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wina Dezember 2021 / Jänner 2022

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<strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong>/<br />

<strong>Jänner</strong> <strong>2022</strong><br />

Tewet, Schwat 5782<br />

#12, Jg. 10/#1, Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

„Das neue Österreich soll eine<br />

Chance von mir bekommen“<br />

Für den Schweizer JONATHAN<br />

KREUTNER ist die Erlangung der österreichischen<br />

Staatsbürgerschaft<br />

nach seinen vertriebenen Großeltern<br />

vor allem eine Frage der Gerechtigkeit<br />

12<br />

9 120001 135738<br />

„Warum wir Mozart lieben?<br />

Weil er die Musik unserer Seele<br />

niedergeschrieben hat!“<br />

BARRIE KOSKY über seine Arbeit an<br />

der Wiener Staatsoper, seine Wagner-<br />

Katharsis und das Wiener Publikum<br />

„Ein Leben ohne WINA?<br />

Möglich, aber nicht sinnvoll!“<br />

Wir sagen Danke – mit<br />

einem kleinen Rückblick<br />

unserer Autoren auf die<br />

letzten 10 Jahre<br />

„Vielleicht muss man den Lueger selbst<br />

auch ein bisschen absenken“<br />

Rektor der Akademie der bildenden<br />

Künste Wien, JOHAN F. HARTLE, über<br />

das Lueger-Monument, Gegendenkmäler<br />

und den Umgang mit Geschichte<br />

„Die Daten müssen Sie prüfen,<br />

und bitte essen Sie was!“<br />

Kreise schließen sich oft erst nach Jahren,<br />

und Erinnerungen können trügen.<br />

Zwei Versionen eines Happy Ends für<br />

MINNA BRAND-SLUZKAJA und ihren<br />

Enkel Aloisha Biz<br />

cover_1221.indd 1 27.12.21 18:12


Sehen Sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />

DiePresse.com/Sonntagsabo<br />

Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />

cover_1221.indd 2 27.12.21 18:12


Editorial<br />

Julia Kaldori<br />

Glückliche Menschen<br />

brauchen weniger<br />

Konsum und mehr<br />

Gemütlichkeit.<br />

Haben wir nicht alle die leise Hoffnung gehabt, dass <strong>2021</strong><br />

zu Ende gehen wird wie ein Jahr zu Ende gehen muss:<br />

Freunde, Feiern und viele gute Vorsätze. Kein Impfstoff,<br />

keine Lockdowns konnten das alte „Normal“ wieder herstellen.<br />

Es sind noch keine zwei Jahre, seit COVID-19 unsere Welt völlig<br />

durcheinander brachte, und doch wirken Bilder von Großveranstaltungen,<br />

Massenkonzerte und Flughafenstaus wie aus einem<br />

anderen Jahrzehnt. Und dieses Durcheinander erfasst alle<br />

Bereiche unseres Lebens. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche<br />

Umbrüche bringen unser Vertrauen in die Zukunft<br />

ins Wanken. Und ja, all das macht mit uns allen etwas. Als ob<br />

wir uns in einem Vakuum zwischen zwei Menschheitsgeschichten<br />

befänden. Das alte „Normal“ ist vermutlich unwiederruflich<br />

vorbei, das neue hat noch nicht begonnen.<br />

Und das wäre dann auch die Chance, die wir,<br />

die gemerkt haben, dass das „Normale“ doch<br />

nicht so normal war, dass das Immer-mehr,<br />

Immer-höher, Immer-schneller uns nicht nach<br />

vorne, sondern nur immer näher an den Abgrund<br />

treibt, ergreifen sollten. Denn die neue<br />

Geschichte können wir noch mitschreiben und<br />

miterzählen. Wir können Qualität statt Quantität,<br />

Müßigang statt Speeddating, Landpartie<br />

statt Weltreise wählen um unsere Lebensqualität<br />

zu steigern. Denn glückliche und zufriedene<br />

Menschen brauchen weniger Konsum um die<br />

Leere des Unglücklichseins zu stopfen.<br />

Wir können weniger Fleisch und mehr Secondhand<br />

kaufen, mehr reparieren und weniger<br />

wegwerfen. Wir können mehr einander zuhören<br />

und weniger aneinander vorbeischauen,<br />

mehr zurückgeben als wegnehmen, mehr Gemeinschaft leben<br />

als Ego-Trips unternehmen.<br />

Wir können es einfach gemeinsam gut und immer besser machen.<br />

Diese Chance haben wir nun durch die Krise erhalten,<br />

Wir können umblättern, eine gemeinsame Sprache finden und<br />

eine neue gemeinsame Geschichte schreiben, die irgendwann<br />

vielleicht ein Happy End kriegt.<br />

In 10 Jahren WINA-Geschichte haben wir unzählige Geschichten<br />

geschrieben und erzählt und so erzählen am Ende dieses<br />

Jubliäumsjahrgangs einige unserer Autoren Geschichten hinter<br />

den Geschichten, zeigen ihre schönsten Erinnerungsbilder<br />

aus einem Jahrzehnt. Wären die Zeiten andere, so hätten wir<br />

ein großes Fest ausgerichtet und Sie und all jene Autor:innen,<br />

Journalist:innen, Fotograf:innen und Mitarbeiter:innen, die<br />

uns auf dem Weg begleitet haben, eingeladen mit uns zu feiern<br />

– und immer noch hoffen wir, dies nachholen zu können. Spätestens<br />

beim nächsten Runden. Bis dahin bedanke ich mich für<br />

die lieben Glückwünsche, für Ihre Lesetreue und das Nachsehen,<br />

dass wir nicht immer perfekt sind. Doch stets versuchen<br />

wir unser Bestes um Ihnen mit jedem neuen Blatt eine neue Geschichte<br />

zu erzählen und streben stets ein Happy End an.<br />

Wir aus der WINA-Redaktion wünschen Ihnen erholsame<br />

Stille, schöne Gespräche, viel Muße zum Lesen und winterliche<br />

Gemütlichkeit wo und wie Sie auch immer Ihre freien Tage und<br />

den Jahreswechsel verbringen werden und freuen uns auf viele<br />

weitere gemeinsame Jahre und viele gemeinsame Geschichten.<br />

„COVID-19 ist<br />

wie der Aufenthalt<br />

in einer<br />

Entzugsklinik,<br />

durch den ein<br />

suchtkranker<br />

Mensch aus seiner<br />

Alltagsnormalität<br />

gerissen<br />

wird. Indem<br />

eine Gewohnheit<br />

unterbrochen<br />

wird, wird<br />

sie sichtbar gemacht.<br />

Damit<br />

wird sie von einem<br />

Zwang zu<br />

einer Entscheidung.“<br />

Charles Eisenstein<br />

© Science Photo Library / picturedesk.com<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

dezeber.indb 1 28.12.21 03:31


S.46<br />

Barrie Kosky erzählt im WINA-Gespräch<br />

über seine Arbeit an der Wiener Staatsoper<br />

und seine Wagner-Katharsis in Bayreuth.<br />

Wenige Parallelen sieht der Regisseur zwischen<br />

dem Wiener und Berliner Publikum.<br />

INHALT<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

05 An End to Antisemitism<br />

hieß die Konferenz, zu der der European<br />

Jewish Congress 2018 nach Wien<br />

lud. Die Ergebnisse sind nun in fünf<br />

Bänden erschienen.<br />

06 „Den Lueger absenken“<br />

Johan F. Hartle, Rektor der Akademie<br />

der bildenden Künste Wien, im WINA-<br />

Gespräch über das Lueger-Monument,<br />

Denkmäler und den Umgang mit Geschichte.<br />

KULTUR<br />

46 Die Musik unserer Seele<br />

Der international erfolgreiche Opernregisseur<br />

Barrie Kosky spricht über seine<br />

Inszenierung von Don Giovanni an der<br />

Wiener Staatsoper und seine Begegnungen<br />

mit Wien.<br />

49 Jüdisches Wien von heute<br />

Aus Anlass ihrer Ausstellung Wiener<br />

Begegnungen erzählt Fotografin Jana<br />

Enzelberger von ihrem Weg zu ihrer<br />

persönlichen „Jüdischkeit“<br />

OFFENLEGUNG GEM. § 25 MEDIENGESETZ:<br />

Medieninhaber:<br />

Jüdische Medien- und Verlags GmbH,<br />

Seitenstettengasse 4, A-1010 Wien<br />

Unternehmensgegenstand:<br />

Herausgabe und Vertrieb des Magazins WINA (10 x jährlich),<br />

diverse Sonderausgaben sowie Betrieb des<br />

gleichnamigen Internetportals <strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Geschäftsführung:<br />

Jüdische Medien- und Verlags GmbH,<br />

vertreten durch Julia Kaldori<br />

Eigentumsverhältnisse:<br />

Israelitische Kultusgemeinde Wien IKG (100 %)Die IKG ist<br />

weiters Eigentümer des Magazins Gemeinde Insider.<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag): JMV – Jüdische Medien- und<br />

Verlags-GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

2 wına | Dez. <strong>2021</strong>/Jän. <strong>2022</strong><br />

09 Judenweg versus Israel-Trail<br />

„Denn der Jud und die Natur, das ist<br />

zweierlei, immer noch“, schrieb Paul<br />

Celan. Dieses Zitat überprüft Gisela<br />

Dachs facettenreich im von ihr herausgegebenen<br />

neuen Jüdischen Almanach.<br />

14 „Mut zur Sichtbarkeit“<br />

Ben Dagan leitet den Bereich Kommunikation<br />

der IKG Wien. Mit WINA sprach<br />

er über die Ziele und Herausforderungen<br />

einer professionellen Kommunikation<br />

für die Kultusgemeinde.<br />

16 „Eine Chance bekommen“<br />

Für Jonathan Kreutner ist es vor allem<br />

eine Frage der Gerechtigkeit, dass<br />

er die österreichische Staatsbürgerschaft<br />

seiner Großeltern wiedererlangen<br />

möchte.<br />

18 Architektur und Design<br />

Nicolas Gold erzählt im WINA-Gespräch,<br />

warum die Arbeit am 3D-Drucker<br />

nicht nur spannend, sondern auch<br />

ökologisch nachhaltig ist.<br />

20 Eine Synagoge für Ljubljana<br />

Auf Initiative von Elie Rosen wurde in<br />

Sloweniens Hauptstadt eine Synagoge<br />

eröffnet, um dort auch in Zukunft aktives<br />

jüdisches Leben zu ermöglichen.<br />

52 Wiener Dramaturgie<br />

Herbert-von-Karajan-Platz ja, Bruno-<br />

Walter-Platz nein: Der Musiker Michael<br />

Fritthum kämpft seit Jahren gegen<br />

Windmühlen und für Gerechtigkeit.<br />

55 75 und kein bisschen leise<br />

Das Theater in der Josefstadt begeht<br />

den Geburtstag von Nobelpreisträgerin<br />

Elfriede Jelinek mit ihrem eminenten<br />

Stück über das Massaker von Rechnitz<br />

im Jahr 1945.<br />

58 Der stille Visionär<br />

Thomas Trabitsch leitete das Theatermuseum<br />

in Wien 20 Jahre lang. Mit<br />

WINA erinnert er sich zum Abschied<br />

noch einmal an wichtige Meilensteine.<br />

62 Bilder und Menschen<br />

John Berger, der große englische Kunstkritiker<br />

und Romancier, wäre im November<br />

95 Jahre alt geworden.<br />

„Sie verbindet so viel, das<br />

unsere Geschichte ausmacht,<br />

ein Geschichtsbewusstsein<br />

der abendländischen und<br />

jüdischen Kultur.“<br />

Jossi Wieler über Elfriede Jelinek<br />

S.55<br />

dezeber.indb 2 28.12.21 03:31


10 JAHRE WINA<br />

Coverfoto: pollography / Photocase<br />

24 Schmökern und Schlemmen<br />

Zehn Jahre und vier Gänge – das Festtagsmahl<br />

zur Feierausgabe von Daniela<br />

Schuster.<br />

26 Es war mir eine Ehre<br />

Alexia Weiss führte für WINA 2018 ein Gespräch<br />

mit Rudi Gelbard – dem unvergesslichen<br />

Zeitzeugen und Kämpfer.<br />

28 Die Daten müssen Sie prüfen<br />

Kreise schließen sich oft erst nach Jahren,<br />

und Erinnerungen können trügen: zwei Versionen<br />

eines Happy Ends für Oma und Enkel<br />

von Anita Pollak.<br />

31 Fotograf fotografiert<br />

Fotografen<br />

Daniel Shaked über seine Begegnung mit<br />

David Rubinger in Israel.<br />

32 Ein Leben ohne WINA<br />

ist möglich, aber nicht sinnvoll, meint<br />

Marta S. Halpert und blickt zum Jubiläum<br />

noch einmal zurück.<br />

34 Wer war Gedalja?<br />

Esther Graf über eine Geschichte ihres<br />

Vaters Georg Haber in der ersten Ausgabe<br />

von WINA.<br />

36 Bau am Picknickplatz<br />

Daniela Segenreich-Horsky über das rasante<br />

Wachstum in Tel Aviv und wo sich<br />

die Stadt weiter hin entwickelt.<br />

38 Kultur des Widersprechens<br />

Nobelpreisträger Dan Shechtman sprach<br />

2016 mit Reinhard Engel im WINA-Interview<br />

über Start-up-Erfolge, aber auch die<br />

Defizite der israelischen Wirtschaft.<br />

42 Das letzte Mal – Ihr erstes Mal<br />

Über 250 Fragen hat WINA-Autorin Nicole<br />

Spilker in den vergangenen Jahren Menschen<br />

nach ihren letzten Malen gestellt –<br />

zum Jubiläum muss sie nun selbst ran.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Mendy Cahan auf Herbergssuche<br />

für seine 90.000 Bücher in jiddischer<br />

Sprache. Von Gisela Dachs<br />

22 Zehn Jahre<br />

Covers aus einer Dekade WINA – zum<br />

Schmökern und Erinnern.<br />

33 Urban Legends<br />

Alexia Weiss über den WINA-Geburtstag<br />

und wie ein ans Herz gewachsenes<br />

Baby groß geworden ist.<br />

64 KulturKalender<br />

Wiener Kunst- und Kultur-Tipps<br />

von Angela Heide<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

„Das Deutsch,<br />

das ich gelernt hatte, und<br />

das Wienerische,<br />

mit dem ich es nun tagtäglich<br />

zu tun hatte:<br />

Da lagen<br />

Welten dazwischen.“<br />

Jana Enzelberger<br />

S.49<br />

Jana Enzelberger erzählt im<br />

WINA-Interview anlässlich ihrer<br />

Ausstellung Wiener Begegnungen,<br />

wie schwer, hindernisreich<br />

und bewegend der Weg zu<br />

ihrer persönlichen Jüdischkeit<br />

war.<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

dezeber.indb 3 28.12.21 03:31


HIGHLIGHTS | 01<br />

20 Jahre<br />

_erinnern.at_<br />

Vor 20 Jahren bildete sich die Plattform<br />

_erinnern.at_, die sich inzwischen<br />

als Institut für Holocaust<br />

Education für den österreichischen Bildungsbereich<br />

etabliert hat. Kernbereiche<br />

sind einerseits Fortbildungen für<br />

Lehrer und Lehrerinnen, andererseits<br />

das Erarbeiten und Zur-Verfügung-Stellen<br />

von Unterrichtsmaterialien. Das Buch<br />

Nationalsozialismus und Holocaust. Materialien,<br />

Zeitzeugen und Orte der Erinnerung<br />

in der schulischen Bildung, herausgegeben<br />

von Werner Dreier und Falk<br />

Pingel (Studien Verlag), stellt nun die vielen<br />

Arbeits- und Themenbereiche von<br />

_erinnern.at_ vor. Dazu gehören die Vermittlung<br />

von Zeitzeugen und -zeuginnen<br />

ebenso wie das Schaffen von virtuellen<br />

Angeboten.<br />

Der Band bietet aber auch viel Reflexion.<br />

So argumentiert etwa der Geschichtsdidaktiker<br />

Peter Gautschi, wieso<br />

„der nationalsozialistische Völkermord<br />

im Geschichtsunterricht thematisiert<br />

werden soll“. Angelika Laumer, die das<br />

Online-Videoarchiv weitererzaehlen.at<br />

von _erinnern.at_ aufgebaut hat, befasst<br />

sich unter dem Titel Das sind Fragen, die<br />

ganz daneben gehen! mit digitalen Zeitzeugeninterviews.<br />

Und der Historiker<br />

Albert Lichtblau führt in die neue Österreich-Ausstellung<br />

in der KZ-Gedenkstätte<br />

Auschwitz ein, einen Ort, der auch<br />

von heimischen Jugendlichen teils mit<br />

der Schule besucht wird.<br />

Fazit: Wer in Österreich im Bereich Holocaust<br />

Education tätig ist, findet<br />

hier anregenden Lesestoff<br />

und auch den<br />

einen oder anderen<br />

neuen Aspekt,<br />

wenn es um die<br />

Vermittlung der<br />

Schoah geht. wea<br />

30<br />

Prozent<br />

27.050 jüdische Neueinwanderer gab<br />

es <strong>2021</strong> in Israel. Das sind laut Jewish<br />

Agency fast um 30 Prozent mehr als<br />

2020. Mehr als die Hälfte der Neueinwanderer<br />

sind unter 35 – unter ihnen<br />

viele, die gut ausgebildet sind und<br />

im Gesundheitswesen bzw. in der IT-<br />

Branche arbeiten werden.<br />

Als Gründe für die Einwanderung<br />

werden antisemitische Tendenzen<br />

im eigenen Land, gute berufliche<br />

Möglichkeiten und das gute öffentliche<br />

Gesundheitssystem in Israel<br />

genannt. Einwanderungsministerin<br />

Pnina Tamano-Schata ist von diesem<br />

„unglaublichen Wachstumsmotor“<br />

begeistert.<br />

„Der Sinn unseres<br />

Daseins ist es, unseren<br />

kleinen Planeten<br />

Erde zu einem<br />

besseren Ort zum<br />

Leben zu machen,<br />

Kriege zu beenden,<br />

Atomraketen abzurüsten,<br />

Krankheiten<br />

und Umweltverschmutzung<br />

zu<br />

stoppen.“ Uri Geller<br />

Der Magier: Uri Geller<br />

feierte im <strong>Dezember</strong><br />

seinen 75. Geburtstag.<br />

Horizon<br />

Europe forscht<br />

gemeinsam<br />

mit Israel<br />

Die EU hat Israel als Drittstaat in<br />

ihr Forschungsprogramm Horizon<br />

aufgenommen. Das soll eine bereits<br />

eingespielte Zusammenarbeit<br />

weiter intensivieren.<br />

Israel ist in das EU-Forschungsprogramm<br />

Horizon aufgenommen worden.<br />

Das Abkommen wurde Anfang <strong>Dezember</strong><br />

in Brüssel von Mariya Gabriel,<br />

EU-Kommissarin für Innovation, Forschung,<br />

Kultur, Bildung und Jugend,<br />

und vom israelischen Botschafter bei<br />

der EU und der NATO, Haim Regev, unterzeichnet.<br />

Damit können israelische<br />

Forscherinnen und Forscher sowie wissenschaftliche<br />

Einrichtungen unter den<br />

gleichen Bedingungen an dem Programm<br />

teilnehmen wie jene aus EU-Mitgliedsstaaten.<br />

Das aktuelle Horizon Europe-Programm<br />

dauert von <strong>2021</strong> bis 2027 und<br />

ist mit einem Gesamtbudget von gut 95<br />

Milliarden Euro das weltweit größte Forschungs-<br />

und Innovationsförderprogramm.<br />

Israels Forschungsministerin<br />

Orit Farkash-Hacohen sagte dazu, Israel<br />

nehme bereits seit 25 Jahren an einschlägigen<br />

EU-Programmen teil. Seit<br />

1996 haben die EU und Israel<br />

mehr als 5.000 gemeinsame<br />

Forschungsprojekte erarbeitet,<br />

nun soll die Dynamik weiter erhöht<br />

werden. Im Rahmen des vorherigen EU-<br />

Programms Horizon 2020 hätten israelische<br />

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />

Unterstützungen in<br />

Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden<br />

Euro erhalten. „Wir erwarten,<br />

dass sich dieser Wert weiter steigern<br />

wird“, sagt die Ministerin. RE<br />

© flash 90<br />

4 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 4 28.12.21 03:31


MEHR ALS 2.200 SEITEN<br />

ZU ANTISEMITISMUS<br />

Antisemitismus ist ein Jahrtausende<br />

altes Phänomen. In Österreich sei er<br />

spätestens seit dem Mittelalter virulent,<br />

betonte der Judaist Armin Lange, einer<br />

der Organisatoren der Konferenz und<br />

Mitherausgeber der Buchreihe, bei deren<br />

Präsentation in Wien. „Er geht auf den paganen<br />

und christlichen Judenhass der Antike<br />

zurück und hat seinen traurigen Höhepunkt<br />

während der Schoah erreicht.“ Heute<br />

müsse man aller Opfer – ob jener der Wiener<br />

Gesera oder des Holocaust – gedenken, nur:<br />

Gedenken allein sei nicht genug. Juden und<br />

Jüdinnen müssten ohne Angst und Gefahr<br />

leben können – und die Bekämpfung von<br />

Antisemitismus gehe alle, also die ganze Gesellschaft<br />

an. „Judenverfolgung ist nur ein<br />

Schritt auf dem Weg der Intoleranz und des<br />

Hasses. Wer Jüdinnen und Juden verfolgt,<br />

wird nicht zögern, auch alle anderen zu verfolgen,<br />

die ihm missliebig sind.“<br />

EJC-Vizepräsident Ariel Muzicant betonte,<br />

die jüdische Gemeinde schaffe es<br />

heute zwar, Antisemitismus zu dokumentieren,<br />

und die meisten Gemeindemitglieder<br />

seien auch selbstbewusst genug, um mit<br />

den Anfeindungen fertigzuwerden. „Aber<br />

es ist kein Zustand. Und es ist kein Zustand,<br />

dass meine Enkel in die Schule gehen und<br />

bewacht werden müssen.“<br />

Was also tun? Antworten darauf sollten bei<br />

dem Kongress gesucht werden. Die Experten<br />

formulierten dabei eine Vielzahl an<br />

Vorschlägen. Lange fasst dazu nun zusammen:<br />

„Wir raten zu einer dualen Strategie,<br />

die aus kurzfristig und langfristig wirksamen<br />

Maßnahmen besteht. Kurzfristig gilt<br />

es, Jüdinnen und Juden vor Verfolgung jedweder<br />

Art zu schützen und antisemitische<br />

Täterinnen und Täter durch konsequente<br />

Strafverfolgung abzuschrecken. Langfristig<br />

haben wir ein Konzept entwickelt, von<br />

dem wir hoffen, dass es den Judenhass<br />

aus den Herzen der Menschen entfernen<br />

kann.“<br />

Konkret soll die Antisemitismusbekämpfung<br />

in der Gesetzgebung jedes Landes<br />

verankert werden, idealerweise in der<br />

Verfassung. Antisemitismusbekämpfung<br />

und -erforschung müssen in unabhängigen<br />

Institutionen erfolgen, die ohne Regierungskontrolle<br />

arbeiten können. Die<br />

Geschichte des Antisemitismus, aber auch<br />

Wer sich über den aktuellen Stand der Wissenschaft zu Antisemitismus<br />

und Strategien, wie man dem gleichzeitig so alten und<br />

dennoch so aktuellen Phänomen begegnen kann, informieren<br />

möchte, hat nun ein neues Kompendium zur Verfügung. An End<br />

to Antisemitism! hieß eine Konferenz, zu der der European Jewish<br />

Congress und die Universitäten Wien, New York und Tel Aviv 2018<br />

Expertinnen und Experten aus aller Welt nach Wien luden. Die<br />

Ergebnisse sind nun in fünf Bänden erschienen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Wissen über das Judentum müssten im gesamten<br />

