, als<br />
Ersten ihren Großvater,<br />
der sich sommers im Garten<br />
sonnte, bekleidet mit<br />
einer Badehose mit Zebramuster<br />
und Goldkette.<br />
Nun hat sie ihre Aufnahmen<br />
aus mehr als 20 Jahren<br />
zusammengeführt in<br />
Family Matters (Aperture,<br />
200 S.). Selbstredend intim.<br />
Natürlich provozierend.<br />
Insider-Blick, Outsider-Ansicht.<br />
Die Kamera<br />
ist für Gillian Laub Instrument<br />
der Erkenntnis, zugleich Distanzierungsmittel. „Ich musste nahe<br />
an das heranrücken, was mir Bauchschmerzen bereitet“, sagte sie in<br />
einem Interview. Nicht selten trifft die Karl Kraus’sche Betonung von<br />
„Familienbande“ auf den letzten zwei Silben exakt das, was auf den<br />
Fotos zu sehen ist. Eine zusätzliche, politisch<br />
zerrissene Note, nicht selten bedrängend bis<br />
bösartig, kommt durch abgedruckte Familienkommentare<br />
ins Spiel, weil die US-Präsidentschaftswahlen<br />
2016 und 2020 sowie<br />
die Corona-Pandemie und deren Bekämpfung<br />
tiefen Zwist erzeugten und bösartige<br />
untergriffige Aggressionen hochsteigen ließen.<br />
A.K.<br />
aperture.org<br />
MUSIKTIPPS<br />
Alle vor der Linse<br />
Wonderland: ein Querschnitt durch die Modefotografie<br />
der Annie Leibovitz<br />
Wer war nicht alles vor ihrer Kameralinse?! Karl Lagerfeld<br />
und Nancy Pelosi, Ben Stiller, Lady Gaga<br />
oder Sarah Jessica Parker, die englische Königin Elizabeth<br />
II. und Yves Saint-Laurent.<br />
Dieser große, sehr gut gedruckte Band (Phaidon,<br />
440 S.) mit 350 opulenten, opulent und sehr oft geistreich<br />
inszenierten Aufnahmen unterstreicht optisch,<br />
dass für diese Fotografin jede Aufnahmesession eine<br />
Performance ist, ja sein muss. Leibovitz selbst nannte<br />
bei einer Präsentation in New York, zu der tout fashionable<br />
New York strömte plus jede Menge Intellektueller,<br />
Wonderland eine „Liebesode an die Mode“. Dass Anna<br />
Wintour, die wohl einflussreichste Modemagazin-Chefin<br />
der letzten Jahrzehnte, einen Essay beisteuern durfte,<br />
liegt auf der Hand. Denn es war Wintour, die vor Jahren<br />
Leibovitz den ersten Mode-Shooting-Auftrag gab. Zuvor<br />
war Leibovitz bekannt geworden durch ihre Arbeiten,<br />
vor allem Musiker-Porträts, für den Rolling Stone.<br />
Dann entwickelte sie eine ganz eigene Handschrift für<br />
Vogue und Vanity Fair. Als sie<br />
einmal Penélope Cruz zusammen<br />
mit einem spanischen Torero<br />
hochdramatisch fotografierte,<br />
realisierte sie, dass Blut<br />
aus seinem Hosenbein floss –<br />
am Tag zuvor war sein Bein von<br />
einem Stierhorn durchbohrt<br />
worden. A.K.<br />
phaidon.com<br />
7<br />
KAM<br />
Paul Hindemith, oy. Und schon<br />
blieb (vor Corona) das Konzert<br />
nur halb ausgebucht. Dabei ist<br />
es ganz und gar nicht ohrhörfeindlich. Das<br />
zeigt Sharon Kam nun auf ihrer Einspielung<br />
Hindemith – Klarinettenkonzert (Orfeo). Dieses<br />
Opus verbindet sie mit zwei weiteren kammermusikalischen<br />
Werken für Klarinette, jenes<br />
von 1948 einst geschrieben für – kein Scherz! –<br />
Benny Goodman. Eigentlich will man diese Musik<br />
nicht anders hören als alla Kam.<br />
SCHEPS<br />
Joseph Haydn und Edvard Grieg,<br />
Debussy und Chilly Gonzales. Etwas<br />
von Beethoven und etwas Filmmusik.<br />
Und dazu noch ein Musiktrack aus ei-<br />
nem Computer-Videospiel. Was die Pianistin<br />
Olga Scheps, , immerhin Echo-Klassik-Preisträgerin<br />
und als Jugendliche von niemand Gerin-<br />
gerem als Alfred Brendel gefördert, auf Family<br />
(Sony) wagt, davon träumen andere nicht einmal,<br />
wenn sie wild träumen. Und nicht so be-<br />
törend schön Klavier spielen wie Olga Scheps.<br />
WALLFISCH<br />
Man will acht Euro wahrlich schön<br />
ausgeben? Dann gibt es nur eines<br />
– die aktuell preisreduzierte CD<br />
Karl Weigl – Cellokonzert (CPO). Wie der Cellist<br />
Raphael Wallfisch zusammen mit den Pianisten<br />
Edward Rushton, John York und dem Konzerthausorchester<br />
Berlin unter dem Dirigat von<br />
Nicholas Milton diese spätromantische Musik<br />
des 1881 geborenen Wieners ausdeutet, der<br />
1949 starb, ist hinreißend. Und der Wild Dance<br />
eine einzige Zugaben-Rakete! A.K.<br />
© aperture.org; phaidon.com<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
dezeber.indb 45 28.12.21 03:33
INTERVIEW MIT BARRIE KOSKY <br />
„Warum wir Mozart lieben? Weil<br />
er die Musik unserer Seele<br />
niedergeschrieben hat!“<br />
Barrie Kosky zu Besuch in Wien<br />
anlässlich seiner aktuellen Inszenierung<br />
von Mozarts Don Giovanni.<br />
Der international erfolgreiche Opernregisseur Barrie Kosky spricht<br />
über seine Arbeit an der Wiener Staatsoper, seine Wagner-Katharsis in<br />
Bayreuth und sieht wenig Parallelen zwischen dem Wiener und Berliner<br />
Publikum. Interview: Marta S. Halpert<br />
WINA: Sie haben von Wien aus 2005 ihre beeindruckende<br />
Karriere als Opernregisseur begonnen, nachdem Sie zuvor<br />
vier Jahre lang mit Airan Berg das Schauspielhaus geleitet<br />
haben. Sie sagten öfter, dass man Ihre Arbeit in Wien nie so<br />
richtig ernst genommen habe. Wie meinen Sie das?<br />
Barrie Kosky: Wir haben ab 2001 ein interessantes<br />
Konzept für das Schauspielhaus erarbeitet: Es bestand<br />
aus der Verknüpfung unterschiedlicher Genres<br />
wie Musiktheater, Schauspiel, Oper, Puppentheater<br />
und Video aus verschiedenen Ländern und in vielen<br />
Sprachen. Jetzt, nach 20 Jahren, macht das Wiener<br />
Burgtheater so ziemlich das Gleiche.<br />
Waren Sie mit Ihrer Auffassung von Theater zu früh dran?<br />
I Vielleicht, jedenfalls haben es damals nicht alle<br />
Menschen verstanden. Aber wir hatten fast immer<br />
ein volles Haus mit einem bunten, eingeschworenen<br />
Kult-Publikum. Ich erinnere mich, dass die Kollegin<br />
Andrea Breth in jede Produktion kam; Elisabeth Orth<br />
und Klaus Maria Brandauer zählten auch zu unse-<br />
„Die Bayreuther<br />
Erfahrung<br />
war<br />
sehr wichtig<br />
für mich: [...]<br />
dieser Dibbuk<br />
von Wagner,<br />
der auf meiner<br />
Schulter gesessen<br />
und in<br />
meiner Seele<br />
gewohnt hat,<br />
ist weg.“<br />
Barrie Kosky<br />
ren treuen Besuchern. Es war eine schöne Zeit, aber<br />
der Funke ist nie richtig übergesprungen: In anderen<br />
Städten wie Berlin, Sidney, Paris oder London fühlt<br />
man sofort, wie das Publikum reagiert und mitgeht.<br />
Als ich 2003 meine erste Arbeit in Berlin gemacht<br />
habe, ist der Funke sofort übergesprungen. So wurde<br />
die Stadt zu meiner künstlerischen Heimat und mein<br />
Wohnzimmer.<br />
Wie fühlt es sich dann an, als international renommierter<br />
Regisseur an die Wiener Staatsoper gerufen zu werden?<br />
I Es war die persönliche Einladung von Direktor Bogdan<br />
Roš , die mich hergebracht hat. Er hat viele<br />
meiner Inszenierungen gesehen und schlug vor, dass<br />
ich mit Musikdirektor Philippe Jordan die drei Mozart-Da<br />
Ponte-Opern hier mache. Ich habe zugesagt,<br />
als er darauf hinwies, dass er noch keine Besetzung<br />
habe, denn so konnte ich diese mit dem Intendanten<br />
und dem Musikdirektor erarbeiten. Das ist die<br />
einzige Möglichkeit für mich, gute Arbeit zu machen.<br />
© Frederic Kern / Action Press / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />
46 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 46 28.12.21 03:33
Wagners Dibbuk<br />
© Frederic Kern / Action Press / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />
Wann wurde diese Zusammenarbeit fixiert?<br />
I Dieser Vorschlag liegt etwa drei Jahre zurück: Direktor<br />
Roš hat die Ambition, das Kernrepertoire neu zu<br />
denken und an der Staatsoper ein Mozart-Ensemble<br />
mit neuen Sängern und Sängerinnen zu besetzen, also<br />
nicht mit großen, bekannten Stimmen, aber fantastischen<br />
Musikerinnen und Künstlern, die in Wien noch<br />
nicht bekannt sind. Das war Musik in meinen Ohren,<br />
denn Roš hat eine sehr klare, respektvolle Vorstellung<br />
davon, dass die Beziehung eines Regisseurs oder<br />
einer Regisseurin zu den Sängern eine gute und positive<br />
sein muss. Die künstlerische Zusammenarbeit<br />
in den letzten sechs Wochen war wunderbar, daher ist<br />
es so brutal und traurig, dass wir die Premiere ohne<br />
Zuschauer machen müssen. Ich mache kein Theater<br />
fürs Fernsehen, das ist nicht mein Beruf.<br />
Bei der Opernmatinée zum Don Giovanni meinten Sie,<br />
nach Mozart-Proben wären Sie fröhlich und nach Wagner-<br />
Proben schlecht gelaunt? Das verstehe ich gut, aber warum<br />
machen Sie es dann?<br />
I Das heißt nicht, dass ich keine Wagner-Oper machen<br />
möchte, doch ich erlebe diese Ambivalenz gleichzeitig<br />
mit der Macht seiner Musik, manchmal in einer<br />
unguten Art, sie geht jedenfalls unter die Haut. Das<br />
ist aber nicht schlecht, das Gleiche könnte ich über<br />
Alban Berg oder Modest Mussorgsky sagen. Auch deren<br />
Musik macht mich emotional unstabil, weil die<br />
Musik etwas mit einem macht. Es ist ja auch egal, ob<br />
man Mozart melancholisch oder tragisch empfindet:<br />
Auch nach drei Stunden Probe denke ich mir, jetzt<br />
wirst du für sechs Stunden pro Tag dafür bezahlt, dass<br />
du in einem Zimmer sitzt und diese Musik endlos hören<br />
kannst. Was gibt es Schöneres? Wir sagen einfach,<br />
Mozart war ein Genie, vergessen aber, warum wir Mozart<br />
lieben: Weil Mozart die Musik unserer Seele ist!<br />
Zurück zu Wagner: Sie sind der erste jüdische Regisseur,<br />
der von Katharina Wagner persönlich eingeladen wurde,<br />
die Meistersinger von Nürnberg in Bayreuth zu inszenieren.<br />
Wagners Antisemitismus und die Vereinnahmung<br />
Bayreuths durch die Nazis sind ein Faktum. Sie haben das<br />
Angebot zuerst abgelehnt, dann doch angenommen, und<br />
es wurde ein fulminanter Erfolg. Sie haben oft und deutlich<br />
betont, welch große Probleme Sie mit Wagner und dieser<br />
Oper im Besonderen haben, vor allem, wie schwer es ist,<br />
den Antisemiten Wagner von seinen Stücken zu trennen.<br />
Warum machen Sie es doch?<br />
I Wagner ist sicher einer der einflussreichsten<br />
Komponisten, und es ist unglaublich,<br />
was er an Musiktheater geschaffen<br />
hat. Tristan und Isolde gehört zu<br />
meinen Lieblingsstücken, ich liebe jeden<br />
Takt vom Anfang bis zum Ende. Ich<br />
empfinde diese Musik als einen endlosen<br />
Ozean, in dem man sich verlieren kann.<br />
Und in dieser Oper findet man auch keinen<br />
Antisemitismus, Wagners Charakter<br />
als politischer Mensch ist innerhalb dieser<br />
Erzählung nicht vorhanden.<br />
In anderen Stücken, wie Meistersinger<br />
oder Nibelungenring, ist es hingegen<br />
als Jude, der ich bin, eine große, komplexe<br />
Herausforderung, das Antisemitische<br />
an diesem furchtbar problematischem<br />
Mann nicht zu sehen. Ich kann<br />
nicht sagen – wie viele andere das versuchen<br />
–, dass Alberich, Mime oder Beckmesser<br />
nicht in tausend Jahre europäischem<br />
Antisemitismus mariniert sind.<br />
Denn sie sind es, und als Jude weiß ich<br />
das. Vielleicht hat ein nicht jüdisches Publikum keine<br />
Ahnung, was wir da denken und fühlen, aber es ist da.<br />
Sie machen es dafke*, um Ihre Jewtopia-Trilogie zu zitieren?<br />
I Man hat als Regisseur die Wahl: Man kann sagen,<br />
ich mache das Stück nicht, es geht für mich nicht. Vor<br />
fünfzehn, zwanzig Jahren habe ich so gedacht. Aber<br />
ehrlich gesagt, war die Bayreuther Erfahrung sehr<br />
wichtig für mich: Ich habe mich durch diese Katharsis<br />
befreit, dieser Dibbuk von Wagner, der auf meiner<br />
Schulter gesessen und in meiner Seele gewohnt hat,<br />
ist weg. In Bayreuth hatte ich bei der letzten Vorstellung<br />
im fünften Jahr der Wiederaufnahme plötzlich<br />
den Gedanken, jetzt ist der Kreis geschlossen. Ich habe<br />
keine Angst mehr vor diesem Mann, ich kann diese<br />
Sachen jetzt komplett trennen, und ich kann im Probenraum<br />
viel befreiter arbeiten.<br />
Wir werden also noch mehr Wagner-Interpretationen von<br />
Ihnen sehen dürfen?<br />