Bildungssystem vermittelt werden.<br />

Begleitend brauche es neben dieser rationalen<br />

Aufklärung auch positive emotionale<br />

Erfahrungen mit dem Judentum. Und<br />

schließlich benötige all das auch eine entsprechende<br />

Finanzierung: Jedes Land, jede<br />

Institution, Organisation und Gruppierung<br />

sollten daher jährlich einen bestimmten<br />

Prozentsatz seines oder ihres Budgets zur<br />

Antisemitismusbekämpfung verwenden.<br />

Nationalratspräsident Werner Sobotka<br />

und Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler<br />

(beide ÖVP) bekräftigten bei der<br />

Präsentation der fünfbändigen Expertise<br />

zum Thema Antisemitismus denn auch ihr<br />

Bemühen, hier mit der Nationalen Strategie<br />

gegen Antisemitismus, die Österreich vorgelegt<br />

hat, einerseits gegen Judenfeindlichkeit<br />

einzutreten, andererseits ein blühendes<br />

jüdisches Leben zu ermöglichen.<br />

Genug könne man zwar nie tun, aber es<br />

passiere sehr viel, betonte Sobotka, der auf<br />

die alle zwei Jahre stattfindende Untersuchung<br />

im Auftrag des Parlaments dazu verwies<br />

und den neu ins Leben gerufenen Wiesenthal-Preis<br />

hervorhob. Dieser zeichnet<br />

zivilgesellschaftliches Engagement aus. Sobotka<br />

sprach auch Antisemitismus im Netz<br />

an. Hier forderte er ein globales Agieren.<br />

Dieses brauche es auch auf der Ebene der<br />

jüdischen Gemeinden, meinte Muzicant.<br />

Man debattiere, ob es für sie eine Zukunft<br />

in Europa gebe, traue sich aber gleichzeitig<br />

nicht, laut Klartext zu sprechen und für<br />

sich einzutreten.<br />

Vielleicht mache sich die Wiener jüdische<br />

Gemeinde nicht immer beliebt, aber<br />

sie sage, was zu sagen sei – und habe daher<br />

eine Chance, noch lange zu bestehen,<br />

wobei Muzicant betonte: „Wir tun das nicht<br />

nur für uns, sondern auch für die politische<br />

Hygiene dieses Landes.“ Und genau diese<br />

ist wichtig, wie auch ECJ-Präsident Moshe<br />

Kantor betonte. Denn die Novemberpogrome<br />

1938 seien auch deshalb möglich gewesen,<br />

weil es in der Gesellschaft Gleichgültigkeit<br />

gab. Heute sei der Kampf gegen<br />

Antisemitismus daher auch ein Gradmesser<br />

für den Zustand der Demokratie in einem<br />

Land.<br />

BUCHREIHE<br />

„AN END TO ANTISEMITISM!“<br />

Herausgegeben von Armin Lange, Kerstin<br />

Mayerhofer, Dina Porat, Lawrence H. Schiffman,<br />

erschienen im Verlag De Gruyter<br />

Band 1: Comprehending and<br />

Confronting Antisemitism<br />

Band 2: Confronting Antisemitism<br />

from the Perspectives of Christianity,<br />

Islam and Judaism<br />

Band 3: Comprehending Antisemitism<br />

through the Ages: A Historical Perspective<br />

Band 4: Confronting Antisemitism<br />

from Perspectives of Philosophy and<br />

Social Sciences<br />

Band 5: Confronting Antisemitism in Modern<br />

Media, the Legal and Political Worlds<br />

Mehr Informationen auf:<br />

degruyter.com/serial/aeas-b/html<br />

© European Jewish Congress<br />

5 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 5 28.12.21 03:31


INTERVIEW MIT JOHAN F. HARTLE<br />

„Vielleicht muss man ja den Lueger<br />

selbst auch ein bisschen absenken“<br />

Bewegung kam diesen November wieder in die lange<br />

andauernde Debatte, wie am besten mit dem Monument<br />

für Karl Lueger umzugehen ist. Der Antisemitismus<br />

des früheren Wiener Bürgermeister ist seit<br />

Jahren vielen ein Dorn im Aug. Nun gab Wiens Kulturstadträtin<br />

Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) bekannt, dass<br />

das Denkmal mit einer künstlerischen Kontextualisierung<br />

versehen werden soll. Doch auch das scheint<br />

nicht in Stein gemeißelt: Die Grünen forderten daraufhin<br />

einmal mehr die Entfernung der Statue. WINA<br />

sprach mit dem Rektor der Akademie der bildenden<br />

Künste Wien, Johan F. Hartle, über das Lueger-<br />

Monument, Gegendenkmäler und den Umgang mit<br />

Geschichte. Interview:Alexia Weiss; Fotos: Daniel Shaked<br />

WINA: Wir standen eben vor dem Lueger-Denkmal. Es ist<br />

derzeit beschmiert, seitlich findet sich eine wenig präsente<br />

Erklärtafel. Es gab einen Wettbewerb, das Siegerprojekt<br />

schlug ein leichtes Kippen des Denkmals vor, dieses wurde<br />

aber nicht umgesetzt. Es gibt immer wieder Forderungen,<br />

das Monument zu entfernen. Inwiefern lässt sich gerade an<br />

diesem Denkmal die ganze Bandbreite an Möglichkeiten<br />

des Umgangs mit aus heutiger Sicht nicht mehr gewünschter<br />

Würdigung ablesen?<br />

Johan F. Hartle: Bis jetzt sind die Möglichkeiten ja<br />

noch gar nicht ausgeschöpft. Das Einzige, was wir sehen,<br />

ist eine Kommentierung aus einer sozialen Bewegung<br />

heraus, die Bemalung mit dem Wort „Schande“.<br />

Ich finde es eigentlich ganz gut, dass das seit über einem<br />

Jahr in dieser Form besteht, weil es viel klarmacht<br />

und eigentlich schon eine Richtigstellung darstellt.<br />

Gleichzeitig hat man die Chance, wie das in Wien ja<br />

auch am Judenplatz beispielhaft geschehen ist, ein<br />

international relevantes Kunstprojekt auf die Beine<br />

zu stellen, mit dem auch ein Geschichtsbild revidiert<br />

und kontextualisiert wird, denn, um ehrlich zu sein,<br />

man wird auch in Wien nicht immer im Kaiserreich<br />

stehen bleiben können. Irgendwann muss man auch<br />

im Städtebau und in der Stadtgestaltungspolitik darüber<br />

hinauswachsen.<br />

„Ich habe<br />

versucht, verschiedene<br />

Motive,<br />

mit denen<br />

man ein Monument<br />

kommentieren,<br />

übermalen,<br />

überschreiben<br />

kann, miteinander<br />

zu<br />

vergleichen.“<br />

Johan F. Hartle<br />

Sie haben nun gemeint, das Wort „Schande“, das mehrmals<br />

auf das Monument gesprayt wurde, ist schon sehr passend.<br />

Sind Sie also eher dafür, das Denkmal stehen zu lassen und<br />

richtig einzuordnen, oder sagen auch Sie, räumen wir es<br />

ganz weg?<br />

I Das ist eine wichtige Kontroverse, und ich habe da<br />

keinen eindeutigen Standpunkt. Allgemein ist meine<br />

Haltung eher, dass man historische Ambivalenzen<br />

sichtbar lassen muss, das heißt, man muss Überschreibungen<br />

anbringen. Die Überschreibung muss<br />

in diesem Fall aber so deutlich sein, dass eine Ehrung<br />

in Zukunft nicht weiter möglich ist. Das ist ja auch von<br />

den Initiativen, die sich um die Kommentierung bemühen,<br />

sehr deutlich so formuliert.<br />

Ich habe versucht, verschiedene Motive, mit denen<br />

man ein Monument kommentieren, übermalen,<br />

überschreiben kann, miteinander zu vergleichen.<br />

Es gibt ein sehr interessantes Beispiel von<br />

Alfred Hrdlicka in Hamburg, wo ein Soldatenmonument<br />

durch ein Gegenmonument entkräftet wurde.<br />

Das ist ein sehr martialisches Soldatenbild im Sinn<br />

von „Deutschland soll leben, auch wenn wir sterben“.<br />

Hrdlicka hat mit verschiedenen Figuren und Motiven<br />

aus dem Kriegsschrecken diesen Lack angekratzt.<br />

Eine solche Überbauung halte ich für interessant, obwohl<br />

der Lueger-Platz vielleicht irgendwann überfordert<br />

sein wird, weil das Schönste an ihm ja in Wahrheit<br />

die Platane ist, die man auch sichtbarer machen<br />

könnte, als sie es jetzt ist.<br />

Es gibt aber auch sehr interessante Beispiele der<br />

Mediengestaltung, der Überschreibung mit Licht, mit<br />

digitalen Ergänzungen. Das Ernst-Thälmann-Denkmal<br />

am Prenzlauer Berg ist da ein sehr interessantes<br />

Projekt. Und von Jenny Holzer gab es eine leider<br />

nur temporäre Kommentierung des Völkerschlacht-<br />

Denkmals in Leipzig, bei der mit Licht überschrieben<br />

und dadurch eine Kontextualisierung hergestellt<br />

wurde, durch die der maskuline, martialische und der<br />

nationalistische Gedanke der Völkerschlacht sozusagen<br />

ins rechte Licht gerückt wurden. Das sind Herangehensweisen,<br />

die alle zur Verfügung stehen.<br />

Auf diesem Platz wurde mit einer erklärenden Tafel gearbeitet,<br />

warum sieht man, dass das nicht funktioniert?<br />

6 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 6 28.12.21 03:31


Kommentieren, übermalen, dekonstruieren<br />

JOHAN F. HARTLE,<br />

geb. 1976 in Hannover, ist Philosoph und Kunstwissenschafter.<br />

Seit Herbst 2019 ist er Rektor der Akademie<br />

der bildenden Künste in Wien. Zuvor war er<br />

Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie<br />

sowie kommissarischer Rektor an der Staatlichen<br />

Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.<br />

I Die Tafel ist einen halben Meter groß und versteckt<br />

sich hinter Lueger. Die liest nur, wer sie lesen will. Für<br />

alle anderen bleibt Lueger ein Prachtjunge aus der Geschichte<br />

des Kaiserreiches. Das ist nicht die Art und<br />

Weise, wie man Geschichte kontextualisieren sollte.<br />

Auf dem Heldenplatz ist derzeit eine Freiluftausstellung<br />

zu sehen, die zeigt, dass die Radikalität in Bezug auf Antisemitismus<br />

mit dem „Anschluss“ schon eine ganz andere<br />

als in Deutschland war. Gerade Lueger hat den Antisemitismus<br />

hier gefördert – und in dieser Stimmung wurde Hitler<br />

sozialisiert, der sich Lueger auch zu seinem Vorbild nahm.<br />

Wie opportun ist es tatsächlich, so jemandem im Stadtbild<br />

derart prominent Raum zu geben?<br />

I Das ist ganz klar: Lueger ist einer der wichtigsten Demagogen,<br />

eine der Schlüsselfiguren in der Geschichte<br />

des politischen Antisemitismus, und das nicht erst als<br />

Bürgermeister, sondern schon davor. Man kann das<br />

auch nicht damit relativieren, dass man sagt, oh, er<br />

musste, um das große Infrastrukturprojekt auf eine<br />

populäre Grundlage zu bringen, die Welle des Antisemitismus<br />

reiten. Das stimmt nicht, Lueger war auch<br />

davor bereits in hohem Maße Antisemit, etwa in der<br />

Interessenpolitik des Handwerkertums gegen Juden<br />

und Jüdinnen. Lueger ist kein Unschuldiger, und ihn<br />

zu ehren, ist einfach das falsche Signal.<br />

Ein Ansatz ist, wie von Ihnen schon angesprochen, eine<br />

Gegenöffentlichkeit, ein Gegendenkmal zu schaffen. Wie<br />

müsste das bei diesem überdimensional angelegten Monument<br />

gestaltet werden, um überhaupt sichtbar zu sein?<br />

I Vielleicht muss man den Lueger selbst auch ein bisschen<br />

absenken. Er könnte zum Beispiel nur noch mit<br />

dem Kopf zu sehen sein und in seinem eigenen Sockel<br />

verschwinden. Für mich ist völlig offen, ob das<br />

Denkmal in dieser Form überhaupt stehen bleiben<br />

kann. Vermutlich ist es in den Ausmaßen zu groß, um<br />

es noch kommentieren zu können. Wahrscheinlich<br />

muss man es tatsächlich ein bisschen demontieren.<br />

Aber diese Demontage könnte selbst ein künstlerischer<br />

Akt sein: dass man es buchstäblich zerlegt, so<br />

wie man Geschichte analysiert. Und das Analysieren<br />

ist eine Arbeit des Zerlegens. Das könnte ich mir ganz<br />

gut vorstellen.<br />

Rektor Johan<br />

F. Hartle:<br />

„Lueger ist kein<br />

Unschuldiger,<br />

und ihn zu<br />

ehren, ist das<br />

falsche Signal.“<br />

wına-magazin.at 7<br />

dezeber.indb 7 28.12.21 03:31


Alternative Geschichtserzählung<br />

Es gibt bereits als Ergebnis eines Wettbewerbs<br />

einen Entwurf, bei dem das Denkmal<br />

gekippt wird. Können Sie diesem etwas<br />

abgewinnen, oder ist er schon wieder<br />

passé?<br />

I Ich finde den Entwurf ganz interessant,<br />

weiß aber gar nicht, ob das<br />

Kippen gereicht hätte, um das Monument<br />

in seiner Wucht auch zu dekonstruieren.<br />

Aber ich glaube, ihn<br />

jetzt nochmal hervorzuholen, würde<br />

der öffentlichen Relevanz und der internationalen<br />

Sichtbarkeit einen Abbruch<br />

tun, und man sollte ein neues<br />

Projekt starten.<br />

Der Sturz der Denkmäler ist keine neue<br />

Entwicklung – es fielen Hitler-Statuen<br />

ebenso wie etwa kommunistische Büsten<br />

nach dem Fall der Mauer und dem Ende<br />

der DDR. Heute sind Monumente, die<br />

Herrscher oder Eroberer des Kolonialismus ehren, in der<br />

Kritik. Ist es tatsächlich sinnvoll zu versuchen, Geschichte<br />

auszuradieren?<br />

I Meine Position ist in der Tat, dass Straßennamen und<br />

die Namen von Plätzen immer wieder geändert wurden<br />

und dass das relativ unspektakulär ist. In der Geschichte<br />

des wiedervereinigten Deutschland war das<br />

der Alltag, und es ist ein bisschen ironisch, wenn die<br />

konservativen Kräfte jetzt das Beibehalten von Namen<br />

von Plätzen und Straßen für die oberste Staatsraison<br />

halten. Hier gibt es eine gewisse Unaufrichtigkeit.<br />

Aber es stimmt natürlich, dass die Vergangenheit<br />

nicht einfach ausgelöscht werden kann und soll, sondern<br />

dass man aus ihr lernen und Aspekte davon neu<br />

bewerten muss. Und diese Art des Neubewertens findet<br />

vielleicht am sinnvollsten in der Auseinandersetzung<br />

mit dem tatsächlichen Monument statt.<br />

War es im Rückblick nicht richtig, im Osten Deutschlands<br />

alle Marx- und Lenin-Büsten zu entfernen? Ist man hier<br />

heute einen Schritt weiter?<br />

I Ich glaube, dass die Ambivalenz aus der Geschichte<br />

des Kommunismus, eines gescheiterten Emanzipationsversprechens,<br />

nicht einfach geleugnet und ignoriert<br />

werden kann, sondern dass die Auseinandersetzung<br />

damit wichtig bleibt, und das Gleiche gilt<br />

natürlich auch für andere Geschichtsstränge. Meiner<br />

Meinung nach ist in der Aufarbeitung des Realsozialismus<br />

sehr viel mehr Geschichtsarbeit passiert als zum<br />

Beispiel in der Aufarbeitung der sozialkonservativen<br />

Tradition, die offenbar bis heute mit einem Lueger<br />

noch zu wenig Probleme hat, um eine relevante Kommentierung<br />

in Gang zu setzen.<br />

Hat das auch damit zu tun, dass bis vor Kurzem in der breiteren<br />

Wahrnehmung die Kontinuität des Antisemitismus<br />

völlig geleugnet wurde?<br />

I Das ist ganz sicher so. Die Vorstellung, dass Österreich<br />

eine saubere, nicht koloniale, bürgerliche Weste<br />

„Die Komplexität<br />

eines<br />

zivilgesellschaftlichen<br />

Diskurses<br />

wird auch<br />

durch künstlerische<br />

Projekte vorangetrieben,<br />

und sie wird<br />

auch durch<br />

künstlerische<br />

Projekte dauerhaft<br />

in den<br />

öffentlichen<br />

Raum eingeschrieben.“<br />

hat, die dann durch externe, radikale Elemente beschädigt<br />

worden sei, hält sich relativ hartnäckig und<br />

ist natürlich nicht zutreffend.<br />

Die aktuellen Debatten zeigen eines: Geschichte ist nichts<br />

Statisches, der Blick in die Vergangenheit wird vielmehr<br />

immer wieder einer neuen Bewertung und Analyse unterzogen.<br />

War dies immer schon so, oder läuft da gerade ein<br />

Paradigmenwechsel ab?<br />

I Die Vorstellung, dass die Geschichte die Geschichte<br />

großer Männer ist, die ist nicht richtig. Die ist schon<br />

lange falsch. Es gibt natürlich sozialgeschichtliche<br />

Strömungen, die das auch schon davor problematisiert<br />

haben. Aber ein Einzelmonument von einem Einzelbürgermeister,<br />

der dazu noch ein politischer Demagoge<br />

sondergleichen gewesen ist, zeugt schon von<br />

einem absurden Geschichtsbild, das in der Tat zu demontieren<br />

und auch einzubetten ist in die tatsächliche<br />

Leidensgeschichte derjenigen, die historisch aktiv gewesen<br />

sind, und in die historischen Bewegungen, die<br />

die tatsächlichen Ereignisse vorangetrieben haben.<br />

Wie weit ist man mit der Demontage des Geschichtsbildes?<br />

Ist das noch eine Elfenbeinturmdebatte, oder sehen Sie<br />

schon eine Verästelung in die ganze Gesellschaft?<br />

I Ich bin kein Historiker und überlasse die Debatte<br />

den Historiker:innen, Kulturhistoriker:innen und<br />

Sozialhistoriker:innen. Aber es ist ganz sicher so,<br />

dass es alternative Geschichtserzählungen gibt und<br />

dass die imperiale große Geste der auf Einzelpersönlichkeiten<br />

fixierten Geschichtserzählung zunehmend<br />

zerstäubt.<br />

Kunst und Kultur, der Bereich, den Sie repräsentieren, ist<br />

gerade ein Bereich, der zur Verherrlichung von historischen<br />

Personen beigetragen hat. Was können Kunst und Kultur<br />

heute beitragen, um zu dekonstruieren?<br />

I Die Komplexität eines zivilgesellschaftlichen Diskurses<br />

wird auch durch künstlerische Projekte vorangetrieben,<br />

und sie wird auch durch künstlerische<br />

Projekte dauerhaft in den öffentlichen Raum eingeschrieben.<br />

Insofern ist das, was mit Rachel Whitereads<br />

öffentlicher Installation, ihrem Monument am<br />

Wiener Judenplatz passiert ist, modellhaft für das,<br />

was Kunst leisten kann, nämlich Mahnmale auch ambivalenter<br />

und alternativer Geschichtserzählung zu<br />

erzeugen.<br />

Ist es ein Sinnbild unserer Zeit, dass heute eher Mahnmale<br />

aufgestellt werden als Huldigungsstatuen?<br />

I Es wäre natürlich traurig, wenn es nicht auch Erfolgsgeschichten<br />

gäbe, auf die wir stolz sein können.<br />

Vielleicht werden wir in ein paar Jahrzehnten denjenigen,<br />

die es geschafft haben, im Rahmen der Klimabewegung<br />

wesentliche Elemente des Planeten zu retten,<br />

auch Denkmäler setzen und auf sie stolz sein. Vielleicht<br />

befinden wir uns momentan tatsächlich eher in<br />

der Aufarbeitung von Traumata und Schäden als in<br />

der Möglichkeit, emanzipatorische und zukunftsweisende<br />

Projekte zu würdigen und zu setzen.<br />

8 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 8 28.12.21 03:31


Von Judenwegen<br />

zum Israel-Trail<br />

Dass „der Jud“ vor allem ins Kaffeehaus<br />

gehört, wurde auch in koketter<br />

Selbstironie gern festgestellt.<br />

Dennoch finden sich zahlreiche Zeugnisse<br />

für eine besondere jüdische Naturverbundenheit,<br />

eine besondere Liebe zur Landschaft,<br />

gipfelnd in der sorgsamen Achtung<br />

vor der Schöpfung Gottes und aller<br />

seiner Wesen.<br />

Diaspora. In seinem Beitrag über „Deutschjüdische<br />

Landschaften“ stellt Michael<br />

Brenner fest, dass vor dem Krieg zwar<br />

90 Prozent der österreichischen Juden in<br />

Wien lebten, das Bild des urbanen Großstadtjudentums<br />

also einige Berechtigung<br />

hatte, es andererseits ab dem 16. Jahrhundert<br />

in Deutschland spezielle „Judenwege“<br />

gab, auf denen sich die jüdischen Hausierer<br />

abseits der allgemeinen Verkehrswege<br />

durch die ländliche Umgebung bewegten,<br />

auch um drohenden Übergriffen auszuweichen.<br />

Deutsche Juden liebten und idealisierten<br />

die Natur, junge Zionisten etablierten<br />

Wandervereine.<br />

„Die Alpen machen keinen Unterschied<br />

zwischen Jud und Christ oder Arier, sie<br />

werfen ab, wen sie wollen“, erklärt Robert<br />

Schindel die Liebe der Juden zu den<br />

Bergen. 1924 schloss der antisemitische<br />

Alpenverein jüdische Mitglieder aus, ein<br />

„Kurbäderantisemitismus“ sogar schon<br />

davor jüdische Sommerfrischler.<br />

Israel. Erst die Besiedlung Israels ermöglichte<br />

auch eine Rückkehr zur Natur,<br />

Gestaltung und Kultivierung der<br />

Landschaft. Die Wüste, für europäische<br />

Einwanderer ein mystisch-mythischer<br />

Rastlos, wurzellos wandert<br />

er seit Jahrtausenden durch<br />

die Geschichte des Abendlands.<br />

Mit einer besonderen<br />

Nähe zur Natur wurde<br />

der ewig „wandernde Jude“<br />

aber nie verbunden. „Denn<br />

der Jud und die Natur, das ist<br />

zweierlei, immer noch“, hat<br />

Paul Celan einmal gemeint.<br />

Gleichsam als Motto führt<br />

Gisela Dachs dieses Zitat<br />

in ihrem neuen Jüdischen Almanach<br />

an, der diesmal das<br />

Verhältnis zur „Natur“<br />

erkundet und damit Celans<br />

Behauptung überprüft.<br />

Von Anita Pollak<br />

Gisela Dachs (Hg.):<br />

Natur. Erkundungen<br />

aus der jüdischen Welt.<br />

Jüdischer Verlag im<br />

Suhrkamp Verlag,<br />

224 S., € 23,70<br />

Herkunftsort des biblischen Volkes, zum<br />

Blühen zu bringen, war das Ziel zionistischer<br />

Siedler. Ideologisch aufgeladen<br />

war die Aufforstung des Landes, übrigens<br />

fast ausschließlich mit Kiefern, wie<br />

es Irus Braverman in ihrem Beitrag über<br />

den Jüdischen Nationalfonds darstellt.<br />

Tel Aviv wurde als Gartenstadt konzipiert,<br />

allerdings „mit dem Rücken zum<br />

Meer“, zu dem die Gründerväter offenbar<br />

eine gespaltenes Verhältnis hatten,<br />

weshalb die Hauptverkehrsstraßen sich<br />

nicht zur Küste öffnen, wie Avrama Golan<br />

beobachtet.<br />

Ein neuer Zugang zur Natur und ihrem<br />

Schutz, zur Flora und Fauna des Heiligen<br />

Landes und eine neue Spezies des<br />

wandernden Juden etwa auf dem „Israel-<br />

Trail“ wird in anderen Beiträgen des Bandes<br />

offenbar. Für die innige Naturverbundenheit<br />

seiner Autor:innen weist die<br />

israelische Literatur viele Belege auf, ein<br />

schönes Beispiel findet sich in Meir Shalevs<br />

Betrachtung der Jahreszeiten.<br />

Wie in allen ihren bisherigen „Erkundungen<br />

aus der jüdischen Welt“ ist es Herausgeberin<br />

Gisela Dachs auch in ihrem<br />

jüngsten Almanach gelungen, ein sensibles<br />

Thema in<br />

einem breiten,<br />

„Die Alpen machen keinen<br />

Unterschied zwischen Jud<br />

und Christ oder Arier, sie<br />

werfen ab, wen sie wollen.“<br />

Robert Schindel<br />

bunten Spektrum<br />

zu beleuchten,<br />

das in seiner<br />

Gesamtheit Paul<br />

Celans eingangs<br />

erwähntes Zitat<br />

als überholt entlarvt.<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

dezeber.indb 9 28.12.21 03:31


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Der Zauber von<br />

Yung Yidish<br />

Wenn der Zentrale Busbahnhof im Süden von Tel Aviv wie geplant<br />

abgerissen wird, muss Mendy Cahan ein neues Zuhause für seine<br />

90.000 Bücher in jiddischer Sprache finden.<br />

m Süden der Stadt gibt es einen Ort, der aus der<br />

Welt gefallen scheint. Er ist dem Jiddischen als<br />

ein lebendiges säkulares Kulturgut gewidmet.<br />

Wer dorthin will, muss es allerdings erst einmal<br />

bis zu dem Studio 5008 im fünften Stock des allgemein<br />

verhassten Busbahnhofs in der Levinski<br />

Street schaffen. Das allein schon kommt einer<br />

abenteuerlichen Reise gleich.<br />

Der „neue“ zentrale Busbahnhof, wie er immer<br />

noch heißt, ist ein Monstrum. Er hat deshalb auch<br />

den guten Ruf seines Erbauers ruiniert. Bis dahin<br />

war Ram Karmi einer der erfolgreichsten Architekten<br />

im Land gewesen. Als junger Mann plante<br />

er die Knesset mit, auch der viel bewunderte Neubau<br />

des Obersten Gerichtshof entstand auf seinem<br />

Reißbrett. Dann wurde 1993 der Busbahnhof nach<br />

24 Jahren Bauzeit eröffnet. Doch die Idee einer Art<br />

fensterlosen Stadt unter einem Dach mit Verkehrsanbindung<br />

erwies sich als Fehler.<br />

Das Ausmaß macht einen schwindlig. 230.000<br />

Quadratmeter auf sieben Stockwerken – oder<br />

vierzehn, je nachdem, wie man zählt, denn jede<br />

Etage besteht aus zwei halben Stockwerken,<br />

verbunden durch Rolltreppen, die kreuz<br />

und quer laufen. In diesem Labyrinth<br />

kann man sich leicht verlaufen. Kein<br />

halbes Jahr nach der Eröffnung mussten<br />

die sechs Kinos im ersten Stock be-<br />

Von Gisela Dachs<br />

Die hohen Regale beben in regelmäßigen Abständen,<br />

wenn ein Busse direkt über der Decke<br />

losfährt. Dann wackelt auch die Theke am Eingang,<br />

samt der Flasche Pastis, den Bieren und<br />

den kleinen Gläsern mit Gefiltem Fish.<br />

reits schließen. Ganze Etagen gingen pleite und<br />

sind bis heute verwaist.<br />

Was lebt, sind die vielen kleinen Läden und Buden<br />

im Eingangsgeschoss. Sie orientieren sich an<br />

den Bedürfnissen der Arbeitsmigranten, die sich<br />

schon vor Jahren in der Nachbarschaft niedergelassen<br />

haben. Wechselstuben, afrikanischen Trachten,<br />

aufblasbare Weihnachtsmänner, indische Gewürzstände,<br />

philippinische Make-up-Läden mit<br />

viel Glitzer, eine Hotline-Station für Flüchtlinge.<br />

Durch all das muss man erst einmal durch, um<br />

zu Yung Yidish zu gelangen. Es ist halb acht Uhr<br />

Sonntagabend, und eine eklektische Mischung<br />

an Besuchern trudelt ein – junge Israelis, darunter<br />

Hipster und Punks, ältere Einwanderer aus der<br />

ehemaligen Sowjetunion und Frankreich, Chassiden.<br />

Sie alle kommen zusammen in dem riesigen<br />

Loft, das mit alten Teppichen ausgelegt ist und nach<br />

Wasserschäden riecht. In der Mitte stehen Holztische<br />

und Stühle. Ringsherum sind überall Bücher,<br />

90.000 Bände europäischer Literatur auf Jiddisch.<br />

Die hohen Regale beben in regelmäßigen Abständen,<br />

wenn ein Busse direkt über der Decke losfährt.<br />

Dann wackelt auch die Theke am Eingang, samt der<br />

Flasche Pastis, den Bieren und den kleinen Gläsern<br />

mit Gefiltem Fish. Wie jede Woche um diese<br />

Zeit lädt die „Klezmer-Bar“ zum Konzert ein. Die<br />

kleine Bühne, vor der ein Klavier steht, ist ebenfalls<br />

mit Bücherstapeln im Hintergrund versehen.<br />

Der Mann, der dieses Reich geschaffen hat, ist heute<br />

nicht da. Mendy Cahan sitzt im Flugzeug nach Belgien.<br />

Dort ist der Schauspieler, Sänger und Geschichtenerzähler<br />

einst mit Jiddisch als Muttersprache<br />

aufgewachsen. Dann hat er sich von<br />

Antwerpen nach Jerusalem aufgemacht, sein bis-<br />

© Corinna Kern / laif / picturedesk.com<br />

10 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 10 28.12.21 03:31


© Corinna Kern / laif / picturedesk.com<br />

heriges Leben hinter sich gelassen und begonnen,<br />

jiddische Literatur vor ihrem Verschwinden zu retten.<br />

Das war vor dreißig Jahren. Er las im israelischen<br />

Radio die Nachrichten auf Jiddisch und startete<br />

dort den Aufruf, wer immer jiddische Bücher<br />

habe, die er nicht mehr brauche, solle es ihm sagen,<br />

er komme vorbei und hole sie. Und es gab viele.<br />

Sie kamen aus der ganzen Welt, von Australien, von<br />

Johannisburg, von Brasilien, von Mexiko. 2006 zog<br />

er dann mit seiner damals schon beträchtlichen<br />

Sammlung in den Busbahnhof nach Tel Aviv um.<br />

Mit seiner Yung-Yiddish-Bewegung will Mendy<br />

Cahan außerhalb von Mea Shearim und Bnei Brak<br />

die jiddische Sprache lebendig halten und ihre<br />

reichhaltige Kultur zugänglich machen.<br />

Die große europäische Literatur wurde einst ins<br />

Jiddische übersetzt, man las sie mit Leidenschaft<br />

und eignete sie sich an, um dann auch den eigenen<br />

Teil dazu beizutragen.<br />

Für Mendy Cahan steht das Jiddische nicht im<br />

Gegensatz zum Hebräischen, die Diaspora nicht<br />

zum Zionismus. Er denkt nicht in solchen Kategorien,<br />

er will lieber versöhnen, betrachtet seine Bücher<br />

als Einwanderer. „Die Zionisten wollten eine<br />

neuen Juden schaffen, aber der war doch trotzdem<br />

die Fortsetzung des alten“, meinte er kürzlich in einem<br />

Interview. „Gab es nicht stehenden Beifall für<br />

Herzl, als er 1904 Vilnius besuchte, das Herz des<br />

Jiddischlands?“<br />

Yung Yidish hat längst enorme Sogwirkung entwickelt.<br />

Beim Sortieren der Bücher und Veranstaltungen<br />

helfen ein Dutzend Freiwillige, wie Dan und<br />

Yogev, die gerade ihre Matura in Hod haScharon<br />

machen. Dan hat einen langen grauen Mantel an<br />

und den Kopf voller Rasta. Er kommt seit zehn Monaten<br />

hierher, wann immer es geht, und lernt die<br />

Unterrichtsstunde.<br />

Mit seiner Yung-Yiddish-<br />

Bewegung will Mendy<br />

Cahan (hinten) die<br />

jiddische Sprache auch<br />

außerhalb von Mea<br />

Shearim und Bnei Brak<br />

lebendig halten und<br />

ihre reichhaltige Kultur<br />

zugänglich machen.<br />

Sprache durchs Zuhören, „wie ein Baby“, wenn die<br />

Menschen sich hier auf Jiddisch unterhalten. Die<br />

Sprache, deren hebräische Buchstaben er mühelos<br />

lesen kann, erinnert ihn an seinen Großvater in<br />

Kfar Saba. Dessen säkulare Eltern, die aus Litauen<br />

stammten, haben mit ihrem kleinen Sohn stets Jiddisch<br />

gesprochen, obwohl er in den 1930er-Jahren<br />

bereits im Land geboren worden war. Für Dan ist<br />

die Sprache wie ein emotionales Band.<br />

Andere kommen, weil sich an diesem schrägen<br />

Ort im Busbahnhof alle entfalten dürfen, die<br />

die Welt ein bisschen besser machen wollen. Dazu<br />

„Die Zionisten wollten eine neuen Juden<br />

schaffen, aber der war doch trotzdem die<br />

Fortsetzung des alten.“ Mendy Cahan<br />

gehören Vorträge über die schwierigen Lebensbedingungen<br />

von Flüchtlingen, über die LGBTQ-<br />

Community, Lesungen von Gedichten, Buchpräsentationen,<br />

Theaterproben.<br />

Inzwischen ist Yung Yidish kein Geheimtipp<br />

mehr. Spätestens seit der Ankündigung, dass der<br />

neue Busbahnhof bald umziehen und nach dreißig<br />

Jahren Betrieb abgerissen werden soll, sind Berichte<br />

über die notwendige Rettung von Yung Yidish<br />

auch in die großen hiesigen Medien vorgedrungen.<br />

Am 5.<strong>Dezember</strong> hätte Schluss sein sollen, so hatte<br />

es zunächst geheißen. Aber jetzt sieht es so aus, als<br />

würde es mit der Verlegung des Busbahnhofs noch<br />

eine Weile dauern. Manchmal ist es ja ein Glück,<br />

dass die Dinge nicht immer so schnell klappen wie<br />

geplant. So bleibt Zeit, um für Yung Yidish ein neues<br />

Zuhause zu finden.<br />

yungyidish.github.io/<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

dezeber.indb 11 28.12.21 03:32


Sie haben<br />

Fragen an das<br />

Bundeskanzleramt?<br />

service@bka.gv.at<br />

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(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />

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dezeber.indb 12 28.12.21 03:32


HIGHLIGHTS | 02<br />

Wohin mit dem „Nazi-Dreck“?<br />

Wenn bei der Räumung eines Hauses plötzlich NS-Devotionalien und Familienerinnerungsstücke aus<br />

der Zeit des Nationalsozialismus auftauchen, wollen viele Menschen nur eines: diese Sachen möglichst<br />

rasch loswerden. Doch dann stellt sich die Frage: einfach wegwerfen? Verkaufen? Oder wohin kann ich<br />

solche Dinge quasi in Obhut übergeben?<br />

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />

Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum<br />

heißt die neue Ausstellung<br />

im Haus der Geschichte Österreich<br />

(HdGÖ), die dazu einen Diskussionsprozess<br />

anstößt. Die Schau begrüßt die Besucherinnen<br />

und Besucher mit drei Fragen:<br />

„Aufbewahren? Verkaufen? Zerstören?“<br />

Auf Kärtchen sind dazu typische Dinge<br />

aufgezeichnet, die immer wieder in Verlassenschaften<br />

auftauchen: eine Armbinde<br />

des „Volkssturms“ zum Beispiel, ein Teller<br />

mit einem „Reichsadler“-Stempel auf<br />

der Unterseite, „Reichsmark“-Münzen. Die<br />

Besucher:innen können dann ankreuzen,<br />

ob sie dieses Objekt entsorgen, behalten<br />

oder verkaufen würden, und dazuschreiben,<br />

warum sie so entscheiden würden.<br />

Die Ausstellungsmacher:innen wiederum<br />

weisen dann daraufhin, welche Implikation<br />

jede der drei Entscheidungen mit<br />

sich bringt: Was etwa darf ich zu Hause aufbewahren,<br />

und was fällt unter NS-Wiederbetätigung?<br />

HdGÖ-Direktorin und Mitkuratorin<br />

der Schau, Monika Sommer, erzählt<br />

etwa von Erben, die sich mit der Frage ans<br />

Museum wandten, was sie mit einer Lade<br />

voller „SA“-Dolche tun sollten. Solche Waffen<br />

privat zu besitzen, ist verboten. Dürfte<br />

man sie oder andere Dinge verkaufen? Auch<br />

darüber wird in der Ausstellung aufgeklärt.<br />

Und wo kann ich Dinge, die ich nicht zerstören,<br />

aber auch nicht behalten möchte,<br />

abgeben?<br />

Genau hier kommen Museen wie das<br />

HdGÖ ins Spiel. Bei 35 Prozent der Schenkungen<br />

an das HdGÖ handelt es sich um<br />

Objekte aus der Zeit des Nationalsozialismus,<br />

erklärt Sommer. Allerdings sagt sie<br />

auch klar: Nicht alles, was hier angeboten<br />

würde, könne auch in die Sammlung des<br />

Museums übernommen werden. Basis der<br />

Entscheidung, ob ein Objekt angenommen<br />

werde oder nicht, ist die Geschichte, die es<br />

dazu nach der NS-Zeit zu erzählen gibt.<br />

Das Plakat zur Ausstellung ziert eine<br />

Glühbirnenverpackung, auf die mit Edding<br />

„NAZI-Dreck“ geschrieben wurde. In<br />

Sich der Familiengeschichte<br />

stellen – erst<br />

damit finde auch<br />

Akzeptanz statt.<br />

Stefan Benedik<br />

ihr befanden sich viele kleine Abzeichen<br />

und Anstecker aus der NS-Zeit. Die Schachtel<br />

ist ebenso in der Ausstellung zu sehen<br />

wie andere Verpackungen. Warum? In der<br />

Schau stellte das Kuratorenteam die Situation<br />

der Übergabe und Begutachtung eines<br />

Objekts nach. Jedes ausgewählte Objekt<br />

steht auf einem Tisch, daneben wurde<br />

die Verpackung (vom Koffer bis zum Plastiksackerl)<br />

platziert, auf Kärtchen wird die Relevanz<br />

des Gegenstands für die Sammlung<br />

des Museums erklärt.<br />

Ins Auge sticht etwa ein Puppenwagen.<br />

Gefertigt wurde er aus einer Feldpostkiste,<br />

in der ein Soldat Raubgut aus Frankreich<br />

nach Hause geschickt hatte. Nach seiner<br />

Rückkehr zimmerte er einen Puppenwagen<br />

In welchen<br />

Objekten werden<br />

Erinnerungen an den<br />

Nationalsozialismus<br />

eigentlich aufbewahrt?<br />

Auch das ist<br />

Teil der Ausstellung.<br />

daraus. Das Adressfeld ist bis heute im Inneren<br />

des Wagerls zu sehen. Damit habe er<br />

die Erinnerung an diesen Feldzug bewusst<br />

belassen, erläutert Sommer.<br />

Was Co-Kurator Stefan Benedik mit dieser<br />

Ausstellung auch anstoßen will, ist der<br />

innerfamiliäre Diskurs, wie künftig mit solchen<br />

Objekten umgegangen werden soll.<br />

Denn es sei zu hinterfragen, ob das Entsorgen<br />

oder Weggeben immer der beste<br />

Weg sei. Sich der Familiengeschichte stellen<br />

– erst damit finde auch Akzeptanz statt.<br />

Und dann stelle sich die Frage: Warum eben<br />

zum Beispiel nicht das Fotoalbum mit dem<br />

Urgroßvater in NS-Uniform behalten und<br />

auch diese unliebsame Zeit in die Familiengeschichte<br />

integrieren, ohne sie aber zu verharmlosen<br />

oder zu erhöhen. wea<br />

„Hitler entsorgen.<br />

Vom Keller ins Museum“<br />

12. <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong> bis 9. Oktober <strong>2022</strong><br />