I Ich werden sicher meine Ambivalenz und die Problematik<br />
mit diesem Mann nie lösen. Die Konfrontation<br />
mit Wagner ist per se nicht schlecht, denn er ist<br />
in diesen Stücken stark verankert: Wotan ist Wagner,<br />
Holländer ist Wagner, Alberich ist Wagner, zwar in unterschiedlichen<br />
Facetten, aber er sitzt in diesen Figu-<br />
BARRIE KOSKY wurde 1967 in<br />
Melbourne geboren und lebt heute<br />
in Berlin. Nach einer Ausbildung in<br />
Klavier und Musikgeschichte an der<br />
Universität Melbourne wandte er<br />
sich der Theater- und Opernregie<br />
zu. Von 1990 bis 1997 war er künstlerischer<br />
Leiter der Gilgul Theatre<br />
Company. Dort inszenierte er Der<br />
Dybbuk, Es brennt ... Levad, The<br />
Wilderness Room und Der operirte<br />
Jud’ – alles Werke, mit denen Kosky<br />
zu Fragen jüdischer Kultur und<br />
jüdischer Identität arbeitete.<br />
Am Wiener Schauspielhaus<br />
war Kosky von 2001 bis 2005<br />
Ko-Direktor. Seit der Spielzeit<br />
2012/2013 ist er Intendant der<br />
Komischen Oper Berlin. Seine<br />
originellen Produktionen wurden<br />
mehrfach ausgezeichnet.<br />
Engagements als Opernregisseur<br />
führten Barrie Kosky unter anderen<br />
an die Bayerische Staatsoper München,<br />
zum Glyndebourne Festival,<br />
an das Royal Opera House London<br />
sowie an die Opern in Zürich<br />
und Frankfurt am Main. Seine<br />
Inszenierungen wurden außerdem<br />
an der Los Angeles Opera, Wiener<br />
Staatsoper, Oper Graz, Staatsoper<br />
Hannover, am Teatro Real Madrid<br />
und Theater Basel gezeigt. 2019<br />
hatte er mit Jacques Offenbachs<br />
Orphée aux Enfers sein gefeiertes<br />
Debüt bei den Salzburger Festspielen.<br />
Im gleichen Jahr arbeitete<br />
Barrie Kosky auch an der Opéra<br />
national de Paris, der Metropolitan<br />
Opera New York sowie beim<br />
Festival Aix-en-Provence.<br />
* dafke, jiddisch für „aus Trotz“<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
dezeber.indb 47 28.12.21 03:33
Inszenieren für die Gegenwart<br />
„Ich habe keine<br />
Aufnahme von<br />
Karajan oder<br />
Böhm, obwohl<br />
ich beide als Musiker<br />
sehr schätze.<br />
Ich wähle andere<br />
Dirigenten,<br />
weil das Problem<br />
ist, wenn ich<br />
die beiden höre,<br />
fange ich an,<br />
darüber nachzudenken,<br />
was sie<br />
getan oder besser<br />
gesagt nicht<br />
getan haben.“<br />
Barrie Kosky<br />
* Barrie Kosky: On Ecstasy, 2020.<br />
ren. Ich habe viele Angebote, den Ring in Deutschland<br />
zu machen, ich habe alle abgelehnt. Für 2023 beginne<br />
ich jetzt mit den Arbeiten für den Ring im Londoner<br />
Royal Opera House, und es ist mir ganz klar, dass ich<br />
den Bayreuth-Stil nicht nach London transferiere. Das<br />
englische Publikum soll keine antisemitischen, deutschen<br />
Bilder auf der Bühne sehen. Da versuche ich etwas<br />
ganz anderes.<br />
Hierzulande bemüht man sich bei den großen Dirigenten<br />
Karajan und Böhm, die politische Person und die künstlerische<br />
Leistung zu trennen. Wie sehen Sie das?<br />
I Diese Geschichte ist sehr problematisch. Ich habe<br />
keine Aufnahme von Karajan oder Böhm, obwohl ich<br />
beide als Musiker sehr schätze. Ich wähle andere Dirigenten,<br />
weil das Problem ist, wenn ich die beiden höre,<br />
fange ich an zu denken, was sie getan oder besser gesagt<br />
nicht gemacht haben, also nicht geholfen haben.<br />
Im Vergleich zu anderen nicht jüdischen Dirigenten,<br />
wie Hans Knappertsbusch oder Arturo Toscanini, die<br />
alles richtig gemacht und auch hier geblieben sind.<br />
Wie würden Sie das Wiener Publikum mit dem Berliner vergleichen?<br />
I Ich war in den letzten 16 Jahren oft in Wien. Ich sehe<br />
jetzt eine größere Offenheit, vielleicht ist sie auf dem<br />
Weg, wo sie vor dem Zweiten Weltkrieg war, in eine<br />
kosmopolitische Stadt. Ich habe hier auch damals<br />
wunderbare Menschen kennengelernt, fantastische<br />
Künstlerinnen wie Ruth Brauer, eine meiner Lieblingsmusen,<br />
die ich oft nach Berlin bringe. Wir haben<br />
zwar in Wien und Berlin drei Opernhäuser, aber<br />
das Publikum ist sehr verschieden. Seit dem Mauerfall<br />
ist in Berlin das Publikum wunderbar durchmischt.<br />
Es gibt nur eine Minderheit, die sagt, ich gehe nur in<br />
die Deutsche Oper oder nur in die Komische Oper Berlin<br />
(KOB), weil ich ein Kind der DDR bin, und das ist<br />
mein Stammhaus. Das gibt es nicht mehr, die Berliner<br />
sind wahnsinnig neugierig und gehen in alle drei<br />
Häuser. Sie kommen wegen eines besonderen Werkes,<br />
sie wollen etwas Neues sehen, ob Operette oder<br />
modernes Musiktheater. Das ist auch der Unterschied<br />
zu Wien: Sie kommen nicht in die KOB, um „na, was<br />
macht denn der Kosky wieder“ zu fragen und dann lieber<br />
zu raunzen, „ich kenne das Stück nicht, ich kenne<br />
die Sänger nicht“ … das ist ein wenig die Wiener Art.<br />
Sie haben als Intendant großen Erfolg mit Ihrem Repertoire,<br />
das gleichzeitig drei Genres umfasst, sowohl Mozarts<br />
Zauberflöte, Schönbergs Moses und Aron und Bernsteins<br />
West Side Story. Die Kartenpreise sind auch niedrig. Wie<br />
machen Sie das?<br />
I Erstens ist unser Publikum jünger, im Durchschnitt<br />
49 Jahre. Zweitens sind die Städte und die Geschichten<br />
der Opernhäuser sehr verschieden. Die Wiener<br />
Staatsoper soll nicht wie die Komische Oper sein und<br />
umgekehrt, das wäre lächerlich. Aber ein Opernhaus<br />
darf nicht nur durch die Vergangenheit definiert werden,<br />
auch nicht über die Zukunft, sondern nur durch<br />
die Gegenwart: Was machen wir heute, was ist jetzt<br />
los? Nostalgie und Erinnerung sind wichtig für Theater<br />
und Oper, wir wissen das, ich habe auch kein Problem<br />
damit – aber bitte nicht so viel!<br />
Sie denken da an die Wiener Staatsoper?<br />
I Direktor Roš ist sehr authentisch in seiner Art und<br />
sagt, es muss letztendlich auch Neues passieren, wir<br />
müssen eine neue Generation von Sängerinnen und<br />
Sängern herbringen, wir brauchen eine andere Ästhetik.<br />
Natürlich ist die Staatsoper ein führendes Opernhaus<br />
in der Welt, aber es ist nicht das einzige, diese<br />
Einstellung gehört der Vergangenheit an.<br />
Wir können uns günstigere Preise leisten, weil wir<br />
nicht so teure Sänger und Sängerinnen haben wie<br />
die Staatsoper, und hauptsächlich hilft uns dabei ein<br />
eigenes Ensemble. Wir sind keine großen Stimmfetischisten,<br />
in Wien wäre es dumm zu sagen, wir wollen<br />
diese großen Stimmen nicht. Aber wir machen Musiktheater<br />
in einem Felsenstein-Haus mit einer ganz<br />
anderen Praxis.<br />
Wie ist es Ihnen gelungen, Ihr Publikum so stark auch mit<br />
unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu durchmischen?<br />
I Man muss Prioritäten setzen, gleich in der ersten<br />
Spielzeit haben wir ein eigenes Konzept für die türkische<br />
Community entwickelt. Es gibt Workshops, wir<br />
gehen in Schulen, bauen damit eine Brücke in das<br />
Opernhaus. Es reicht nicht zu sagen, „wir sind ein offenes<br />
Haus der Vielfalt“ und „komm, lieber türkischer<br />
Mann, in diesen Tempel“. Man muss Fakten schaffen:<br />
Mit einem Bus bringen wir ein 90-minütiges Programm<br />
mit fünf Sängern und vier Musikern ins Altersheim,<br />
in die Schule und in den Kindergarten, damit<br />
die Menschen ein Gespür dafür entwickeln, dass wir<br />
zu ihnen kommen. Vielfalt muss gelebt werden!<br />
Die fantastische Hühnersuppe Ihrer polnischen Großmutter<br />
Leah beschreiben Sie bis heute voller Sehnsucht und<br />
Genuss.* Ihre ungarische Großmutter Magda hingegen hat<br />
Sie mit der Oper vertraut gemacht: Als Siebenjähriger hat<br />
sie Ihnen Madame Butterfly untergejubelt. Sie verabschieden<br />
sich im Sommer <strong>2022</strong> nach zehn Jahren von der KOB<br />
mit einer All-Singing-All-Dancing Yiddish Revue. Werden<br />
Sie keine Madame Butterfly für Magda inszenieren?<br />
I Das ist eine sehr interessante Frage, denn obwohl<br />
mich diese Oper als erstes Werk so tief beeindruckt<br />
und auch beeinflusst hat, war die Butterfly im späteren<br />
Leben nie meine Oper. Sie war zwar meine Tür<br />
in die Opernwelt, sie berührt mich, aber sie interessiert<br />
mich nicht. Ich finde Tosca das viel interessantere,<br />
bessere Stück. Daher freue ich mich, dass ich<br />
in den nächsten Jahren in Amsterdam eine Puccini-<br />
Trilogie (Tosca, Turandot, Trittico) machen darf. Meine<br />
Tosca ist schon im April <strong>2022</strong> zu sehen.<br />
48 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 48 28.12.21 03:33
„Die Vergangenheit liegt in der Luft“<br />
Jana Enzelberger ist eine<br />
stille, stets hoch konzentrierte<br />
Künstlerin von beeindruckender<br />
Intensität. Geboren wurde<br />
sie in der Sowjetunion, seit 20<br />
Jahren lebt sie in Wien. Und obwohl<br />
sie schon seit ihrer Kindheit<br />
um ihre jüdischen Wurzeln<br />
wusste, hat sie erst in den letzten<br />
Jahren und in Wien damit<br />
begonnen, sich in ihrer künstlerischen<br />
Arbeit damit auseinanderzusetzen,<br />
aber auch<br />
dank Freunden ihren ganz persönlichen<br />
Weg zu ihrer eigenen<br />
„Jüdischkeit“ zu finden. Wie<br />
schwer, hindernisreich und bewegend<br />
dieser Weg war, darüber<br />
hat die Fotografin und<br />
Grafikerin aus Anlass ihrer aktuellen<br />
Einzelausstellung Wiener<br />
Begegnungen sehr offen im Gespräch<br />
mit WINA erzählt.<br />
Interview: Angela Heide,<br />
Fotos: Jana Enzelberger<br />
Jana Enzelberger<br />
begann schon früh in<br />
mit ersten künstlerischen<br />
Arbeiten. Doch<br />
erst in ihrer Wahlheimat<br />
Wien hat sie<br />
sich der Fotografie<br />
zugewandt.<br />
wına-magazin.at<br />
49<br />
dezeber.indb 49 28.12.21 03:33
Fotografin und Grafikerin<br />
INTERVIEW MIT JANA ENZELBERGER <br />
WINA: Du hast um deine jüdischen Wurzeln relativ früh<br />
schon gewusst, dich aber erst in den letzten Jahren näher<br />
damit beschäftigt. Wie kam es dazu?<br />
Jana Enzelberger: Ich wurde in Russland geboren, in<br />
eine jüdische Familie, aber mit zugeschütteten Wurzeln.<br />
Denn das Jüdischsein war damals nicht so „üblich“:<br />
Alle waren sowjetisch, alle waren russisch, und<br />
es wurden weder christliche noch jüdische oder sonstige<br />
religiöse Feste gefeiert, auch keine Weihnachten.<br />
Was es gab, waren der Erste Mai und Silvester.<br />
Ich wusste um den jüdischen Hintergrund meiner<br />
Mutter ab meinem Teenageralter, und eigentlich mehr<br />
aus Zufall, da damals, in den Achtzigerjahren, immer<br />
wieder im Bekanntenkreis darüber gesprochen wurde,<br />
wer wohin auswandert und wer in den Westen, aber<br />
eben auch nach Israel geht.<br />
Hier in Wien habe ich einen sehr engen Freund, der<br />
ebenfalls jüdisch ist und mit seiner Familie die jüdische<br />
Tradition ganz bewusst lebt und auch weitergibt<br />
– so wie er seine Kinder erzieht, so wie er an Schabbat<br />
in die Synagoge geht –, und durch ihn erst finde ich<br />
langsam zu meinen Wurzeln.<br />
Wann und warum bist du nach Wien gekommen?<br />
I Es war der Wunsch meiner Eltern, die beide Ärzte<br />
sind und für die eine gute Ausbildung absolut zentral<br />
war, dass ich in der Schule schon Deutsch lerne. Später<br />
habe ich Germanistik studiert und in diesem Fach<br />
auch promoviert und gearbeitet. Nach Wien bin ich<br />
vor rund 20 Jahren durch meinen damaligen Mann gekommen<br />
– und dieses erste Jahr in Wien war für mich<br />
unglaublich schwierig, denn das Deutsch, das ich gelernt<br />
hatte, und das Wienerische, mit dem ich es nun<br />
tagtäglich zu tun hatte: Da lagen Welten dazwischen,<br />
die Sprachmelodie ist so ganz anders. Und ich dachte,<br />
mein Hirn platzt!<br />
Wohin hat es dich in Wien beruflich zuerst gezogen?<br />
I Ich habe zuerst in einem Kunstverein gearbeitet,<br />
doch es war ein klassischer Bürojob, und rasch war<br />
mir klar, dass ich so nicht leben will. Zu diesem Zeitpunkt<br />
habe ich einen Mitarbeiter des Vereins Hemayat<br />
kennengelernt, dem Wiener Betreuungszentrum<br />
für Folter- und Kriegsüberlebende, das psychiatrische<br />
und psychotherapeutische Unterstützung bietet und<br />
in dem ich in den folgenden 15 Jahren als Dolmetscherin<br />
gearbeitet und parallel dazu eine Ausbildung zur<br />
Traumaberaterin absolviert habe. Daneben gab es Aufträge<br />
des Niederösterreichischen Therapiezentrums in<br />
Sankt Pölten und der Caritas Familienberatung.<br />
Anfang 2020, fast zeitgleich mit dem ersten Lockdown im<br />
Zuge der Covid-19-Pandemie, hattest du ein Burnout, das<br />
dein Leben in gänzlich neue Bahnen geworfen hat. Willst du<br />
uns darüber erzählen?<br />
„Das Deutsch,<br />
das ich gelernt<br />
hatte,<br />
und das Wienerische,<br />
mit<br />
dem ich es<br />
nun tagtäglich<br />
zu tun<br />
hatte: Da<br />
lagen Welten<br />
dazwischen.“<br />
Jana Enzelberger<br />
Aufatmen hieß<br />
Jana Enzelbergers<br />
letzte Einzelausstellung<br />
im Rahmen<br />
von Wachau in<br />
Echzeit.<br />
I Die Arbeit war in all diesen Jahren nicht nur psychisch<br />
sehr belastend, denn du lernst so viele Menschen und<br />
deren oft tragische Schicksale kennen –, sie war auch<br />
ganz persönlich existenziell belastend, denn, und das<br />
ist ein systemisches Problem, es gibt keine Anstellungen,<br />
in keinem der Bereiche, in denen ich gearbeitet<br />
habe, und ich habe oft bis weit über die Grenzen meiner<br />
Möglichkeiten hinaus gearbeitet, konnte aber aus<br />
rein existenziellen Gründen nicht weniger arbeiten,<br />
und irgendwann ging das einfach nicht mehr. Ich hatte<br />
bereits acht Jahre zuvor ein Burnout gehabt, war jedoch<br />
nach nur einem Monat wieder zurück in den Job<br />
gegangen. Diese zu kurze Auszeit, die ich nach dem<br />
ersten Burnout genommen hatte, hat sich Jahre später<br />
gerächt. Vor sechs Jahren habe ich ein gutes Mittel gefunden,<br />
um mit den Belastungen umgehen zu lernen:<br />
Ich habe mit dem Ballettunterricht begonnen, dem ich<br />
bis heute treu geblieben bin und den ich auch im tiefsten<br />
zweiten Burnout des letzten Jahres nie aufgegeben<br />
habe. Dennoch musste ich ab März 2020 acht Monate<br />
lang in Krankenstand, eine Zeit, die in der Rückschau<br />
zwar sehr belastend war, mein Leben aber um 180<br />
Grad – und zum Guten – gedreht hat.<br />
Wann hast du das erste Mal gespürt oder gewusst, dass du<br />
einen künstlerischen Weg einschlagen willst?<br />
I Ich wollte eigentlich immer schon Künstlerin werden<br />
und habe schon früh gemalt und gezeichnet – es<br />
war als Kind sicher auch eine Art Fluchtmöglichkeit.<br />
Aber so wenig, wie ich Ärztin geworden bin, was ja<br />
der Wunsch meiner Eltern gewesen wäre, so wenig<br />
bin ich dann Kunsthistorikerin geworden, was eigentlich<br />
mein erster Berufswunsch war. Doch auch wenn<br />
es lange Jahre gebraucht hat, so ist mit der Zeit dieses<br />
Künstlerische, vor allem das Gestalterische wieder zu<br />
mir zurückgekehrt.<br />
50 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 50 28.12.21 03:33
mit russisch-jüdischen Wurzeln<br />
Du hast dich dann aber nicht mehr für die Malerei entschieden,<br />
sondern für die Fotografie, warum?<br />
I Als ich wieder zur Kunst zurückgefunden habe, hatte<br />
ich schon so lange nicht mehr gemalt oder gezeichnet,<br />
dass mein muskuläres Gedächtnis einfach nicht<br />
mehr mitgemacht hat. Und so habe ich mir gedacht,<br />
ok, dann fotografiere ich halt, und habe berufsbegleitend<br />
die Ausbildung zur Fotografin absolviert. Mein<br />
erster Plan war, dass ich beide Wege parallel gehen<br />
könnte – den als Dolmetscherin und den als Künstlerin.<br />
Ein falscher Gedanke, wie sich schließlich herausgestellt<br />
hat. Es ging sich einfach mit meiner Energie<br />
nicht aus. Mein zweites Burnout war dann auch<br />
kurz nach meiner ersten Soloausstellung in der Galerie<br />
MA2, die mich seither auch vertritt. Es war der<br />
Zeitpunkt, an dem mein Kopf eigentlich noch dachte,<br />
dass ich beides machen kann, aber mein Körper gesagt<br />
hat, dass es nicht mehr so weitergehen kann …<br />
Du hast dich in den acht Monaten, die auf deinen Ausstieg<br />
bei Hemayat gefolgt sind, erneut weitergebildet und auch<br />
gleich deine Website selbst gestaltet.<br />
I Die Website kam zuerst, denn ich brauchte etwas,<br />
das ich machen kann, um mich nicht auf die Coach<br />
zu legen und nicht mehr aufzustehen. Das war die Gefahr<br />
in dieser Zeit, dass alles so dunkel und schwarz<br />
wird, dass ich es nicht mehr schaffe – aber ich habe<br />
es geschafft! Ich habe meine Website selbst gestaltet,<br />
und ich habe intensiv nachgedacht, was ich machen<br />
kann und was ich machen will, und so kam ich auf die<br />
Ausbildung zur Mediendesignerin, die ich, sobald es<br />
mir möglich war, an der LIK Akademie für Foto und<br />
Design absolviert habe. Der nächste Schritt war ein<br />
Praktikum beim Tyrolia Verlag, für das ich sehr dankbar<br />
bin und bei dem ich dank sehr freundlicher, engagierter<br />
und leidenschaftlicher Buchmacherinnen<br />
gelernt habe, ein Buch von Null an bis zur Drucklegung<br />
zu begleiten.<br />
Wenn ich dir zuhöre, dann wirkt alles, trotz all der Belastungen<br />
und Schwere, die dich so lange begleitet haben, als hätte<br />
es so sein müssen. Du hast aktuell binnen weniger Monate<br />
zwei Einzelausstellungen, arbeitest als Porträtfotografin und<br />
suchst genau in dem Bereich, den du dir wünscht, dem Verlags-<br />
und Grafikwesen, eine neue Herausforderung.<br />
I Ja, all das ist in diesem letzten Jahr passiert, ich glaube<br />
es fast selbst noch nicht. Zu beiden Ausstellungen habe<br />
ich auch ohne lange zu überlegen und sehr gerne zugesagt.<br />
Vor allem, weil ich merke, dass ich diesen Schritt<br />
machen kann und machen will: dass ich nicht mehr<br />
nur fotografieren will, sondern meine Arbeiten auch<br />
einer breiteren Öffentlichkeit zeigen will, mit anderen<br />
teilen will.<br />
Du arbeitest bei deinen fotografischen Arbeiten vor allem in<br />
Schwarzweiß, warum?<br />
Berührendes<br />
Symbol<br />
jüdischen<br />
Lebens von<br />
heute: eine<br />
Menora, die<br />
als Schattenbild<br />
auf<br />
dem Gehsteig<br />
der Rotenturmstraße<br />
erscheint.<br />
JANA ENZELBERGER<br />
Wiener<br />
Begegnungen<br />
Fotoausstellung<br />
Treffpunkt Lerchenfeld,<br />
Lerchenfelder Straße 141,<br />
1070 Wien<br />
Vernissage: 15. <strong>Dezember</strong><br />
<strong>2021</strong>, 18:30 Uhr<br />
Ausstellung bis 14. <strong>Jänner</strong><br />
<strong>2022</strong> zu den Öffnungszeiten<br />
sowie nach Vereinbarung<br />
lerchenfelderstrasse.at<br />
„Das Bild war<br />
quasi schon<br />
da, ich musste<br />
nur mit meiner<br />
Kamera abdrücken.“<br />
Jana Enzelberger<br />
I Für mich ist es vielleicht der kürzeste Weg, zum Wichtigsten<br />
zu kommen.<br />
In deinen Bildern thematisierst du immer wieder das „jüdische<br />
Wien“, ein Wien, das es so nicht mehr gibt, wie etwa<br />
am Beispiel der zerstörten Synagoge in der Neudeggergasse,<br />
ein jüdisches Wien aber auch, das du an Orten siehst oder<br />
in Dingen, die ohne deine Bilder nicht sichtbar wären, etwa<br />
das Bild einer Menora in der Rotenturmstraße, die so freilich<br />
nicht existiert, sondern eine Art Schatten der Erinnerung ist,<br />
aber auch der Hoffnung und des Lebens. Ist dieses jüdische<br />
Wien deiner Bilder deine Art, dich deinem Judentum, aber<br />
auch Wien zu nähern?<br />
I Zum „Jüdischen“ und Wien kann ich ganz persönlich<br />
erzählen, dass ich eine Zeitlang auf dem Karmelitermarkt<br />
im zweiten Bezirk gelebt habe. Für mich war<br />
die dortige Atmosphäre, in der ich so viel vom einstigen<br />
jüdischen Leben in dieser Stadt gespürt habe,<br />
aber auch die Verfolgung, Zerstörung und Auslöschung<br />
massiv gefühlt habe, so belastend, dass ich es<br />
irgendwann nicht mehr ausgehalten habe. Diese Vergangenheit<br />
liegt, zumindest für mich, in der Luft. Ich<br />
habe damals nicht fotografiert, sondern erst viel später.<br />
Ähnlich ist es auch mit dem Bild der Menora auf<br />
der Rotenturmstraße. Für mich war der historische<br />
Boden – auch der fotografische – schon da, denn genau<br />
von dieser Stelle gibt es Fotos, auf denen dokumentiert<br />
ist, wie Jüdinnen und Juden 1938 gezwungen<br />
wurden, den Boden der Straße zu schrubben. Als ich<br />
dann durch die Straße ging und diesen Schatten gesehen<br />
habe, der für mich so ein deutliches Symbol jüdischen<br />
Lebens ist, war das für mich sofort wieder präsent.<br />
Das Bild war quasi schon da, ich musste nur mit<br />
meiner Kamera abdrücken.<br />
janaenzelberger.com<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
dezeber.indb 51 28.12.21 03:33
Genialer Dirigent<br />
Wiener Dramaturgie<br />
Herbert-von-Karajan-Platz ja, Bruno-Walter-Platz nein. Der Musiker<br />
Michael Fritthum kämpft gegen Windmühlen und für Gerechtigkeit.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Bruno Walter stand<br />
mehr als 850 Mal am<br />
Dirigentenpult der Wiener<br />
Oper, bevor er vertrieben<br />
wurde.<br />
Der Wiener Dialekt klang harmonisch<br />
und wohltuend an mein<br />
Ohr und ich fühlte, ich gehöre<br />
nach Wien – denn der Seele nach war ich<br />
Wiener“, schrieb der am 15. September<br />
1876 in Berlin als Bruno Schlesinger geborene<br />
bedeutende Musiker und Dirigent<br />
Bruno Walter, als er 1947 Europa zum ersten<br />
Mal wieder besuchte. Er war über 60<br />
Jahre alt, als er wie viele andere jüdische<br />
Künstler 1933 Deutschland und 1938 Österreich<br />
fluchtartig verlassen musste, um<br />
sich und seiner Familie das Überleben zu<br />
ermöglichen.<br />
Nicht wenige der vertriebenen jüdischen<br />
Künstler verklärten und überhöhten<br />
ihr Wien-Bild nach der Schoah, um<br />
in der ehemals vertrauten Heimat wieder<br />
aktiv werden zu können. „Letztlich blendete<br />
Bruno Walter seine traumatischen Erfahrungen<br />
mit dem Nationalsozialismus<br />
in Deutschland und Österreich aus und<br />
kehrte zu seinem alten Österreich-Bild<br />
zurück, ohne im Innersten zu vergessen“,<br />
schreibt der Historiker Oliver Rathkolb im<br />
Ausstellungskatalog der Wiener Staatsoper<br />
zum 50. Todestag des Dirigenten.<br />
Bruno Walters Vater machte als Buchhalter<br />
in einer Seidenfabrik Karriere,<br />
seine Mutter beeinflusste ihn seit frühester<br />
Kindheit mit ihrer eigenen musikalischen<br />
Begabung als Absolventin des Sternschen<br />
Konservatoriums. Mit acht Jahren<br />
besuchte Bruno bereits dieses Berliner<br />
Musikinstitut und gab ein Jahr später seinen<br />
ersten öffentlichen Auftritt als Pianist.<br />
1890 beschloss er unter dem Einfluss<br />
von Hans von Bülow, Dirigent zu werden,<br />
und bereits 1893 dirigierte er an der Kölner<br />
Oper. Nur ein Jahr später folgte die Anstellung<br />
als Assistent von Gustav Mahler<br />
an der Hamburger Oper. Mahler wurde<br />
zu Walters künstlerisch prägendem Vorbild,<br />
er betrachtete sich als seinen Schüler,<br />
auch wenn er sich zunächst Mahlers<br />
Bitte verweigerte, ihm an die Wiener Hofoper<br />
zu folgen. Erst nach einer Saison in<br />
Hamburg und Stationen in Breslau, Preßburg,<br />
Riga und Berlin kam er 1901 als Kapellmeister<br />
an die Wiener Hofoper. „Es<br />
© akg-images / picturedesk.com<br />
52 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 52 28.12.21 03:33
Karriere im Exil<br />
© akg-images / picturedesk.com<br />
war atemberaubend, das edel prunkvolle<br />
Innere der Hofoper zu betreten, die vornehmen<br />
Räume Mahlers, sein Direktionsbüro<br />
und den Probensaal zu sehen, die<br />
etwa vierzig Jahre später, 1936 bis 1938 die<br />
meinen sein sollten“, erinnerte er sich in<br />
seinen Memoiren. Von Wien aus begann<br />
seine internationale Karriere mit Gastdirigaten<br />
in London und Rom. 1911 dirigierte<br />
er die Uraufführungen zweier bedeutender<br />
Spätwerke Mahlers: Das Lied von der Erde<br />
in München und die 9. Sinfonie in Wien.<br />
Im selben Jahr wurde Walter österreichischer<br />
Staatsbürger und strich „Schlesinger“<br />