Haus der Geschichte Österreich<br />

Heldenplatz, 1010 Wien<br />

hdgoe.at<br />

© A. Weiss<br />

dezeber.indb 13 28.12.21 03:32


INTERVIEW MIT BEN DAGAN<br />

„Mut zur<br />

Sichtbarkeit“<br />

Ben Dagan leitet seit September den Bereich Kommunikation<br />

der IKG Wien. Der Politikwissenschafter und Sicherheitsexperte war<br />

zuvor in der politischen Kommunikation tätig, zuletzt als Pressereferent<br />

im Gesundheitsministerium. WINA sprach mit ihm über seine neue<br />

Aufgabe und die Ziele der damit nun weiter professionalisierten<br />

Öffentlichkeitsarbeit der Kultusgemeinde.<br />

WINA: Warum ist es auch für eine kleine Religionsgemeinschaft<br />

wichtig, sich professionell zu präsentieren?<br />

Ben Dagan: Bisher hat hier ein kleines Team einen<br />

immer größer werdenden Arbeitsauftrag hervorragend<br />

gemeistert. Und dass dieser größer wird, zeigt<br />

auch, wie lebendig die Gemeinde ist: mit verschiedensten<br />

Veranstaltungen, aktiven Vereinen und Abteilungen<br />

sowie als selbstbewusste Stimme in der<br />

Gesellschaft. Diesen Bereich auszubauen, war der<br />

logische nächste Schritt, den auch viele andere Gemeinden<br />

gemacht machen, und ich freue mich, Teil<br />

dieses Prozesses zu sein. Die Arbeit hat schon begonnen,<br />

wie jüngst mit dem SMS-Sicherheitshinweis für<br />

Mitglieder und der neuen Website.<br />

Sie kommen aus der politischen Kommunikation und waren<br />

zuletzt in zwei Ministerien – dem Justiz- und dem Gesundheitsressort<br />

– als Pressereferent tätig. Wie unterscheidet<br />

sich die Arbeit für die IKG von der Arbeit in der Politik?<br />

I Es geht darum, das jüdische Leben in Österreich in<br />

seiner Vielfalt sichtbar zu machen: das umfassende<br />

Kulturprogramm, Religion, Jugendarbeit, die Institutionen,<br />

um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen.<br />

Die Abwechslung ist definitiv größer, und das<br />

Korsett ist weniger eng. Gleichzeitig ist die Arbeit<br />

auf allen Ebenen von großer Bedeutung: vom Service<br />

für Gemeindemitglieder bis hin zum Kampf gegen<br />

Antisemitismus. Dabei geht es nicht zuletzt um eine<br />

wachsende, florierende Gemeinde, die den Weg für<br />

kommende Generationen in einem vielfältigen Österreich<br />

ebnet.<br />

Welche Ziele verfolgen Sie in der Kommunikation der IKG<br />

Wien?<br />

I Den Service für die Mitglieder zu unterstützen, die<br />

Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen<br />

zu intensivieren und die Außenwirkung zu vergrößern.<br />

Mit den neu geschaffenen Ressourcen, zum<br />

„Vielfalt<br />

ist Stärke<br />

und Herausforderung<br />

zugleich.“<br />

Ben Dagan<br />

Beispiel in der Content-Produktion, und dem Mut<br />

zur Sichtbarkeit werden wir diese Ziele auch erreichen.<br />

Welche Herausforderungen sehen Sie dabei?<br />

I Vielfalt ist Stärke und Herausforderung zugleich.<br />

Man muss zum Teil sehr unterschiedliche Bedürfnisse<br />

wahrnehmen und darauf eingehen. Damit die<br />

richtige Balance gelingt, braucht man Zeit, manche<br />

Dinge müssen wir auch vorsichtig ausprobieren und<br />

evaluieren. Gleichzeitig darf man das Umfeld nicht<br />

aus den Augen verlieren. Die jüngsten Zahlen aus<br />

dem Antisemitismus-Halbjahresbericht sind zum<br />

Beispiel Grund zur Sorge. Deshalb ist es auch richtig,<br />

dass sich die Gemeinde selbstbewusst in der gesellschaftlichen<br />

Debatte definiert – auch mit Themen<br />

über Antisemitismus hinaus.<br />

Inwiefern hilft Ihnen Ihr persönlicher Background bei<br />

dieser neuen Aufgabe?<br />

I Die neue Aufgabe ist eine Herzensangelegenheit.<br />

Mir war oft nicht bewusst, was ich an relevantem<br />

Wissen für die Aufgabe mitbringe. Natürlich gibt es<br />

auch Situationen, in denen ich blinde Fleck erkenne<br />

und umso dankbarer bin ich für die tollen Kolleginnen<br />

und Kollegen. Meine Großmutter freut sich sicher,<br />

dass ich mich endlich intensiver mit dem Judentum<br />

befasse. Red.<br />

BEN DAGAN,<br />

geb. 1989 in Ramat Gan/Israel, aufgewachsen in Tirol. Studium der Politikwissenschaft<br />

und Internationalen Sicherheit an den Universitäten Wien und Sciences Po Paris, dazwischen<br />

Israel Government Fellow in Jerusalem. Bisherige Arbeitsstationen unter anderem:<br />

Bezirksvorstehung Neubau, Europäisches Parlament, Campaigner bei den Grünen,<br />

Pressereferent für Justizministerin Alma Zadi und Gesundheitsminister Rudolf Anschober.<br />

Seit September <strong>2021</strong> Leiter der Kommunikation in der IKG Wien.<br />

14 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 14 28.12.21 03:32


Eine Herzensangelegenheit<br />

© Daniel Shaked<br />

Ben Dagan auf dem Sprung.<br />

„Es geht darum, das jüdische Leben<br />

in Österreich in seiner Vielfalt sichtbar<br />

zu machen.“<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

dezeber.indb 15 28.12.21 03:32


Europäisches Judentum<br />

JONATHAN KREUTNER,<br />

1978 in der Schweiz geboren, hat<br />

allgemeine Geschichte, neuere<br />

deutsche Literatur und Staatsrecht<br />

in Zürich studiert und in Basel in<br />

Jüdischen Studien promoviert. Seit<br />

2009 ist er als Generalsekretär<br />

des Schweizerischen Israelitischen<br />

Gemeindebundes tätig. Er ist verheiratet<br />

und Vater zweier Kinder.<br />

„Das neue Österreich soll eine<br />

Chance von mir bekommen“<br />

Ich habe noch keinen Pass in der<br />

Hand“, erklärt Jonathan Kreutner<br />

gleich eingangs. Was gerade in seinem<br />

Fall eine gelinde Untertreibung ist.<br />

Denn eigentlich hat der gebürtige Schweizer<br />

als Sohn einer israelischen Mutter<br />

auch einen israelischen Pass, ist also bereits<br />

Doppelstaatsbürger. Mit dem österreichischen,<br />

den er seit einigen Monaten<br />

anstrebt, bekäme er also eine „Trinationalität“,<br />

wie er erklärt. Seit über einem Jahr<br />

haben Nachkommen von Opfern der NS-<br />

Diktatur die Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung<br />

der österreichischen Staatsbürgerschaft.<br />

Und dass seine Großeltern,<br />

Jakob und Ida Kreutner, solche Opfer waren,<br />

ist mehrfach gut dokumentiert.<br />

Warum möchte ein<br />

junger Schweizer Jude die<br />

österreichische Staatsbürgerschaft<br />

seiner Großeltern<br />

wiedererlangen? Für<br />

Jonathan Kreutner, seit<br />

13 Jahren Generalsekretär<br />

des Schweizerischen Israelitischen<br />

Gemeindebunds,<br />

ist es vor allem eine Frage<br />

der Gerechtigkeit.<br />

Von Anita Pollak<br />

Dramatische Flucht. Doch zurück zum Anfang<br />

oder „back to the roots“, zur Familiengeschichte,<br />

die in der Wiener Leopoldstadt<br />

ihren Ausgang nahm, wie Jonathan<br />

Kreutner erzählt. Hier heiratete das Paar<br />

1934, 1937 wurde ihr Sohn Robert, Jonathans<br />

Vater, geboren. Beide waren<br />

Mitglieder der IKG. Als in der Reichspogromnacht<br />

1938 die Gestapo Jakob<br />

niederschlug und schwer verletzte, versteckte<br />

Ida ihr Baby im Schrank. Nachdem<br />

Jakob notdürftig verarztet worden<br />

war, verließ die Familie Wien „Hals über<br />

Kopf“ und gelangte mit der Bahn nach<br />

Feldkirch. Bei Diepoldsau schwammen<br />

sie Ende November 1938 nach mehreren<br />

Fluchtversuchen mit dem kranken Baby<br />

bei eisiger Kälte über den Rhein in die<br />

Schweiz und wurden dort von Grenzbeamten<br />

aufgegriffen.<br />

„Meine Großmutter hat gesagt: ,Sie können<br />

mich erschießen, aber ich geh’ nicht<br />

© privat<br />

16 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 16 28.12.21 03:32


Späte Gerechtigkeit<br />

Jakob und Ida<br />

Kreutner mit<br />

ihrem Sohn Robert<br />

im Sommer 1939.<br />

andere Österreich soll auch eine Chance<br />

von mir bekommen. Meine Großeltern<br />

haben noch die Waldheim-Zeit erlebt,<br />

doch heute hat sich ein neues Geschichtsbewusstsein<br />

in Österreich entwickelt, zu<br />

dem ich auch stehen kann, sonst hätte<br />

ich es nicht gemacht. Ich habe das Gefühl,<br />

dass da ein Diskurs stattfindet, den<br />

ich unterstützenswürdig finde. Man darf,<br />

ohne die Vergangenheit zu vergessen, einen<br />

Blick in die Zukunft wagen. Man muss<br />

als selbstbewusster jüdischer Mensch leben,<br />

und dazu gehört auch, seine Rechte<br />

einzufordern.“<br />

© privat<br />

zurück.‘ Da hat der Grenzchef von Diepoldsau<br />

den Polizeihauptmann Paul Grüninger<br />

in St. Gallen angerufen, und der<br />

hat gesagt: ,Die kannst du reinlassen, wir<br />

finden eine Lösung.‘ Freilich war das illegal.<br />

Sie wurden sogar vom Polizeichef von<br />

Diepoldsau aufgenommen, kamen dann<br />

in ein Flüchtlingslager und irgendwie im<br />

Laufe der Vierzigerjahre nach Zürich.“<br />

Genau diese dramatische Rettungsaktion<br />

kommt im Film Die Akte Grüninger vor<br />

und ist auch im Jüdischen Museum von<br />

Hohenems dokumentiert. „Weil meine<br />

Großeltern sehr früh einen Dokumentarfilm<br />

über sich drehen ließen, sind sie<br />

zwei der ganz wenigen österreichischen<br />

Flüchtlinge, deren Geschichte bereits<br />

früh und gut aufgezeichnet wurde. Sie<br />

ist daher auch exemplarisch für jüdische<br />

Flüchtlinge, die in die Schweiz gekommen<br />

sind. Mein Vater und ich wurden<br />

auch im Schweizer Fernsehen als ,Grüningers<br />

Erben‘ porträtiert.<br />

Ich wurde am 30. November 1978 geboren,<br />

auf den Tag genau 40 Jahre nach<br />

der Rettung meiner Großeltern, die mein<br />

Großvater als Beginn seines zweiten Lebens<br />

bezeichnet hat.“<br />

Partielle Amnesie. Zunächst als Staatenlose<br />

geduldet, erhielt die Familie 1955 die<br />

Schweizer Staatsbürgerschaft. Davor habe<br />

„irgendwann einmal“ Österreich den<br />

Staatenlosen wieder die österreichische<br />

Staatsbürgerschaft angeboten, allerdings<br />

verknüpft mit Bedingungen, die Großeltern<br />

hätten das aber abgelehnt. Schriftliche<br />

Belege dafür gebe es aber keine.<br />

Immer wieder hat der Enkel versucht,<br />

Informationen und Geschichten zu erfahren.<br />

„Aber mein Großvater hatte eine<br />

„Meine Großeltern<br />

sind Ende November<br />

1938 mit dem kranken<br />

Baby bei eisiger<br />

Kälte über den<br />

Rhein in die Schweiz<br />

geschwommen.“<br />

Art partieller Amnesie, seine Erinnerungen<br />

haben am 9. November 1938 aufgehört,<br />

nur meine Großmutter hat bruchstückhaft<br />

Erinnerungen an seine Familie<br />

gehabt. Meines Wissens haben sie auch<br />

nie wieder Österreich besucht. Ich habe<br />

dann später als Historiker viel über die<br />

Familiengeschichte recherchiert. Erst<br />

im Nachlass meiner Großeltern haben<br />

wir Heimatscheine und Geburtsurkunden<br />

gefunden und dann erst verschollene<br />

Verwandte gesucht und gefunden und sogar<br />

ein Familientreffen organisiert.“<br />

Auch sein Vater, der heute 85 ist, habe<br />

mit der für ihn überwiegend belasteten<br />

Vergangenheit abgeschlossen und würde<br />

nie die österreichische Staatsbürgerschaft<br />

anfordern. Beim Sichten der nötigen Dokumente<br />

seien bei ihm wieder viele ungute<br />

Gefühle hochgekommen.<br />

„Ich habe keine direkte persönliche Erfahrungen,<br />

doch meine Großeltern und<br />

mein Vater wurden entrechtet und ausgebürgert,<br />

und ich will auch für meine<br />

Kinder dieses Recht in Anspruch nehmen.<br />

Ich erlebe heute ein anderes Österreich<br />

als noch vor 20 Jahren, und dieses<br />

Europäische Identität. Auslöser für diesen<br />

Schritt war für den Generalsekretär des<br />

Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds<br />

letztlich ein Gespräch mit seinem<br />

Kollegen Benjamin Nägele, dem Generalsekretär<br />

der IKG.<br />

„Er fragte mich, wie ich mich heute<br />

diesbezüglich fühle. Nun, ich lebe das<br />

Schweizer Judentum jeden Tag, habe mich<br />

aber immer auch als Europäer gefühlt<br />

und der europäisch-jüdischen Geschichte<br />

verbunden. Durch eine EU-Staatsbürgerschaft<br />

werde ich auch Teil dieses europäischen<br />

Zusammenhalts, das war für mich<br />

ebenso ein entscheidender Trigger. Es bedeutet<br />

für mich auch zurück zu den Wurzeln,<br />

weil alle meine Urgroßeltern eigentlich<br />

Europäer waren. Ich bin sehr eng mit<br />

dem Schweizer Judentum und Israel verbunden,<br />

Hebräisch ist meine Muttersprache,<br />

aber meine Kernidentität ist eine<br />

europäisch-jüdische – schon auf Grund<br />

meines Familienhintergrunds.“<br />

Dieser bringt es mit sich, dass er im Gegensatz<br />

zu seiner Frau, die über Generationen<br />

und Jahrhunderte Wurzeln in der<br />

Schweiz hat, eigentlich kein typischer<br />

Schweizer Jude ist.<br />

„Meine beiden Kinder, die heute vier<br />

Jahre und wenige Monate alt sind, haben<br />

durch ihre Mutter eine Verbindung zu<br />

diesem urschweizerischen Judentum und<br />

bekommen durch mich jetzt eine Verbindung<br />

zum europäischen Judentum, das<br />

unser aller Werte, Kultur und Geschichte<br />

über Generationen geprägt hat, das ist<br />

mir auch als Historiker wichtig.“<br />

Materielle Forderungen, etwa in Hinblick<br />

auf eine Restitution, habe er nicht.<br />

Und wie lange dieser nunmehr eingeleitete<br />

Prozess zur Staatsbürgerschaft noch<br />

dauern kann, ist Jonathan Kreutner „eigentlich<br />

wurscht, solange diese späte<br />

Form der Gerechtigkeit umgesetzt wird“.<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