offiziell aus seinem Namen. Bis<br />
1912 stand er mehr als 850 Mal am Dirigentenpult<br />
der Wiener Hofoper. Im Wagner-Jahr<br />
1913 verließ er Wien und wurde<br />
Generalmusikdirektor der königlichen<br />
Hofoper in München, wo er bis 1922 blieb.<br />
Dort erlebte Walter 1916 die ersten antisemitischen<br />
Angriffe, als es hieß „diesem Dirigenten<br />
fehlt zu Wagners Musik die stilistische<br />
Sicherheit.“ Als einziger verteidigte<br />
ihn damals Thomas Mann öffentlich. Unbeirrt<br />
erneuerte Walter das Repertoire in<br />
München und galt als fortschrittlich, nachdem<br />
er 1917 die Uraufführung von Hans<br />
Pfitzners Oper Palestrina dirigierte.<br />
In den USA trat der geniale Musiker im<br />
Jahr 1923 auf, ein Jahr später begann er<br />
seine langjährige Tätigkeit bei den Salzburger<br />
Festspielen. 1929 wechselte er von<br />
Berlin nach Leipzig, wo er Nachfolger von<br />
Wilhelm Furtwängler als Leiter des Gewandhausorchesters<br />
wurde. „Doch schon<br />
vier Jahre später holte ihn endgültig die<br />
rassistische Politik ein. Zwar kehrte er<br />
1933 noch einmal nach einer USA-Tournee<br />
mit seiner Frau nach Deutschland<br />
zurück, doch schon bei der Landung in<br />
Hamburg war ihm klar, dass nun ein totalitäres<br />
Regime am Ruder war“, fasst Rathkolb<br />
die damalige Situation zusammen. Als<br />
Walter sein viertes Konzert mit den Berliner<br />
Philharmonikern geben wollte, drohten<br />
die neuen Machthaber, sie würden im<br />
Saal alles kurz und klein schlagen lassen,<br />
falls Walter das Podium betreten sollte.<br />
Er rettete sich nach Österreich, wo er die<br />
Wiener Philharmoniker und<br />
zahlreiche Aufführungen an<br />
der Wiener Staatsoper sowie<br />
bei den Salzburger Festspielen<br />
leitete. Noch im Jahr 1936<br />
unterschrieb er einen Vertrag<br />
als künstlerischer Berater mit<br />
umfassenden Kompetenzen<br />
an der Wiener Staatsoper.<br />
Nach dem „Anschluss“ 1938 – die Nachricht<br />
vom Einmarsch der Wehrmacht erreichte<br />
ihn als Gastdirigent des Concertgebouworkest<br />
Amsterdam – blieb er mit<br />
seiner Frau dort und wartete auf seine<br />
Tochter, die in Wien inhaftiert war. Nach<br />
ihrer Freilassung machten die drei noch<br />
einige Stationen in Europa durch, gingen<br />
aber im November 1939 schließlich in<br />
die USA, wo der prominente Dirigent vom<br />
Los Angeles Philharmonic Orchestra sofort<br />
eingesetzt und 1946 eingebürgert wurde.<br />
Eine Londoner Zeitung reagierte auf Walters<br />
Vertreibung und seinen Erfolg in den<br />
USA so: „Deutschland hat seinen größten<br />
Dirigenten dem Rest der Welt geschenkt.“<br />
Bruno Walter ließ sich in Kalifornien<br />
nieder und war von 1941 bis 1945 Dirigent<br />
am Metropolitan Opera House in New<br />
York, wo er mit Unterbrechungen bis 1957<br />
wirkte. Zwei Jahre war er zudem Direktor<br />
des New York Philharmonic Orchestra.<br />
Schönen Worten folgten keine Taten. Wenn<br />
man sich die Lebensdaten dieses großen<br />
Musikers ansieht – geboren 1876 in Berlin,<br />
gestorben 1962 in Beverly Hills –, findet<br />
sich aktuell kein rundes Jubiläum, das<br />
zu begehen wäre. Dennoch gibt es einen<br />
sehr triftigen Grund, um jetzt über sein<br />
Schicksal zu berichten und seine Leistungen<br />
festzuhalten: Seit 25 Jahren bemüht<br />
sich der Theater- und Musikwissenschafter<br />
Michael Fritthum vergeblich<br />
darum, dass die Wiener Staatsoper gemeinsam<br />
mit der Stadt Wien den kleinen<br />
Platz an der Seitenfront zur Operngasse<br />
nach Bruno Walter benennt.<br />
„Während Bruno Walter ab 1938 im unfreiwilligen<br />
Exil war, machte das NSDAP-<br />
Parteimitglied Herbert von Karajan un-<br />
„Während Bruno Walter ab 1938<br />
im unfreiwilligen Exil war, machte<br />
das NSDAP-Parteimitglied Herbert<br />
von Karajan unter der Nazi-Diktatur<br />
Karriere.“ Michael Fritthum<br />
ter der Nazi-Diktatur Karriere“, erklärt<br />
Fritthum. „Er starb 1989, und bereits im<br />
September 1996 wurde der Platz zwischen<br />
Kärntner Straße und Opernhaus nach ihm<br />
benannt.“<br />
Doch warum kämpft der 1953 in Kanada<br />
geborene Österreicher so lange und unermüdlich<br />
um ein würdiges Andenken ausgerechnet<br />
für diesen jüdischen Dirigenten?<br />
„Bruno Walter entdeckte ich indirekt<br />
bereits in meiner Kindheit in Toronto:<br />
Ich habe mit großer Begeisterung Leonard<br />
Bernsteins legendäre Young Peoples<br />
Concerts live im Fernsehen erlebt und<br />
wusste, welche einschneidende Rolle Walter<br />
in Bernsteins Karriere gespielt hat“, erzählt<br />
das langjährige Mitglied der Wiener<br />
Staatsoper. „Als Bruno Walter 1943 wegen<br />
einer Grippe ein Konzert der New Yorker<br />
Philharmoniker, das über Radio im ganzen<br />
Land übertragen werden sollte, nicht<br />
dirigieren konnte, überließ er dem damals<br />
25-jährigen Bernstein das Dirigat, und so<br />
begann dessen Weltkarriere.“ Fritthum<br />
glaubt bis heute nicht, dass Walter wirklich<br />
krank war, er habe eher die Grandezza<br />
gehabt, dem jungen Kollegen eine Chance<br />
zu geben.<br />
Fritthum, der ab 1972 als Bratschist in<br />
diversen Orchestern spielte und von 1984<br />
bis 1991 im Chor der Volksoper sang, wurde<br />
von Eberhard Waechter in die Direktion<br />
der Volksoper geholt. Nach dessen plötzlichem<br />
Tod 1992 wechselte er zu Direktor<br />
Ioan Holender an die Wiener Staatsoper.<br />
Hier war er sieben Jahre lang sowohl<br />
für die Leitung sämtlicher Gastspiele der<br />
Staatsoper verantwortlich wie auch für die<br />
gesamte Gedenkdramaturgie des Hauses.<br />
Im Rahmen dieser anspruchsvollen und<br />
umfangreichen Aufgaben konzipierte und<br />
organisierte der Musikfachmann ab 1995<br />
mehr als zwanzig Ausstellungen, unter<br />
wına-magazin.at<br />
53<br />
dezeber.indb 53 28.12.21 03:33
Keine Versöhnung<br />
anderen über Bruckner, Mahler, Strauss,<br />
Donizetti und Gottfried von Einem. Historische<br />
Jubiläen der Staatsoper gehörten<br />
ebenso dazu wie zahlreiche Dirigenten-Würdigungen<br />
etwa von Josef Krips,<br />
Leonard Bernstein und Herbert von Karajan<br />
sowie Jubiläumsausstellungen für<br />
große Sänger und Sängerinnen des Hauses<br />
am Ring, unter anderem für Helge Rosvaenge,<br />
Paul Schöffler, Hans Hotter, Beniamino<br />
Gigli und Leonie Rysanek.<br />
„Bruno Walter hatte ein großes Herz, er<br />
reichte Karajan zwar nach 1947 versöhnlich<br />
die Hand im Wissen, dass er ein profitierender<br />
Mitläufer war“, so Fritthum. Bei<br />
Wilhelm Furtwängler war Walter strenger.<br />
Ihm schrieb er aus der Emigration: „Bitte<br />
bedenken Sie doch, dass Ihre Kunst Jahre<br />
hindurch als ein äußerst wirksames Mittel<br />
der Auslandspropaganda für das Regime<br />
der Teufel verwendet wurde, dass<br />
Sie durch Ihre bedeutende Persönlichkeit<br />
und Ihr großes Talent diesem Regime wertvolle<br />
Dienste leisteten und dass Anwesenheit<br />
und Tätigkeit eines Künstlers Ihres<br />
Ranges auch in Deutschland selbst jenen<br />
furchtbaren Verbrechern zu kulturellem<br />
und moralischem Kredit verhalf oder min-<br />
„Von der versöhnenden<br />
Geste des Humanisten<br />
Bruno Walter und der<br />
verbindenden Kraft der<br />
Kunst in Gestalt des Wiener<br />
Opernhauses ist zu<br />
meinem großen Bedauern<br />
nichts übrig geblieben.“<br />
Michael Fritthum<br />
destens ihm beträchtlich zu Hilfe kam […] Was<br />
bedeutet dagegen Ihr hilfreiches Verhalten in<br />
einzelnen Fällen jüdischer Not?“*<br />
Auch den Nachfolgern von Direktor Holender,<br />
Dominique Meyer und Bogdan Roš i ,<br />
brachte Fritthum in zahlreichen Briefen und<br />
© wikimedia<br />
Dokumenten sein Anliegen zur Benennung<br />
eines bescheidenen Bruno-Walter-<br />
Platzes vor – auch als Gegengewicht zum<br />
prominenten Karajan-Platz auf der stärker<br />
frequentierten Seite der Oper. Es kamen<br />
freundlich-unterstützende Zusagen, sich<br />
für das Projekt zu verwenden – nur geschehen<br />
ist bis heute nichts. Warum wandte<br />
sich Fritthum nicht direkt an die zuständige<br />
Kulturabteilung der Stadt Wien? „Ich<br />
habe aus Loyalität zu den Operndirektoren<br />
nie etwas hinter ihrem Rücken gemacht“,<br />
erklärt der engagierte und bescheidene<br />
Wissenschafter.<br />
Sowohl in Salzburg wie auch in Berlin<br />
und München wurden Straßen nach Walter<br />
benannt, ebenso der Asteroid (16590)<br />
Brunowalter. Im Vorjahr wurde vor dem<br />
Haus für Mozart ein Stolperstein für ihn<br />
verlegt. Das geschah alles außerhalb von<br />
Wien.<br />
„Von der versöhnenden Geste des Humanisten<br />
Bruno Walter und der verbindenden<br />
Kraft der Kunst in Gestalt des<br />
Wiener Opernhauses ist zu meinem großen<br />
Bedauern nichts übrig geblieben“, betont<br />
Fritthum und fügt hinzu: „Eine Wiener<br />
Dramaturgie, wie sie im Buche steht!“<br />
* Rathkolb, Oliver: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten<br />
Reich. Wien: ÖBV 1991, S. 266f.<br />
DEINE IM FALL<br />
DES FALLES-<br />
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informieren dich über die aktuelle Lage in dem Land, in dem du dich<br />
aufhältst und helfen, solltest du Unterstützung brauchen.<br />
54 – wına Dein | <strong>Dezember</strong> Außenministerium<br />
<strong>2021</strong><br />
24/7<br />
dezeber.indb 54 28.12.21 03:33
Virtouse Partituren<br />
Elfriede Jelinek ist 75<br />
und kein bisschen leise<br />
Das Theater in der Josefstadt feiert die Jubilarin mit dem<br />
bedrückenden Stück über das Massaker von Rechnitz im Jahr<br />
1945. Sona MacDonald wartet auf den baldigen<br />
Einsatz als Gräfin Batthyány.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Elfriede Jelineks Rechnitz:<br />
„Wir haben es erarbeitet<br />
wie ein Maler, der<br />
zurücktritt, um das Werk<br />
besser sehen zu können“,<br />
erzählt Schauspielerin<br />
Sona MacDonald.<br />
„V<br />
ielleicht erträgt es mich jetzt, es hat so<br />
viele nicht ertragen. Ich wiege nicht<br />
viel, komme ohne meine toten Verwandten.<br />
Bitte ertrage mich jetzt, mein liebes<br />
Land“, heißt es in der Schlüsselsätze von „Rechnitz<br />
(Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek.<br />
Vor wenigen Wochen feierte die österreichische<br />
Literaturnobelpreisträgerin ihren<br />
75. Geburtstag.<br />
Aus diesem Anlass programmierte das<br />
Theater in der Josefstadt zwei Stücke der<br />
Autorin, die nicht unterschiedlicher sein<br />
könnten: Jelineks Fassung von Oscar Wildes<br />
Der ideale Mann, eine brillante und<br />
pointenreiche Gesellschaftskomödie, in<br />
der sich alles um das wechselvolle Verhältnis<br />
von Politik und Moral dreht. Und<br />
das aufwühlende Stück Rechnitz (Der Würgeengel),<br />
ein sprachgewaltiger und eindringlicher<br />
Text über kollektives Verschweigen<br />
und Verdrängen in Österreich nach 1945.<br />
Beide Projekte sind fertig geprobt und<br />
sollten Ende November, Anfang <strong>Dezember</strong><br />
<strong>2021</strong> zur Aufführung gelangen. Aufgrund<br />
der Covid-19-Bestimmungen wird<br />
es im Falle von Rechnitz nun Mitte <strong>Jänner</strong><br />
<strong>2022</strong> werden.<br />
Es würde den Rahmen sprengen, versuchte<br />
man hier, Elfriede Jelinek eine<br />
umfassende literarische Würdigung zuteilwerden<br />
zu lassen. Das dramatische Geburtstagsgeschenk<br />
Rechnitz des Theaters in<br />
der Josefstadt gibt aber reichlich Einblick<br />
in die gesellschaftspolitische Haltung der<br />
Dichterin. So drückte es auch die schwedische<br />
Nobelpreisakademie aus: „[…] den<br />
„Sie verbindet so viel,<br />
was unsere Geschichte<br />
ausmacht, ein Geschichtsbewusstsein<br />
der abendländischen<br />
und jüdischen Kultur.“<br />
Jossi Wieler<br />
musikalischen Fluss von Stimmen und<br />
Gegenstimmen in Romanen und Dramen,<br />
die mit einzigartiger sprachlicher<br />
Leidenschaft die Absurdität und zwingende<br />
Macht der sozialen Klischees enthüllen“.<br />
Sowohl Musikalisches wie auch<br />
Jüdisches entdeckte der Regisseur Jossi<br />
Wieler bei der Uraufführung des Stückes<br />
2008 an den Münchner Kammerspielen:<br />
„Ihre Texte sind wie musikalische Partitu-<br />
ren. Man muss in sie hineinhören, um den<br />
Klang der Leichtigkeit und Ironie dahinter<br />
freizulegen. Und so virtuos sie auf der<br />
Klaviatur der deutschen Sprache spielt, so<br />
lässt sie sie auch immer wieder fremd klingen“,<br />
erzählt er. „Vielleicht rührt dies von<br />
ihren jüdischen Wurzeln her. Sie verbindet<br />
so viel, was unsere Geschichte ausmacht,<br />
ein Geschichtsbewusstsein der abendländischen<br />
und jüdischen Kultur.“<br />
„Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit<br />
Österreichs ist wirklich immer mein Thema gewesen,<br />
eigentlich in allen meinen Sachen. Ja,<br />
ich würde sagen, das ist mein Angelpunkt.“<br />
(Elfriede Jelinek)<br />
Diesem Credo ist Jelinek auch in Rechnitz<br />
(Der Würgeengel) treu geblieben: In diesem<br />
erschütternden Drama geht es um<br />
die Nacht zum Palmsonntag 1945 – kurz<br />
vor dem Einmarsch der Roten Armee: Da<br />
fand auf dem Schloss der Gräfin Margit<br />
Batthyány im burgenländischen Rechnitz<br />
ein Gefolgschaftsfest der lokalen NS-<br />
Prominenz statt. Zeitgleich wurden 180<br />
ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in<br />
der Nähe des Schlosses erschossen – angeblich<br />
unter Beteiligung der Festgäste.<br />
Bis heute konnten die Ereignisse dieser<br />
Nacht nicht vollständig geklärt werden.<br />
(Siehe Kasten zum Kreuzstadl Rechnitz)<br />
Elfriede Jelinek baut ihr Stück über das<br />
Massaker so auf, dass acht verschiedene<br />
Boten Widersprüchliches berichten, aber<br />
alle immer wieder darauf hinweisen, dass<br />
man doch nichts gesehen habe.<br />
wına-magazin.at<br />
55<br />
dezeber.indb 55 28.12.21 03:33
Sona MacDonald: „Erst am Ende<br />
erfolgt meine Entlarvung dieser Frau, ich<br />
entblöße mich als Gräfin und werde zur<br />
ironischen Sprecherin.“<br />
„Es können nicht alle Opfer sein!, jemand muß<br />
auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich, wir<br />
brauchen jeden Täter, den wir kriegen können,<br />
denn dann können wir uns selbst dazurechnen,<br />
ohne daß man es merkt, wir brauchen dringend<br />
Täter, zu denen auch wir gehören könnten, wenn<br />
wir uns etwas mehr Mühe gäben.“ (Aus „Rechnitz<br />
(Der Würgeengel)“)<br />
Des Vaters jüdische Familie. Elfriede Jelinek<br />
wurde 1946 in Mürzzuschlag geboren.<br />
Ihre Mutter Olga stammte aus einer<br />
Wiener gutbürgerlichen Familie. Ihr jüdischer<br />
Vater Friedrich Jelinek hatte seine familiären<br />
Wurzeln in der Tschechoslowakei<br />
und absolvierte sein Chemiestudium an<br />
der Technischen Hochschule in Wien. Wie<br />
Elfriede Jelinek in einem Beitrag für das Jüdische<br />
Echo im Jahr 2001 schrieb, fand sie einen<br />
Brief zu seiner Zwangspensionierung<br />
im Juli 1939: „[...] für den Reichskommissar: ein<br />
Dr. Wächter e.h., und das Schreiben ist gütig hingeneigt<br />
zu meinem lieben Papa, dem Herrn Friedrich<br />
Jelinek, Vize-Insp. d. städt. E-Werke (keine<br />
Ahnung, daß er das je gewesen ist, ein Beamter<br />
halt, mit Pensionsberechtigung) und das Schreiben<br />
sagt, daß mein Papa auf Grund des §3Abs.1<br />
der Verordnung zur Neuordnung des österr. Berufsbeamtentums<br />
vom 31.5., RGBL.I, S. 607, mit<br />
Ende des Monates Juli 1939 in den Ruhestand<br />
versetzt wird. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung<br />
steht Ihnen nicht zu, steht hier.“<br />
Es ist unbekannt, ob die Tochter je zu<br />
dem Unterzeichner des Briefes recherchiert<br />
hat. Jedenfalls handelt es sich bei<br />
Otto Wächter um jenen Juristen und SS-<br />
Führer, der während des Zweiten Weltkriegs<br />
im besetzten Polen als Gouverneur<br />
des Distrikts Krakau (1939–1942) und des<br />
Distrikts Galizien (1942–1944) brutale Verbrechen<br />
beging. Der jüdisch-britische<br />
Wissenschafter Philippe Sands veröffentlichte<br />
in dem Buch Die Rattenlinie – ein Nazi<br />
auf der Flucht (S. Fischer Verlag 2020) auch<br />
das abenteuerliche Ende des nach 1945<br />
gesuchten Massenmörders: Mit Hilfe des<br />
Vatikans, unter dem Schutz des Bischofs<br />
Hudal, sollte er sich nach Argentinien absetzen,<br />
er verstarb jedoch 1949 überraschend<br />
an einer ungeklärten Vergiftung.<br />
Elfriede Jelinek litt unter dem schwierigen<br />
Verhältnis zu ihrer Mutter, die sie von<br />
frühester Kindheit zum Ballett- und Musikunterricht<br />
zwang, unter anderem Klavier,<br />
Gitarre, Blockflöte, Geige und Bratsche.<br />
Dieses Trauma versuchte sie 1983 in<br />
ihrem Roman Die Klavierspielerin zu verarbeiten.<br />
1964 bestand sie die Matura und erlitt<br />
im gleichen Jahr einen psychischen Zusammenbruch.<br />
Sie schrieb erste Gedichte<br />
sowie Kompositionen und inskribierte<br />
Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte<br />
an der Universität Wien. Nach einigen Semestern<br />
brach Jelinek dieses Studium ab,<br />
absolvierte aber 1971 das Orgelstudium am<br />
Wiener Konservatorium. Kurz darauf lebte<br />
sie mit dem Schriftsteller Gert Loschütz in<br />
Berlin und Rom; 1974 kam sie nach Wien<br />
zurück, wo sie der KPÖ beitrat und bis<br />
SONA MACDONALD<br />
in Wien geboren, machte ihre Ausbildung in<br />
London, den USA und in Wien. Sie debütierte<br />
an der Freien Volksbühne Berlin als Cecily in<br />
Peter Zadeks Inszenierung von Bunbury. Danach<br />
folgten Engagements am Schillertheater Berlin,<br />
am Bayerischen Staatstheater München und<br />
am Theater in der Josefstadt. Sie wirkte in zahlreichen<br />
Musicals mit und war mit musikalischen<br />
Abenden auf Tourneen in Europa und den USA<br />
(z. B. Die sieben Todsünden – Kurt Weill-Abend<br />
oder American Rhapsody). Zuletzt gastierte sie<br />
am Burgtheater als Marlene Dietrich in Spatz<br />
und Engel. Auch in Film und Fernsehen kann<br />
man die Allrounderin sehen. 2016 erhielt sie den<br />
Nestroy-Preis als „Beste Schauspielerin“. Mit<br />
großem Engagement setzt sich Sona MacDonald<br />
für die Erinnerung an vertriebene jüdische<br />
Literaten und Schriftstellerinnen ein. 2020<br />
spielt sie die jüdische Emigrantin Rosa in Tom<br />
Stoppards Leopoldstadt.<br />
© Philine Hofmann; Reinhard Engel<br />
© Reinhard Engel<br />
56 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 56 28.12.21 03:33
Fantastisches Korsett<br />
© Philine Hofmann; Reinhard Engel<br />
© Reinhard Engel<br />
DER KREUZSTADL<br />
RECHNITZ<br />
Wegen seines kreuzförmigen Grundrisses<br />
nannte man den ehemaligen Meierhof<br />
des Gutes Batthyány im Bezirk Oberwart<br />
(Burgenland) Kreuzstadl. Heute nur mehr<br />
als Ruine erhalten, dient er als Mahnmal<br />
für das Massaker.<br />
Kurz vor Kriegsende, am 24. März 1945,<br />
wurden an die eintausend ungarische<br />
Juden von Köszeg/Güns (Ungarn) nach Burg<br />
(Burgenland) transportiert, wo sie beim<br />
„Südostwallbau“ als Zwangsarbeiter eingesetzt<br />
werden sollten. 200 der deportierten,<br />
völlig erschöpften Menschen wurden jedoch<br />
wieder zum Bahnhof Rechnitz rückgeleitet,<br />
da sie für den Arbeitseinsatz zu krank oder<br />
körperlich zu schwach waren.<br />
Am Abend desselben Tages fand im<br />
Schloss Batthyány ein Kameradschaftsfest<br />
statt. Zu den Festgästen zählten die „zuverlässigsten<br />
Getreuen des nationalsozialistischen<br />
Systems“, unter anderen Franz Podezin,<br />
Ortsgruppenleiter von Rechnitz, seine<br />
Sekretärin Hildegard Stadler sowie Funktionäre<br />
der Kreisleitung Oberwart. Ebenfalls anwesend<br />
waren Graf und Gräfin Batthyány,<br />
die ihr Schloss für das Fest zur Verfügung gestellt<br />
hatten, und deren Gutsverwalter.<br />
In der Nacht vom 24. auf den 25. März<br />
1945 wurden ungefähr 180 der ungarisch-jüdischen<br />
Zwangsarbeiter (eine genaue Zahl ist<br />
nicht bekannt) von Franz Podezin und ungefähr<br />
neun weiteren Festgästen ermordet.<br />
Laut Beweisverfahren des Volksgerichtsprozesses<br />
1948 verscharrten Ludwig Groll<br />
und eine zweite Person die Ermordeten notdürftig.<br />
Am folgenden Tag mussten die<br />
überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter<br />
die Toten begraben; noch am selben Abend<br />
wurden auch sie erschossen.<br />
Nach Kriegsende wurden drei Gerichtsverfahren<br />
gegen insgesamt 18 Personen<br />
durchgeführt: Der erste Prozess führte zu<br />
vier Verurteilungen und zwei Freisprüchen.<br />
Im zweiten Verfahren wurde der ehemalige<br />
Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka,<br />
verurteilt, jedoch nicht wegen des Massakers<br />
von Rechnitz, sondern wegen seiner illegalen<br />
Zugehörigkeit zur NSDAP vor dem 13.<br />
März 1938. in In den 1960er-Jahren wurde das<br />
letzte Verfahren eingestellt, da die Beweise<br />
für eine Anklage nicht ausreichend waren.<br />
1991 Mitglied war. Jelinek heiratete Gottfried<br />
Hüngsberg, der dem Kreis um Rainer<br />
Werner Fassbinder angehörte und als Informatiker<br />
in München arbeitete. Im Jahr<br />
1975 erschien der Roman Die Liebhaberinnen,<br />
mit dem ihr der literarische Durchbruch<br />
gelang.<br />
Schon früh wurde der Vater zur emotionalen<br />
Bezugsperson. Als Chemiker bewahrte<br />
ihn sein „kriegsdienlicher“ Beruf<br />
vor der Verfolgung durch das NS-Regime,<br />
er bekam einen Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie<br />
zugewiesen. Friedrich Jelinek<br />
war psychisch labil und starb 1969<br />
in einer psychiatrischen Anstalt. Damals,<br />
mit 23 Jahren, begann Jelinek obsessiv zu<br />
lesen und zu schreiben. „Ich hätte mir gewünscht,<br />
leben zu können, rausgehen,<br />
wenn ich Lust habe“, sagte sie der Literaturkritikerin<br />
Sigrid Löffler einmal in<br />
einem Interview. „Aber die Angst, von<br />
Menschen angeschaut zu werden, war größer.<br />
Ich habe mir den Subjekt-Status des<br />
Schreibens durch einen völligen Rückzug<br />
erkaufen müssen. Ich konnte nicht beides<br />
haben, Leben und Schreiben.“ Jelinek<br />
drückt sich exzessiv und wortgewaltig aus,<br />
oft gleichen ihre sarkastischen Textflächen<br />
bösen Litaneien – und die kennt sie besonders<br />
gut von der ungeliebten katholischen<br />
Klosterschule.<br />
Doch ganz andere Töne schlägt Jelinek<br />
in den persönlichen Textsammlungen auf<br />
ihrer Website an, die man leider nicht zitieren<br />
darf.<br />
Respektvoll und mitfühlend würdigt sie<br />
die teils ermordeten und verstorbenen jüdischen<br />
Familienmitglieder ihres Vaters<br />
mit den schönen Namen Felsenburg, Gottlieb<br />
und Duschak. Sie veröffentlicht unter<br />
anderem das Schwarz-weiß-Foto einer<br />
Hochzeit in der Wiener Synagoge. Oh’ mein<br />
Papa lautet der Titel ihrer Hommage an den<br />
früh verlorenen Vater.<br />
Aber das Politische überwiegt auch in<br />
dieser Zusammenstellung, denn vieles ist<br />
ihr verhasst: vor allem das rechtskonservative<br />
Österreich, das seine NS-Vergangenheit<br />
nicht aufgearbeitet hat. Daher hatte<br />
Jelinek zuerst eine Aufführung von Rechnitz<br />
(Der Würgeengel) in Österreich verboten.<br />
Die österreichische Erstaufführung fand<br />
2012 am Schauspielhaus Graz statt, 2016<br />
war eine Inszenierung am Wiener Volkstheater<br />
zu sehen.<br />
Die Hauptrolle der Gräfin Margit<br />
Batthyány in der Produktion am Theater<br />
in der Josefstadt spielt die gebürtige Wienerin<br />
Sona MacDonald, die einen amerikanischen<br />
Vater hat. Sie verkörperte an<br />
diesem Theater zahlreiche dramatische<br />
Rollen, zuletzt in Tschechows Kirschgarten.<br />
Aber wie geht es ihr mit der Rolle dieser<br />
uneinsichtigen Duldnerin des brutalen<br />
Massakers? „Am Beginn hatte ich Phasen<br />
des großen Unbehagens, im Sinne von, wie<br />
erträgt man diese Emotionen, wie taucht<br />
man da ein, um sich das überhaupt vorzustellen.<br />
Mit Hilfe der Regisseurin Anna<br />
Bergmann schafften wir eine gesunde kreative<br />
Distanz: Wir haben es erarbeitet wie<br />
ein Maler, der zurücktritt, um das Werk<br />