dezeber.indb 17 28.12.21 03:32


Design aus dem 3D-Drucker<br />

„JUDE ZU SEIN, IST EIN TEIL VON MIR“<br />

Geboren wird Nicolas Gold 1985 in<br />

Argentiniens drittgrößter Metropole,<br />

Rosario. Die Urgroßeltern<br />

waren aus Polen in das Land gekommen,<br />

die Großeltern und Eltern werden bereits<br />

in Argentinien geboren. Nicolas besucht<br />

die jüdische Gemeinde seiner Heimatstadt<br />

und „träumt von der Alija“. Mit<br />

16 Jahren geht er, vorerst allein, nach Israel.<br />

Aufgrund der anhaltend schwierigen wirtschaftlichen<br />

Situation in Argentinien ziehen<br />

bald die Eltern und Geschwister nach<br />

und leben noch heute in Nahariya.<br />

„Homebase“ Wien. 2008 beginnt Nicolas<br />

Gold mit dem Architekturstudium an<br />

der Tel Aviv University. Am Tag studiert<br />

er, abends arbeitet er als Grafikdesigner.<br />

Nach dem Abschluss seines Bachelorstudiums<br />

will der junge Architekt jedoch noch<br />

weiterlernen. „Also habe ich lange gesucht,<br />

wo auf der Welt ich mit meinem Interesse<br />

noch weiterstudieren kann, und kam auf<br />

den Masterstudiengang der Universität für<br />

angewandte Kunst in Wien bei Zaha Hadid.<br />

Da ich schon in Israel ein großer Bewunderer<br />

ihrer Arbeit war, habe ich hier dann von<br />

2014 bis 2017 den Master gemacht.“<br />

In Israel, wo Nicolas Gold 12 Jahre lang<br />

lebte, kam er nie wirklich an. „Es ist ein<br />

verrücktes Land, chaotisch, stressig.“ Dass<br />

Wien das absolute Gegenprogramm sein<br />

würde, war in den ersten Monaten auch<br />

nicht einfach. Die Stadt war für den jungen<br />

Designer, in dem bis heute das israelische<br />

Kreativfeuer brennt, „am Anfang<br />

viel zu langsam, und ich habe zum Beispiel<br />

nicht verstanden, dass ich abends<br />

nicht mehr einkaufen gehen kann. Aber<br />

wenn man den Rhythmus einmal kennt,<br />

lebt man gerne hier“, lacht Gold, der sich<br />

rasch in Wien verliebt, das für ihn heute<br />

die feste „Homebase“ ist, von der aus er seit<br />

einigen Jahren mit seinem Label „Sheyn.“<br />

mit großem Erfolg und in beachtlicher Geschwindigkeit<br />

expandiert.<br />

Nicolas Gold lebt seit sieben<br />

Jahren in Wien. Vor fünf<br />

Jahren hat er mit seinem Partner<br />

Markus Schaffer das Label<br />

„Sheyn.“ gegründet, seit<br />

einem knappen Jahr führen<br />

die beiden ihren eigenen Studio-Store<br />

in der Lerchenfelder<br />

Straße. Dass Gold in Wien gelandet<br />

ist, hat der in Argentinien<br />

geborene Architekt und<br />

Designer dem Studium zu verdanken.<br />

Dass daraus ein Erfolgskonzept<br />

mit spannender<br />

Zukunft entstehen würde, hat<br />

sich dann fast wie von selbst<br />

ergeben. Im Gespräch mit<br />

WINA hat Nicolas Gold über<br />

seinen Weg nach Wien erzählt<br />

und warum die Arbeit am 3D-<br />

Drucker nicht nur spannend,<br />

sondern auch ökologisch<br />

nachhaltig ist.<br />

Von Angela Heide<br />

„Für mich ist diese<br />

Mischung aus<br />

architektonischem<br />

Denken und Design<br />

ideal.“<br />

Nicolas Gold<br />

Perfekte Partnerschaft. Während des Studiums<br />

lernt Nicolas Gold den aus Graz kommenden<br />

Wirtschaftsinformatiker und IT-<br />

Consultant Markus Schaffer kennen. 2016<br />

lädt Gold seinen Freund ein, gemeinsam<br />

den Schritt in Richtung Selbstständigkeit<br />

zu machen. Die beiden gründen in diesem<br />

Jahr Sheyn<br />

– ein innovatives<br />

Designstudio,<br />

das sich zuerst<br />

auf Schmuck<br />

und bald schon<br />

auf Homeware<br />

aus dem 3D-Drucker<br />

spezialisiert.<br />

„Markus und ich wollten einen Namen finden,<br />

der in unseren beiden Sprachen funktioniert<br />

– und sheyn bedeutet sowohl im österreichischen<br />

Dialekt wie im Jiddischen<br />

,schön‘, das hat also perfekt gepasst.“<br />

In den ersten Jahren arbeiten beide auch<br />

noch in anderen Jobs, doch Sheyn wächst<br />

derart rasch, dass sich zuerst Nicolas und<br />

seit <strong>2021</strong> auch Markus vollzeitlich dem gemeinsamen<br />

Betrieb widmen.<br />

Design aus dem Drucker. Die ersten Objekte,<br />

die Nicolas Gold für den 3D-Drucker<br />

entwirft, sind Schmuckstücke, die bis heute<br />

vorwiegend in den Niederlanden produziert<br />

werden. Als er dann die Idee hat, einen<br />

eigenen kleinen 3D-Drucker zu kaufen, mit<br />

dem man selbst die Präsentationsobjekte<br />

herstellen kann, in denen der Schmuck auf<br />

Märkten und bei Händler:innen präsentiert<br />

werden soll, wissen die beiden Gründer<br />

noch nicht, dass sich mit dem Kauf ein<br />

ganz neuer kreativer Weg eröffnen wird.<br />

Die Maschine kann nämlich wesentlich<br />

mehr als erwartet, Markus Schaffer stellt<br />

sich neben seinem kaufmännischen auch<br />

als technisches Talent heraus – und statt<br />

einfach nur Präsentationsobjekte zu kreieren,<br />

beginnt Gold, Vasen für den Drucker<br />

zu designen. Die kommen derart gut<br />

bei den Kund:innen an, dass die beiden<br />

Gründer fast gänzlich auf die Produktion<br />

von Homeware umstellen. Heute bieten<br />

Nicolas Gold und Markus Schaffer mit<br />

Sheyn die Möglichkeit, aus elf Farben Vasen<br />

in unterschiedlichen Formen und<br />

Mustern in Auftrag zu geben:<br />

„Es gibt mehrere Texturen, also Oberflächenmuster,<br />

die ich alle digital entwerfe<br />

und die alle einen eigenen Namen<br />

haben. In Kombination mit der Form, die<br />

ich ebenfalls entwickle, ergibt sich etwa<br />

auch, wie groß eine Vase wird. Und zu jeder<br />

Textur gibt es eine ,Designfamilie‘ von<br />

verschiedenen Objekten.“<br />

© Berenice Pahl/Lebendige Lerchenfelder Straße; Sheyn.<br />

18 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 18 28.12.21 03:32


Israelisch-wienerische Symbiose<br />

© Berenice Pahl/Lebendige Lerchenfelder Straße; Sheyn.<br />

Eigenes Studio, eigener Store. 2020 folgt der<br />

nächste Schritt: Im November des Jahres<br />

eröffnen Gold und Schaffer ihren ersten eigenen<br />

Shop am Beginn der Lerchenfelder<br />

Straße, wo man sie fast täglich und stundenlang<br />

arbeiten sieht: die 19 3D-Drucker,<br />

die im ganzen Showroom verteilt<br />

die Wünsche der Käufer:innen erfüllen.<br />

Gearbeitet wird dabei mit den biologischen<br />

Kunststofffasern PLA, die in Fäden<br />

auf Spulen geliefert werden und sichtbar<br />

im hinteren Bereich des jungen Neubauer<br />

Designladens lagern.<br />

Da neben den ausgestellten Produkten<br />

fast jedes auch auf Wunsch produziert<br />

Sheyn in Wien:<br />

Ausblick ins<br />

Lerchenfeld;<br />

Nicolas Gold beim<br />

Begutachten einer<br />

seiner Vasen; einer<br />

von 19 3D-Druckern<br />

bei der Arbeit; das<br />

junge österreichisch-israelischargentinische<br />

Gründerduo im eigenen<br />

Studio-Store<br />

in der Lerchenfelder<br />

Straße.<br />

SHEYN.<br />

Studio & Shop<br />

Lerchenfelder<br />

Straße 7, 1070 Wien<br />

sheyn.at<br />

GOTTFRIED<br />

& SÖHNE<br />

Jewish Museum Shop<br />

Dorotheergasse 11,<br />

1010 Wien<br />

gottfriedundsoehne.com<br />

werden kann, ist der ökologische Fußabdruck<br />

des Unternehmens so minimal wie<br />

möglich: Es gibt weder lange Transportwege<br />

noch große Lager oder Überproduktion.<br />

„Dass wir kein Lager brauchen,<br />

empfinde ich als wesentlichen Vorteil“,<br />

erzählt Nicolas Gold. „Wir drucken nur,<br />

was die Menschen bestellen.“<br />

Eine Vase von Sheyn braucht dabei<br />

je nach Muster und Design beeindruckende<br />

drei bis neun Stunden. Und wem<br />

das dann doch mal zu langsam geht, der<br />

findet im Lerchenfelder Store mit Sicherheit<br />

auch ganz spontan Schönes fürs Eigenheim<br />

oder zum Verschenken.<br />

Alles bei Sheyn ist klug durchdacht.<br />

Auch die Partnerschaften, die Gold und<br />

Schaffer bald schon aufzubauen beginnen.<br />

Die längste und bis heute intensivste<br />

ist mit dem im Jüdischen Museum beheimateten<br />

Designstore Gottfried & Söhne.<br />

Gold erzählt: „Das Konzept von Elisabeth<br />

M. Gottfried, Produkte von israelischen beziehungsweise<br />

jüdischen Designer:innen<br />

zu verkaufen, hat perfekt zu dem gepasst,<br />

was wir tun. Wir verkaufen dort seit der<br />

Eröffnung und bis heute und sind sehr<br />

dankbar, dass sie uns von Beginn an in ihr<br />

Sortiment aufgenommen hat.“<br />

Und so kann es auch schon mal passieren,<br />

dass eine Kundin vorbeischaut, weil<br />

sie ein Stück im Jüdischen Museum entdeckt<br />

hat, das sie gerne in einer anderen<br />

Farbe hätte. Und es gibt sogar „Kunden,<br />

die immer wieder kommen und eine bestimmte<br />

Vase in verschiedenen Farben<br />

kaufen. Das Konzept, eine Vase nur für<br />

jemanden zu produzieren, der sie wirklich<br />

haben will, ist eines, das auch bei unseren<br />

Käufern sehr gut ankommt.“<br />

Mitten im Lockdown des letzten November<br />

ein Geschäft zu eröffnen, war ein<br />

mutiger Schritt. Bis jetzt ist alles mehr als<br />

gut gegangen. Im multifunktionalen kleinen<br />

Wiener Studio-Shop wird gemeinsam<br />

kreiert, geplant, konzipiert, entworfen,<br />

programmiert, produziert, verkauft<br />

und expandiert. Es ist schön, freut sich<br />

Gold, den in den letzten Jahren aufgebauten<br />

und stetig wachsenden Stock an<br />

Kund:innen nun auch persönlich im eigenen<br />

Geschäft empfangen und beraten zu<br />

können. „Sie können bestellen und dann<br />

vorbeikommen, um das nur für sie hergestellte<br />

Objekt abzuholen. Es existiert nur<br />

für sie.“<br />

Auch wenn es zu Beginn schwer war,<br />

sich an die Wiener Langsamkeit zu gewöhnen<br />

und in der jüdischen Community<br />

dieser Stadt seinen Platz zu finden:<br />

Nicolas Gold ist heute in Wien angekommen<br />

und hat ein großes und vielfältiges<br />

Netzwerk aufgebaut, zu dem unter anderen<br />

auch der Kibbutz Klub zählt, „wo<br />

israelische und jüdische Musik gespielt<br />

wird und wo ich Menschen kennenlerne,<br />

die eine ähnliche Art von Verbindung mit<br />

dem Judentum haben wie ich.“<br />

Für die nahe Zukunft heißt es also für<br />

Nicolas Gold und seinen Partner Markus<br />

Schaffer: „Wir wollen neue Produkte entwickeln<br />

und neue Märkte entdecken.“<br />

Und das von der traditionellen Wiener<br />

Lerchenfelder Straße aus.<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

dezeber.indb 19 28.12.21 03:32


Jüdisches Slowenien<br />

Eine Synagoge<br />

für Ljubljana<br />

„In Slowenien<br />

sind Schächten<br />

und Brit<br />

Mila untersagt,<br />

daher<br />

können wir als<br />

Möglichkeit<br />

diese traditionellen<br />

Riten<br />

in Graz oder<br />

Triest anbieten.“<br />

Elie Rosen<br />

Dank der Initiative des Präsidenten<br />

der Jüdischen Gemeinde Graz, Elie<br />

Rosen, wurde in der Hauptstadt<br />

Sloweniens eine Synagoge eröffnet,<br />

um auch in Zukunft aktives jüdisches<br />

Leben zu ermöglichen.<br />

Von Viola Heilman<br />

schen für das jüdische historische Erbe<br />

Sloweniens. Vor allem israelische Touristen<br />

besuchen Slowenien<br />

auf den Spuren jüdischen<br />

Lebens.<br />

Rabbi Ariel Haddad<br />

wurde 1993 Rabbiner in<br />

Triest und besuchte seit<br />

dem Jahr 2000 regelmäßig<br />

auch die kleine Gemeinde<br />

in Ljubljana. Einmal, als er<br />

vor Pessach zur örtlichen<br />

Gemeinde kam, wurde er<br />

eingeladen, den vielleicht<br />

ersten Seder in Slowenien<br />

seit dem Krieg zu halten.<br />

„Sowohl in Triest wie<br />

auch in Ljubljana leidet<br />

die Gemeindearbeit unter<br />

denselben Problemen:<br />

die Überalterung der Mitglieder<br />

und das Desinteresse<br />

junger Juden. Obwohl<br />

Triest seit über 500 Jahren eine jüdische<br />

Gemeinde hat, wird es immer schwerer,<br />

die Mitglieder zu jüdischem Gemeindeleben<br />

zu motivieren.“ Der große Wunsch<br />

der kleinen jüdischen Gemeinde in Slowenien,<br />

jüdische Kultur wieder aufleben<br />

zu lassen, hat bewirkt, dass der in Rom geborene<br />

Rabbi Haddad 2003 Rabbiner von<br />

Slowenien wurde. Auf den ersten Blick ist<br />

Rabbi Haddad eine seltsam widersprüch-<br />

Schon im 5. Jahrhundert n.u.Z.<br />

gab es in Slowenien jüdische<br />

Siedlungen, die hauptsächlich<br />

in und um Maribor lagen.<br />

Die erste Synagoge in Ljubljana<br />

wird 1213 erwähnt, als es Juden erlaubt<br />

wurde, das linke Ufer des Flusses Ljubljanica<br />

zu besiedeln. Noch heute erinnern<br />

Straßennamen aus dieser Zeit. Der slowenische<br />

Name Ljubljana wird als „geliebte<br />

Stadt“ übersetzt, obwohl es auch<br />

die weniger romantische Erklärung gibt,<br />

wonach die Stadt nach dem lateinischen<br />

Flussnamen Aluviana benannt wurde. Im<br />

deutschsprachigen Raum blieb auch der<br />

historische deutsche Name<br />

Laibach aus dem 12. Jahrhundert<br />

erhalten.<br />

Obwohl in Slowenien<br />

nie mehr als 1.000 Juden<br />

lebten, unterscheidet sich<br />

ihre Geschichte über die<br />

Jahrhunderte nicht von<br />

der, die Juden in ganz Europa<br />

erleben mussten. Antisemitismus,<br />

Vertreibung<br />

und Tötung zeichnen das<br />

traurige Bild auch dieser<br />

jüdischen Gemeinde. Ab<br />

1945 gab es immer wieder<br />

Versuche, jüdisches Leben<br />

in Slowenien auszubauen,<br />

es scheiterte aber immer<br />

wieder am Geldmangel.<br />

Diese zarten Versuche einer<br />

Wiederbelebung jüdischen<br />

Lebens wurden brutal durch den<br />

Bürgerkrieg 1991 vernichtet. Jüdische Sehenswürdigkeiten,<br />

Synagogen und Gedenkstätten<br />

wurden zerstört, jüdische<br />

Menschen flüchteten nach Italien.<br />

Trotz des schmerzvollen Rückschlags<br />

errichteten slowenischen Juden 1991 ein<br />

winziges jüdisches Gemeindezentrum in<br />

einem Tabakgebäude in Ljubljana. Seitdem<br />

interessieren sich immer mehr Menliche<br />

Ergänzung slowenisch-jüdischer<br />

Kultur. Juden von Ljubljana sind mehrheitlich<br />

säkular, ihre Verbindung zur<br />

strengen Orthodoxie ist seit Langem nicht<br />

mehr vorhanden. „In Slowenien hat die<br />

politische Geschichte viel verhindert“, erklärt<br />

der Rabbiner. Ariel Haddad ist ein<br />

Chabadnik, ein Absolvent einer New Yorker<br />

Jeschiwa mit schwarzem Hut und einem<br />

langen, struppigen Bart, den er beim<br />

Denken streichelt. Er wohnt mit seiner<br />

Frau, sieben Söhnen und einer Tochter<br />

in Triest, ist Mitglied der Lubawitscher<br />

chassidischen Schule und glaubt fest daran,<br />

dass „mit einer Thoraschule jede jüdische<br />

Gemeinde blühen kann“. Haddad<br />

ist es wichtig, jüdische Tradition und Religion<br />

für alle zugänglich zu machen. „Eine<br />

g-ttliche Fügung hat mich mit Präsident<br />

Elie Rosen zusammengebracht“, erklärt<br />

der 54-jährige Rabbiner.<br />

© wikimedia; Eli Rosen<br />

20 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 20 28.12.21 03:32


Internationaler Verband<br />

Rabbi Ariel Haddad,<br />

Präsident Elie Rosen sowie<br />

internationale Vertreter aus<br />

Politik, Religion und Gesellschaft<br />

kamen zur Eröffnung der neuen<br />

Synagoge des Verbandes der<br />

jüdischen Gemeinden von Graz<br />

und Laibach.<br />

© wikimedia; Eli Rosen<br />

Die Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinden<br />

Ljubljana und Graz kann auf<br />

eine fast zwei Jahrhunderte alte Vergangenheit<br />

blicken. Die historischen Wurzeln<br />

gehen bis in das Jahr 1880 zurück, und bis<br />

heute verwahrt die Grazer Gemeinde alle<br />

wichtigen Dokumente für die Gemeinden<br />

in Slowenien. Auch die Standesregister<br />

der Juden Ljubljanas werden bis heute im<br />

Archiv der Jüdischen Gemeinde Graz aufbewahrt.<br />

„Als ich vor einem Jahr feststellen<br />

musste, dass das kleine Büro der jüdischen<br />

Gemeinde in Ljubljana nicht mehr<br />

existierte, wollte ich diesen Zustand nicht<br />

auf sich beruhen lassen, und so planten<br />

wir gemeinsam mit Rabbiner Haddad den<br />

Neubau der jetzt eröffneten Synagoge.“<br />

Im August <strong>2021</strong> wurde auf Initiative von<br />

Elie Rosen der Verband der jüdischen Gemeinden<br />

Graz und Ljubljana begründet.<br />

„Diese grenzüberschreitende Koopera-<br />

tion ist einzigartig für Europa und bietet<br />

beiden Gemeinden und ihren Mitgliedern<br />

die Möglichkeit der Erhaltung und Entfaltung<br />

jüdischer Werte sowie der Entwicklung<br />

jüdischen religiösen Lebens und der<br />

Bekämpfung des Antisemitismus“, erläutert<br />

Präsident Rosen den neuen Zusammenschluss.<br />

Am 9. November <strong>2021</strong> wurde mit einem<br />

Festakt die Synagoge des Verbandes der Jüdischen<br />

Gemeinden von Graz und Laibach<br />

eröffnet. Das 220 Quadratmeter große<br />

Bethaus liegt in einem Wohnhaus im Zentrum<br />

der slowenischen Hauptstadt. Präsident<br />

Elie Rosen und die Jüdische Gemeinde<br />

Graz werden die Administration<br />

der Jüdischen Gemeinde Sloweniens weiterhin<br />

mitbetreuen. „In Slowenien sind<br />

Schächten und Brit Mila untersagt, daher<br />

können wir als Möglichkeit diese traditionellen<br />

Riten in Graz oder Triest anbieten.“<br />

Rabbi Ariel Haddad bewundert die<br />

Initiative von Präsident Elie Rosen, dieses<br />

Thema auch bei der slowenischen Regierung<br />

bereits zur Sprache gebracht zu<br />

haben. „Slowenien ist das einzige Land in<br />

Europa, dass diese jüdischen Traditionen<br />

verbietet“, erklärt Elie Rosen.<br />

Erst durch die einzigartige Gründung<br />

des offiziellen Verbandes zwischen den<br />

beiden Gemeinden im Jahr <strong>2021</strong> war eine<br />

Durchführung des Synagogenbaus möglich.<br />

„Wir mussten nicht sehr viel renovieren<br />

und haben mit österreichischen<br />

Firmen in wenigen Monaten das Bethaus<br />

fertig gestellt.“ Anlässlich der Eröffnung<br />

hob Moshe Kantor, Präsident des European<br />

Jewish Congress, in seiner Rede die<br />

wertvolle Arbeit und den Einsatz beider<br />

Gemeinden hervor, die jüdisches Leben in<br />

Slowenien weiterbeleben werden.<br />

Das Datum für die Eröffnung am 9. November,<br />

dem Gedenktag der Novemberpogrome,<br />

wurde bewusst gewählt. Zur feierlichen<br />

Zeremonie kamen der slowenische<br />

Staatspräsident, Borut Pahor, der Erzbischof<br />

der katholischen Kirche, Stane Zore,<br />

der Mufti von Slowenien, Nevzet Pori ,<br />

und zahlreiche weitere hochrangige internationale<br />

Vertreter:innen aus Politik,<br />

Religion und Gesellschaft, darunter auch<br />

die österreichische Botschafterin Elisabeth<br />

Ellision-Kramer.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

dezeber.indb 21 28.12.21 03:32


06<br />

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Sie über uns<br />

Bei WINA denke ich an ein sehr gut gemachtes Journal, das<br />

Informatives gut lesbar und scheinbar leichtfüßig präsentiert.<br />

Wie schon oben geschrieben, gefällt mir vor allem die Art der<br />

Präsentation, wie zum Beispiel die Ausgewogenheit von Bild<br />

und Text. Tipp an einen Freund, eine Freundin: Wenn du eine<br />

gut gemachte Zeitung lesen möchtest, schau dir mal WINA<br />

an. Herzliche Gratulation zum Zehnjährigen!<br />

Stefan Fleischhacker, Sänger, Theater L.E.O.<br />

Es gibt viele Arten,<br />

jüdisch zu sein –<br />

WINA bildet diese<br />

Vielfalt jüdischen<br />

Lebens in unnachahmlicher<br />

Art und<br />

Weise ab. Auch die<br />

Themenvielfalt<br />

beeindruckt mich<br />

immer wieder. Sie<br />

reicht von Historischem<br />

wie z. B.<br />

der Beitrag über<br />

den legendären<br />

Bürgermeister von<br />

New York, LaGuardia,<br />

über Hightech-<br />

Entwicklungen in<br />

Israel bis hin zu<br />

aktuellen Opernund<br />

Theaterinszenierungen<br />

und<br />

Ausstellungen wie<br />

z. B. im Museum<br />

der verlorenen<br />

Generation in Salzburg.<br />

Und Paprikasch<br />

ist immer ein<br />

Genuss! Ich freue<br />

mich auf viele weitere<br />

Ausgaben.<br />

Dr. Dwora Stein<br />

Aufsichtsratsvorsitzende<br />

des Jüdischen<br />

Museums Wien<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

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DIE KUNTERBUNTE<br />

KOALITION<br />

Israels Regierung besteht aus<br />

acht Koalitionsparteien – ein<br />

Spagat der besonderen Art<br />

SOMMERFRISCHE EXZEN-<br />

TRIK AM SEMMERING<br />

Mit WOLFGANG KOS durch eine<br />

eine Landschaft, die im heurigen<br />

Sommer wieder unter der Intendanz von<br />

FLORIAN KRUMPÖCK bespielt wird<br />

KEIN BISSCHEN LEISE<br />

ist GEORG STEFAN TROLLER der<br />

vor 99 Jahren in Wien geboren wurde<br />

und hier keine Heimat mehr fand<br />

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FÜR BOBOS<br />

Die Autorin NOA YEDLI porträtiert in<br />

ihrem Roman Leute wie wir die israelische<br />

Forty-Something-Generation<br />

WINA ist eine Erfolgsgeschichte!<br />

Das jüdische Stadtmagazin ist ein<br />

Medium, das unterschiedlichste<br />

Themen aus jüdischer Perspektive<br />

auf bemerkenswerte Art und Weise<br />

behandelt, ob Kulturelles, Religiöses<br />

oder auch Kontroversielles, immer<br />

bestens recherchiert, differenziert,<br />

mit Substanz und Tiefgang.<br />

WINA ist ein Magazin, das vor allem<br />

in dieser Qualität im deutschsprachigen<br />

Raum gefehlt hat.<br />

Masel tov dem gesamten WINA-<br />

Team, das seit zehn Jahren Monat<br />

für Monat so tolle Arbeit leistet.<br />

Oskar Deutsch, Präsident der IKG Wien<br />

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DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

#4, Jg. 8 | April 2019 | Nissan 5779 | € 4,90 | <strong>wina</strong>-magazin.at<br />

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DIE MISSION DES US-RABBINERS<br />

MARC SCHNEIER AM GOLF<br />

WIR DÜRFEN ES!<br />

DIE JEWISH MONKEYS BRINGEN<br />

BEISSENDE SELBSTIRONIE AUS ISRAEL<br />

DIE SUCHE NACH ANTWORTEN<br />

NATIONALRATSPRÄSIDENT WOLFGANG SOBOTKA<br />

ZUR NEUEN ANTISEMITISMUS-STUDIE<br />

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#8/9, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

STOLZ & DEMÜTIG<br />

Während des Jahres vertritt<br />

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Betende vor dem Höchsten Gericht<br />

Kritisch, jüdisch, klangvoll –<br />

mit Jedermanns Juden,<br />

Bariton BENJAMIN BERNHEIM<br />

und Regisseur JOSSI WIELER<br />

SIE KAMEN,<br />

UM ZU TÖTEN<br />

40 Jahre nach dem Attentat<br />

beim Wiener Stadt tempel am<br />

29. August 1981 erinnern sich<br />

Helden und Überlebende<br />

zurück<br />

GIBT ES SIE?<br />

Über die radikale Szene in<br />

Österreich und Auswege aus ihr<br />

spricht Islamismus forscher und<br />

Deradikalisierungs experte MOUSSA<br />

AL-HASSAN DIAW im Interview<br />

NICHT SCHWEIGEN,<br />

wenn Unrecht geschieht! EVA<br />

GEBER erhält den Theodor-Kramer-<br />

Preis und spricht über Frauenrechte,<br />

Klimakrise und Flüchtlingsarbeit<br />

WINA – die Zierde<br />

unseres Couchtisches<br />

und meine<br />

wöchentliche<br />

Schabbes-Lektüre.<br />

WINA – kann alles.<br />

Es ist bunt, frech,<br />

informativ, ästhetisch<br />

ansprechend.<br />

Macht beschwingt<br />

und fröhlich, traurig<br />

und nachdenklich<br />

und präsentiert<br />

die Vielfältigkeit<br />

des Judentums:<br />

kulturell, politisch,<br />

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WINA – hat ein<br />

einziges Manko:<br />

Die Zeitschrift erscheint<br />

nur einmal<br />

pro Monat.<br />

Schulamit Meixner,<br />

Schriftstellerin<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

LEBEN MIT<br />

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Künstler und Unternehmer<br />

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WIE ERINNERN?<br />

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Ged<br />

in Israel trotz<br />

22 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 22 28.12.21 03:32


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Mai <strong>2021</strong><br />

Iyar/Siwan 5781<br />

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Best-of<br />

Die schönsten Covers<br />

2011 bis <strong>2021</strong><br />

Liebes WINA-Team!<br />

Herzliche Gratulation zu zehn Jahren<br />

Einblick und sachlich-unaufgeregten<br />

Hintergrund zur Vielfalt des Lebens<br />

in Wien – eine leise Wohltat im<br />

Kreischen des Informationslärms!<br />

Liebe Grüße,<br />

Bernhard Fleischmann, Musiker<br />

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„NACH CORONA<br />

IST NIE“<br />

Psychologin STEFANIE HÖHL<br />

über die Auswirkungen der<br />

Pandemie auf unsere Kinder<br />

EINE GLOBALE<br />

HERAUSFORDERUNG<br />

für die Gesellschaft – Theologin<br />

REGINA POLLAK zur Aktualität<br />

und Kontinuität von Antisemitismus<br />

PERSONIFIZIERTER<br />

WIDERSTAND<br />

JOHANNES KRISCH ist bereit<br />

für den Bockerer und freut sich mit<br />

Partnerin LARISSA FUCHS auf<br />

eine Theaterwelt nach Corona<br />

GLÜCKSLIEFERANT<br />

ROYI SCHWARTZ über bewusstseinserweiterndes<br />

Streetfood und<br />

Sterneküche als Henkersmahlzeit<br />

Liebe Kollegen, ich gratuliere sehr<br />

herzlich zum 10-Jahres-Jubiläum.<br />

WINA ist immer ein korrektes Spiegelbild<br />

des komplexen internationalen<br />

Judentums, immer voll mit neuen<br />

Informationen und Anregungen.<br />

Nur so weiter! Herzlich,<br />

Prof. Paul Lendvai, Publizist<br />

DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

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offen<br />

VON ZEIT ZU ZEIT<br />

Warum die Zeit mit zunehmendem<br />

Alter zu rasen beginnt<br />

und wie wir sie anhalten<br />

WAS SIE SICH<br />

MITNEHMEN?<br />

Eine Sprachsoziologin,<br />

eine Bloggerin & ein Rabbiner:<br />

Antworten auf virulente Fragen<br />

CORONA?<br />

EIN PICKNICK!<br />

Gedenken und feiern<br />

in Israel trotz Social Distancing<br />

KAMPF GEGEN<br />

•<br />

Ein Blick in das Regierungsprogramm von Antisemitismus<br />

Türkis-Grün<br />

•<br />

Der Verein erinnern.at und die AG „Frauen im Exil“ Vergessen<br />

sammeln<br />

Erinnerungen und lassen die NS-Verbrechen nicht vergessen<br />

• Radikalisierung<br />

Jugendanwalt Ercan Nik Nafs’ Arbeit für eine wirksame Integration<br />

10 Jahre <strong>wina</strong><br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenste teng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

und immer noch kein bisschen leise. Danke an unsere Leserinnen<br />

und Leser für die Treue, für die herzerwärmenden Glückwünsche<br />

und für die große Portion Motivation, um die nächsten zehn Jahre<br />

weiterzumachen.<br />

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DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

#10, Jg. 8 | Oktober 2019 | Elul 5780 | € 4,90 | <strong>wina</strong>-magazin.at<br />

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#10, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

Bini Guttmann – IST PRÄSIDENT<br />

der European Union of Jewish Students und spricht<br />

über die Situation junger Juden in Europa.<br />

Benjamin Nägele – IST NEUER GENERALSEKRETÄR<br />

für jüdische Angelegenheiten in der IKG Wien und erzählt<br />

über Brüssel, Wien, das jüdische Leben und seine Ziele.<br />

Itay Tiran – IST SCHAUSPIELER UND REGISSEUR<br />

und fühlt sich stets als Mittelsmann. Nun debütierte der Israeli mit<br />

Vögel von Wajdi Mouawad in vier Sprachen am Akademietheater.<br />

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RAKETEN, SOCIAL<br />

MEDIA UND<br />

APFELSTRUDEL<br />

Israel unter Beschuss:<br />

Berichte und Analysen<br />

NORMALES LEBEN<br />

NACH DER IMPFUNG<br />

Pfizer: Ein jüdischer und ein<br />

muslimischer Migrant in den USA<br />

wollen gemeinsam die Welt retten.<br />

ISRAELS<br />

WUNDERFRAUEN<br />

Ein eigenes Museum rückt Heldinnen<br />

und Gründerinnen des Staates<br />

ins Ramenpenlicht<br />

SHTISEL-MANIA<br />

Eine orthodoxe Familie erobert die<br />

Streaming-Welt – mit Charme, Tam<br />

und Suchtfaktor<br />

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GRAUEN NEU<br />

EINGEORDNET<br />

Vorbei die Opferthese –<br />

die neue österreichische Länderausstellung<br />

in der KZ-Gedenkstätte<br />

Auschwitz-Birkenau<br />

9 120001 135738<br />

VERLORENE &<br />

VERGESSENE GENERATION<br />

Kunstwerke vertriebener und ermordeter<br />

jüdischer Künstler:innen in Salzburg<br />

WIE WEIBLICH IST<br />

DER HERR<br />

Über G’ttes weibliche Seite spricht<br />

Kuratorin FELICITAS HEIMANN-JELINEK<br />

FREUD UND EIN<br />

AMERIKANER IN WIEN<br />

Autor ANDREW NAGORSKI über<br />

Sigmund Freuds Flucht nach England<br />

TANZ DER<br />

EINSAMKEITEN<br />

Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie –<br />

Gespräch mit SUSANNE F. WOLF<br />

WINA ist für mich die gut gemachte,<br />

regelmäßige Erinnerung daran, dass<br />

ein selbstbewusstes, kritisches Wiener<br />

Judentum konstitutiv für ein<br />

weltoffenes Wien ist. Ich freue mich<br />

immer darauf und lese es gern.<br />

Liebe Grüße,<br />

Dr. Andreas Mailath-Pokorny, Rektor der<br />

Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W /<br />

JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

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AL-HASSAN DIAW im Interview<br />

NICHT SCHWEIGEN,<br />

wenn Unrecht geschieht! EVA<br />

GEBER erhält den Theodor-Kramer-<br />

Preis und spricht über Frauenrechte,<br />

Klimakrise und Flüchtlingsarbeit<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

Bleiben<br />

wir zu<br />

Hause.<br />

Achten wir aufeinander!<br />

„Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst<br />

entsteht eine innere Kraft. Die Welt ‚endet‘,<br />

aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind,<br />

entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.“<br />

Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

dezeber.indb 23 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

Daniela<br />

Schuster<br />

Schmökern<br />

und Schlemmen<br />

Die jüdische Küche trägt – wie kaum<br />

eine andere – die Geschichte ihres<br />

Volkes in sich. Und so ist auch dieses Jubiläumsmenü<br />

mehr als eine Zusammenstellung<br />

von schön verpackten Kalorien,<br />

um die Familie an einer festlich gedeckten<br />

Tafel zu verwöhnen. Unsere vier Gänge<br />

versammeln all das auf den Tellern, was<br />

seit der Gründung vor zehn Jahre die Zutaten<br />

für das Erfolgsrezept von WINA sind<br />

und nach dem die Redaktion jede Ausgabe<br />

geschmack- und liebevoll für Sie „zubereitet“:<br />

Wien als Ausgangspunkt und Anker,<br />

Inspirationen für das Leben einer vielfältigen,<br />

jüdisch-urbanen Kultur,<br />

Nachhaltigkeit im (Re)Agieren, auch wenn<br />

es nicht immer bequem ist, und der<br />

Anspruch, auch einmal über den Tellerrand<br />

hinauszuschauen.<br />

24 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

VORSPEISE<br />

Tafelspitzsalat<br />

mit grünem Apfel<br />

Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />

Für den Tafelspitz:<br />

800 g Tafelspitz vom heimischen<br />

Biorind<br />

2 Lorbeerblätter<br />

10 schwarze Pfefferkörner<br />

5 Wacholderbeeren<br />

1 Bund Suppengemüse<br />

Salz<br />

Für den Salat:<br />

1 großer grüner Apfel<br />

2 mittelgroße rote Zwiebeln<br />

Saft einer halben Zitrone<br />

40 g Kürbiskerne<br />

1 Bund Schnittlauch<br />

Für die Vinaigrette:<br />

6 EL koscherer Aceto-Balsamico (bestellbar:<br />

balsamico.shop/de/koscher-balsamico)<br />

Salz, Pfeffer<br />

5 EL Kürbiskernöl<br />

Wir<br />

wünschen Ihnen<br />

viel Vergnügen beim Nachlesen<br />

der Highlights aus zehn Jahren<br />

WINA und natürlich beim Nachkochen!<br />

Auch die Redaktion wird das Menü zum<br />

Jubiläum von WINA, genießen – aufgrund der<br />

Covid-19-Bestimmungen zwar nicht zusammen,<br />

aber doch gemeinsam im Geiste.<br />

Wir würden uns freuen, wenn auch Sie beim<br />

Genuss von Tafelspitzsalat und Co. im Herzen<br />

bei unserem Festmahl dabei sind und mit<br />

uns feiern!<br />

Zubereitung<br />

1. Für den Tafelspitz in einem großen Topf<br />

drei Liter mit den Gewürzen aufkochen.<br />

Fleisch in das kochende Wasser einlegen<br />

und ca. 1,5 Stunden bei schwacher Hitze<br />

köcheln lassen. Von Zeit zu Zeit den entstehenden<br />

Schaum vom Sud abschöpfen.<br />

2. Suppengemüse putzen, waschen und<br />

ggf. schälen, klein schneiden und zum<br />

Sud geben. Nach einer weiteren Stunde<br />

Köcheln das gare Fleisch herausnehmen.<br />

Nach dem Abkühlen in hauchdünne<br />

Scheiben schneiden. Die Brühe in ein Einmachglas<br />

füllen und im Kühlschrank aufbewahren,<br />

sie ergibt eine schöne Suppengrundlage<br />

für die nächsten Tage.<br />

3. Für die Vinaigrette den Balsamico-Essig<br />

mit Salz und Pfeffer verrühren. Kürbiskernöl<br />

nach und nach unterschlagen.<br />

4. Die Tafelspitzscheiben mit der Kürbiskernöl-Vinaigrette<br />

vermengen und mindestens<br />

30 Minuten marinieren.<br />

5. In der Zwischenzeit die Zwiebeln schälen<br />

und in sehr dünne Ringe schneiden.<br />

Den Apfel waschen, entkernen und feinblättrig<br />

aufschneiden. Damit die<br />

Apfelblätter nicht braun werden,<br />

sofort mit dem Zitronensaft beträufeln.<br />

6. Die Zwiebel, Apfelstreifen und<br />

das marinierte Fleisch mischen.<br />

7. Die Kürbiskerne in einer<br />

Pfanne ohne Fett rösten. Nach<br />

dem Abkühlen grob hacken. Den<br />

Schnittlauch waschen, mit Küchenkrepp<br />

trocken tupfen und<br />

in feine Röllchen scheiden.<br />

8. Den Tafelspitzsalat vor dem<br />

Servieren noch mit Salz, Pfeffer<br />

und ggf. zusätzlichem Aceto abschmecken<br />

sowie mit den Kürbiskernen<br />

und dem Schnittlauch<br />

bestreuen.<br />

dezeber.indb 24 28.12.21 03:32


10 Jahre, 4 Gänge, 1 Jubiläumsmenü:<br />

Im <strong>Dezember</strong> kommt WINA gleich doppelt auf<br />

Ihren Tisch – als Feierausgabe und als Festtagsmahl.<br />

ZWISCHENGANG<br />

Rote-Rüben-Suppe<br />

mit Kokos<br />

Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />

900 g rote Rüben (rote Bete)<br />

3 mittelgroße reife Birnen<br />

1 große rote Zwiebel<br />

50 g Ingwer<br />

150 g Knollensellerie<br />

3 EL Olivenöl<br />

600 ml Gemüsebrühe<br />

600 ml ungesüßte Kokosmilch<br />

60 g Kokosraspeln<br />

2 TL gemahlener Zimt<br />

Salz, Pfeffer<br />

Zubereitung<br />

1. Die Roten Rüben und die Birnen waschen<br />

und in kleine Würfel schneiden. Tipp: Einmalhandschuhe<br />

schützen die Hände vor<br />

dem stark färbenden Saft der Bete. Die<br />

Hälfte der Birnenwürfel für das spätere Topping<br />

der Suppe zur Seite stellen.<br />

2. Zwiebel, Sellerie und Ingwer schälen und<br />

fein würfeln.<br />

3. Olivenöl in einem Topf erhitzen. Zwiebelund<br />

Ingwerwürfel darin bei mittlerer Hitze<br />

3 bis 4 Minuten dünsten.<br />

4. Rote Rüben, Sellerie und die eine Hälfte<br />

der Birnen zur Zwiebel-Ingwer-Mischung<br />

geben. Kurz dünsten, dann mit der Gemüsebrühe<br />

ablöschen.<br />

5. Die Suppe 30 Minuten bei mittlerer Hitze<br />

köcheln lassen.<br />

6. In der Zwischenzeit Kokosraspeln in einer<br />

Pfanne ohne Öl bei mittlerer Hitze unter<br />

Rühren anrösten, bis sie goldbraun sind. Aus<br />

der Pfanne nehmen und abkühlen lassen.<br />

7. Nach Ablauf der Kochzeit die Suppe fein<br />

pürieren, anschließend die Kokosmilch<br />

unterrühren. Mit Salz, Pfeffer und Zimt abschmecken.<br />

8. Die Suppe auf Schälchen verteilen und<br />

mit dem Rest der Birnenwürfeln und den<br />

Kokosraspeln bestreut servieren.<br />

HAUPTSPEISE<br />

Portwein-Rippchen<br />

mit Chicorée und Feigen<br />

Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />

1,2 kg Rippchen vom heimischen Biorind<br />

3 große Feigen<br />

3 Chicorée<br />

900 ml koscherer Portwein<br />

1,5 TL zerstoßener Pfeffer<br />

2 TL Rapsöl<br />

2 EL gehackte Mandeln<br />

Salz, Zucker<br />

Zubereitung<br />

1. Das Backrohr auf 180 °C (Ober- und Unterhitze)<br />

vorheizen.<br />

2. Die Rippchen für zwei Stunden im Rohr<br />

schmoren lassen. Danach herausnehmen<br />

und etwas abkühlen lassen. Das Fleisch vom<br />

Knochen lösen und in zirka drei Zentimeter<br />

große Würfel schneiden.<br />

3. Die Feigen und den Chicorée waschen,<br />

trocken tupfen und vierteln.<br />

4. Den Portwein gemeinsam mit dem zerstoßenen<br />

Pfeffer in einen Topf geben. Bei mittlerer<br />

Hitze so weit reduzieren lassen, bis der<br />

Portwein Sirupkonsistenz hat.<br />

5. In einer Pfanne etwas Öl erhitzen. Zunächst<br />

die Mandel daran anrösten und wieder<br />

herausnehmen. Ggf. etwas Öl nachgießen,<br />

dann den Chicorée hinzugeben, leicht<br />

salzen und zuckern. Solange schmoren, bis<br />

der Chicorée von allen Seiten karamellisiert<br />

ist.<br />

6. Braten Sie die Fleischwürfel nochmal<br />

scharf an, bis sie schön braun sind.<br />

7. Zum Servieren das Fleisch mit Chicorée,<br />

Feigen und den gerösteten Mandeln anrichten<br />

und mit der Portwein-Reduktion übergießen.<br />

8. Tipp: Für sehr hungrige Gäste passt dazu<br />

ein Erdäpfel-Sellerie-Püree. Dafür die Milch<br />

und Butter durch vegane Alternativen ersetzen.<br />

DESSERT<br />

Birnen-Gin-Sorbet mit<br />

Ingwerstreuseln und<br />

Sabayon<br />

Zutaten für 4 bis 6 Personen<br />

Für das Sorbet:<br />

1 kg Birnen (Sorte Abate)<br />

60 g Zucker<br />

2 El Zitronensaft<br />

3 EL Crème fraîche (vegan, z. B. Creme vega)<br />

6 cl Gin<br />

1 Prise Salz<br />

Für die Ingwerstreusel:<br />

1 EL frisch geriebener Ingwer<br />

50 g Butter (vegan, z. B. Mandelbutter)<br />

100 g Mehl<br />

1 EL Zucker, 1 Prise Salz<br />

Für das Sabayon:<br />

4 Eigelb (M)<br />

40 g Staubzucker<br />

80 ml koscherer<br />

trockener Weißwein<br />

Zubereitung<br />

1. Für das Sorbet die Birnen schälen, das Kerngehäuse<br />

entfernen und klein würfeln. Mit dem Zucker<br />

und Zitronensaft vermischen und in einem<br />

Topf kochen, bis die Birnen weich sind.<br />

2. Die Birnen pürieren und die Masse ggf. mehrmals<br />

durch ein Sieb streichen, sodass keine<br />

Stückchen bleiben. Mus gut abkühlen lassen.<br />

3. Mit der Crème fraîche und dem Salz vermischen.<br />

Den Gin zugeben und in einer Eismaschine<br />

über 60 Minuten zu einem cremigen<br />

Sorbet gefrieren, anschließend für drei Stunden<br />

ins Gefrierfach geben. Wer keine Eismaschine<br />

hat, gibt die Masse in einer Box am besten<br />

über Nacht in den Tiefkühler. In der ersten<br />

Stunde alle 5 Minute durchrühren.<br />

4. Für die Ingwerstreusel alle Zutaten von Hand,<br />

mit Knethaken oder in einer Küchenmaschine<br />

so lange kneten, bis der Teig bröselig klumpt.<br />

5. Teig auf ein mit Backpapier ausgelegtes<br />

Blech bröseln und im vorgeheizten Backrohr<br />

bei 200°C (Ober-/Unterhitze) etwa 20 Minuten<br />

backen, bis die Streusel fest und goldgelb sind.<br />

6. Zehn Minuten vor dem geplanten Servieren<br />

des Desserts für das Sabayon Eigelb und Zucker<br />

in einer Metallschüssel zu einer glatten, hellen<br />

Creme aufschlagen.<br />

7. Wenig Wasser in einem Kochtopf erhitzen<br />

und die Schüssel mit der Creme in den heißen<br />

Dampf hineinhängen. Die Schüssel darf das<br />

Wasser nicht berühren. Den Wein langsam zugeben<br />

und mit dem Schneebesen gut aufschlagen,<br />

bis die Creme beinahe steif ist. Sabayon aus<br />

dem Wasserbad heben. Solange weiterschlagen,<br />

bis das Sabayon nur noch lauwarm ist.<br />

8. Sofort auf einem Teller anrichten. Sorbet danebensetzen<br />

und mit den Ingwerstreuseln garnieren.<br />

Gleich servieren.<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

dezeber.indb 25 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

© Stanislav Jenis<br />

Lieber Rudi, es war<br />

mir eine Ehre, dich<br />

zu porträtieren! Und<br />

danke für alles, das<br />

du an Persönlichem<br />

und an Gedanken mit<br />

mir geteilt hast.<br />

Es war mir eine Ehre<br />

Anfang 2018 erschien das große Porträt von Rudi Gelbard in WINA. Es<br />

sollte eines seiner letzten Gespräche mit den Medien werden, deren es so<br />

viele gab und die alle Zeugen seines stets wachen Geistes, seines Kampfgeistes<br />

gegen Antisemitismus und Ausgrenzung und seiner faszinierenden<br />

Persönlichkeit waren.<br />

Von Alexia Weiss<br />

M<br />

Foto: Daniel Shaked<br />

„Überleben ist<br />

ein Privileg, das<br />

verpflichtet. Ich habe<br />

mich immer wieder<br />

gefragt, was ich für<br />

die tun kann,<br />

die nicht überlebt<br />

haben.“<br />

Rudi Gelbard<br />

eine erste Begegnung mit Rudi<br />

Gelbard war keine auf Augenhöhe:<br />

Ich war eine junge Journalistin im<br />

Wissenschafts- und Bildungsressort<br />

der Austria Presse Agentur, und Rudi<br />

war eine Auszeichnung zuerkannt<br />

worden: die Josef-Samuel-Bloch-<br />

Medaille der Aktion gegen Antisemitismus<br />

in Österreich. Der Ressortverantwortliche beschloss,<br />

ja, da soll doch bitte eine Meldung geschrieben<br />

werden, und im <strong>Jänner</strong> 1997, Wochen vor der eigentlichen<br />

Verleihung im März, saß ich da nun mit ihm, mitten<br />

in der Hektik des Großraumbüros, und er packte<br />

Papier um Papier aus und erzählte und erzählte. Heraus<br />

kam eine nüchterne Agenturmeldung, die aber<br />

doch viel von dem umriss, was Rudi wichtig war – vor<br />

allem sein Selbststudium in Sachen Zeitgeschichte und<br />

sein Wirken als Zeitzeuge.<br />

Von da an grüßte er mich bei jedem Termin, bei dem<br />

wir aufeinandertrafen, ob auf einer Pressekonferenz,<br />

einer Ausstellungseröffnung oder einer Diskussionsveranstaltung<br />

im Gemeindezentrum, mit den Worten<br />

„Ich bin’s – Ihr Leser“. Es war ein running gag, und wir<br />

haben beide immer geschmunzelt. Irgendwann wurde<br />

aus dem Sie ein du und wir plauderten kurz bei zufälligen<br />

Begegnungen, bis ich ihn dann – im Herbst 2017 –<br />

um einen Interviewtermin bat. Ich wollte für WINA ein<br />

großes Porträt über ihn schreiben, eines, das ihn in all<br />

seinen Facetten erfassen sollte.<br />

Er war, obwohl gesundheitlich schon geschwächt,<br />

sofort bereit, allerdings zu seinen Konditionen: Zunächst<br />

ließ er mir ein ganzes Bündel an Informationen<br />

– eines seiner berühmten Dossiers – zukommen,<br />

durch das ich mich durcharbeitete. Dann machten wir<br />

nicht nur, wie sonst üblich, einen Interviewtermin,<br />

sondern mehrere aus. Er empfing Daniel Shaked, den<br />

26 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 26 28.12.21 03:32


KONTINUITÄT STATT AUFARBEITUNG<br />

Von Alexia Weiss<br />

Sozialdemokratie, der er seit 1947 angehört,<br />

sind nicht nur seine Fragen, sondern<br />

itate. Kluge Worte von bekannten<br />

Persönlichkeiten,<br />

Buchbeiträge geschätzt. Er verschickt sie<br />

auch seine Dossiers aktueller Artikel und<br />

sie sind der Schatz und<br />

per Post, nicht per Mail, denn um das Internet<br />

macht Gelbard einen großen Bogen.<br />

gleichzeitig die Waffe von<br />

Rudolf „Rudi“ Gelbard. Sie<br />

„Ich weiß genau, ich gehe dann ins<br />

führt er an, wenn er im politischen Diskurs<br />

überzeugen will. Wer mehr über ihn<br />

eine gewisse Ruhe. Wir ehemaligen Häft-<br />

Uferlose. Das ist der Grund. Ich brauche<br />

persönlich erfahren möchte, dem sagt er<br />

linge – es gibt doch zu denken, dass der<br />

allerdings auch am liebsten in den Formulierungen<br />

anderer, wie er sich fühlt, was<br />

mord begangen hat. Dass der Auschwitz-<br />

Auschwitz-Häftling Jean Améry Selbstihn<br />

ausmacht. Bis er dann doch ein wenig<br />

sich selbst zum Vorschein kommen eignete sich nach seiner Rückkehr nach akov so viele Bücher über das Dritte Reich<br />

nalsozialisten in Österreich verwehrt blieb, Häftling Joseph Wulf, der mit Léon Poli-<br />

lässt, ein bisschen spitzbübisch manchmal,<br />

vor allem, wenn er sich an Szenen als außerordentlicher Hörer am Zeitge-<br />

hat.“ Ob er selbst auch schon solche düs-<br />

Wien teils in der Akademie der SPÖ, teils herausgebracht hat, Selbstmord begangen<br />

seiner Kindheit und Jugend erinnert und schichte-Institut der Universität Wien, teren Gedanken gehabt habe? „Nein. Aber<br />

im Wiener Dialekt, „in der Sprache der vor allem aber im Selbststudium geschichtliches<br />

und politisches Wissen an. ist Gelbard schwer krank. Doch auch ge-<br />

ich brauche Momente der Ruhe.“ Heute<br />

Pülcher“, zu erzählen beginnt. Doch er<br />

kann auch sehr nachdenkliche Töne anschlagen.<br />

Und dann gibt es noch die trau-<br />

in Theresienstadt kennen. „Links-sozia-<br />

ist immer wieder im Spital für Therapien.<br />

Seine ersten großen Lehrer lernte er gen seine Krebserkrankung kämpft er an,<br />

rigen, fast schon stillen Momente, etwa listisch-zionistische und sozialdemokratisch-zionistische<br />