besser sehen zu können“, erläutert Mac-<br />
Donald. Sie empfindet die Sprache Jelineks<br />
als „ein fantastisches Korsett“, das einem<br />
den nötigen Halt und die Haltung gibt.<br />
„Wir fangen mit dem Fest 1945 an, dann<br />
hören wir die Beschreibung der Dienstboten<br />
und reisen mit den verschiedenen Figuren<br />
bis in die 1980er-Jahre. Es geht auch<br />
in ein Häuschen, irgendwo in Österreich,<br />
wo sich die Leute genauso unterhalten wie<br />
damals und auch einen Politiker wählen<br />
würden, den wir verabscheuen. Und das<br />
dramatische Geschehen reicht bis zu den<br />
Nachgeborenen, die es auch nicht wissen<br />
wollen“, erzählt die vielseitige Künstlerin<br />
(siehe Kurzbiografie auf Seite 44).<br />
Die Gräfin ist die ganze Zeit auf der<br />
Bühne, eine Art Botschafterin Jelineks:<br />
„Erst am Ende erfolgt meine Entlarvung<br />
dieser Frau, ich entblöße mich als Gräfin<br />
und werde zur ironischen Sprecherin.“<br />
Und was sagt uns dieses Drama heute?<br />
„Dass dieses Wegschauen ein Ende nehmen<br />
muss, weil sich vor unseren Augen<br />
alles wiederholt, dieses entsetzliche Gedankengut<br />
und die Engstirnigkeit“, ist<br />
sich Sona MacDonald sicher und fügt<br />
hinzu: „Im Zuge meiner Arbeit habe ich<br />
das Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum<br />
an der Universität Wien aufgesucht. Wissen<br />
Sie, wie die Adresse lautet: Batthyánystiege,<br />
Hofburg. Das kann man nicht erfinden,<br />
oder?“<br />
„Indem man diese Sünden der Väter und Großväter<br />
gebetsmühlenhaft immer wieder hervorholt,<br />
ohne ihnen wirklich analytisch auf den Grund gehen<br />
zu wollen oder ihr Fortwirken in der Gegenwart<br />
zu untersuchen, deckt man Geschichte zu,<br />
statt ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Indem<br />
man sich also letztlich geschichtslos und mythologisierend,<br />
also sie mit vielen Worten bloß verhüllend,<br />
diesen Verbrechen stellt, kann man nicht<br />
wirklich die historische Wahrheit für diejenigen,<br />
die nichts mehr darüber wissen, auch emotional<br />
nachvollziehbar machen. Dann erschöpft es sich<br />
in bloßem Gerede. Dieses Gerede versuche ich zu<br />
demaskieren.“ (Elfriede Jelinek)<br />
wına-magazin.at<br />
57<br />
dezeber.indb 57 28.12.21 03:33
Ende einer Ära<br />
DER STILLE VISIONÄR<br />
Wer am Theatermuseum<br />
vorbeigeht, geht meistens<br />
tatsächlich vorbei. Denn<br />
das seit 1991 im Palais Lobkowitz<br />
auf dem Lobkowitzplatz<br />
2, gleich hinter<br />
dem wesentlich bekannteren<br />
Albertinaplatz gelegene<br />
wichtigste Museum<br />
des Landes, wenn es um<br />
Theater, Oper, Tanz und so<br />
vieles mehr der „Theaternation“<br />
Österreich geht,<br />
ist keines, das sich hervortut<br />
oder gar wichtigmacht.<br />
Und selbst die Werbebanner<br />
gleich am Eck<br />
zur Herrengasse verweisen<br />
nicht auf die zahllosen<br />
Schätze des Hauses, das sie<br />
trägt, sondern auf dessen<br />
„Haupthaus“ seit dem Jahr<br />
2001, das Kunsthistorische<br />
Museum und dessen<br />
aktuelle Schau.<br />
Nun verabschiedet sich<br />
der langjährige Direktor<br />
des Hauses, Thomas<br />
Trabitsch. Unaufgeregt,<br />
wenn auch ein wenig<br />
wehmütig. WINA hat ihn<br />
zum Abschied noch einmal<br />
besucht.<br />
Von Angela Heide<br />
Dass das ursprüngliche „Österreichische<br />
Theatermuseum“ hier 1991 eröffnen<br />
konnte, war eine glückliche Fügung<br />
der Stunde. 1922 wurde von Joseph<br />
Gregor im Zuge des Ankaufs der größten<br />
damals existierenden privaten Theatralia-Sammlung<br />
des Schauspielers und<br />
Burgtheater-Direktors Hugo Thimig die<br />
Theatersammlung innerhalb der Österreichischen<br />
Nationalbibliothek gegründet.<br />
Jene von Thimig – Vater von Hans,<br />
Hermann und Helene Thimig und ab 1935<br />
offizieller Schwiegervater von Max Reinhardt,<br />
von denen das Museum ebenfalls<br />
zahlreiche Dokumente anbietet – reiht<br />
sich ein in weitere, darunter ein Teil der<br />
Autografensammlung von Stefan Zweig,<br />
Nachlässe von Carl Michael Ziehrer,<br />
Hermann Bahr und Anna Bahr-Mildenburg,<br />
Josef Kainz, Alfred Roller, Heinrich<br />
Schnitzler, Richard Teschner, Ewald Balser<br />
oder Sammlungsgründer Joseph Gregor.<br />
2005 wurden die Bestände des Wiener<br />
Staatsopernmuseums eingegliedert,<br />
in den letzten Jahren folgten Stella Kadmon,<br />
Fritz Muliar oder Elfriede Ott, Herbert<br />
Wochinz und der Vorlass von Elisabeth<br />
Orth. Aktuell umfasst der Bestand<br />
mehr als drei Millionen Einzelobjekte, darunter<br />
allein über 1.200 Bühnenmodelle,<br />
100.000 Kostüme und Requisiten aus drei<br />
Jahrhunderten, mehr als 100.000 Zeichnungen<br />
und Grafiken sowie rund eine<br />
Million Theaterfotos.<br />
Von der Sammlung zum Museum.<br />
1975 wurde aus der Sammlung<br />
erstmals ein Museum, damals noch im<br />
nahegelegenen Hanuschhof neben der<br />
Wiener Staatsoper. 1991 wanderte es wenige<br />
Meter weiter in das von der Republik<br />
Österreich angekaufte und neu renovierte<br />
Palais Lobkowitz. 2001 folgte<br />
der nächste Schritt: Das Theatermuseum<br />
© privat<br />
58 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 58 28.12.21 03:33
Museum für eine Theaternation<br />
© privat<br />
Thomas<br />
Trabitsch<br />
<strong>2021</strong> auf dem<br />
„Glücksstuhl“<br />
der aktuellen<br />
Ausstellung<br />
Verehrt ...<br />
begehrt ...<br />
Theaterkult<br />
und Sammelleidenschaft.<br />
wurde in den Verband des Kunsthistorischen<br />
Museums aufgenommen.<br />
Mit diesem Schritt wechselte auch die<br />
Leitung des Museums, das von 1979 bis<br />
1997 von Oskar Pausch und von 1997 an<br />
von Helga Dostal geführt worden war.<br />
Kompetenz mit Herz. Mit Thomas<br />
Trabitsch folgte ein erfahrener Museumskurator,<br />
ein „Theaterliebender“ der<br />
ganz besonderen Art: begeisterungsfähig<br />
und leidenschaftlich, visionär, ohne je laut<br />
zu sein, dabei stets bemüht, im Interesse<br />
des Hauses und seiner Mitarbeiter:innen<br />
zu agieren. Eine Ausnahmeerscheinung<br />
also in vielem in der österreichischen<br />
Kunst- und Kulturlandschaft, der nun,<br />
nach 20 arbeitsreichen Jahren und über<br />
60 zum Teil weit über die Grenzen des<br />
Landes wahrgenommenen Ausstellungen<br />
von der Bühne tritt. Und das, wie<br />
es seine Art ist: unaufgeregt, behutsam<br />
und mehr als logisch begleitet<br />
von der dichten<br />
und berührenden Schau<br />
Verehrt ... begehrt ..., die von<br />
eben jener großen Leidenschaft<br />
für das Theater erzählt,<br />
die auch ihn früh<br />
schon erfasst hat, und dabei<br />
gerade die ins Zentrum<br />
der Erzählung rückt, die zu<br />
einem großen Teil verantworten,<br />
dass Österreich<br />
jene viel gerühmte Kulturnation<br />
(geworden) ist: die<br />
Zuschauer:innen und Sammler:innen<br />
(siehe KulturKalender auf S. 64).<br />
Blickt man zurück auf den beruflichen<br />
Werdegang des Theaterwissenschaftlers,<br />
dann scheint heute der Weg an das Theatermuseum<br />
naheliegend. Doch ganz ohne<br />
biografische Windungen ging es für den<br />
im Waldviertel geborenen einzigen Sohn<br />
eines Arztes dann doch nicht.<br />
Schon das Studium begann der 1956<br />
in Gmünd Geborene „gegen den von<br />
meinen Eltern mir zugedachten Berufsweg“.<br />
Aus dem Studium der Musikwissenschaft<br />
wurde rasch jenes der Theaterwissenschaft.<br />
Es folgte ein längerer<br />
Auslandsaufenthalt als Fulbright-Stipendiat<br />
in den USA, das den jungen Akademiker<br />
nach der Musik in die nächste<br />
Leidenschaft einführte: die praktische<br />
Theaterarbeit. „Damals war das Theaterwissenschaftsstudium<br />
in Wien noch eher<br />
theoretisch“, erzählt er im Gespräch mit<br />
WINA anlässlich seines Abschieds. „Ich<br />
wollte mir aber auch praktisches Wissen<br />
zulegen und konnte so vom Studium in<br />
Amerika, das sehr praxisnah ausgelegt ist,<br />
nur profitieren.“<br />
An der University of Kansas assistierte<br />
er unter anderem bei einer Rheingold-Inszenierung,<br />
bei Brechts Kaukasischem<br />
Kreidekreis, schrieb, ebenfalls als<br />
Teil des Lehrplans, Theaterkritiken und<br />
hing nach Ende seiner Studien noch einige<br />
Monate des Reisens an. Fast zwei<br />
Jahre lang war Thomas Trabitsch in den<br />
USA, ehe er nach Österreich zurückkehrte<br />
und promovierte. Auch die nächste Station<br />
wartete zu diesem Zeitpunkt bereits<br />
auf ihn: eine Stelle als Dramaturg an den<br />
Städtischen Bühnen Regensburg, die ihn<br />
für weitere zwei Jahre noch tiefer in die<br />
„Man hat die<br />
Aufgabe, alle<br />
Sparten, die<br />
diesen immensen<br />
Bereich<br />
ausmachen,<br />
mitzudenken.“<br />
Thomas Trabitsch<br />
Welt des Theaters eintauchen<br />
ließ.<br />
Zurück in Wien folgte<br />
die Mitarbeit in der Kulturredaktion<br />
des ORF, wo<br />
er bei Karl Löbl arbeitete,<br />
ehe er für über ein ganzes<br />
Jahrzehnt als Leiter der<br />
Bundesländeraktivitäten<br />
der Jeunesse – Musikalische<br />
Jugend Österreichs<br />
fungierte. Thomas Trabitsch<br />
konzipierte und organisierte<br />
in diesen Jahren<br />
so prominente Zyklen wie Bilder einer Ausstellung<br />
im Kunsthistorischen Museum,<br />
initiierte eigene, viel beachtete transdisziplinäre<br />
Veranstaltungen und Projekte<br />
an unterschiedlichen Orten, wie dem<br />
Weinmuseum, dem Bestattungsmuseum<br />
oder dem Josephinum, arbeitete mit<br />
Walter Richard Langer zum Thema Jazz<br />
und entwickelte mit dem Residenz Verlag<br />
die Reihe Seite an Saite zur Verbindung<br />
von Musik und Literatur. In allen Projekten<br />
versuchte er stets, „Zusammenhänge<br />
herzustellen“, denn, erläutert der scheidende<br />
Direktor: „Ich habe immer darauf<br />
Wert gelegt, dass man den Begriff ,Kultur‘,<br />
der so vieles umfasst, auch in den jeweiligen<br />
Projekten, an denen man arbeitet,<br />
dementsprechend breit erforscht, etwa,<br />
indem man Zusammenhänge zwischen<br />
Theater und bildender Kunst oder Theater<br />
und Musik thematisiert und sichtbar<br />
macht. Natürlich hat man an einem Museum<br />
wie unserem einen Schwerpunkt,<br />
aber man muss in der Lage sein, Verbindungen<br />
und Bezüge herzustellen und<br />
diese auch dem Publikum nachvollziehbar<br />
zu vermitteln.“<br />
Es war unter anderem dieser Ansatz,<br />
der Trabitsch, nachdem er sich nach 12<br />
Jahren von der Jeunesse verabschieden<br />
musste und von da an mehrere Jahre im<br />
Ausstellungsmanagement des Kunsthistorischen<br />
Museums arbeitete, 2001 dazu<br />
bewog, sich als Direktor des nunmehr im<br />
KHM-Verband befindlichen Theatermuseums<br />
zu bewerben. „Auch wenn das in<br />
der Rückschau ‚kokett‘ klingen mag, aber<br />
ich habe damals überhaupt nicht damit<br />
gerechnet, in die engere Wahl zu kommen“,<br />
erinnert sich der Kulturmanager.<br />
Doch dank so wichtiger Ausstellun-<br />
wına-magazin.at<br />
59<br />
dezeber.indb 59 28.12.21 03:33
Persönliche Meilensteine<br />
gen wie Die Botschaft der Musik – 1000 Jahre<br />
Musik in Österreich im Palais Harrach, für<br />
die er sein über viele Jahre aufgebautes<br />
Netzwerk in der österreichischen Musiklandschaft<br />
einbringen konnte, seiner<br />
praktischen, wissenschaftlichen und organisatorischen<br />
Fähigkeiten war er der<br />
richtige Mann für den Neustart: „Ich hatte<br />
den Vorteil, dass ich das Organisieren von<br />
Ausstellungen gut kannte und ein gutes<br />
geschichtliches Wissen mitbrachte.“ Es<br />
sollte erneut so überraschend wie schnell<br />
klappen: „Und dann kam eine Ausstellung<br />
nach der anderen“, erzählt er und bedankt<br />
sich nicht zuletzt im Gespräch bei<br />
seiner Familie für den starken persönlichen<br />
Rückhalt auch in den intensivsten<br />
Zeiten seiner Tätigkeit.<br />
Die große<br />
Gustav-Mahler-<br />
Ausstellung<br />
2010: einer der<br />
persönlichen<br />
Meilensteine<br />
von Thomas<br />
Trabitsch.<br />
Persönliche Meilensteine.<br />
Viele der großen<br />
Ausstellungen der letzten 20<br />