Jugendführer“ seien sie Stimme zu erheben.<br />

Dennoch ist es ihm wichtig, weiter seine<br />

wenn es um seine viel zu früh verstorbene<br />

Tochter geht.<br />

gewesen (auch wenn er diese Einordung Als SOS Mitmensch ihn während der<br />

Von der Zeit in Theresienstadt aber, wohin<br />

er mit seinen Eltern 1942 als Zwölfnehmen<br />

konnte), die für ihn so wichti-<br />

FPÖ bat, kurz etwas zu den aktuellen in-<br />

erst mit seinem Wissen von später vor-<br />

Koalitionsverhandlungen von ÖVP und<br />

jähriger deportiert wurde, spricht Gelbard gen fünf jungen Männer, die allesamt von nenpolitischen Entwicklungen für ein Video,<br />

das dann auf Youtube verbreitet wurde,<br />

eher distanziert, verweist vor allem auf eigene<br />

Zitate, etwa aus seiner Biografie Die sollten: Fredy Hirsch, Aron Menczer, Sigi zu sagen, zögerte er nicht. Nur kurz reißt<br />

den Nazis in Auschwitz ermordet werden<br />

dunklen Seiten des Planeten, 2008 von Walter<br />

Kohl im Verlag Franz Steinmaßl publi-<br />

Ihnen hörte er zu, wenn sie diskutierten, glieder die Schoah nicht überlebt haben,<br />

Kwasnewski, Hardy Plaut, Louis Löwy. er darin an, dass 19 seiner Familienmitziert,<br />

oder Szenen aus dem Dokumentarfilm<br />

Der Mann auf dem Balkon von Kurt<br />

hier wurde er zum Zionisten, der er bis dann argumentiert er, weshalb eine Koalition<br />

mit den Freiheitlichen für wahre De-<br />

Brazda. Man merkt, er hat schon viele<br />

Male von dieser Zeit erzählt, man merkt<br />

aber auch: Darüber will er gar nicht gerne<br />

im Detail sprechen. Denn Rudi Gelbard<br />

hat sich nie als Opfer präsentiert, nie als<br />

Zeitzeuge, der nur vom selbst Erlebten<br />

berichten möchte. Rudi Gelbard ist zwar<br />

KZ-Überlebender, ja, aber er ist vor allem<br />

„ein Fighter“, wie er selbst sagt. Wie<br />

könnte man Gelbard sonst noch in einigen<br />

wenigen Schlagworten beschreiben? heute ist, hier erspürte er, was Sozialismus<br />

ist, was Kommunismus.<br />

mokraten abzulehnen sei. Was folgte war<br />

Als Antifaschisten, Zionisten, Sozialdemokraten,<br />

Aufklärer, Mahner.<br />

Gelbard gab sich selbst vor einigen Jahren<br />

den Spitznamen „Marcel Prawy des teil, dass Gelbard das Internet meidet. An-<br />

ein Shitstorm im Netz. Hier ist es von Vor-<br />

Ein Kämpfer aber war er, der inzwischen<br />

einen Professorentitel seinem Namen<br />

voraussetzen darf, eine der 16 Aus-<br />

man seinen Alltag nicht besser beschrei-<br />

genug begegnet, auch nach 1945, von An-<br />

Antifaschismus“, und tatsächlich könnte tisemitismus ist er in seinem Leben schon<br />

zeichnungen, die ihm für seine Verdienste ben: Wie Prawy in der Oper ein zweites gesicht zu Angesicht.<br />

als Zeitzeuge, als Erwachsenenbildner Zuhause fand, so ist Gelbard in Wien immer<br />

dort anzutreffen, wo es um Antifa-<br />

Differenzierter Blick. Rudi Gelbard<br />

zuteil wurden, sein Leben lang, und ein<br />

Kämpfer ist er bis heute. Zuerst ging es schismus, um Zeitgeschichte, den Holocaust,<br />

aber auch Neonazismus, die Rechte wuchs in Wien auf. Hier erlebte er auch<br />

kam im <strong>Dezember</strong> 1930 zur Welt und<br />

ums Überleben, später setzte er auch einmal<br />

Fäuste gegen Nazis ein, die kurz nach von heute geht.<br />

die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.<br />

Wichtig ist ihm zu betonen,<br />

1945 schon wieder an Einfluss gewinnen Rudi Gelbard gehört zu jenen, die sich<br />

wollten. Seit vielen Jahrzehnten aber sind gelegentlich im Anschluss von Podiumsdiskussionen<br />

zu Wort melden. Es sind alren.<br />

Da gab es auch den Widerstand, ei-<br />

dass auch 1938, 1939 nicht alle Nazis wa-<br />

seine Waffen Worte, Wissen, Zusammenhänge.<br />

Er, dem Schulbildung zunächst auf lerdings nie lange Co-Referate, nur kurze nerseits, und andererseits die, die bei den<br />

Grund der Machtübernahme der Natio-<br />

Hinweise, verbunden mit Fragen. In der Reibpartien nicht zusehen wollten, die sich<br />

NACHKRIEGSÖSTERREICH<br />

6 wına | Februar 2018 wına-magazin.at 7<br />

EIN RÜCKBLICK DER REDAKTION AUF 10 JAHRE WINA<br />

Z<br />

„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren<br />

kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch<br />

Stärkeren kämpfen viele Jahre. Aber die<br />

Stärksten kämpfen ein Leben lang, die sind<br />

unentbehrlich.“ Bertolt Brecht<br />

© Daniel Shaked<br />

„ Marcel Prawy des<br />

Antifaschismus“<br />

Er ist einer der letzten noch<br />

lebenden ehemaligen KZ-<br />

Häftlinge, und bis heute<br />

schweigt er nicht, wenn es<br />

rechtsextreme Tendenzen<br />

in der Öffentlichkeit aufzuzeigen<br />

gilt: WINA bat<br />

Rudolf Gelbard (87)<br />

um ein Gespräch über sein<br />

Leben, seine Haltungen,<br />

das, was ihm wichtig ist.<br />

Entstanden ist so das Porträt<br />

eines Zeitzeugen, der<br />

sich selbst nicht als Opfer,<br />

sondern als Kämpfer<br />

versteht.<br />

Erschienen im<br />

Februarheft 2018 und<br />

auf unserer Website.<br />

Fotografen, und mich in einem Hotel. Vor ihm lag ein<br />

Stapel Bücher, aus denen er dann während unserer Gespräche<br />

immer wieder Passagen vorlas. Rudi zu interviewen,<br />

war erst dann leicht, als ich aufgab, ihm konkrete<br />

Fragen zu stellen, ihn erzählen ließ und einhakte,<br />

wenn ich einen der Erzählstränge weiterfolgen wollte.<br />

Nach und nach formte sich in meinem Kopf sein Porträt,<br />

verdichteten sich die Linien.<br />

Die Schwierigkeit dabei war allerdings, all das auszublenden,<br />

was Rudi in diesen vielen Stunden erzählte,<br />

aber als off the record, also nicht zitierbar angab. On and<br />

off gingen erzählerisch ineinander über, waren aber<br />

auf dem Tonbandmitschnitt von ihm immer klar ausgewiesen.<br />

Es war am Ende also kein Problem, seinem<br />

Wunsch zu entsprechen. Auch wenn es schade war,<br />

dass manche Geschichten nicht erzählt werden durften.<br />

Es sind genau diese Geschichten, die mir bis heute<br />

im Kopf herumspuken, aus vielerlei Gründen. Was<br />

erzählt ein Mensch welchem Auditorium über sich?<br />

„Dieser Text ist nicht einfach<br />

nur ein beliebiger Text, er bedeutete<br />

uns beiden viel. Ich<br />

hoffe, dass das beim Lesen<br />

spürbar wurde.“<br />

Rudi Gelbard packte<br />

Papier um Papier aus und<br />

erzählte und erzählte.<br />

Aber auch: Wie möchte<br />

ein Mensch das Narrativ<br />

über ihn selbst lenken?<br />

Rückblickend gesehen<br />

war genau das Rudi<br />

sehr wichtig. Er wollte<br />

Herr seiner Geschichte<br />

sein. Und nicht nur das:<br />

Er wollte bestimmen,<br />

wie seine Geschichte<br />

erzählt wird. Sein Mittel<br />

der Wahl waren dabei<br />

Gedanken und Zitate großer Denker, Historiker,<br />

Schriftsteller, Politiker. Dieses Zusammensammeln<br />

von Informationen und Verdichten zu einem großen<br />

Ganzen, war ein Teil dessen, was Rudi ausmachte. Ein<br />

anderer war sein bedingungsloses antifaschistisches<br />

Engagement. Und was Rudi auch niemals sein wollte:<br />

ein armes Opfer. Er sah sich als Kämpfer.<br />

Und als Kämpfer habe ich ihn auch in Erinnerung<br />

behalten. Lieber Rudi, es war mir eine Ehre, dich<br />

zu porträtieren! Und danke für alles, was du an Persönlichem<br />

und an Gedanken mit mir geteilt hast.<br />

Erschienen ist das Porträt schließlich im<br />

Februar 2018. Rudi starb im Oktober darauf,<br />

und man kann ihn nun an seinem Ehrengrab<br />

der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof<br />

besuchen.<br />

Meine langen Gespräche mit ihm markieren<br />

für mich persönlich auch ein bisschen<br />

den Schlusspunkt der Möglichkeit, einem<br />

Zeitzeugen zuhören und ihm ausgiebig Fragen<br />

stellen zu können. Es ist das Ende einer<br />

Ära. Und ich freue mich besonders, dass zwei<br />

Jahrzehnte nach unserem ersten Gespräch<br />

über sein Leben ein zweites, viel fundierteres<br />

möglich war, eines, in dem die gegenseitige<br />

Wertschätzung und Sympathie spürbar<br />

waren. Dieser Text ist nicht einfach nur<br />

ein beliebiger Text, er bedeutete uns beiden<br />

viel. Ich hoffe, dass das beim Lesen spürbar<br />

wurde.<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

dezeber.indb 27 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

© Konrad Holzer<br />

Anita Pollak<br />

Was bleibt? Was bleibt nach<br />

fast einem halben Jahrhundert<br />

journalistischer Arbeit für mehrere Medien,<br />

das letzte Jahrzehnt davon für unser<br />

„Kind“ WINA, das schnell erwachsen<br />

wurde?<br />

Als Kultur- und Literaturredakteurin<br />

habe ich viel erlebt, vor allem aber unendlich<br />

viel gelesen. Tonnenweise Bücher<br />

wohl, erinnern kann ich mich nur<br />

an sehr, sehr wenige. Viel eindrücklicher<br />

waren und sind die Interviews mit<br />

Autor:innen, wie überhaupt die persönlichen<br />

Gespräche mit Menschen im Rahmen<br />

meiner Tätigkeiten. Eine Schar von<br />

Prominenten, mehrere Nobelpreisträger<br />

wie Günter Grass, Doris Lessing, Jose<br />

Saramago, Imre Kertész und Eric Kandel<br />

waren darunter. Beglückende, bereichernde<br />

Begegnungen, ein Privileg!<br />

Auch in den letzten Jahren haben mir Interviews<br />

die größte Freude bereitet, Treffen<br />

mit weniger prominenten, ja zum Teil<br />

fast unbekannten Menschen waren dabei<br />

die überraschendsten, Gespräche<br />

mit Zeitzeug:innen die emotional bewegendsten.<br />

Eine persönliche<br />

Notiz für die Autorin,<br />

die diese bis heute<br />

dankbar aufbewahrt.<br />

„Die Daten müssen<br />

Sie prüfen, und bitte<br />

essen Sie was!“<br />

Kreise schließen sich oft erst nach Jahren, und Erinnerungen können<br />

trügen. Zwei Versionen eines Happy Ends für eine Oma und ihren Enkel.<br />

Von Anita Pollak<br />

Fotos: Konrad Holzer<br />

EDEN TAG WOLLTE ICH<br />

ZURÜCK NACH WIEN“<br />

Minna Brand-Sluzkaja. WINA, Juli 2016<br />

Eine kleine, zarte alte Dame sprach mich nach<br />

einem Vortrag an, den ich im Maimonides-<br />

Zentrum über israelische Literatur hielt, Anfang<br />

2016 war das. Sie erkundigte sich über meine Arbeit<br />

und überreichte mir einen kleinen Zettel. „Minna<br />

Brand-Sluzkaja. Für mögliche Mitarbeit! Z. 619“ stand darauf<br />

in grüner Tinte. Ich begleitete sie zum Lift, fragte, ob<br />

sie sich hier wohl fühle. „Wissen Sie, mich stört es nicht,<br />

und meine Kinder beruhigt es“, antwortete sie weise lächelnd.<br />

„Aber ich würde gern noch was tun, denken Sie<br />

an mich!“<br />

Wenige Monate darauf bat ich sie, mir ihre Lebensgeschichte<br />

zu erzählen. Die Story erschien im Juli 2016,<br />

übrigens im selben Heft wie mein Gespräch mit der Psychoanalytikerin<br />

Vera Ligeti, der Witwe des Komponisten<br />

György Ligeti. Zwei alte Damen, Überlebende des Holocaust,<br />

zwei gänzlich verschiedene Schicksale. Vera Ligeti,<br />

die ich in ihrem Haus in Hietzing besuchte, arbeitet immer<br />

noch als Therapeutin, ihr Sohn Lukas ist Komponist.<br />

Minna Sluzkaja, die heuer 100 Jahre alt geworden<br />

wäre, verstarb 2018. Ihr Enkel Aliosha Biz ist Geiger und<br />

lebt mit seinen vier Kindern in Wien.<br />

Anfänglich wollte sie gar nicht über ihr Leben<br />

reden, dann tat sie es aber doch, bedächtig,<br />

gewählt und fast druckreif. „Die geschichtlichen<br />

Daten müssen Sie prüfen, und bitte essen<br />

Sie was!“, deutete sie auf einen Kuchenteller.<br />

Dass sie mit den Daten zu Recht etwas<br />

unsicher war, erfuhr ich erst später, als ich,<br />

ebenfalls im WINA, ein Porträt ihres Enkels<br />

Aliosha las. Doch davon später.<br />

28 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 28 28.12.21 03:32


EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />

Erschienen im<br />

Juli 2016<br />

Links: das Jugendfoto, das<br />

sie mir schenkte<br />

Lassen wir noch einmal Frau Sluzkaja zu Wort kommen,<br />

die 1921 in Wien als einziges Kind des „Diamantenspezialisten“<br />

Selig Brand zur Welt kam. Dass sie der<br />

gleiche Jahrgang wie meine Mutter war, rührte mich besonders.<br />

Ihre kurzen Mädchenjahre hatte Minna glücklich<br />

in Erinnerung. Doch als sie die Handelsschule am<br />

Hamerlingplatz besuchte, „war schon der Hitler da,<br />

und man hat meinen Vater geholt. Er kam ins Lager.<br />

Wir wohnten in einer Mietwohnung in der Myrthengasse<br />

15. Um drei Uhr früh kam der Besitzer zu uns und<br />

forderte uns auf, uns anzuziehen und die Wohnung zu<br />

verlassen. Er war der Vater meiner Freundin, mit der<br />

ich in der Sandkiste gespielt hatte. Wir kamen in eine<br />

große Sammelwohnung in Döbling, bewacht von der SS.<br />

Von dort für einige Wochen in ein Lager, bis wir zu Bauern<br />

aufs Land flüchten konnten. Dort hat man uns sehr<br />

gut behandelt, das muss ich sagen.“ Der Mutter gelang<br />

es, sich mit Minna zu Verwandten nach Lemberg durchzuschlagen,<br />

wohin der Vater aus dem Lager nachkam.<br />

Das schöne junge Mädchen begann sofort als Mannequin<br />

in einem großen Kaufhaus zu arbeiten, und langsam<br />

konnte sich die Familie dort etablieren, „bis die<br />

Deutschen die Stadt einnahmen“. In Lemberg lernte<br />

Minna auch ihren zukünftigen Mann kennen. Er war als<br />

Dokumentarfilmer aus Moskau gekommen, „mit dem<br />

Auftrag, das damals noch polnische Lemberg als russische<br />

Stadt zu zeigen“. Also zu Propagandazwecken? „Ja,<br />

natürlich, wie immer in Russland. Da er schon damals<br />

ziemlich bekannt war, konnte er uns 1939 nach Moskau<br />

bringen. Mein Vater aber sollte gemeinsam mit anderen<br />

Wiener Flüchtlingen nach Sibirien abtransportiert<br />

werden. Es war dunkel und kalt, und wir suchten meinen<br />

Vater am Bahnhof. Meinem zukünftigen Mann gelang<br />

es, ihn aus dem Zug herauszubekommen, und ich<br />

habe ihn damals eigentlich aus Dankbarkeit geheiratet.“<br />

Tragischerweise kam der Vater wenige Wochen später in<br />

einem Lager um, während die meisten Wiener aus dem<br />

damaligen Transport Sibirien überlebten und zurückkehren<br />

konnten. „Wir haben ihn gerettet, und dadurch<br />

ist er umgekommen. Das ist doch unerhört, das war so<br />

ein Schlag für uns.“<br />

An der Seite von Michael Slutzky, der sich ihretwegen<br />

von seiner ersten Frau scheiden ließ, begann in Moskau<br />

„Wir haben alles mitgemacht,<br />

was Juden mitmachen<br />

müssen.“<br />

Minna Brand-Sluzkaja 2016<br />

ein fast privilegiertes Leben.<br />

Minna hat acht Jahre lang<br />

Russisch gelernt, an der Universität<br />

studiert und wurde<br />

Simultanübersetzerin.<br />

Ihre Tochter Galina wurde<br />

1946 dort geboren. „Aber jeden<br />

Tag beim Aufwachen<br />

wollte ich zurück nach Wien,<br />

obwohl wir ein gutes Leben<br />

hatten und eine schöne<br />

Wohnung, weil mein Mann<br />

berühmt war. Er hatte drei<br />

Stalin-Orden. Natürlich gab<br />

es Antisemitismus, aber die<br />

Juden, die er gebraucht hat,<br />

die hat Stalin in Butter gepackt.<br />

Leider ist mein Mann<br />

jung gestorben.“ Er war ihre<br />

große Liebe, obwohl, sie begann zu flüstern, da noch einige<br />

„interessante Männer“ waren. „Wir sagen immer<br />

Liebe, aber es war mehr als Liebe. Auch im Grab will<br />

ich nur seinen Namen tragen.“ Dass sie später in Moskau<br />

nochmals geheiratet hat, erwähnte sie eher beiläufig.<br />

Erst mit ihrem zweiten Mann sei sie dann 1985 nach<br />

Wien zurückgekehrt. „Vorher war’s ja nicht möglich.“ Und<br />

es war anfänglich sehr schwer, weil sie hier ja gar nichts<br />

hatten. Minna hat weiter als Übersetzerin gearbeitet. Ihre<br />

Tochter sei mit einem Kameramann in Rom verheiratet.<br />

Ein Foto zeigt das Paar bei einem Papst-Besuch.<br />

Ins Maimonides-Zentrum ist sie bereits mit ihrem<br />

Mann übersiedelt. „Er war sehr jüdisch. Ich bin hier sehr<br />

zufrieden. Ich lese und lerne viel, ich vervollkommne<br />

mein Englisch und übersetze auch noch. Meine Übersetzungen<br />

verkaufe ich aber nur noch selten.“<br />

Auf die Gretchenfrage nach der Religion wird die alte<br />

Dame nachdenklich. „Wir haben alles mitgemacht, was<br />

Juden mitmachen müssen, aber religiös waren wir weder<br />

in Wien noch in Moskau. In meiner Kindheit haben<br />

wir aber die Feiertage gefeiert und auch den Tempel besucht.“<br />

Im Alter sei sie vielleicht gläubiger geworden, auch<br />

weil sie im Maimonides-Zentrum wohne, meinte sie. „Ich<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

dezeber.indb 29 28.12.21 03:32


58 wına | Februar 2016<br />

Dobrek Bistro<br />

featuring David<br />

Krakauer.<br />

1 CD<br />

Dobrecords, 2015<br />

Von Marta S. Halpert<br />

er Violinist und sein Instrument<br />

verschmelzen im Spiel<br />

zu einer harmonischen Einheit.<br />

Der schlanke, energiegeladene<br />

Körper schwingt mit dem Bogen<br />

mit: Da man nur ein Ganzes sieht<br />

und hört, weiß man nicht, wo Aliosha Biz<br />

anfängt und seine Geige aufhört. „Schon<br />

Herbert von Karajan meinte, man müsse<br />

so spielen, dass man den Bogen gar nicht<br />

sieht“, lacht der 1970 in Moskau geborene<br />

Musiker, dem man seine 45 Jahre schwer<br />

glauben kann.<br />

Derzeit gibt ihm nur das Warten auf sein<br />

drittes Kind Bodenhaftung, denn beruflich<br />

ist gerade ein großer Traum in Erfüllung<br />

gegangen – und das verleiht ihm wahrlich<br />

musikalische Flügel. „Unsere Band Dobrek<br />

Bistro gibt es seit 15 Jahren, und fast genauso<br />

lang war es unser größter Wunsch,<br />

mit David Krakauer, dem bekanntesten<br />

amerikanischen Klezmer-Musiker und<br />

Klarinettisten, zusammenzuarbeiten“, erzählt<br />

Biz. Vor knapp zwei Monaten standen<br />

sie dann in Wien im Rahmen des 12.<br />

KlezMore-Festivals mit ihrem Stargast<br />

aus New York auf der Bühne. Doch das<br />

war nur ein Teil des Hochgefühls: Mit der<br />

Präsentation der brandneuen CD Dobrek<br />

Bistro featuring David Krakauer wurde die<br />

Hartnäckigkeit und Ausdauer sowohl von<br />

Aliosha Biz als auch seinem langjährigen<br />

musikalischen Weggefährten, dem<br />

polnischen Akkordeonisten Krzysztof<br />

Dobrek, belohnt. „Wir hatten<br />

schon 2005 ein kurzes Treffen mit<br />

Krakauer, aber erst 2012 ist es uns gelungen,<br />

ihn endgültig für unser Projekt<br />

zu gewinnen.“ Wie das gelang,<br />

© Biz<br />

ist eine Geschichte für sich und zeigt die wirst als Musiker leichter aus der Sowjetunion<br />

hinauskommen“, war der Vater musiziert“, lacht Aliosha.<br />

ben wir sogar in einem Haus gewohnt und<br />

phantasievolle Improvisationslust von Biz<br />

und Dobrek. „Ich war mit der Bahn unterwegs<br />

von Prag nach Wien. Die beiden sind dienstes drohte, drängte ihn auch die geschen<br />

Akzente im Repertoire zuständig:<br />

überzeugt. Als die „Gefahr“ des Militär-<br />

Aliosha Biz ist für die jüdisch-russi-<br />

in Brünn zu mir in den Zug gestiegen und liebte Großmutter zur Reise nach Ungarn, „Meine Wurzeln will und kann ich nicht<br />

ich konnte ihnen nicht mehr davonlaufen“, um von dort den Sprung nach Österreich abschneiden, daher sorge ich für den russischen<br />

Weltschmerz, die orientalischen<br />

erinnert sich Krakauer amüsiert.<br />

zu wagen. „Geh’, geh’, du schaffst es, sagte<br />

Aus den Gesprächen auf dieser unentrinnbaren<br />

Bahnfahrt entstand dann aber dass sie mich ermutigt und an mich ge-<br />

das Gefühl vom Once upon a time im Stetl.“<br />

sie zu mir. Ich bin ihr ewig dankbar dafür, Klänge und natürlich den Schmalz und<br />

nicht nur die Idee für ein Konzert und glaubt hat“, so Biz heute. Er bereitete auch Weil Biz aber seine Muttersprache nicht<br />

das Einspielen von einigen Musikstücken: die Rückkehr der Großmutter nach Wien verleugnen will, hat er mit weiteren drei<br />

Schlussendlich vereinten sich zwei Größen vor, die dann 1992 stattfand. Heute zählt russischstämmigen Musikern der heimischen<br />

Musikszene den Russian Gentlemen<br />

der internationalen Weltmusikszene, deren sie 94 Jahre und wohnt im Maimonidesmusikalische<br />

Herzen im unnachahmlichen Zentrum, wo sie öfter auch den Konzerten<br />

ihres Enkels lauscht.<br />

Frontman Georgij Makazaria (Gesang und<br />

Club gegründet: Mit dabei sind Russkaja-<br />

Gleichklang schlagen, auf einem faszinierenden<br />

Album. Die Musikzeitschrift music<br />

austria beschreibt es so: „In den Stücken ließ, studierte er Violine am Tschaikowsky- mer Reloaded, Akkordeon) sowie Roman<br />

Bevor Aliosha seine Geburtsstadt ver-<br />

Gitarre), Alexander Shevchenko (Klez-<br />

dieses außergewöhnlichen Kollektivs wird Konservatorium. In Wien besuchte er Grinberg (Frejlech, Piano). „Hier präsentieren<br />

wir eine bunte<br />

geweint, getanzt, gelitten und auch gefeiert. zwar die Hochschule für Musik und darstellende<br />

Kunst, richtig entdeckt wurde er russische Schlagershow<br />

Es ist das Gefühl, mit dem Dobrek Bistro<br />

und David Krakauer ihre Musik aufladen, aber auf der so genannten „Akademie der auf höchstem Niveau.“<br />

das den Unterschied ausmacht und einen Straße“, denn auch Biz musizierte auf der Doch den Spaß an der<br />

jeden Ton zu einem ungemein stimmungsvollen<br />

und berührenden Erlebnis werden fragten Theatermusiker (u. a. am Theater giebündel nicht nur den<br />

Kärntnerstraße. Er mauserte sich zum ge-<br />

Musik will das Ener-<br />

lässt. Ja, so etwa klingt die höchste Kunst in der Josefstadt und im Volkstheater) mit Erwachsenen vorbehalten:<br />

Seit einem halben<br />

der Weltmusik.“ Das Album dieser großartigen<br />

Virtuosen beweist, dass Biz und tete an diversen musikalischen Projekten Jahr engagiert er sich<br />

schauspielerischen Ambitionen und arbei-<br />

seine Kollegen von Dobrek Bistro schon mit Gerhard Bronner, Albert Thiemann für das Projekt Mozart-Konzerte,<br />

bei dem<br />

lange intuitiv erkannt hatten, dass sie mit oder Adi Hirschal zusammen. Doch der<br />

Krakauer gemeinsam auf außergewöhnlichen<br />

musikalischen Wellen reiten können: polnischen Akkordeonist Krzysztof Dobliche<br />

von Volksschu-<br />

große Durchbruch kam 1997, als er den Kinder und Jugend-<br />

Die fünf Musiker durchqueren in großartiger<br />

Weise die Welt des Jazz in Richtung ter an der Wien das erste Mal traf. Die bei-<br />

zu Mitmachkonzerten<br />

rek bei den Proben zu Anatevka am Thealen<br />

und Mittelschulen<br />

Klezmer, um von dort aus zu den feurigen den Musiker sprechen von Liebe auf den animiert werden. „Kinder<br />

sind das schwierigste und beste Publi-<br />

Rhythmen des Balkans zu rasen. Aber sie ersten Takt: Nach dem ersten Zusammenspiel<br />

wussten sie, dass sie ihre künstlerische kum. Wir können sie sowohl für Amadeus<br />

bleiben nicht dort, sie swingen zum Gypsy-Sound<br />

und landen schlussendlich bei Zukunft gemeinsam gestalten wollten. Zunächst<br />

folgten Auftritte im Burgtheater, zart begeistern“, so Biz.<br />

als auch den Türkischen Marsch von Mo-<br />

südamerikanischen Tänzen und Klängen.<br />

auch als Begleitmusiker von Maria Bill Dass er seine ersten Schritte und Erfahrungen<br />

in Wien als Neuling nicht verges-<br />

Die erste Geige — aus dem Möbelgeschäft.<br />

Doch ganz so einfach und be-<br />

beim Acoustic Drive Orchestra, ehe sie sen hat, beweist er jetzt auch in der Flücht-<br />

bei der Jacques-Brel-Revue und danach<br />

schwingt, wie das jetzt alles klingt, war es daran gingen, ihre eigene, unverkennbare lingskrise: „Man hat mir von einem jungen<br />

für den 19-jährigen Aliosha nicht, als er musikalische Sprache zu entwickeln. Das syrischen Musiker erzählt, der hier gestrandet<br />

ist. Er ist Schlagzeuger, und wir<br />

1989 in Wien ankam. Und das, obwohl die Quartett von Dobrek Bistro komplettieren<br />

der brasilianische Multiperkussionist haben ihn gleich zu einer Jam-Session ein-<br />

Familie österreichische Wurzeln hatte, jedenfalls<br />

mütterlicherseits. Die Großmutter Luis Ribeiro und der Wiener Jazzkontrabassist<br />

Sascha Lackner. Die Bezeichnung ßen Erlebnis.“ Damit schloss sich an dem<br />

geladen. Das wurde für alle zu einem gro-<br />

flüchtete 1938 noch in der Pogromnacht<br />

mit ihrer Mutter von Wien nach Lemberg. des französischen Lokals kommt vom russischen<br />