Jahre hat Thomas Trabitsch<br />
selbst initiiert, unter anderen<br />
jene zu Gustav Mahler.<br />
„Das war ein großartiges<br />
Ausstellungsprojekt, für das<br />
ich immer noch unendlich<br />
dankbar bin“, erzählt er. Zu<br />
seinen weiteren persönlichen<br />
Highlights gehört die<br />
Reihe an vielbeachteten Literaturausstellungen,<br />
wie<br />
jene zu Arthur Schnitzler<br />
(2006/2007), Thomas<br />
Bernhard (2009/2010), Peter<br />
Handke (2013) Stefan Zweig (2014/2015)<br />
und Ödön von Horváth (2018/2019)<br />
„Dass wir so viele wunderbare Literaturausstellungen<br />
gemeinsam mit dem<br />
Ausstellungsgestalter Peter Karlhuber umsetzen<br />
durften, war ein Glücksfall, für den<br />
ich noch heute dankbar bin.“<br />
„Ein Theatermuseum<br />
ist<br />
kein ,Luxus‘,<br />
den sich eine<br />
Nation ,leistet‘,<br />
sondern<br />
eine Selbstverständlichkeit.“<br />
Thomas Trabitsch<br />
Immer wieder stellte<br />
Thomas Trabitsch seine<br />
Aufgeschlossenheit für<br />
neue Partnerschaften unter<br />
Beweis; es gab Projekte<br />
etwa mit der MUK, dem<br />
österreichischen Staatsballett<br />
oder so prominenten<br />
Regisseur:innen wie<br />
Katie Mitchell und zuletzt<br />
Yosi Wanunu, dem Gründer<br />
und Leiter von toxic<br />
dreams, dessen Installation<br />
im Theatermuseum<br />
After the End and Before the<br />
Beginning <strong>2021</strong> für den Nestroy-Preis nominiert<br />
war. „Auch die Idee, das ,Kabarett<br />
Fledermaus‘ zu thematisieren, kam von<br />
außen und wurde 2008 durch die Kuratorin<br />
Barbara Lesák wunderbar umgesetzt.“<br />
Wichtig war Thomas Trabitsch stets,<br />
„dass wir ein Museum der vorwiegend<br />
österreichischen Theatergeschichte<br />
sind“, auch wenn er eine Reihe wichtiger<br />
Schauen realisieren konnte, die weit<br />
darüber hinaus reichten und internationale<br />
Aufmerksamkeit erlangten, zuletzt<br />
etwa die beiden fulminanten Ausstellungen<br />
zur Commedia dell’arte und Lodovico<br />
Ottavio Burnacini.<br />
Wichtige Schwerpunkte befassten sich<br />
auch mit jüdischen Theaterkünstlerinnen<br />
und -künstlern, darunter etwa Ausstellungen<br />
zu Fritz Grünbaum oder Max<br />
Reinhardt, wobei, erklärt Trabitsch, nie<br />
deren Judentum im Zentrum stand, sondern<br />
deren eminente künstlerische Bedeutung.<br />
„Ich wähle ein Programm aus,<br />
und wenn dabei jüdische Künstlerinnen<br />
und Künstler im Fokus stehen, so ist es<br />
meine Überzeugung, dass wir auch auf<br />
deren Schicksale und die historischen<br />
Hintergründe hinweisen müssen. Diese<br />
aber zu ,Aufmachern‘ zu machen, um ein<br />
© Theatermuseum/KHM Museumsverband<br />
60 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />
dezeber.indb 60 28.12.21 03:33
Unaufgeregter Abschied<br />
Hermann<br />
Nitsch<br />
beim Besuch<br />
der ihm<br />
gewidmeten<br />
Schau im Theatermuseum,<br />
2015.<br />
© Theatermuseum/KHM Museumsverband<br />
Links und oben:<br />
Abschied von Wien:<br />
Einblicke in die Stefan-<br />
Zweig-Ausstellung,<br />
2006/2007.<br />
heren Ausstellungen mit den finanziellen<br />
Mitteln, über die das Haus zurzeit verfügt,<br />
nicht mehr gemacht werden:<br />
„Das Budget für das Theatermuseum<br />
erfuhr durch lange Zeit keine merkbare<br />
Erhöhung, größere Ausstellungen sind<br />
kaum noch zu realisieren.“<br />
Liebe zum Publikum. Ein großes<br />
Anliegen war es Thomas Trabitsch immer<br />
auch, „ein offenes Haus zu führen, in dem<br />
jede und jeder gerne hereinkommt“.<br />
Für diese große Aufgabe konnte er aus<br />
dem Vollen seiner Erfahrungen und Netzwerke<br />
schöpfen. „Es war immer die Idee,<br />
zu den Veranstaltungen ein Rahmenprogramm<br />
zusammenzustellen.“ Dass dieses<br />
über die obligaten Führungen und<br />
allgemeinen Vermittlungsangebote hinausging,<br />
dafür setzte sich Thomas Trabitsch<br />
beständig ein und holte zahlreiche<br />
renommierte Künstlerinnen und Künst-<br />
Publikum in das Museum zu holen, halte<br />
ich nicht für den richtigen Weg. Wichtiger<br />
war und ist mir, deren künstlerische<br />
Arbeit ins Zentrum zu stellen und diese<br />
nachhaltig in Erinnerung zu rufen und<br />
zu vermitteln.“<br />
Zu den letzten großen Ausstellungen<br />
im ersten Stock des Museums zählten<br />
schließlich ExistenzFest. Hermann Nitsch und<br />
das Theater (2015/2016) und Spettacolo barocco!<br />
(2016/2017), ehe die ehemals für die<br />
Dauerausstellung genützten Räume mehrere<br />
Jahre lang vermietet wurden und aktuell<br />
leer stehen.<br />
Fragt man Thomas Trabitsch danach,<br />
welche Ausstellung er noch gerne umgesetzt<br />
hätte, kommt die Antwort ohne langes<br />
Nachdenken: jene zu Tadeusz Kantor.<br />
Andere Projekte scheiterten an den budgetären<br />
Beschränkungen des Hauses, die<br />
mit den Jahren immer deutlicher zutage<br />
traten. Tatsächlich könnten viele der früler<br />
an das Haus. Besonders gerne erinnert<br />
er sich an die „wunderbare Zusammenarbeit<br />
mit Wolfram Berger und Elisabeth<br />
Orth“, mit der ihn seither eine Freundschaft<br />
verbindet. Künstlerische Freundschaften<br />
hat Thomas Trabitsch kontinuierlich<br />
im Interesse des Hauses gepflegt<br />
und konnte so vieles realisieren, das ohne<br />
seinen leidenschaftlichen Einsatz nicht<br />
möglich gewesen wäre. Dabei ging es ihm,<br />
betont er, „nie um Prominenz, sondern<br />
um Inhalte. Es hat sich eine ,Theatermuseumsgemeinschaft‘<br />
gebildet, die signalisiert,<br />
dass sie angesprochen wird und<br />
die gerne kommt. Es wäre schön, wenn<br />
das so bleibt.“ Und dann setzt er in seiner<br />
so typischen, immer alle Aspekte reflektierenden<br />
Art auch gleich hinzu: „Wenn<br />
man ein Museum wie unseres ausschließlich<br />
auf die Besucherzahlen anlegt, dann<br />
wird es schwierig.“<br />
Wehmut ohne Wehleidigkeit.<br />
Dass die Dinge in einer Welt der<br />
stetig komplexer werdenden Organisationsstrukturen<br />
nicht mehr so einfach<br />
sind wie einst, auch das ist eine Erkenntnis,<br />
die nicht ohne Wehmut beim<br />
Abschied mitschwingt. „Früher konnte<br />
man das alles einfacher und unkompliziert<br />
machen.“ Vieles ist mit der immer<br />
stärker wirksamen Zentralisierung, dem<br />
immer engeren finanziellen Korsett und<br />
in seinen letzten beiden Direktionsjahren<br />
auch mit der Situation im Zuge der Covid-19-Pandemie<br />
weniger bis eben nicht<br />
mehr möglich gewesen. „Wichtig wäre,<br />
dass der Mitarbeiter:innen-Stamm nicht<br />
noch mehr verkleinert wird, sondern gehalten<br />
und wenn möglich – und es wäre<br />
notwendig – auch vergrößert wird“, versucht<br />
sich Thomas Trabitsch auch noch<br />
am Ende seiner Direktionszeit für die Interessen<br />
seines Teams und seiner Nachfolgerin,<br />
Marie-Theres Arnbom, stark<br />
zu machen. Denn davon ist Thomas Trabitsch<br />
überzeugt: „Ein Theatermuseum<br />
ist kein ,Luxus‘, den sich eine Nation ,leistet‘,<br />
sondern eine Selbstverständlichkeit.“<br />
Und er schließt seine langjährige Arbeit<br />
mit einem Plädoyer für die Zukunft des<br />
Theatermuseums: „Es ist ein bedeutendes<br />
Haus. Eine Nation wie Österreich,<br />
die sich als Kunst- und Kulturnation definiert<br />
und als solche auch vermarktet,<br />
hat die Verpflichtung, ein Haus wie das<br />
Theatermuseum auf dem Niveau zu erhalten,<br />
das es braucht, um die Themen so<br />
aufzuarbeiten und zu präsentieren, wie<br />
sie es verdienen.“<br />
wına-magazin.at<br />
61<br />
dezeber.indb 61 28.12.21 03:33
Vielfältige Themen<br />
Von Bildern und Menschen<br />
John Berger, der große englische Kunstkritiker und Romancier,<br />
wäre im November 95 Jahre alt geworden. Seine Schule des Sehens<br />
ist nicht gealtert, und auch seine literarischen Werke sind frisch<br />
und spannend geblieben.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Ein Italiener hat eine Slowenin<br />
zum Ball mitgebracht. Eine Slawin<br />
von den Dörfern, mit Perlen,<br />
Musselin und indischer Seide<br />
empörend herausgeputzt! Beim Walzertanzen<br />
bewegt sie sich ja wie ein betrunkener<br />
Bär; sie presst ihren Partner eng an<br />
sich und stampft mit den Füßen.“<br />
Diese Szene in John Bergers Roman<br />
G. spielt sich im Stadttheater von Triest<br />
ab, im April 1915, unmittelbar vor dem<br />
Kriegseintritt Italiens. Es ist bereits der<br />
Tanz auf einem Vulkan. Die Österreicher,<br />
Herren der mehrsprachigen Stadt, feiern<br />
noch, die italienischen Intellektuellen<br />
wollen Habsburg längst los werden,<br />
und die slowenischen Arbeiter revoltieren<br />
schon – und zünden das Verlagshaus<br />
der italienischsprachigen Zeitung an.<br />
Die namensgebende Hauptfigur des<br />
Romans – G. für (Don) Giovanni oder Garibaldi<br />
(?) – ist ein wohlhabender Kaufmannssohn<br />
aus Livorno mit einer englischen<br />
Mutter. Er flaniert quasi ziellos<br />
durch dieses Triest, provoziert aus einer<br />
Laune heraus – und findet als Ergebnis eines<br />
Missverständnisses dort auch seinen<br />
gewaltsamen Tod. Berger beschreibt die<br />
opulente historische Szenerie präzise und<br />
wortgewaltig, gleichzeitig bricht der Roman<br />
mit manchen Traditionen, gibt politische<br />
und ökonomische Kommentare,<br />
springt immer wieder aus der Handlung<br />
heraus.<br />
G., erschienen 1972, machte Berger<br />
als Schriftsteller über Nacht bekannt. Er<br />
erhielt für das Werk den renommierten<br />
Man Booker Preis. Und er schrieb sich<br />
auch gleich politisch in das Bewusstsein<br />
der englischen Kulturinteressierten ein.<br />
Eine Hälfte seines Preisgeldes spendete er<br />
der Black-Panther-Bewegung. Sein Argument:<br />
Die Sponsoren des Literaturpreises<br />
hätten als Zuckerindustrielle in der<br />
Geschichte auch von Sklavenarbeit profitiert.<br />
Mit der anderen Hälfte finanzierte<br />
Berger sein nächstes politliterarisches<br />
Projekt über Arbeitsmigranten in Europa.<br />
Das Thema beschäftigt uns bis heute, aber<br />
vor 50 Jahren stand es nicht hoch auf der<br />
politischen Agenda.<br />
Dass Berger als Engländer das multikulturelle<br />
Triest der vorigen Jahrhundertwende<br />
so scharf analysieren und so<br />
sinnlich beschreiben konnte, kam freilich<br />
nicht von ungefähr. Väterlicherseits<br />
stammten seine jüdischen Vorfahren aus<br />
diesem Triest – und vorher aus dem habsburgischen<br />
Galizien und aus Böhmen.<br />
Sein Vater, ein Jurist, war allerdings schon<br />
getauft, Berger selbst als überzeugter Linker<br />
nie religiös.<br />
Pointierte, scharfe Texte. Geboren wurde er<br />
1926 in London, mit 18 Jahren begann er<br />
sein Erwachsenenleben in der britischen<br />
Armee. Er schlug aber nicht – wie von einem<br />
bürgerlichen jungen Mann erwartet –<br />
eine Offizierskarriere ein, sondern diente<br />
als einfacher Soldat, lernte dabei erstmals<br />
Menschen aus ärmeren sozialen Verhältnissen<br />
kennen. Das sollte ihn langfristig<br />
politisch prägen.<br />
Nach dem Abrüsten studierte er Malerei<br />
in London, begann auch eine Karriere<br />
als Maler und Kunsterzieher. Durch Zufall<br />
kam er zur BBC und verfasste Kunstkritiken<br />
für das Radio, bald darauf auch für<br />
den linken New Statesman. Dort machte er<br />
sich mit seinen pointierten, scharfen Texten<br />
bald einen Namen, dabei hielt er sich<br />
auch nicht in den damals üblichen engen<br />
Grenzen der Kunstkritik, sondern interpretierte<br />
die Bilder breiter, etwa nach ihrem<br />
sozioökonomischen Umfeld, sah in<br />
ihnen die jeweiligen Herrschaftsverhält-<br />
nisse gespiegelt. Seine Augen fokussierten<br />
auf die unterschiedlichsten Meister<br />
– ob auf Caravaggio oder Rembrandt, ob<br />
auf Picasso oder Degas, ob auf Van Gogh<br />
oder Magritte.<br />
Von dort war es nicht mehr weit zur Beschreibung<br />
moderner Bildsprachen – etwa<br />
des Fernsehens und der Werbung. Oder<br />
zum männlichen Blick auf die Frau, den<br />
Berger recht früh gnadenlos sezierte. Leidenschaftlich<br />
diskutierte er auch die Veränderungen,<br />
die neue Techniken wie Fotografie,<br />
TV und günstige Druckverfahren<br />
für die Vervielfältigung der Kunst mit sich<br />
brachten: Zugang für breite Gesellschaftsschichten,<br />
die davor die Gemälde in den<br />
Adelspalästen nicht hatten sehen dürfen;<br />
dem gegenüber die Abwertung des<br />
Originals durch seine massenhafte Reproduzierbarkeit.<br />
Das lehrte er auch via<br />
BBC-TV-Serie, dabei berief er sich auf den<br />
deutschen Intellektuellen Walter Benjamin,<br />
der genau zu diesem Thema in den<br />
1930er-Jahren gearbeitet hatte.<br />
Benjamin sollte auch in Bergers zweiter<br />
Sphäre ein bedeutender Stichwortgeber<br />
werden, in der Literatur. Er hatte einmal<br />
die Schriftsteller in zwei Kategorien<br />
eingeteilt: jene, die zuhause bleiben und<br />
alle lokalen Traditionen kennen, und jene,<br />
die hinausgehen in die Welt und das genau<br />
beschreiben, was sie dort vorfinden,<br />
woran die Bewohner dieser Welt leiden.<br />
Berger war beides gleichzeitig. Auch<br />
wenn er weiterhin über Kunst publizierte,<br />
schrieb er Erzählungen und Romane,<br />
und er erwies sich dabei als äußerst<br />
kreativ und überraschend vielfältig<br />
in der Themenwahl. So blieb er etwa trotz<br />
seiner linken politischen Gesinnung nicht<br />
© Ulf Andersen / AFP / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />
62 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
dezeber.indb 62 28.12.21 03:33
Zuseher und Zuhörer<br />
© Ulf Andersen / AFP / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />
bei den Arbeitern stehen, sondern wandte<br />
sich etwa in einer stimmungsvollen und<br />
mitfühlenden Trilogie SauErde. Geschichten<br />
vom Lande den Bauern in einem französischen<br />
Alpendorf zu. Er wohnte auch selbst<br />
dort lange Jahre in einem einfachen Hof.<br />
Und Berger wechselte wieder die Themen<br />
und Protagonisten. Am Rande einer<br />
Großstadt wurde etwa im Roman<br />
King ein Hund in einer Obdachlosensiedlung<br />
zum Erzähler, durch dessen Augen<br />
die Leser die Ärmsten der<br />
Gesellschaft sehen konnten.<br />
Oder er schrieb mit<br />
Auf dem Weg zur Hochzeit einen<br />
zarten Text über die<br />
Trauungszeremonie einer<br />
schon dem Tod geweihten<br />
Aids-kranken jungen<br />
Frau, über der dennoch<br />
Hoffnung schwebt. In A<br />
und X. Eine Liebesgeschichte<br />
in Briefen lässt er eine andere<br />
junge Frau ihren eingesperrten<br />
Geliebten über<br />
das Leben in der Freiheit<br />
draußen informieren. Es<br />
bleibt offen, ob dieser lediglich<br />
ein politischer Gefangener<br />
ist oder ein gefasster Terrorist<br />
und auch, in welcher Weltgegend oder<br />
welcher historischen Epoche diese Haft<br />
verhängt wurde.<br />
Anklänge an Palästinenser kommen<br />
durch, aber ganz konkret wird Berger dabei<br />
nicht. Als englischer Linker gab er sich<br />
freilich immer wieder sehr Israel-kritisch,<br />
wollte auch nicht, dass seine Bücher in einem<br />
großen israelischen Verlag erscheinen<br />
sollten. Für diese Haltung zog er sich<br />
scharfe Kritik jüdischer englischer Intellektueller<br />
zu.<br />
Nach einem Besuch in Israel und im<br />
besetzten Westjordanland schrieb Berger<br />
über seine widersprüchlichen Gefühle<br />
und Gedanken in der London Review<br />
of Books: „Und so bin ich hier, erfülle unab-<br />
John Berger: „Wenn ich<br />
ein Geschichtenerzähler<br />
bin, dann weil ich zuhöre!“<br />
Buchreihe. John<br />
Bergers Werk umfasst<br />
Romane, Theaterstücke,<br />
Drehbücher …<br />
Begonnen hat alles mit<br />
G., für den er den Man<br />
Booker Prize erhielt.<br />
„Der Zustand der<br />
Verwirrung, in dem<br />
ich lebe, ist bereits<br />
zur Gewohnheit geworden.<br />
Stelle ich<br />
mich ihm, erreiche<br />
ich manchmal eine<br />
gewisse Klarheit.“<br />
John Berger<br />
sichtlich einen Traum, den einige meiner<br />
Vorfahren in Polen, Galizien, im Habsburger<br />
Reich zumindest zwei Jahrhunderte<br />
genährt haben. Und hier finde ich mich<br />
und verteidige die Rechte der Palästinenser<br />
gegen Menschen, die meine Cousins<br />
sein könnten, und gegen den Staat Israel.“<br />
Doch Berger blieb auch nicht auf dieser<br />
politischen Schiene stecken. Als Schriftsteller<br />
und Lyriker hatte er immer eine<br />
andere, tiefere Ebene zu entdecken. „Gedichte<br />
ähneln auch, wenn<br />
sie erzählen, Geschichten<br />
nicht. Alle Erzählungen<br />
handeln von Schlachten<br />
der einen oder anderen<br />
Art, die mit Sieg oder Niederlage<br />
enden. Alles bewegt<br />
sich auf ein Ende zu,<br />
dessen Ausgang bekannt<br />
sein wird“, schrieb er.<br />
Und weiter: „Gedichte,<br />
egal wie gut sie auch sein<br />
mögen, überqueren die<br />
Schlachtfelder, versorgen<br />
die Verletzten, hören<br />
den wilden Monologen<br />
der Triumphierenden<br />
oder der Ängstlichen zu.<br />
Sie bringen eine Art Frieden.<br />
Gedichte sind Gebeten näher als Erzählungen,<br />
aber in der Poesie ist hinter<br />
der Sprache niemand, an den sich diese<br />
Gebete richten.“<br />
Apropos Gebete. Berger, der alte Linke,<br />
wurde wohl in seinem eigenen Lebensherbst<br />
nicht mehr religiös, er wandte<br />
sich aber einem Großen der Vergangenheit<br />
zu, der wohl auch rebellisch gewesen<br />
war, vor dem Wort G-tt jedoch nie zurückschreckte:<br />
dem jüdischen Philosophen Baruch<br />
Spinoza, auch Bento de Espinoza genannt.<br />
Mit Bentos Skizzenbuch schuf Berger<br />
ein faszinierendes Spätwerk. Er schrieb,<br />
Spinoza, der sich in Amsterdam als Glasschleifer<br />
ernährte, habe stets gezeichnet,<br />
allerdings blieb von diesen Skizzenbüchern<br />
nichts erhalten. Also illustrierte<br />
Berger selbst das Buch, das philosophische<br />
Texte von Spinoza eigenen literarischen<br />
gegenüberstellt. Und Berger spricht den<br />
jüdischen Intellektuellen aus dem 17. Jahrhundert<br />
direkt an: „Der Zustand der Verwirrung,<br />
in dem ich lebe, ist bereits zur<br />
Gewohnheit geworden. Stelle ich mich<br />
ihm, erreiche ich manchmal eine gewisse<br />
Klarheit. Du hast uns gezeigt, wie man das<br />
macht.“<br />
John Berger starb im <strong>Jänner</strong> 2017<br />
90-jährig in Frankreich.<br />
wına-magazin.at<br />
63<br />
dezeber.indb 63 28.12.21 03:33
HG. VON MARTINA ZEROVNIK<br />
DAS METRO –<br />
KULTURGESCHICHTE<br />
EINES WIENER VER-<br />
GNÜGUNGSORTS<br />
Hg. v. Martina Zerovnik<br />
ca. 300 S., € 29,90<br />
ab Mitte <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
Ende 1951 eröffnete in der Johannesgasse<br />
4 ein umstrittenes Kino-Projekt der 1926<br />
von der Gemeinde Wien gegründeten<br />
„Kinobetriebsanstalt Ges. m. b. H.“: das<br />
Metro Kino. „Die Gemeinde braucht sie<br />
nur nicht verlängern. Dafür kann sie der<br />
Kiba eine Kinokonzession verleihen und<br />
ihr die Theaterräume vermieten“, hatte es<br />
bereits im März des Jahres unter dem Titel<br />
„Kibanisierung“ in der Wiener Tageszeitung<br />
geheißen. Mit den „Theaterräumen“<br />
war damals die 1945 von Leon Epp<br />
wiedergegründete<br />
„Insel“ in<br />
der Komödie gemeint.<br />
Doch die<br />
Geschichte dieses<br />
seit nunmehr<br />
70 Jahren bestehenden<br />
Kinobetriebs,<br />
der seit<br />
Langem das Filmarchiv<br />
Austria beheimatet,<br />
ist wesentlich<br />
länger:<br />
Größen wie Otto Preminger oder Hans<br />
José Rehfisch waren hier vor ihrer Emigration<br />
leitend tätig, das Deutsche Volkstheater,<br />
später die NS-Organisation „Kraft<br />
durch Freude“ führten den Betrieb zeitweise,<br />
Epp „erfand“ hier das „Theater in<br />
den Bezirken“ …<br />
Mit Das Metro – Kulturgeschichte eines<br />
Wiener Vergnügungsorts gibt das Filmarchiv<br />
Austria anlässlich des (Kino-)Jubiläums<br />
nun eine Kulturgeschichte in Form<br />
eines Sammelbandes heraus, der, so die<br />
Herausgeberin, „auf fast zwei Jahrhunderte<br />
Vergnügen an diesem Standort“ zurückblickt<br />
und mit der wechselvollen Geschichte<br />
dieses Ortes eine<br />
„kleine Geschichte der Wiener<br />
Unterhaltungskultur“ verspricht.<br />
filmarchiv.at<br />
K U L T U R G E S C H I C H T E E I N E S<br />
W I E N E R V E R G N Ü G U N G S O R T S<br />
METRO<br />
DEZEMBER KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
„Zwei Zigarren, die meinem Oscar Straus<br />
nicht mehr zu rauchen vergönnt war<br />
[erhalten von Clara Strauss], 16. Mai 1954<br />
Hubert Marischka“<br />
AUSSTELLUNG<br />
Theatermuseum<br />
Lobkowitzplatz 2, 1010 Wien<br />
ikg-wien.at/festival<br />
BIS 18. APRIL <strong>2022</strong><br />
SOUVENIRS, SOUVENIRS<br />
Verehrt ... begehrt ... ist die letzte<br />
Schau in der langen und ereignisreichen<br />
Direktion von Thomas Trabitsch.<br />
Und sie vereint vieles, das<br />
das Theater und seine Leidenschaften<br />
ausmacht, darunter „Theaterkult<br />
und Sammelleidenschaft“ – so<br />
auch der Untertitel der Ausstellung,<br />
Begeisterung bis Fanatismus, Verehrung<br />
bis zum Kult, hunderte Andenken<br />
und fast ebenso viele Anekdoten.<br />
Hier findet sich so ziemlich<br />
alles aus zwei Jahrhunderten, von<br />
der Spazierstocksammlung über Fächer<br />
und Haarschmuck, Figuren<br />
und Büsten, Kosmetiktaschen, Brillen,<br />
Abzeichen, ja sogar leidenschaftlich<br />
verwahrter Schutt und Asche<br />
ehemaliger Theater in Wien. Mit Verehrt<br />
... begehrt ..., konzipiert und kuratiert<br />
von Karin Neuwirth, ist eine<br />
mehrere hundert Objekte dichte, liebevolle,<br />
humorvoll-sentimentale<br />
Hommage an all jene gelungen, die<br />
Theatergeschichte geschrieben haben<br />
– auf der Bühne ebenso wie mit<br />
den „Fanzise“ von einst.<br />
theatermuseum.at<br />
„... VOR SCHAND UND<br />
NOTH GERETTET“?!<br />
Findelhaus, Gebäranstalt und<br />
die Matriken der Alser Vorstadt<br />
Hg. v. Bezirksmuseum Josefstadt,<br />
Anna Jungmayr<br />
Wien <strong>2021</strong>, 238 S., € 25<br />
Begleitend zur gleichnamigen Sonderausstellung<br />
im Bezirksmuseum Josefstadt, die noch bis Ende<br />
März <strong>2022</strong> zu sehen ist, ist vor Kurzem ein beeindruckend<br />
dichter und schön gestalteter Sammelband<br />
erschienen. Das Wiener „Gebär- und<br />
Findelhaus“ wurde 1784 als Teil des Allgemeinen<br />
Krankenhauses feierlich eröffnet. Es befand sich<br />
an der Ecke Lange Gasse und Alser Straße, gleich<br />
gegenüber vom heutigen „Alten AKH“ und sollte,<br />
lange vor „Babyklappe“ und „Fristenregelung“<br />
Frauen helfen, Kinder sicher und vor allem „unsichtbar“<br />
zur Welt zu bringen beziehungsweise<br />
diese dann auch zur Pflege und Adoption hier<br />
zu lassen. Doch so modern diese Anstalt auf den<br />
ersten Blick wirkte, so grausam war für Jahrzehnte<br />
die Realität, nicht zuletzt auch für jüdische werdende<br />
Mütter ohne soziale Absicherung: „Kinder<br />
jüdischer Mütter mussten, wenn die Aufnahme<br />
ins Findelhaus beabsichtig war, katholisch getauft<br />
werden“, schreibt Leopold Strenn in seinem<br />
Beitrag Spurensuche<br />
in der eigenen Familie. Von<br />
den 1816 bis 1868 belegten<br />
über 2.500 jüdischen<br />
Kindern wurde alle getauft<br />
und von ihren Müttern<br />
getrennt. Ein Wiedersehen<br />
mit der Mutter wurde<br />
nur genehmigt, wenn sich<br />
auch diese taufen ließ –<br />
und keine 20 Prozent der<br />
hier Geborenen überlebten die ersten Lebensjahre.<br />
Dieses Schicksal teilten sie mit tausenden<br />
anderen Kindern, die hier bis zur Schließung 1910<br />
geboren und binnen Tagen weitervermittelt wurden.<br />
Die Ausstellung und der Begleitband geben<br />
ein ebenso erschütterndes wie wissenschaftlich<br />
profundes, bilder- und materialreiches Zeugnis<br />
davon.<br />
TIPP: Kuratorinnenführungen um 18 Uhr gibt<br />
es noch am 26. <strong>Jänner</strong>, 23. Februar und 23. März<br />
<strong>2022</strong>! Anmeldung: bm1080@bezirksmuseum.at<br />
bezirksmuseum.at<br />
© Theatermuseum © KHM-Museumsverband; Metro Kino; Bezirksmuseum Josefstadt<br />
64 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
dezeber.indb 64 28.12.21 03:33
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