„bystro“ (schnell). Damit bezieht Tschiritsch, Musiker und Instrumenten-<br />

Abend ein ungewöhnlicher Kreis: Hans<br />

Künstlerisch ist Aliosha stark vorbelastet:<br />

Sein Vater war in Moskau ein bekannter sich das Quartett mit seinem Namen sowohl<br />

auf die virtuose Rasanz ihrer Dar-<br />

„er wiederum hatte mich vor 26 Jahre auf<br />

bauer, war bei der Jam-Session dabei – und<br />

Kameramann, die Mutter eine angesehene<br />

Dokumentarfilmerin. „Da wir für ein Klavier<br />

keinen Platz in der Wohnung hatten, sche Eleganz der Kompositionen, die alle Rothstein vorgestellt“, freut sich Aliosha.<br />

bietungen als auch auf die melancholi-<br />

der Kärntnerstraße aufgelesen und Lena<br />

ging mein Vater mit mir in ein Möbelgeschäft<br />

und kaufte mir dort eine Geige für Salsa zigeunerisch, der Tango wienerisch, cher Kreis für den virtuosen Musiker, der<br />

von Dobrek stammen: „Bei uns klingt der Aber es schließt sich noch ein persönli-<br />

21 Rubel. So begann ich schon mit sechs der Jazz jiddisch, und die Musette hat einen<br />

russischen Touch.“ Privates und Armen<br />

ist: Heute spielt sein siebenjähriger<br />

in Wien mit seiner Weltmusik angekom-<br />

Jahren zu spielen.“ Wie sich später herausstellte,<br />

hatte sein Vater auch gewisse Hintergedanken<br />

mit der musikalischen Aus-<br />

„Es wurde eine Wohnung bei uns im Haus Moskauer Möbelgeschäft. Die Zukunft<br />

beit verschmolzen dann auch miteinander: Sohn auf der 21-Rubel-Geige aus dem<br />

bildung seines talentierten Sohnes. „Du frei, und da ist Dobrek eingezogen. So ha- des Jungen ist voraussehbar. <br />

WELTMUSIK<br />

wına-magazin.at 59<br />

Foto & Redaktion: Ronnie Niedermeyer<br />

m Schicksalsjahr 1989, am 8. Juli, kam ich über<br />

Umwege durch Ungarn nach Wien. Rund um mich<br />

herum stürzten damals kommunistische Regimes<br />

zusammen, und Europa erfand sich neu. Die Donaumetropole<br />

war plötzlich wieder „mittendrin“ und nicht<br />

mehr „am Rande“. Und obwohl ich die Stadt ursprünglich<br />

nur als Zwischenstation betrachtete (jeder russische<br />

Musiker, der etwas auf sich hielt, wollte damals<br />

in die USA!), blieb ich hier. Wien umarmte mich und<br />

flüsterte mir dabei ins Ohr: „Bleib da!“ Doch Zufälle<br />

gibt es nicht: Schließlich wurde meine Oma, Minna<br />

Brand, hier geboren. 1938 flüchtete sie achtzehnjährig<br />

mit ihrer Mutter Berta nach Lemberg. Nach Unterzeichnung<br />

des Molotow-Ribbentrop-Pakts überfiel die<br />

Wehrmacht Polen von Westen; die Rote Armee folgte<br />

von Osten. Lemberg wurde zu Lwów. Dort lernte meine<br />

Großmutter den bekannten russischen Filmemacher<br />

Michael Slutzki und heiratete ihn. Mein Großvater, den<br />

ich leider nie kennenlernte, wurde bald darauf von den<br />

Stalin-Schergen verhaftet und nach Kasachstan in die<br />

Verbannung geschickt. Die beiden Wienerinnen Minna<br />

und Berta Brand folgten ihm. Erst Jahrzehnte später<br />

durfte Minna Slutzki-Brand ihre Heimatstadt wieder<br />

sehen. 1992 traf ich vor Ort die Vorkehrungen für ihre<br />

Rückkunft. In der Zwischenzeit sah ich mich schon als<br />

eingefleischten Wiener, als aktiven Teil des kulturellen<br />

Schmelztiegels und der wilden Musikszene. Von Klassik<br />

bis Jazz, von griechischem Rembetiko bis zur Klezmermusik,<br />

überall waren meine Geige und ich mit dabei.<br />

Bis heute hatte ich das Glück, immer von der Musik<br />

leben zu dürfen: Zum Beispiel als Fiedler auf dem Dach<br />

in knapp dreihundert Vorstellungen von Anatevka. Ab<br />

Oktober wird das Stück im Theater Baden wieder aufgeführt,<br />

und schon im November hat mein erstes Solomusikkabarettprogramm<br />

Premiere.<br />

Ich meinte ja schon vorhin, es gebe keine Zufälle: Als<br />

ALIOSHA BIZ,<br />

ich 1989 mit achtzehn Jahren nach Wien kam, beherbergte<br />

mich die Familie Ebner in der Leopoldsgasse 51.<br />

1970 in Moskau geboren, kam als<br />

Achtzehnjähriger nach Wien – und<br />

Viel später, nach dem Tod meiner Großmutter, fand<br />

geigte sich in den Himmel der Wiener<br />

ich in ihren Dokumenten eine Heiratsabsichtserklärung<br />

ihrer Eltern, unterzeichnet in der Leopoldsgasse<br />

Musikszene hinauf. Zusammenarbeiten<br />

folgten u. a. mit Maria Bill, Timna<br />

51 – justament in meinem ersten Quartier. Und nachdem<br />

ich 2004 meine Frau kennenlernte, stellte es sich<br />

Brauer, Herbert Föttinger, Elisabeth<br />

Kulman, Karl Markovics, Roland Neuwirth,<br />

Michael Schottenberg – und dem<br />

heraus, dass die gebürtige Leopoldstädterin 1989 mit<br />

den Kindern der Familie Ebner in die Schule ging. So<br />

Komponisten Hans Tschiritsch, der ihn<br />

schließen sich meine Wiener Kreise.<br />

1989 beim Musizieren in der Fußgängerzone<br />

entdeckte und förderte. Biz ist<br />

überzeugter Weltbürger, leidenschaftlicher<br />

Weintrinker und vierfacher Vater.<br />

Bäume hat er auch gepflanzt. Er bleibt<br />

für gebürtige und gelernte Wiener, die wissen, wo’s lang geht.<br />

in Wien – ganz sicher.<br />

32 wına |September 2020<br />

10 JAHRE WINA<br />

Erschienen im<br />

Februar 2016<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Das virtuose<br />

Energiebündel<br />

Aliosha Biz: Musik als grenzenloses Ereignis<br />

zwischen allen Sparten kann man mit dem<br />

russisch-jüdischen Violinisten erleben.<br />

D<br />

„ Da wir für ein<br />

Klavier keinen<br />

Platz hatten,<br />

ging mein Vater<br />

mit mir in ein<br />

Möbelgeschäft<br />

und kaufte mir<br />

dort eine Geige<br />

für 21 Rubel.“<br />

Aliosha Biz:<br />

Im Himmel der<br />

Wiener Musikszene<br />

I<br />

TIPP: Der Heuriger Hengl-Haselbrunner in Döbling hat nicht<br />

nur sensationellen Wein, sondern gilt auch als Mekka des Wienerliedes.<br />

Dienstags spielt Livemusik bis spät in die Abendstunden.<br />

Touristen verirren sich nur selten hierher: Es ist ein Ort<br />

Erschienen im<br />

September 2020<br />

Von Ronnie Niedermeyer<br />

bin hier immer beim Schabbat und den Feiertagen dabei.“<br />

Bis zum Schluss wollte Minna Brand-Sluzkaja gern<br />

helfen. Den Flüchtlingen, die nach Wien kamen, wollte<br />

sie gern Sprachunterricht geben.<br />

Stolz war sie auf ihren Enkel, den Geiger Aliosha Biz,<br />

der eine besondere Liebe zur jüdischen Musik hat und in<br />

diesem Umfeld in Wien bekannt geworden ist.<br />

„Ich habe ihn aus Moskau hergeholt und ans Konservatorium<br />

gebracht. Wir haben es geschafft.“ Minna Sluzkaja<br />

deutete auf sein Bild an der Wand und auf Fotos ihrer<br />

Urenkel.<br />

„SCHLIESSLICH WURDE MEINE<br />

OMA, MINNA BRAND, HIER<br />

GEBOREN.“<br />

Aliosha Biz. WINA, September, 2020<br />

Besagter Enkel Aliosha erzählte die Geschichte meinem<br />

Kollegen Ronnie Niedermeyer für das WINA-<br />

Heft September 2020 etwas anders: Nicht die Großmutter<br />

hätte ihn, vielmehr hätte er sie aus Moskau nach Wien<br />

geholt.<br />

„Im Schicksalsjahr 1989, am 8. Juli, kam ich über Umwege<br />

durch Ungarn nach Wien. Rund um mich herum<br />

stürzten damals kommunistische Regimes zusammen,<br />

und Europa erfand sich neu.<br />

Die Donaumetropole war plötzlich<br />

wieder ,mittendrin‘ und<br />

nicht mehr ,am Rande‘. Und<br />

obwohl ich die Stadt ursprünglich<br />

nur als Zwischenstation betrachtete<br />

(jeder russische Musiker,<br />

der etwas auf sich hielt,<br />

wollte damals in die USA), blieb<br />

ich hier. Wien umarmte mich<br />

und flüsterte mir dabei ins Ohr:<br />

,Bleib da!‘ Doch Zufälle gibt es<br />

„Sie hat Wien unglaublich<br />

geliebt und setzte<br />

stets auf Versöhnung.“<br />

Aliosha Biz<br />

nicht: Schließlich wurde meine Oma, Minna Brand, hier<br />

geboren. […]<br />

1992 traf ich vor Ort die Vorkehrungen für ihre Rückkunft.<br />

In der Zwischenzeit sah ich mich schon als eingefleischten<br />

Wiener, als aktiven Teil des kulturellen<br />

Schmelztiegels und der wilden Musikszene.“<br />

Hatte die alte Dame nicht eingangs gemeint, ich<br />

müsste die historischen Daten prüfen? Ihre Erinnerungen<br />

waren wohl schon etwas verklärt. Ganz unschuldig<br />

war sie aber dennoch nicht, dass Biz den Sprung nach Österreich<br />

gewagt und es damit „geschafft“ hatte.<br />

„Ich bin ihr ewig dankbar dafür, dass sie mich ermutigt<br />

und an mich geglaubt hat“, gestand er meiner Kollegin<br />

Marta S. Halpert bereits im Februar 2016. Und so<br />

schließen sich im WINA wieder einmal die Kreise.<br />

WAS BLEIBT?<br />

„Kommen Sie wieder? Sie haben ja gar<br />

nichts gegessen!“<br />

Natürlich versprach ich Minna, bald wiederzukommen,<br />

habe es aber leider nicht getan. Ihren handgeschriebenen<br />

Zettel bewahre ich, doch ihr schönes Jugendfoto,<br />

das sie mir schenkte, habe ich ihrem Enkel<br />

anlässlich der Premiere seines musikalischen Kabarettprogramms<br />

Der Fiddler ohne Ruf gegeben.<br />

Humorvoll erzählt Aliosha Biz darin auch von seiner<br />

geliebten Großmutter, die in seinem abenteuerlichen Leben<br />

zwischen Moskau und Wien nicht nur eine Nebenrolle<br />

gespielt hat. „Was von meiner Großmutter bleibt,<br />

sind ihr Humor und ihre Haltung. Sie hat Wien unglaublich<br />

geliebt und setzte stets auf Versöhnung. Und<br />

diese Haltung hat sie an mich weitergegeben.“<br />

© Biz<br />

30 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 30 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

„Man lernt mit dem Alter,<br />

dass man nicht alles weiß“<br />

Im Juni 2014 porträtierte WINA-Fotograf Daniel Shaked den israelischen Fotografen<br />

und Fotojournalisten David Rubinger (1924 – 2017), der Israels Geschichte seit der<br />

Staatsgründung festgehalten hat, zu seinem Neunziger.<br />

Erschienen<br />

im Juni 2014<br />

Porträtfotografie besteht aus Begegnungen.<br />

Eine meiner prägendsten ereignete sich<br />

mit David Rubinger, einem Wiener, der wie<br />

kaum ein anderer das Bild des Staates Israel<br />

von Anbeginn an entscheidend mit prägte. Seine<br />

Fotos sind Ikonen der Pressefotografie und kollektives<br />

visuelles Gut. Dementsprechend nervös war ich, als<br />

ich ihn in seinem Haus in Jerusalem traf.<br />

„Ich kann den Holocaust<br />

nicht vergessen, ich will<br />

ihn nicht vergeben, aber<br />

ich will ihn nicht leben.“<br />

David Rubinger<br />

Wir hatten im Vorfeld einen<br />

Rahmen von etwa zwei Stunden<br />

ausgemacht. Aus zwei Stunden<br />

wurde ein gesamter Nachmittag<br />

und unter anderem dieses Foto,<br />

auf dem David mich fotografiert, als ich ihn porträtiere.<br />

Der Gegenschuss, den David in diesem Moment<br />

von mir machte, liegt in seinem Archiv.<br />

EIN BLICK HINTER DIE<br />

KULISSEN DER REDAKTION<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

dezeber.indb 31 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

Ein Leben ohne WINA-Magazin?<br />

Möglich, aber nicht sinnvoll!<br />

Gedanken zum zehnjährigen Jubiläum. Von Marta S. Halpert<br />

© Reinhard Engel<br />

nser WINA-Magazin kam mit einem Hörfehler<br />

zur Welt. Als wir vor zehn Jahren in<br />

Telefonaten das neue Projekt vorstellten,<br />

reagierten viele aus der Branche mit dem<br />

Ausruf: „Ja, kenne ich, den Wiener!“<br />

Mit dem Lifestyle-Magazin für Männer<br />

verwechselt zu werden, war nicht schlimm,<br />

aber auch nicht förderlich. Vor allem, weil sich<br />

der Frauenanteil bei unserem Magazin sehen lassen<br />

kann: Auf allen Ebenen ist die überwiegende Mehrheit<br />

weiblich. Dieser akustischen Fehleinschätzung wären<br />

wir entgangen, hätten wir das Monatsheft Chuzpe genannt,<br />

was anfänglich angedacht war.<br />

Dem zehnjährigen WINA-Kind passiert so eine Verwechslung<br />

heute nicht mehr, denn es hat sich einen festen<br />

Platz in der österreichischen Magazin-Familie erobert.<br />

Das Heft wird gekauft, abonniert und manchmal<br />

sogar erbettelt: Das schönste Erlebnis und der beste Beweis<br />

dafür sind Gesprächspartnerinnen und Interviewpartner,<br />

denen man beim Treffen ein WINA-Exemplar<br />

zeigt und die nicht nur höflich hineinblättern, sondern<br />

es einem gleich abspenstig machen. Zu dieser Gruppe<br />

zählten in den letzten Jahren einige Kanzler, Ministerinnen,<br />

Historiker, Schauspieler und Sängerinnen.<br />

Die Erklärung, dass WINA auf Iwrith „Wien“ heißt,<br />

wird sofort akzeptiert, obwohl der Untertitel auf dem<br />

Cover irreführend ist: Das jüdische Stadtmagazin. Ja, das<br />

sind wir auch — aber noch viel mehr. Denn es wäre kein<br />

jüdisches Magazin, würde es nicht unserer reichen Vielfalt<br />

frönen und eine große thematische Bandbreite aufweisen.<br />

Die aufmerksame Neugier über die Stadt und<br />

das Land hinaus ist eines der wichtigsten Merkmale.<br />

Das kultur- und gesellschaftspolitische Leben von Jüdinnen<br />

und Juden in Österreich in Gegenwart und Vergangenheit<br />

findet ebenso seinen Niederschlag wie der<br />

Blick auf die in der Welt verstreuten Juden und auf die<br />

Ereignisse in Israel.<br />

Unendlich dankbar bin ich für die Freiheit, in den letzten<br />

Jahren über den Zustand zahlreicher jüdischer Gemeinden<br />

in Mitteleuropa, in Griechenland, in der Türkei,<br />

im Irak und sogar in Mexiko berichten zu können.<br />

Die Freude der Bewohnerinnen und Bewohner im jüdischen<br />

Altersheim im rumänischen Temesvár über das<br />

Interesse aus Wien bleibt unvergessen. Unauslöschlich<br />

eingraviert ist die Reise nach Minsk und in den Wald von<br />

Maly Trostinec, der zehntausenden jüdischen Männern,<br />

Frauen und Kindern zur mörderischen Falle wurde.<br />

„Das schönste Erlebnis und<br />

der beste Beweis dafür sind<br />

Gesprächspartnerinnen und<br />

Interviewpartner, denen man<br />

ein WINA-Exemplar beim<br />

Treffen herzeigt und die nicht<br />

nur höflich hineinblättern,<br />

sondern es einem gleich abspenstig<br />

machen.“<br />

Marta S. Halpert<br />

im Gespräch für WINA<br />

mit dem Schauspieler<br />

Samuel Finzi.<br />

Aber nicht nur Emotionalem<br />

begegnet die Journalistin:<br />

In Polen und Ungarn muss<br />

man sich mit den demokratiefeindlichen<br />

und antisemitischen<br />

Fakten auseinandersetzen<br />

und diese öffentlich<br />

anprangern. Aber auch Nonkonformisten,<br />

wie die Philosophin<br />

Ágnes Heller oder<br />

die Literaten György Konrád<br />

und András Forgách, wurden<br />

gehört, ebenso der kritische<br />

polnische Politologe Dariusz<br />

Stola. Auch dieser Aufgabe<br />

geht WINA nach.<br />

Ich hatte und habe das<br />

Glück, solch belastende Themen<br />

mit seelisch aufbauenden<br />

Begegnungen ausgleichen<br />

zu dürfen. Wenn der 90-jährige<br />

Neurowissenschaftler und<br />

Nobelpreisträger Eric Kandel<br />

anno 2018 vor seinem Geburtshaus<br />

im 9. Wiener Bezirk<br />

nach seiner humorvollen Rede zu tanzen beginnt, dann<br />

ist die Reporterin privilegiert. Wenn Israels Staatspräsident<br />

und Spross einer berühmten Familie während eines<br />

Wahlkampfs Zeit für ein WINA-Interview hat, darf<br />

man ein klein wenig stolz sein.<br />

Von Freude erfüllt sind die Gespräche mit kreativen<br />

und darstellenden Menschen: Ich durfte in diesen Jahren<br />

viele österreichische und internationale Künstler<br />

und zahlreiche israelische Künstlerinnen in den verschiedensten<br />

Sparten kennenlernen und porträtieren:<br />

Manche, wie Samuel Finzi, Chen Reiss oder Itay Tiran,<br />

auch über fast zehn Jahre auf ihrem Karriereweg begleiten.<br />

Sogar der mehrfache Lockdown konnte uns<br />

Reporterinnen und Redakteuren nichts anhaben: Im<br />

Homeoffice wurde weiter fleißig „auf dem Trockenen“<br />

recherchiert und historischen Geschichten nachgegangen,<br />

die keine persönlichen Treffen erforderten.<br />

Da wir aber doch „DAS jüdische Stadtmagazin“ sind,<br />

das Wichtigste zum Schluss: WINA transportiert sehr bewusst<br />

lebendiges und gelebtes Judentum in eine nichtjüdische<br />

Mehrheitsgesellschaft. Nur hier finden dem jüdischen<br />

Alltag entliehene, manchmal sehr persönliche<br />

Reminiszenzen einen gesicherten Raum.<br />

32 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

EIN BLICK HINTER DIE<br />

KULISSEN DER REDAKTION<br />

dezeber.indb 32 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

URBAN LEGENDS<br />

Das war doch<br />

gerade erst<br />

Zehn Jahre und 100 Hefte: WINA feiert Geburtstag, und irgendwie<br />

ist damit ein ans Herz gewachsenes Baby groß geworden.<br />

mmer mal wieder meint unsere Chefredakteurin,<br />

wir könnten doch diese interviewen oder jenen. Und<br />

ich sage dann: Habe ich doch gerade erst gemacht!<br />

Und dann sehe ich nach und mein gefühltes gerade<br />

erst war vor drei Jahren oder gar vor fünf oder sechs.<br />

Die Zeit zieht an einem vorbei und man meinte, dies<br />

oder jenes sei doch noch gar nicht<br />

Von Alexia Weiss lange her gewesen.<br />

WINA ist inzwischen zehn Jahre<br />

alt. Zehn Jahre! Als wir begonnen haben, WINA zu<br />

gestalten und mit interessanten Inhalten zu füllen,<br />

ging meine Tochter noch in den Kindergarten und<br />

war fünf Jahre alt. Nun ist sie 15 und geht in die Oberstufe<br />

des Gymnasiums. Sie werden so schnell groß,<br />

die Kinder, sagt man allgemein – und es stimmt. Und<br />

genauso schnell sind auch diese zehn Jahre WINA<br />

verflogen.<br />

Die Gesprächspartner und -partnerinnen werden<br />

zunehmend jünger. Jugendliche und junge Erwachsene,<br />

die wir in der Anfangszeit von WINA als Zukunft<br />

der jüdischen Gemeinde porträtiert haben, haben<br />

nun ihren Platz in der Community gefunden. Da fällt<br />

mir zum Beispiel die Sopranistin Ethel Merhaut ein,<br />

sie war einer der Stars des diesjährigen Festivals der<br />

jüdischen Kultur, aber auch der inzwischen politisch<br />

sehr umtriebige Bini Guttmann.<br />

Die Kehrseite der Medaille: Gespräche mit Zeitzeugen<br />

und -zeuginnen werden von Jahr zu Jahr rarer.<br />

Genau das waren und sind aber die Interviews,<br />

von denen man auch persönlich viel mitnimmt. Man<br />

kann noch so viel über die Zeit des nationalsozialistischen<br />

Terrors gelesen haben – wenn Menschen<br />

aus ihrem Leben erzählen, das Erlebte mit einem<br />

teilen, dann sind das immer ganz besondere Momente.<br />

Diese Gespräche vergisst man nicht, sie erweitern<br />

den eigenen Horizont sehr. Und hoffentlich<br />

auch den der Leser und Leserinnen: Das ist ja so die<br />

leise Hoffnung, die wir Schreibenden immer haben.<br />

Denn wir schreiben ja nicht für uns, sondern für Sie.<br />

Für Sie richten wir auch immer ein Potpourri an<br />

Geschichten an, und ja, da mag dem einen oder der<br />

anderen das eine oder andere gut, sehr gut oder<br />

auch einmal gar nicht gefallen. So ist das aber in einer<br />

so bunten und inhomogenen Gemeinde wie der<br />

Wiener Gemeinde eben: Und das macht sie ja auch<br />

so spannend und liebenswert. Wir alle sind unterschiedlich<br />

und haben verschiedenste Interesse – genauso<br />

bunt sind daher auch die Menschen und Themen,<br />

von denen wir in WINA erzählen.<br />

Ja, manche Hefte sind schwerer und schwermütiger<br />

als andere, die fröhlich und farbenfroh in Ihren<br />

Postkasten flattern. Die Themen Antisemitismus<br />

Die Kehrseite der Medaille: Gespräche<br />

mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen<br />

werden von Jahr zu Jahr rarer.<br />

Genau das waren und sind aber die<br />

Interviews, von denen man auch<br />

persönlich viel mitnimmt.<br />

und das Gedenken an die Schoah gehören aber zu<br />

jüdischem Leben dazu. Und ein jüdisches Magazin<br />

reflektiert die Dinge, die eine Gemeinde beschäftigen.<br />

Es ist also nicht möglich, nur über Kunst und<br />

Kultur und erfolgreiche Entrepreneurs zu berichten<br />

und die unangenehmeren Töne einfach auszuklammern.<br />

Am Ende macht es jener Mix, der potenziell<br />

möglichst viele anspricht und auch die ganze Bandbreite<br />

jüdischen Lebens widerspiegelt. Darum bemühen<br />

wir uns jedenfalls Monat für Monat. In diesem<br />

Sinn: auf die nächsten zehn Jahre!<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

33 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 33 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

Esther Graf<br />

Ich kenne niemanden,<br />

der so intellektuell<br />

war und dabei<br />

so humorvoll wie er.<br />

Das Judentum bedeutete<br />

für ihn nicht<br />

praktizierte Religion,<br />

sondern intellektuelle<br />

Auseinandersetzung.<br />

Friedensaktivismus<br />

vs. Nationalstolz<br />

Wie Begebenheiten des jüdischen Altertums bis heute unser Handeln<br />

prägen. Ein Kommentar zu „Wer war Gedalja? Eine Geschichte über<br />

Frieden“ von Georg Haber sel. A. Von Esther Graf<br />

<br />

Vorbemerkung<br />

Er gehörte zu denjenigen in der<br />

IKG, die für das Projekt WINA – Das jüdische Stadtmagazin<br />

von Anfang an Feuer und Flamme waren.<br />

Nicht nur, dass er sich für die Idee begeisterte:<br />

Er unterstützte das Vorhaben auch mit all<br />

seiner Kompetenz. Die Rede ist von meinem Vater,<br />

Georg Haber sel. A., der 2019 bei einem Unfall<br />

ums Leben kam. Ich kenne niemanden, der<br />

so intellektuell war und dabei so humorvoll wie<br />

er. Das Judentum bedeutete für ihn nicht praktizierte<br />

Religion, sondern intellektuelle Auseinandersetzung.<br />

Judentum, das war für ihn, fußend<br />

auf Thora und Talmud, eine vielfältige und<br />

reichhaltige Kultur, für deren Geistesgeschichte<br />

er sich ganz besonders interessierte. Dabei fokussierte<br />

er nicht eine bestimmte Epoche, sondern<br />

begeisterte sich vielmehr für spannende Denkansätze.<br />

Er las unheimlich viele Sachbücher zu<br />

jüdischen Themen und liebte die Gespräche darüber,<br />

während er sich zu journalistischen Beiträgen<br />

nur von Zeit zu Zeit überreden ließ. Für<br />

die allererste Ausgabe von WINA (1/2011) steuerte<br />

er eine philosophische Auseinandersetzung<br />

Georg und Eli Haber, 2014<br />

Er war viele Jahre lang Co-Geschäftsführer des<br />

WINA-Verlages, davor Direktor des Jüdischen Museums<br />

Wien. Sie organisierte unter anderem das<br />

jüdische Straßenfest in Wien. Gemeinsam waren Eli<br />

und Georg Haber über Jahrzehnte Herzstück und<br />

soziales Gewissen der jüdischen Gemeinde.<br />

© Daniel-Shaked<br />

© Wikimedia Commons, Bernd Schwabe, Hannover 2013<br />

34 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 34 28.12.21 03:32


EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />

Erschienen im<br />

November 2011<br />

„Den friedlichen Weg<br />

gewaltvollem Handeln<br />

vorzuziehen, hat sich tief<br />

in unsere jüdische Kultur<br />

eingegraben und wirkt<br />

spürbar bis heute nach.“<br />

© Daniel-Shaked<br />

© Wikimedia Commons, Bernd Schwabe, Hannover 2013<br />

mit der biblischen Ausnahmepersönlichkeit Gedalja<br />

bei. Seiner Aufforderung am Ende des Artikels – „Waren<br />

das nur kleine geschichtliche Episoden? Oder haben<br />

sie das Judentum nachhaltig geprägt? Es ist sicher<br />

wert, darüber nachzudenken“ – möchte ich mit meinem<br />

Beitrag nachkommen.<br />

Kernaussagen aus dem Artikel<br />

• GEDALJA ist die einzige biblische Persönlichkeit, der<br />

unabhängig von einem Feiertag ein eigener Fasttag gewidmet<br />

wurde (Zom Gedalja).<br />

• RABBINISCHE GELEHRTE haben mit dem Fasttag verankert,<br />

dass Juden es vorziehen sollen, fremde herrschende<br />

Autoritäten anzuerkennen, als ihrem Nationalstolz<br />

zu folgen und dadurch ein Blutvergießen zu<br />

verhindern.<br />

• DAS RELIGIÖSE JUDENTUM erklärt nur solche Persönlichkeiten<br />

zu Vorbildern, die friedliche Lösungen<br />

anstreben bzw. unterstützen.<br />

Was bedeutet das für unser<br />

jüdisches Handeln heute?<br />

Die Verknüpfung biblischer Bestimmungen und talmudischer<br />

Entscheidungen mit unserer Lebenswirklichkeit<br />

bildet den Nukleus des Judentums. Jede Generation<br />

ist dazu aufgefordert, den Tanach neu zu<br />

interpretieren. Das bedeutet konkret im Fall von Zom<br />

Gedalja, dass sich in Israel ein modernes Ritual entwickelt<br />

hat, an dem Fasttag eine Gedenkveranstaltung auf<br />

dem Rabin-Platz in Tel Aviv abzuhalten und damit eine<br />

Verbindung zwischen den beiden Friedensaktivisten<br />

Gedalja und Jitzchak Rabin herzustellen.<br />

Den friedlichen Weg gewaltvollem Handeln vorzuziehen,<br />

hat sich tief in unsere jüdische Kultur eingegraben<br />

und wirkt spürbar bis heute nach. Diese Prämisse<br />

bestimmt auch unser Tun, wenn es um den Umgang<br />

mit Anfeindungen und tätlichen Angriffen geht. In<br />

Anbetracht der sich häufenden antisemitischen Anschläge<br />

und Übergriffe von rechtsradikaler und islamistischer<br />

Seite hätten wir allen Grund, uns aggressiv<br />

zu wehren und unserer Wut mit Taten Ausdruck<br />

zu verleihen. Aber statt zur Ermordung islamistischer<br />

Hassprediger aufzurufen, wahllos arabisch gelesene<br />

Menschen auf der Straße zu beschimpfen oder Rechtsextremen<br />

aufzulauern, um sie zu verprügeln, tun wir<br />

nichts dergleichen. Wir orientieren uns, bewusst oder<br />

unbewusst, lieber an unseren Weisen und ziehen ähnlich<br />

wie Gedalja friedliches Handeln vor. Wir bleiben<br />

dabei nicht tatenlos, sondern nutzen die uns in einer<br />

demokratischen Gesellschaft zur Verfügung gestellten<br />

Mittel: Wir appellieren an Politiker:innen, bringen<br />

Vorkommnisse zur Anzeige, schreiben gegen die<br />

Bagatellisierung an, engagieren uns in antidiskriminierenden<br />

Vereinen und Gesprächskreisen und signalisieren<br />

unsere Gesprächsbereitschaft all denjenigen,<br />

die ebenso wie wir seit biblischen Zeiten in einer friedlichen,<br />

pluralen Gesellschaft leben wollen.<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

dezeber.indb 35 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

© Timna Segenreich<br />

Daniela<br />

Segenreich-Horsky<br />

Das Gefühl war unbeschreiblich:<br />

Ich sah<br />

über die Stadt, über<br />

die Zuggleise im Osten<br />

und bis zum Meer<br />

im Westen und spürte<br />

trotz des heißen<br />

Frühsommertags eine<br />

angenehme Brise.<br />

Unser Picknickplatz als<br />

größte Baustelle der Stadt<br />

Die Skyline von Tel Aviv wächst in rasantem Tempo. Hochhäuser sprießen<br />

aus dem Boden, und die Immobilienpreise sind so hoch, dass nun<br />

auch einige Grünflächen des Freizeitviertels Sarona den lukrativen<br />

Wohntürmen weichen mussten. Wohin entwickelt sich die Stadt?<br />

V<br />

Von Daniela <br />

Segenreich-Horsky<br />

Sarona wurde 1871 nach Straßenplänen<br />

des deutsch-jüdischen Architekten<br />

Theodor Sandels angelegt.<br />

or beinahe zehn Jahren schrieb ich meine<br />

erste WINA-Geschichte. Thema war die Abmachung<br />

zwischen einem großen Unternehmer<br />

und der Stadtverwaltung über die<br />

einstige Templersiedlung Sarona. Ich erinnere<br />

mich noch gut daran, wie ich damals,<br />

als ich an einem Wochenende in dem<br />

wegen der Renovierungsarbeiten abgegrenzten<br />

Gelände fotografieren wollte, über ein hohes Gittertor<br />

kletterte und dabei kurz oben steckenblieb. Das Gefühl<br />

war unbeschreiblich: Ich sah über die Stadt, über die<br />

Zuggleise im Osten und bis zum Meer im Westen und<br />

spürte trotz des heißen Frühsommertags eine angenehme<br />

Brise. Die Templer hatten den Standort gut gewählt,<br />

am zentralsten und höchsten Punkt zwischen dem<br />

Flussbett des Ayalon und der Küstenebene. Heute liegt<br />

Sarona mitten im Herzen von Tel Aviv und ist eine der<br />

teuersten Wohngegenden der Metropole.<br />

Die Siedler aus Deutschland brachten damals viele<br />

Neuerungen nach Palästina. Nun wird Sarona zum zweiten<br />

Mal in der Geschichte zum Schnittpunkt zwischen alt<br />

und neu. Wäre ich jetzt oben auf meinem Gittertor, dann<br />

wäre mir wohl die Aussicht verstellt und die Brise von<br />

den hohen Gebäuden ringsum abgeschnürt. Im letzten<br />

Jahrzehnt ist in Tel Aviv eine Skyline entstanden, die der<br />

einer modernen amerikanischen Stadt um nichts nachsteht.<br />

Die Bautätigkeit ist enorm, und die Wohnungspreise<br />

klettern mit den luxuriösen Wohntürmen um die<br />

Wette. Sie haben auch das historische Sarona verändert,<br />

das nun beide Extreme – die alten Ziegelhäuschen und<br />

die höchsten Wolkenkratzer der Stadt – vereint. „Als der<br />

erste Teil des Sarona-Projekts verwirklicht wurde, gab es<br />

noch nicht so viel Nachfrage, also wurden die Hochhäuser<br />

im südwestlichen Teil noch nicht errichtet“, erklärt<br />

Dr. Jeremie Hoffmann, Chef der Abteilung für Gebäudeerhaltung<br />

in der Tel Aviver Stadtverwaltung. Inzwischen<br />

© Wikimedia Commons, American Colony Photo Department or its successor the Matson Photo Service<br />

© Daniela Segenreich<br />

36 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 36 28.12.21 03:32


EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />

Erschienen im<br />

Juni 2012<br />

t<br />

© Wikimedia Commons, American Colony Photo Department or its successor the Matson Photo Service<br />

© Daniela Segenreich<br />

„Gegenwärtig<br />

ist unser<br />

einstiger<br />

Picknickplatz<br />

die<br />

wohl größte<br />

Baustelle der<br />

Stadt.“<br />

Sarona wird nun<br />

zum zweiten Mal in<br />

der Geschichte zum<br />

Schnittpunkt zwischen<br />

alt und neu.<br />

ist ein großer Teil des 15.000 Hektar fassenden Areals zur<br />

Baustelle geworden. Dort sollen jetzt drei weitere Luxustürme<br />

vierzig Stock hoch wachsen.<br />

Der vor über zehn Jahren abgeschlossene Deal zwischen<br />

dem Unternehmer Ran Steinman und der Stadtverwaltung<br />

sollte es ursprünglich ermöglichen, den<br />

historischen Sarona-Komplex zu erhalten. Steinman sicherte<br />

der Stadtverwaltung die originalgetreue Restaurierung<br />

der 150 Jahre alten Templerhäuschen zu und erhielt<br />

im Gegenzug die Genehmigung zur Errichtung von<br />

drei Wohntürmen am südlichen Rand der Siedlung. Unter<br />

Denkmalschutz wurden nicht nur die 34 historischen<br />

Bauten des Viertels, sondern auch die alten Eukalyptusbäume<br />

und Palmen gestellt. Es entstand ein pittoreskes,<br />

offenes Freizeit- und Shoppingcenter – jedes der einstöckigen<br />

Häuschen beherbergte<br />

Boutiquen, Cafés<br />

oder Restaurants. Und im<br />

Parterre der Neubauten<br />

wurde der überdachte<br />

Sarona-Markt eingerichtet.<br />

Gegen Südosten gab<br />

es einen zauberhaften<br />

Park mit einem kleinen<br />

Teich, von Bäumen gezierten<br />

Wegen und einer<br />

weitläufigen Grünfläche,<br />

auf der wir damals unser<br />

im Restaurant „Little<br />

Italy“ in einem großen<br />

Weidenkorb erstandenes<br />

Picknick verzehrten.<br />

Gegenwärtig ist unser<br />

einstiger Picknickplatz<br />

die wohl größte Baustelle<br />

der Stadt. Kräne und<br />

Baugerüste räkeln sich<br />

in dem an die Ibn-Gvirol-Straße<br />

angrenzenden<br />

Teil Saronas in den<br />

Himmel, Wiese, Teich<br />

und ein Teil der Templerhäuschen<br />

sind verschwunden.<br />

Der Boden Tel Avivs ist wohl zu teuer<br />

für so viele Grünflächen und einstöckige Bauten<br />

geworden. Der Mindestpreis für eine Wohnung in<br />

einem der dort entstehenden Hochhäuser beträgt<br />

zurzeit etwa 60.000 Schekel (zirka 17.000 Euro) pro<br />

Quadratmeter.<br />

Der Stadtarchitekt versichert jedoch, dass das<br />

Projekt Sarona auch auf die andere Seite der Kaplanstraße<br />

ausgeweitet werden soll. Damit würden<br />

in einigen Jahren – genaue Zeitangaben gibt es dazu<br />

noch nicht – auch das aus Sicherheitsgründen abgesperrte<br />

Areal der sogenannten Kiria, wo sich die israelische<br />

Militärverwaltung befindet, der Öffentlichkeit zugänglich<br />

gemacht und in einen großen Park verwandelt<br />

werden. Die Büros des Militärs würden dann laut Plan<br />

in neuen Hochhäusern am nördlichen Rand<br />

von Sarona untergebracht. Und weil in Tel Aviv<br />

Wohnraum gebraucht wird, soll gleich anschließend<br />

gegen Norden der Stadt und entlang der<br />

Ayalon-Autobahn eine Wohn- und Business-<br />

Zone mit Türmen von bis zu 80 Etagen entstehen.<br />

„Es wird alles sehr dicht sein. Das Glück ist,<br />

dass der Flugkorridor zum Ben-Gurion-Flughafen<br />

freigehalten werden muss. Deswegen wird<br />

man in diesem Gebiet nicht alles so hoch verbauen<br />

dürfen“, meint Hoffmann dazu.<br />

Die gute Nachricht ist, dass der Denkmalschutz<br />

in Tel Aviv in den letzten 30 Jahren Fuß<br />

gefasst hat. Hoffmann bestätigt ein erhöhtes Bewusstsein<br />

für die historischen und die aus symbolischen<br />

Gründen wichtigen Teile der Stadt,<br />

die Gebiete um das alte Zentrum von Jaffo, Newe<br />

Zedek, die eklektischen Häuser in „Lev Tel Aviv“<br />

sowie natürlich die Bauten im Bauhausstil und<br />

sogar den alten Fleischmarkt am Schuk HaCarmel:<br />

„Wir wollen keine sterile Stadt, der Charme<br />

dieser Viertel soll erhalten bleiben“, betont er.<br />

Daher sei es wichtig, das fragile Gleichgewicht<br />

zwischen alt und neu auszubalancieren. „Die<br />

Dinge brauchen Zeit, das sind langfristige Projekte,<br />

aber wenn Sie in zehn Jahren wieder herkommen,<br />

dann wird hier in Sarona vielleicht<br />

wieder ein Park sein.“<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

dezeber.indb 37 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

© Manfred Weis<br />

Reinhard Engel<br />

FIRMEN, EXPORTE,<br />

KOOPERATIONEN<br />

Der WINA-Wirtschaftsteil hat seit zehn<br />

Jahren mehrere Säulen. Da sind einmal<br />

Porträts österreichisch-jüdischer Unternehmerinnen<br />

und Manager. Das können<br />

Chefs traditioneller Handwerks- oder<br />

Gewerbebetriebe sein, Gründer medizinischer<br />

Labors oder unterschiedlichste<br />

Dienstleisterinnen – von der Architektin<br />

bis zum Caterer.<br />

Dann berichten wir über Exporterfolge<br />

oder technische Kooperationen österreichischer<br />

Firmen in Israel, etwa den Bau<br />

eines Wassertunnels für Jerusalem durch<br />

den Konzern Strabag, die Cyber-Security-<br />

Tochter des Anlagenbauers Andritz oder<br />

die Lieferung eines hochmodernen Logistikzentrums<br />

für die Supermarktkette<br />

Shufersal durch den steirischen Spezialisten<br />

Knapp.<br />

Einen bedeutenden Raum nimmt die<br />

Berichterstattung über die israelische<br />

Wirtschaft ein. Dabei stehen naturgemäß<br />

Hightech-Themen im Vordergrund:<br />

autonomes Fahren oder Hacker-Abwehr,<br />

Drohnenentwicklung und Chip-Produktion,<br />

Roboter für Rückgratoperationen<br />

oder pharmazeutische Generika. Doch<br />

auch in ganz anderen Nischen können israelische<br />

Unternehmen Erfolge vorweisen,<br />

etwa beim weltweiten Verkauf von<br />

sensorgesteuerten Anlagen zur Tröpfchenbewässerung,<br />

beim Export hochwertiger<br />

Datteln oder beim Züchten von<br />

Stören für die Kaviarproduktion.<br />

An dieser Themenvielfalt zeigen sich<br />

auch österreichische Gesprächspartner<br />

höchst interessiert, die mit Israel bisher<br />

kaum zu tun hatten, mit denen ich bei<br />

anderen Gelegenheiten Kontakt hatte:<br />

für Artikel in internationalen Medien oder<br />

bei der Recherche für Wirtschaftsbücher.<br />

Das Interview mit Dan Schechtman ist ein<br />

gutes Beispiel, denn er spricht nicht nur<br />

über Technologie, sondern auch über<br />

die dazu passende kreative und kritische<br />

Mentalität.<br />

„Eine Kultur des Wider sp<br />

nicht des Gehorchens“<br />

Nobelpreisträger Dan Shechtman sprach 2016 im WINA-Interview<br />

über die Gründe der zahlreichen Start-up-Erfolge, aber auch die Defizite<br />

der israelischen Wirtschaft.<br />

Interview & Foto: Reinhard Engel<br />

WINA: Herr Professor Shechtman, wir befinden uns im<br />

Haus der österreichischen Industrie vor zahlreichen Porträts<br />

einst hier erfolgreicher Unternehmensgründer. Heute<br />

gilt Israel als das Land der Start-ups. Worauf basiert diese nicht<br />

nur ihm Nahen Osten, sondern im globalen Vergleich äußerst<br />

erfolgreiche Entwicklung?<br />

Shechtman: Viele der besten globalen Konzerne betreiben<br />

in Israel Entwicklungsfirmen, „Development Centers“.<br />

Ich spreche da von den Intels der Welt – und zahlreichen<br />

anderen dieser Spielklasse. Aber das sind nicht<br />

nur Entwicklungszentren, das sind vielmehr echte Innovationszentren.<br />

Und diese erarbeiten neue Konzepte für<br />

die künftige IT-Technologie. Hier entwickelt man sowohl<br />

Software wie auch Chips, aber meist werden die Chips<br />

nicht in Israel produziert.<br />

Mit der Ausnahme von Intel, dem größten industriellen Produzenten<br />

des Landes mit mehreren Fabriken.<br />

I Das stimmt, Intel hat einige Fabriken in Israel, aber<br />

die meisten anderen produzieren nicht im Land. Man<br />

könnte es eine Art internen „Brain Drain“ nennen, weil<br />

so viele gute Köpfe für ausländische Unternehmen arbeiten.<br />

Das ist die schlechte Seite der Sache. Aber es gibt auch<br />

eine gute Seite: Die vielen Tausend Frauen und Männer,<br />

die in diesen Unternehmen arbeiten, stehen an der<br />

Spitze der weltweiten Technologieentwicklung. Sie wissen,<br />

was in fünf Jahren in der IT-Branche passieren wird.<br />

Und wenn sie eine gute Idee haben, verlassen sie ihr Unternehmen<br />

und gründen ein Start-up. Das heißt also,<br />

dass sie die Produkte der Zukunft entwickeln können.<br />

Das kann aber nicht sämtliche Erfolge erklären.<br />

I Natürlich gibt es noch andere Gründe. Einer davon betrifft<br />

das Militär. Sie wissen sicher, dass heute die Kriege<br />

zunehmend von der Informationstechnologie abhängen.<br />

Themen wie Cyber-Kriegsführung haben daher eine<br />

38 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 38 28.12.21 03:32


WINA: Herr Professor Shechtman, wir befinden uns hier im<br />

Haus der österreichischen Industrie, vor zahlreichen Porträts<br />

einst hier erfolgreicher Unternehmensgründer. Heute gilt Israel<br />

als das Land der Start-ups. Worauf basiert diese nicht nur<br />

im Nahen Osten, sondern im globalen Vergleich äußerst erfolgreiche<br />

Entwicklung?<br />

Dan Shechtman: Viele der besten globalen Konzerne betreiben<br />

in Israel Entwicklungsfirmen, so genannte „Development Centers“.<br />

Ich spreche da von den Intels der Welt – und zahlreichen<br />

anderen dieser Spielklasse. Aber das sind nicht nur Entwicklungszentren,<br />

das sind vielmehr echte Innovationszentren. Und<br />

diese erarbeiten neue Konzepte für die künftige IT-Technologie.<br />

Hier entwickelt man sowohl Software als auch Chips, aber<br />

meist werden die Chips nicht in Israel produziert.<br />

Mit der Ausnahme von Intel, das ist ja, mit mehreren Fabriken,<br />

der größte industrielle Produzent des Landes.<br />

❙ Das stimmt, Intel hat einige Fabriken in Israel, aber die meisten<br />

anderen produzieren nicht im Land. Man könnte es eine Art<br />

internen „Brain Drain“ nennen, weil so viele gute Köpfe für ausländische<br />

Unternehmen arbeiten. Das ist die schlechte Seite der<br />

Sache. Aber es gibt auch eine gute Seite: Diese vielen Tausend<br />

Frauen und Männer, die in diesen Unternehmen arbeiten, stehen<br />

ganz an der Spitze der weltweiten Technologie-Entwicklung.<br />

Sie wissen, was in fünf Jahren in der IT-Branche passieren<br />

wird. Und wenn sie eine gute Idee haben, verlassen sie ihr Unternehmen<br />

und gründen ein Start-up. Das heißt also, dass sie die<br />

Produkte der Zukunft entwickeln können.<br />

Das kann aber nicht sämtliche Erfolge erklären.<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

INNOVATION CYBERWAR<br />

SPITZENFORSCHUNG UND<br />

❙ Natürlich gibt es noch andere<br />

Gründe. Einer davon<br />

KINDERFERNSEHEN<br />

Dan Shechtman wurde 1941 im damaligen<br />

britischen Mandatsgebiet<br />

betrifft das Militär. Sie wissen<br />

sicher, dass heute die<br />

Palästina geboren. Er studierte Materialwissenschaft<br />

am Tech-nion in Haifa Kriege zunehmend von der<br />

und promovierte dort 1972, daneben Informationstechnologie abhängen.<br />

Themen wie Cyber-<br />

absolvierte er ein Ingenieurstudium,<br />

das er mit einem BSc abschloss. Es Kriegsführung haben daher<br />

folgten Forschungsjahre in den USA,<br />

eine ganz entscheidende Bedeutung<br />

erlangt. Und es gibt<br />

unter anderem an der John Hopkins<br />

University. Seit 1975 arbeitet er am<br />

Technion, er hält dort den Lehrstuhl eine große Zahl von Soldaten<br />

für Materialwissenschaften. Mehrere in Israel, die an dieser Cyber-<br />

Monate im Jahr unterrichtet er dasselbe<br />

Fach an der Iowa State University.<br />

Kriegsführung arbeiten.<br />

Shechtman erhielt 2011 den Nobelpreis<br />

für Physik für seine Erforschung Die Armee rekrutiert ja bereits<br />

an den Gymnasien die<br />

der so genannten Quasi-Kristalle. Dabei<br />

geht es um regelmäßige, aber aperiodische<br />

Strukturen von Molekülen in gangs für ihre IT-Spezialein-<br />

besten Schüler jedes Jahr-<br />

bestimmten Metalllegierungen. Diese<br />

heiten.<br />

Entdeckung, die lange im internationalen<br />

Wissenschaftsestablishment umstritten<br />

war, dient unter anderem dazu, ten sind dann an der Spitze der<br />

❙ So ist es. Auch diese Solda-<br />

Stähle oder Aluminiumverbindungen technologischen Entwicklung.<br />

mit höherer Härte zu erzeugen, sei es Und die Cyber-Technologien<br />

für die Medizintechnik oder für industrielle<br />

Anwendungen.<br />

können sowohl militärisch als<br />

Shechtman ist mit einer Psychologie- auch im zivilen Bereich eingesetzt<br />

werden. Wenn diese Sol-<br />

Professorin verheiratet, das Paar hat<br />

vier Kinder und 11 Enkelkinder. Neben daten das Militär verlassen,<br />

seiner Lehrtätigkeit gestaltete Shecht- gründen sie Start-ups, oft gemeinsam<br />

mit ehemaligen Kameraden<br />

bestimmter Einheiten. Darüber hinaus gibt es genug<br />

Financiers, Risikokapital, nicht zuletzt von ehemaligen Gründern,<br />

die ihr Unternehmen um mehrere 100 Millionen Dollar<br />

an einen internationalen Konzern verkauft haben.<br />

Und die verjubeln ihr Geld nicht in der Karibik?<br />

❙ Nein, meist nicht. Sie investieren es wieder in neue junge Unternehmen.<br />

Sie wollen damit natürlich noch mehr Geld machen.<br />

Aber was fast noch wichtiger ist: Sie engagieren sich auch<br />

in diesen Start-ups, helfen den Gründern, Fehler zu vermeiden,<br />

beraten sie, binden sie in ihre bestehenden Beziehungsnetze<br />

ein, und damit geht es noch einmal schneller mit der Unternehmensentwicklung.<br />

Ich möchte Sie nicht nur zur technischen Seite befragen, sondern<br />

auch zur Unternehmenskultur, denn die spielt sicherlich<br />

in einer derartig modernen Branche eine entscheidende<br />

Rolle. Ich darf Ihnen ein Negativbeispiel aus der europäischen<br />

Industrie geben, aus einer durchaus erfolgreichen Branche,<br />

der Automobilindustrie. Dort sprechen Unternehmensberater<br />

von einer Lehm- und Lähmschicht mittlerer Manager.<br />

Das heißt, die Unternehmen sind recht hierarchisch und bürokratisch<br />

aufgebaut.<br />

❙ Das ist eben in Israel ganz anders. Nicht nur, weil die Firmen<br />

jünger sind und allein deshalb noch nicht so bürokratisch. Es geht<br />

insgesamt viel informeller zu: Auch ein einfacher Entwicklungs-<br />

12 wına | März 2016<br />

ingenieur kann direkt zum Chef gehen, wenn ihm etwas einfällt,<br />

er muss sich nicht mühsam über einige Hierarchiestufen hinaufarbeiten,<br />

bis er einen Termin bekommt. Übrigens kann auch das<br />

mit dem Militär zu tun haben: Denn die beiden Männer hatten<br />

eventuell beim letzten Reserveeinsatz umgekehrte Rollen,<br />

da hatte der CEO den niedrigeren Rang und mussten den Befehlen<br />

des Ingenieurs gehorchen.<br />

Aber fehlende Hierarchie allein kann wohl die grundlegende Innovationsbereitschaft<br />

nicht erklären.<br />

❙ Es gibt zwei weitere essenzielle Grundlagen dafür. Das eine ist<br />

eine Kultur des Widersprechens, nicht des Gehorchens. Das betrifft<br />

nicht nur die Unternehmen, das betrifft die gesamte Gesellschaft.<br />

Es ist nicht ganz einfach, in so einer Gesellschaft zu<br />

leben, es lebt sich bequemer unter Braven. Aber so eine Gesellschaft<br />

ist sicherlich innovativ. Und der zweite Aspekt betrifft die<br />

Möglichkeit des Scheiterns und dass man das riskiert. Wir Israelis<br />

haben keine Angst zu scheitern. In Europa und noch viel<br />

mehr in Asien gilt Scheitern als Schande. Das ist in Israel nicht<br />

so. Man scheitert und probiert es aufs Neue.<br />

In Israel konzentrieren sich die meisten Start-ups im Bereich<br />

von Software und IT. Sie selbst kommen von einer technischen<br />

Universität, dem Technion in Haifa, und auch von der Fakultät<br />

für Materialwissenschaften und Ingenieurswesen. Glauben Sie,<br />

dass diese Konzentration der israelischen Firmengründer auf<br />

Software auch ein Nachteil sein kann? Anders gefragt: Braucht<br />

Israel auch einen produzierenden Sektor?<br />

❙ Sie haben Recht, die meisten Start-ups finden sich im Softwarebereich.<br />

Und sie haben auch Recht, wir brauchen mehr als<br />

nur diese eine Spezialisierung. Wir müssen auch Güter erzeugen,<br />

die man angreifen kann. Die meisten Start-ups tun das nicht, aber<br />

es gibt auch solche, etwa im Bereich moderner Medizintechnik.<br />

Ich denke da etwa an Untersuchungsmethoden mit niedriger<br />

Strahlung und anderes. Auch meine Universität, das Technion,<br />

hilft zahlreichen Start-ups in den unieigenen Inkubatoren. Unsere<br />

Universitäten kümmern sich auch um die kommerzielle Umsetzung<br />

und Vermarktung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse.<br />

Das ist übrigens am erfolgreichsten im Pharmabereich,<br />

von dort kommt das große Geld, und mit den Einnahmen von<br />

dort kann man wieder andere Gründer mit finanzieren.<br />

Es hat in jüngster Zeit wiederholt Vorwürfe gegeben, die israelische<br />

Start-up-Szene habe ein wenig an Dynamik verloren.<br />

Teilen Sie diese Ansicht?<br />

❙ Ich denke eigentlich nicht, aber es könnte durchaus sein. Die<br />

Wirtschaft läuft niemals nur geradeaus, es ist ein ewiges Auf und<br />

Ab. Japan hat gezeigt, dass es seine Dynamik für 20 Jahre verloren<br />

hat. Vielleicht hat Israel einmal zwei schwache Monate gehabt.<br />

Aber die Zukunft kennen wir natürlich nicht. Wir bringen<br />

jedenfalls immer noch sehr gute Köpfe hervor, und auch das<br />

Universitätssystem funktioniert gut. Wir leiden allerdings an einer<br />

zu geringen Zahl an Interessenten für die wissenschaftlichen<br />

und technischen Studienfächer. Und dagegen kämpfe ich auch<br />

persönlich an in meinem Land.<br />

DIKTATUREN VON MINDERHEITEN<br />

Lassen Sie mich noch einmal auf die israelische<br />

❙ Ich habe gerade eine Stadt im Süden<br />

Wirtschaft insgesamt zurückkommen. Der Hightechsektor<br />

ist zwar erfolgreich international<br />

germeister gesprochen. Dort hat eine<br />

von Israel besucht und mit dem Bür-<br />

aufgestellt und bringt sowohl Devisen als auch<br />

Gruppe streng religiöser Mädchen beim<br />

Ruhm. Daneben gibt es aber ein ganz anderes<br />

landesweiten Abschlusstest, der hiesigen<br />

Israel, viel tiefer im Nahen Osten zuhause, viel<br />

Matura vergleichbar, 100 Prozent der<br />

weniger produktiv und in manchen Aspekten sogar<br />

rückständig.<br />

derbar, aber dann heiraten sie, bekom-<br />

Punkte erreicht. Das ist natürlich wun-<br />

❙ Das stimmt, und wir haben daran mit Schuld,<br />

men Kinder – und arbeiten nicht mehr.<br />

wir haben uns in der Vergangenheit selbst Schaden<br />

Hier bin ich in Israel sehr kritisch, sage<br />

zugefügt. Es liegt schon etwas länger zurück, aber<br />

das laut und werde dafür auch kritisiert.<br />

man hat in Israel ganz bewusst die mechanische<br />

Ich meine, wenn jemand seinen Kindern<br />

und handwerkliche Ausbildung zerstört. Es gibt<br />

durch die Schulwahl künftige Optionen<br />

daher einen gewaltigen Mangel an Menschen mit<br />

nimmt, beschädigt er die Zukunft dieses<br />

diesen Fähigkeiten, ich meine Menschen, die Maschinen<br />

bedienen können. Das müssen wir korri-<br />

bestraft werden wie körperliche Züchti-<br />

Kindes. Das sollte vom Gesetz ähnlich<br />

gieren, aber ich bin mir nicht so sicher, dass die Regierung überhaupt<br />

schon bemerkt hat, welchen Fehler sie da gemacht hat. Die<br />

gung. Wenn er sein Kind schlägt, wird er auch bestraft.<br />

Schuld daran trifft übrigens nicht die derzeitige Regierung, das Und wie sieht es bei den israelischen Arabern aus?<br />

liegt Jahre zurück. Aber wir sollten auf jeden Fall wieder gezielt ❙ Die Gruppe der Araber ist, was ihre Ausbildung betrifft, klar<br />

mit dieser Ausbildung beginnen, an der Schnittstelle zwischen gespalten. Die christlichen Araber sind sehr erfolgreich, das steht<br />

technischem Arbeiter und Ingenieur. Wir brauchen Menschen, ganz außer Frage. Bei den Muslimen sieht es anders, weit weniger<br />

gut aus. Diesem Problem sollte man sich ernsthafter stellen.<br />

die CNC-Maschinen betreiben können, und wir brauchen Menschen,<br />

die gut schweißen können. An denen mangelt es, aber es<br />

gibt erste Privatinitiativen, um das zu ändern.<br />

Sie haben am Anfang des Gesprächs den „Brain Drain“ erwähnt,<br />

zwar nur in Israel gegenüber ausländischen Firmen,<br />

Welche Rolle spielen in Israel streng religiöse Juden und aber doch. Wie bewerten Sie die Entwicklung, dass Tausende<br />

Araber am Arbeitsmarkt? Kann man nicht in diesen Gruppen<br />

neue Interessenten für wissenschaftliche und technische Berlin und Kalifornien. Werden sie alle wieder zurückkommen<br />

von jungen Israelis im Ausland leben und arbeiten, zwischen<br />

Berufe suchen?<br />

und ihr dort erworbenes Wissen wieder zurückbringen, oder<br />

❙ Vor allem bei Religiösen und bei Arabern gibt es große Probleme<br />

am Arbeitsmarkt. Wenn sie arbeiten, arbeiten sie oft unter dass ihre Kinder nicht in einer Region aufwachsen, in der es<br />

könnten sie dauerhaft verloren gehen? Etwa weil sie wollen,<br />

schlechten Bedingungen, vielfach auch schwarz, in der informellen<br />

Wirtschaft. Es ist ein Problem, wir haben nicht genug kluge ❙ Es wird da keine allgemeine Regel geben. Manche werden blei-<br />

keine Aussicht auf dauerhaften Frieden gibt.<br />

Köpfe, und manche Haredim hätten diese Köpfe, wollen aber ben, und manche werden zurückkommen. Ich erzähle Ihnen von<br />

nicht im IT-Sektor arbeiten, das gilt übrigens auch für manche meiner eigenen Familie, und schon da sieht man beide Möglichkeiten.<br />

Ich habe vier Kinder, drei von ihnen leben in Kalifornien,<br />

Araber. Wenn sie die richtige Ausbildung hätten, würden sie gut<br />

bezahlte Jobs finden.<br />

im Silicon Valley. Eine Tochter wird nicht mehr zurückkommen,<br />

weil sie dort ihre Familie hat. Die beiden anderen werden, denke<br />

Aber diese Ausbildung haben sie nicht?<br />

ich, zurückkommen. Auf jeden Fall einer meiner Söhne, der gerade<br />

als Dr. der Physik seine Postdoc-Ausbildung bei einem No-<br />

❙ In den religiösen Schulen werden nicht einmal die Grundlagen<br />

für Mathematik und Wissenschaft gelehrt, ganz bewusst. belpreisträger in Stanford absolviert. Er ist vor einigen Wochen<br />

Es wird fast nur Religion unterrichtet. Die Regierung lässt ihnen<br />

das durchgehen, weil man sie in der Koalition braucht. Daten,<br />

weil er einen Job sucht: am Technion, am Weizman-Insti-<br />

nach Israel gereist und hat an vier Universitäten Lectures gehalgegen<br />

kann man kaum etwas machen, und ihre<br />

tut, in Tel Aviv und an der Bar Ilan. Eine<br />

Zahlen nehmen noch zu, in den Grundschulen<br />

Woche später hatte er zwei Angebote. Er<br />

geht es in Richtung zwanzig Prozent an Kindern,<br />

kommt auf jeden Fall zurück, und seine<br />

die keine wissenschaftlichen Grundlagen lernen.<br />

Frau arbeitet für Intel.<br />

Das ist ein ganz großes Problem. In der Demokratie<br />

kann es manchmal zu Diktaturen von Minderheiten<br />

kommen.<br />

kann sie vermutlich bei der dortigen<br />

Das heißt, wenn sie nach Israel kommt,<br />

Niederlassung arbeiten?<br />

Und gäbe es bei den Frauen der streng Religiösen<br />

eine Chance, sie für Technik zu begeistern?<br />

kommen will, haben sie ihr gesagt: „Be-<br />

❙ Als sie gehört haben, dass sie zurück-<br />

Viele von Ihnen arbeiten ja.<br />

eilen Sie sich, wir warten schon auf Sie.“<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />

INTERVIEW MIT DAN SHECHTMAN<br />

r sprechens,<br />

„ Eine Kultur des Widersprechens,<br />

nicht des Gehorchens“<br />

Nobelpreisträger Dan<br />

Shechtman über die Gründe der<br />

zahlreichen Start-up-Erfolge<br />

und über Defizite der israelischen<br />

Wirtschaft. Interview &<br />

Foto: Reinhard Engel<br />

„Wir Israelis<br />

haben keine Angst,<br />

zu scheitern. In Europa<br />

und noch viel<br />

mehr in Asien gilt<br />

Scheitern als<br />

Schande.“<br />

Dan Shechtman<br />

„In der Demokratie<br />

kann es<br />

manchmal zu<br />

Diktaturen von<br />

Minderheiten<br />

kommen.“<br />

Erschienen im<br />

März 2016<br />

ganz entscheidende Bedeutung erlangt. Und es gibt eine<br />

große Zahl von Soldaten in Israel, die an dieser Cyber-<br />

Kriegsführung arbeiten.<br />

Die Armee rekrutiert bereits an den Gymnasien die besten<br />

Schüler jedes Jahrgangs für ihre IT-Spezial-Einheiten.<br />

I So ist es. Auch diese Soldaten sind dann an der Spitze<br />

der technologischen Entwicklung. Und die Cyber-<br />

Technologien können sowohl militärisch wie auch im<br />

zivilen Bereich eingesetzt werden. Wenn diese Soldaten<br />

das Militär verlassen, gründen sie Start-ups, oft<br />

gemeinsam mit ehemaligen Kameraden bestimmter<br />

Einheiten. Darüber hinaus gibt es genug Financiers,<br />

Risikokapital, nicht zuletzt von ehemaligen Gründern,<br />

die ihr Unternehmen um mehrere 100 Millionen Dollar<br />

an einen internationalen Konzern verkauft haben.<br />

Und die verjubeln ihr Geld nicht in der Karibik?<br />

I Nein, meist nicht. Sie investieren es wieder in neue,<br />

junge Unternehmen. Sie wollen damit natürlich noch<br />

mehr Geld machen. Aber was fast noch wichtiger ist:<br />

Sie engagieren sich auch in diesen Start-ups, helfen<br />

den Gründern, Fehler zu vermeiden, beraten sie, binden<br />

sie in ihre bestehenden Beziehungsnetze ein, und<br />

damit geht es noch einmal schneller mit der Unternehmensentwicklung.<br />

Ich möchte Sie nicht nur zur technischen Seite befragen, sondern<br />

auch zur Unternehmenskultur, denn die spielt sicherlich<br />

in einer derart modernen Branche eine entscheidende Rolle.<br />

Ich darf Ihnen ein Negativbeispiel aus der europäischen Industrie<br />

geben, aus einer durchaus erfolgreichen Branche, der<br />

Automobilindustrie. Dort sprechen Unternehmensberater<br />

von einer Lehm- und Lähmschicht mittlerer Manager. Das<br />

heißt, die Unternehmen sind recht hierarchisch und bürokratisch<br />

aufgebaut.<br />

„[...] eine Kultur des<br />

Widersprechens,<br />

nicht des Gehorchens.<br />

Das betrifft nicht nur<br />

die Unternehmen, das<br />

betrifft die gesamte<br />

Gesellschaft.“<br />

Dan Shechtman<br />

I Das ist in Israel ganz anders. Nicht<br />

nur weil die Firmen jünger sind und<br />

allein deshalb noch nicht so bürokratisch.<br />

Es geht insgesamt viel informeller<br />

zu: Auch ein einfacher Entwicklungsingenieur<br />

kann direkt zum<br />

Chef gehen, wenn ihm etwas einfällt,<br />

er muss sich nicht mühsam über einige<br />

Hierarchiestufen hinaufarbeiten,<br />

bis er einen Termin bekommt. Übrigens kann auch<br />

das mit dem Militär zu tun haben, denn die beiden Männer<br />

hatten eventuell beim letzten Reserveeinsatz umgekehrte<br />

Rollen, da hatte der CEO den niedrigeren Rang<br />

und musste den Befehlen des Ingenieurs gehorchen.<br />

Aber eine flachere Hierarchie allein kann wohl die grundlegende<br />

Innovationsbereitschaft nicht erklären?<br />

I Es gibt zwei weitere essenzielle Grundlagen dafür. Das<br />

eine ist eine Kultur des Widersprechens, nicht des Gehorchens.<br />

Das betrifft nicht nur die Unternehmen, das betrifft<br />

die gesamte Gesellschaft. Es ist nicht ganz einfach,<br />

in so einer Gesellschaft zu leben, es lebt sich bequemer<br />

unter Braven. Aber so eine Gesellschaft ist sicherlich innovativ.<br />

Und der zweite Aspekt betrifft die Möglichkeit<br />

des Scheiterns und dass man das riskiert. In Europa und<br />

noch viel mehr in Asien gilt Scheitern als Schande. Das<br />

ist in Israel nicht so. Wir Israelis haben keine Angst davor<br />

zu scheitern. Man scheitert und probiert es aufs Neue.<br />

In Israel konzentrieren sich die meisten Start-ups im Bereich von<br />

Software und IT. Sie selbst kommen von einer technischen Universität,<br />

dem Technion in Haifa, und von der dortigen Fakultät<br />

für Materialwissenschaft und Ingenieurswesen. Glauben Sie,<br />

dass diese Konzentration der israelischen Firmengründer auf<br />

Software auch ein Nachteil sein kann? Anders gefragt: Braucht<br />

Israel auch einen produzierenden Sektor?<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

dezeber.indb 39 28.12.21 03:32


10 JAHRE WINA<br />

I Sie haben Recht, die meisten Start-ups finden sich im<br />

Softwarebereich. Und Sie haben auch Recht: Wir brauchen<br />

mehr als nur diese eine Spezialisierung. Wir müssen<br />

auch Güter erzeugen, die man angreifen kann. Die<br />

meisten Start-ups tun das nicht, aber es gibt auch solche,<br />

etwa im Bereich moderner Medizintechnik. Ich<br />

denke da etwa an Untersuchungsmethoden mit niedriger<br />

Strahlung und anderes. Auch das Technion hilft zahlreichen<br />

Start-ups in den universitätseigenen Inkubatoren.<br />

Unsere Universitäten kümmern sich zudem um die<br />

kommerzielle Umsetzung und Vermarktung der wissenschaftlichen<br />

Forschungsergebnisse. Das ist übrigens am<br />

erfolgreichsten im Pharmabereich, von dort kommt das<br />

große Geld. Und mit den Einnahmen kann man wieder<br />

andere Gründer mitfinanzieren.<br />

Es hat in jüngster Zeit wiederholt Vorwürfe gegeben, die israelische<br />

Start-up-Szene habe ein wenig an Dynamik verloren. Teilen<br />

Sie diese Ansicht?<br />

I Ich denke eigentlich nicht, aber es könnte durchaus<br />

sein. Doch die Wirtschaft läuft niemals nur geradeaus, es<br />

ist ein ewiges Auf und Ab. Japan hat gezeigt, dass es seine<br />

Dynamik für 20 Jahre verloren hat. Vielleicht hat Israel<br />

einmal zwei schwache Monate gehabt. Aber die Zukunft<br />

kennen wir natürlich nicht. Wir bringen jedenfalls immer<br />

noch sehr gute Köpfe hervor, und auch das Universitätssystem<br />

funktioniert gut. Wir leiden allerdings an<br />

einer zu geringen Zahl an Interessenten für die wissen-<br />

Dan Shechtman<br />

erhielt 2011 den Nobelpreis<br />

für Chemie<br />

für die Erforschung<br />

der Quasikristalle.<br />

vellupt assimint,<br />

WACHSENDE WIRTSCHAFT,<br />

NEUE AKTEURE<br />

Israel wurde zwar wie viele andere Länder<br />

auch schwer von der Corona-Krise getroffen.<br />

Der Rückgang der Wirtschaftsleistung im<br />

Gesamtjahr 2020 betrug allerdings laut israelischem<br />

Finanzministerium vergleichsweise<br />

milde minus 2,4 Prozent. Dabei zeige sich laut<br />

einer Analyse der WKO „deutlich die geringere<br />

Abhängigkeit vom Realsektor und die starke<br />

Performance der Dienstleistungsindustrie, die<br />

im Digitalisierungsboom von 2020 ebenfalls einen<br />

starken Wachstumsmotor hatte“. Im ersten<br />

Halbjahr <strong>2021</strong> wuchs die israelische Wirtschaft<br />

um 15,4 Prozent, nicht zuletzt getrieben vom<br />

Privatkonsum. Für das Gesamtjahr <strong>2021</strong> rechne<br />

man daher trotz weiterer Reisebeschränkungen<br />

und neuer Virusvarianten mit einem Wirtschaftswachstum<br />

von 4,2 Prozent.<br />

Auch in den letzten Jahren vor der Pandemie<br />

entwickelte sich der israelische Hightech-Sektor<br />

inklusive technologieorientierter Start-ups<br />

sehr gut. Es gab umfangreiche Investitionen internationaler<br />

Konzerne, auch das industrielle<br />

Flaggschiff Intel wird seine Produktion in Israel<br />

noch einmal deutlich erweitern. Was zentrale<br />

Kritikpunkte Shechtmans betrifft, so bemühen<br />

sich die Technologieunternehmen zunehmend<br />

auch um religiöse jüdische Frauen und – etwas<br />

vorsichtiger – um arabische Israelis als qualifizierte<br />

Mitarbeiter. Dennoch besteht hier noch<br />

erheblicher Nachholbedarf.<br />

schaftlichen und technischen Studienfächer. Dagegen<br />

kämpfe ich auch persönlich an in meinem Land.<br />

Lassen Sie mich noch einmal auf die israelische Wirtschaft insgesamt<br />

zurückkommen. Der Hightech-Sektor ist zwar erfolgreich,<br />

international aufgestellt und bringt sowohl Devisen wie auch<br />

Ruhm. Aber daneben gibt es ein ganz anderes Israel, viel tiefer<br />

im Nahen Osten zuhause, viel weniger produktiv und in manchen<br />

Aspekten sogar rückständig.<br />

I Das stimmt, und wir haben daran mit Schuld, wir haben<br />

uns in der Vergangenheit selbst Schaden zugefügt.<br />

Es liegt schon etwas länger zurück, aber man hat in Israel<br />

ganz bewusst die mechanische und handwerkliche<br />

Ausbildung zerstört. Es gibt daher einen gewaltigen Mangel<br />

an Menschen mit diesen Fähigkeiten, ich meine Menschen,<br />

die Maschinen bedienen können. Das müssen wir<br />

korrigieren, aber ich bin mir nicht so sicher, dass die Regierung<br />

überhaupt schon bemerkt hat, welchen Fehler<br />

40 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 40 28.12.21 03:32


Technologieunternehmen bemühen sich<br />

zunehmend auch um religiöse jüdische Frauen<br />

und – etwas vorsichtiger – um arabische<br />

Israelis als qualifizierte Mitarbeiter. Dennoch<br />

besteht hier noch erheblicher Nachholbedarf.<br />

sie da gemacht hat. Die Schuld daran trifft übrigens nicht<br />

die derzeitige Regierung, das liegt Jahre zurück. Aber wir<br />

sollten auf jeden Fall wieder gezielt mit dieser Ausbildung<br />

beginnen, an der Schnittstelle zwischen technischem Arbeiter<br />

und Ingenieur. Wir brauchen Menschen, die CNC-<br />

Maschinen betreiben können, und wir brauchen Menschen,<br />

die gut schweißen können. An denen mangelt es,<br />

aber es gibt erste Privatinitiativen, um das zu ändern.<br />

Welche Rolle spielen in Israel streng religiöse Juden und Araber<br />

am Arbeitsmarkt? Kann man nicht in diesen Gruppen neue Interessenten<br />

für wissenschaftliche und technische Berufe suchen?<br />

I Vor allem bei Religiösen und bei Arabern gibt es große<br />

Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Wenn sie arbeiten, arbeiten<br />

sie oft unter schlechten Bedingungen, vielfach<br />

auch schwarz, in der informellen Wirtschaft. Es ist ein<br />

Problem, wir haben nicht genug kluge Köpfe, und manche<br />

Haredim hätten diese Köpfe, wollen aber nicht im IT-<br />

Sektor arbeiten, das gilt übrigens auch für manche Araber.<br />

Wenn sie die richtige Ausbildung hätten, würden sie<br />

gut bezahlte Jobs finden.<br />

Aber diese Ausbildung haben sie nicht?<br />

I In den religiösen Schulen werden nicht einmal die<br />

Grundlagen für Mathematik und Wissenschaft gelehrt,<br />

ganz bewusst. Es wird fast nur Religion unterrichtet.<br />

Die Regierung lässt ihnen das durchgehen, weil man sie<br />

in der Koalition braucht. Dagegen kann man kaum etwas<br />

machen, und ihre Zahlen nehmen noch zu, in den<br />

Grundschulen geht ihr Prozentsatz in Richtung zwanzig<br />

Prozent, von Kindern, die keine wissenschaftlichen<br />

Grundlagen lernen. Das ist ein ganz großes Problem. In<br />

der Demokratie kann es manchmal zu Diktaturen von<br />

Minderheiten kommen.<br />

Und gäbe es bei den Frauen der streng Religiösen eine Chance,<br />

sie für Technik zu begeistern? Viele von ihnen arbeiten ja.<br />

I Ich habe gerade eine Stadt im Süden von Israel besucht<br />

und mit dem dortigen Bürgermeister gesprochen. Dort<br />

hat eine Gruppe streng religiöser Mädchen beim landesweiten<br />

Abschlusstest, der hiesigen Matura vergleichbar,<br />

100 Prozent der Punkte erreicht. Das ist natürlich<br />

SPITZENFORSCHUNG<br />

UND KINDERFERNSEHEN<br />

Dan Shechtman wurde 1941 als Sohn ukrainischer<br />

Einwanderer im damaligen britischen<br />

Mandatsgebiet Palästina geboren. Er studierte<br />

Materialwissenschaft am Technion in<br />

Haifa und promovierte dort 1972. Daneben absolvierte<br />

er ein Ingenieurstudium, das er mit einem<br />

BSc abschloss. Es folgten Forschungsjahre<br />

in den USA, unter anderem an der Johns Hopkins<br />

University. Seit 1975 arbeitet er am Technion<br />

und hält dort den Lehrstuhl für Materialwissenschaft.<br />

Dan Shechtman erhielt 2011 den Nobelpreis<br />

für Chemie für seine Erforschung der so genannten<br />

Quasikristalle. Dabei geht es um regelmäßige,<br />

aber aperiodische Strukturen von<br />

Molekülen in bestimmten Metalllegierungen.<br />

Diese Entdeckung, die lange im internationalen<br />

Wissenschaftsestablishment umstritten war,<br />

dient unter anderem dazu, Stahle oder Aluminiumverbindungen<br />

mit höherer Härte zu erzeugen,<br />

sei es für die Medizintechnik oder für<br />

industrielle Anwendungen.<br />

Dan Shechtman ist mit der Psychologieprofessorin<br />

Tzipora Shechtman verheiratet, das<br />

Paar hat vier Kinder und zahlreiche Enkelkinder.<br />

Neben seiner Lehrtätigkeit gestaltete Dan<br />

Shechtman unter anderem Wissenschaftssendungen<br />

für Kinder im israelischen Fernsehen<br />

und versuchte 2014 erfolglos, für das Amt des<br />

israelischen Staatspräsidenten zu kandidieren.<br />

wunderbar, aber dann heiraten sie, bekommen Kinder<br />

und arbeiten nicht mehr. Hier bin ich in Israel sehr kritisch,<br />

sage das laut – und werde dafür auch kritisiert. Ich<br />

meine, wenn jemand seinen Kindern durch die Schulwahl<br />

künftige Optionen nimmt, dann beschädigt er die<br />

Zukunft dieses Kindes. Das sollte vom Gesetz ähnlich bestraft<br />

werden wie körperliche Züchtigung. Wenn jemand<br />

sein Kind schlägt, wird er auch bestraft.<br />

Und wie sieht es bei den israelischen Arabern aus?<br />

I Die Gruppe der Araber ist, was ihre Ausbildung betrifft,<br />

klar gespalten. Die christlichen Araber sind sehr erfolgreich,<br />

das steht außer Frage. Bei den Muslimen sieht es<br />

weit weniger gut aus. Diesem Problem sollte man sich<br />

ernsthafter stellen.<br />

Professor Shechtman, danke für das Gespräch.<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

dezeber.indb 41 28.12.21 03:32


noch lesen.<br />

war, .<br />

ich .<br />

Larissa Kravitz:<br />

Money, honey!<br />

Podcast:<br />

© Avi Kravitz<br />

das LeTZTe MaL<br />

eine ruhige Kugel ohne<br />

schlechtes Gewissen gescho-<br />

© Lukas Ilgner<br />

Das letzte Mal,<br />

wieder einmal „Shape Of You“ gesungen.<br />

Richtiger Ohrwurm!<br />

fee trinken kann.<br />

scha fst auch du.“<br />

gefühlt habe .<br />

länger aus.<br />

© Benjamin Ostertag<br />

56 wına | Mai 2017<br />

Das letzte Mal beeindruckt von<br />

einem filmischen Ereignis war<br />

ich …<br />

. bei der Berlinale. Dort gibt es so<br />

wundervo le Kinos in einer Dimen-<br />

filmen.<br />

Leben.<br />

sein.“<br />

als .<br />

einstigen Opere<br />

tendiva Fritzi<br />

der Malerin Eva<br />

He rmann (Julia<br />

Resinger) im<br />

Stück EXILLos-<br />

Angeles – # He-<br />

© X xxx<br />

kommen.<br />

da s ich dachte: „Es steckt doch mehr<br />

Orient als Melange in mir" war . als ich endgültig realisierte, da s ich<br />

bei aller Liebe zu Wien, der Stadt wo ich<br />

wohne und arbeite, den Ka fee ohne<br />

Milch und orientalisch zubereitet bevorzuge.<br />

war .<br />

Das letzte Mal, da s ich mir gewünscht<br />

habe, doch ein kleineres und leichteres<br />

Musikinstrument erlernt zu haben,<br />

Diesen Gedanken kenne ich von der<br />

Zeit, also ich noch KEIN Akkordeon<br />

besaß. Da spielte ich nämlich vorwiegend<br />

Klavier, manchmal auch elektronisches<br />

Keyboard. Und im Vergleich dazu<br />

war und ist das Akkordeon ein Leichtgewicht.<br />

ich . .<br />

Das letzte …<br />

Mal zu „The Sound of Music“<br />

gesungen habe ich …<br />

Ich summe lieber als zu singen. Der<br />

Soundtrack besteht aus vielen Ohr-<br />

Das letzte Mal, da s mich ein<br />

bestimmter Musicsound berührt<br />

hat, war …<br />

tern konnte …<br />

© Bernahrd Schramm<br />

© Xxx x<br />

Das letzte Mal<br />

ein bi sele Mazl ha te ich,<br />

als ich versucht habe, schauspielerisch<br />

gegen einen Türstock zu knallen,<br />

und mich beinahe wirklich am<br />

Knie verletzt hätte.<br />

Das letzte Mal, da s mir das Gegenteil<br />

davon − also ein Schlamassel<br />

− passiert ist, war,<br />

als ich einen Aufnahmetermin<br />

abends im ORF datummäßig verwechselte<br />

und ein ganzes Aufnahmeteam<br />

plus Ko legen im Studio<br />

auf mich warteten, während ich bereits<br />

im Pyjama vorm Fernseher lag.<br />

Das letzte Mal, da s ich in meiner<br />

Freizeit musiziert habe, .<br />

gab es nicht, denn ich singe jeden<br />

Tag vor mich hin.<br />

Das letzte Mal Lampenfieber<br />

ha te ich …<br />

vor dem ersten Wort einer neuen<br />

Lesung, die ich selbst zusammengeste<br />

lt ha te. Stimmen das Programm,<br />

das Timing, die Intensität<br />

…?<br />

Das letzte Mal als waschechter<br />

Wiener gefühlt habe ich mich …,<br />

als ich in den Nachrichten hören<br />

mu ste, da s sich die Beamten in<br />

den Aufnahmeverfahren Asylwerbern<br />

und deren Helfern gegenüber<br />

immer schlechter benehmen. Naja,<br />

wer’s nicht schon wu ste .<br />

1 wına | November 2018<br />

© Markus Morianz<br />

Moscovici mit seiner Panflöte sowie andere illustre Übe raschungsgäste erwartet.<br />

eröffnungsgala A bi sele Mazl,<br />

29. November, 19 Uhr, MuTh.<br />

yiddishculturevienna.at<br />

© Ernst Kainerstorfer<br />

10 JAHRE WINA<br />

DAS LETZTE MAL<br />

das LETZTE MAL<br />

das LETzTE MAL<br />

daS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal unter der Dusche gesungen<br />

habe ich …<br />

Das letzte Mal<br />

Das letzte Mal<br />

heute Morgen. Bei mir läuft immer das<br />

Radio im Badezimmer. Ed Sheeran hat<br />

würmern. Durch ständiges Mitsingen<br />

komme ich aber noch auf neue Ideen.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal .<br />

Das letzte Mal zu viel Geld für etwas<br />

ausgegeben habe ich .<br />

. für eine handgemachte Hochzeitskarte<br />

mit aufgeklebten Herzen aus Filz und Holz.<br />

Sie war dadurch so dick, da s sie kaum<br />

mehr durch den Schlitz der Hochzeitsbox<br />

pa ste. Als ich sie durchpre ste, ri s die<br />

Deko ab. Ich ho fe, man konnte den Inhalt<br />

Das letzte Mal eine Fehlinvestition<br />

getätigt habe ich, .<br />

. als ich überhastet eine Perücke gekauft<br />

habe. Sie liegt nun quasi ungebraucht im<br />

Schrank, und ich trage eine andere.<br />

Das letzte Mal viel Zeit in etwas<br />

Sinnvo les investiert habe ich, .<br />

. als ich mein Buch geschrieben habe.<br />

Ich las Dutzende Studien zu den Themen<br />

Finanzmathematik, Makroökonomie und<br />

Verhaltenspsychologie. Die Ergebni se<br />

von 120 dieser Studien ließ ich in den<br />

Text einfließen.<br />

Das letzte Mal, da s ich meinem<br />

Ehemann Finanztipps gegeben habe,<br />

. als ich ihm erklärt habe, wie er mi tels<br />

Stop-Lo s-Orders seine Wertpapierpositionen<br />

absichern kann.<br />

Das letzte Mal Lo to gespielt habe<br />

. vor ein p ar Wochen, bevor ich<br />

meine Oma besucht habe. Ich kaufe<br />

ihr gelegentlich einen Lo toschein.<br />

Als Zahlen nehme ich immer die<br />

Geburtstage ihrer Enkel und Urenkel.<br />

1 wına | März 2020<br />

Vorsorgen und Investieren<br />

für Einsteigerinnen.<br />

Kremayr & Scheriau, 2020.<br />

240 S., 2 €<br />

investorella.podig e.io<br />

GLÜCKS-<br />

ZAHLEN<br />

ben habe ich …<br />

letzten Mi twoch. Ich habe eine<br />

erfolgreiche und anstrengende<br />

Prüfung hinter mich gebracht<br />

und mir danach ein intensives<br />

Training mit anschließendem<br />

Saunabesuch im Hakoah-<br />

Zentrum gegönnt.<br />

Den letzten kulinarischen<br />

„Strike“ habe ich …<br />

… vergangenes Jahr zu Rosch<br />

ha-Schana hingelegt, als mir<br />

der Gefi lte Fisch besonders<br />

gut gelungen ist.<br />

Das letzte Mal aus der Bahn<br />

geworfen hat mich …<br />

… die Geburt meiner Töchter –<br />

im positiven Sinn!<br />

Meinen letzten großen<br />

sportlichen Moment habe<br />

ich gehabt …,<br />

… als ich mit meinem geliebten<br />

Bowling-Team den letzten Platz<br />

in der Liga erfolgreich verteidigen<br />

konnte.<br />

Das letzte Mal The Big Lebowski<br />

gesehen habe ich …<br />

… vor einem Monat, einmal<br />

im Monat muss es schon sein.<br />

Der Film ist Kult!<br />

56 wına | April 2017<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In<br />

diesem Monat ve rät uns Finanzexpertin Larissa Kravitz eine haarige<br />

Fehlinvestition, die besten Anlagen in sich selbst und wann die<br />

Börsenspezialistin auch mal Lotto spielt.<br />

Lari sa Kravitz kaufte bereits mit 14 Jahren ihre ersten Aktien.<br />

Sie studierte Bank- und Finanzwirtschaft in Wien sowie Quantitative<br />

Trading and Financial Engineering in Monaco und arbeitete als<br />

Aktienhändlerin. Mit 25 baute sie das Treasury Management für ein<br />

Solarenergieunternehmen auf, mit 32 Jahren war sie Aufsichtsrätin<br />

bei Immofinanz. 2018 konzentrierte sie sich dann<br />

auf das, was ihr am meisten am Herzen liegt: die finanzie le<br />

Autonomie von Frauen. Als „Investorella“ bietet sie Frauenworkshops<br />

zu Anlagethemen an, gestaltet einen feministischen Podcast<br />

über nachhaltiges Investment und bringt nun mit Money, honey!<br />

ein Buch heraus, das der ideale Begleiter für Frauen in die Welt<br />

des Geldes sein so l.<br />

Letzter PLatz?<br />

erfoLgreich<br />

verteidigt!<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch<br />

ein letztes. Daniel Rosenberg, Obmann des<br />

S.C. Hakoah Bowling in Wien, ve rät uns,<br />

welchen kulinarischen Strike er vergangenes<br />

Jahr hinlegte und was ihn einmal im<br />

Monat vor das TV-Gerät lockt.<br />

2011 gründete Daniel Rosenberg die Sektion<br />

Bowling beim S.C. Hakoah. Das Team trainiert<br />

jeden Dienstag von 16 bis 17.30 Uhr<br />

(außer feiertags) in der ehemaligen Brunswick-<br />

Bowling-Ha le im Prater. Bi te vorher anmelden:<br />

bowling@hakoah.at<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal…<br />

© privat<br />

etwas Neues gelernt habe ich .<br />

. von meiner Tochter. Sie ist ein ständiger<br />

Que l neuer Erkenntni se über moderne<br />

Kommunikationstechnologien: Kennen Sie<br />

den Snapchat-Hunde-Foto-Filter? Schlappohren<br />

stehen den wenigsten Menschen<br />

gut, habe ich festgestellt.<br />

Das letzte Mal, da s ich ehrlich optimistisch<br />

in Zeiten von Klimakatastrophe,<br />

politischem Populismus&Co in<br />

die Zukunft blickte, war .<br />

. jeden Morgen: Ohne Optimismus entsteht<br />

nichts Großes. Ich halte es mit<br />

Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist,<br />

wächst das Re tende auch.“<br />

Das letzte Mal froh darüber, nicht mehr<br />

in der Politik zu arbeiten, war ich . .. als ich meiner Nachfolgerin mit großer<br />

Zustimmung bei einer TV-Disku sion zugehört<br />

habe. He r Strache inklusive.<br />

Das letzte Mal Hummus gege sen<br />

habe ich .<br />

. kurz vor Weihnachten, beim Frühstück<br />

in einem kleinen Hotel.<br />

Das letzte Mal etwas Wienerisches in<br />

Israel vermi st habe ich .<br />

.. in der unergründlichen Rush-Hour in<br />

Tel Aviv: die Wiener U-Bahn.<br />

Das letzte Mal „Freundschaft“ gesagt<br />

habe ich .<br />

Es pa siert immer wieder, da s mich<br />

Menschen auf der Straße so begrüßen.<br />

Das freut mich und wird natürlich<br />

ko rekt erwidert.<br />

Das letzte Mal meine Frau während der<br />

gemeinsamen Arbeitszeit beeindruckt<br />

habe ich .<br />

Sie sagt: damit, da s ich mich in Meetings<br />

mit anderen Alphatieren wie ein normaler<br />

höflicher Mensch verhalte. Gut, das Gefühl,<br />

da s ich jemandem etwas beweisen<br />

mu s, habe ich längst abgelegt.<br />

64 wına | <strong>Jänner</strong>/Februar 2019<br />

VON SCHLAPPOHREN UND<br />

ALPHATIEREN<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat erklärt Ex-Kanzler Christian Kern,<br />

warum er in seiner neuen Heimat Tel Aviv die Wiener<br />

U-Bahn vermisst und womit er seine Frau während der<br />

gemeinsamen Arbeitszeit beeindruckt.<br />

Endgültiger Abschied von der Politik: Ende 2018 ist Ex-Kanzler<br />

Christian Kern als Dri teleigentümer in der Blue Minds Gruppe, der<br />

Firma seiner Frau Eveline Steinberger-Kern, eingestiegen. Das Unternehmen<br />

hat seinen Sitz in Wien und Israel – in Tel Aviv plant Christian<br />

Kern zukünftig die Hälfte seiner Zeit zu verbringen. Dort entwickelt<br />

die Gruppe Busine smodelle für digitale Transformation im<br />

Bereich der Energiesysteme.<br />

Das letzte Mal bei einem We tbewerb<br />

teilgenommen habe ich selbst …<br />

vor fast sieben Jahren, es ist also schon<br />

ziemlich lange her. Es war das alljährliche<br />

und traditione le Sportfest der Juko,<br />

bei dem a le Jugendorganisationen teilnehmen.<br />

Ich war damals im Hashomer<br />

Hatzair als Madricha – also Gruppenleiterin<br />

– mit, habe aber nicht nur meine Chanichim<br />

(Schützlinge) angefeuert, sondern<br />

auch selbst mitgespielt.<br />

Das letzte Mal, dass ich Wien wunderbar<br />

fand, war …<br />

eigentlich jedes Mal, wenn ich durch die<br />

Innenstadt gehe. Ich liebe die Architektur<br />

und den Charme, den sie mit sich bringt.<br />

Vor a lem im Sommer, wenn man dann<br />

auch noch im alten Burgarten umgeben<br />

von den Ringbauten einen kalten Eiskaf-<br />

Das letzte Mal an eine riesigen Tafel<br />

mit vielen Leuten saß ich …<br />

beim Shabbes Essen in der JÖH. Das<br />

neue Board der Jüdischen Hochschüler<br />

hat ein Shabbat-Dinner organisiert, an<br />

dem ungefähr dreißig Leute teilgenommen<br />

haben. Wir saßen a le gemeinsam an<br />

einem langen Tisch, plauderten und haben<br />

das gute Essen genossen. Ein wirklich<br />

gelungener Abend.<br />

Das letzte Mal einem guility pleasure im<br />

TV nachgegeben habe ich …<br />

vor etwa zwei Jahren mit meiner kleinen<br />

Nichte, die damals „Germanys Next Topmodel“<br />

geliebt hat. Nun ja, ich kann ihr<br />

kaum einen Wunsch abschlagen, also<br />

musste ich mir einen ganzen Abend lang<br />

Heidi Klum und die Zickenkämpfe unter<br />

den Teilnehmerinnen ansehen. Was tut<br />

man nicht alles für die Familie!<br />

64 wına | März 2017<br />

Von ChaniChim und<br />

der lieben<br />

misChpoke<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal –<br />

aber auch ein letztes. In diesem Monat<br />

berichtet „Jew-Factor“- Moderatorin Jenny<br />

Mitbreit über Eiska fee im Burggarten<br />

und GNTM mit der kleinen Nichte.<br />

Jenny Mitbreit, 22, studiert Judaistik an der Uni Wien<br />

und ist die Moderatorin von „THE JEW FACTOR 2017“.<br />

Bei der Talentshow ba tlen die Jüdischen Jugendorganisationen<br />

mit ihren Performances um Ruhm und Ehre<br />

und letztlich auch einen hübschen Siegerpokal.<br />

„THE JEW FACTOR 2017“, 5. März 2017,<br />

18.00 Uhr, Konzertsaal „Haus der Begegnung“,<br />

Praterstraße 1, 1020 Wien,<br />

Ticketverkauf bei den Jugendorganisationen<br />

oder bei der Abendka sa ab 17.30 Uhr.<br />

Das lETzTE MAl<br />

© SX x<br />

Das letzte Mal, dass ….<br />

… mir jemand eine wichtige<br />

„Regieanweisung fürs Leben“<br />

gegeben hat, war ….<br />

.. als mir meine 85-jährige Oma eine<br />

WhatsApp-Nachricht geschrieben hat<br />

mit den Worten: „Ich denke, zehn<br />

Minuten pro Woche nichts tun<br />

… ich sprachlos war, war …<br />

. in negativer Weise am Wahltag.<br />

Und in positiver Weise immer dann<br />

(und das ist selten), wenn ich merke,<br />

dass ich jemanden wirklich mag.<br />

… ich mich auf eine abgelegene<br />

Insel gewünscht habe, war …<br />

. bei unserer letzten makemake-Inszenierung<br />

Atlas der abgelegenen<br />

Inseln, denn da geht es um die<br />

Utopie der abgelegenen Orte.<br />

… ich einen neuen Ort für mich hier<br />

in Wien erkundet habe, war .<br />

Ich befinde mich in einem konstanten<br />

Modus von aus Wien weggehen und<br />

in Wien ankommen – dabei verändert<br />

sich der Blick doch ständig, auch auf<br />

a les, was da schon lange und immer<br />

ist. Das mag ich sehr.<br />

… ich mich als echte Wienerin<br />

U f, ich weiß nicht. „Echte Wienerin“<br />

– das ist nicht meine Frage. Mich<br />

überfordert meist schon die Überlegung,<br />

ob ich ich bin. Diese Frage<br />

reicht mir dann auch erst mal für<br />

1 wına | <strong>Dezember</strong> 2017<br />

ich?<br />

Bin ich<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Regisseurin Sara Ostertag berichtet über die WhatsApp-Nachricht<br />

ihrer Oma und erzählt, was (und wer) sie sprachlos macht.<br />

Sara Ostertag wurde 1985 in Wien geboren und arbeitet als Regi seurin,<br />

Choreografin und Theaterpädagogin in Öste reich und Deutschland.<br />

2009 gründet sie mit anderen KünstlerInnen das Ko lektiv makemake<br />

produktionen, mit dem zahlreiche preisgekrönte Arbeiten im Bereich Theater für<br />

junges Publikum entstanden. Die Gruppe hat auch die aktue le Inszenierung von<br />

Sara Ostertag, Mu tersprache Mameloschn, koproduziert.<br />

Mu tersprache Mameloschn<br />

In dem sprachlich virtuosen und temporeichen Text der jungen Autorin Sasha Marianna<br />

Salzmann geht es um Frauen, die über Frauen sprechen. Genauer: um drei Generationen<br />

jüdischer Frauen, die sich an der unmöglichen Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens<br />

abarbeiten. Kosmos Theater, 5.–16.12.2017 und 4.–24.2.2018, 20 Uhr.<br />

kosmostheater.at<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich einen musikalischen Glücksmoment<br />

hatte …<br />

Glücklicherweise waren es sogar zwei Momente,<br />

und das erst vor kurzer Zeit: Der erste war unsere<br />

Live-Session mit Interview und Jam auf<br />

FM4. Mi ten in der Nacht in einer kleinen Sound-<br />

Booth. Kuschelig und cool haben wir dort viele<br />

schöne Live-Kommentare bekommen.<br />

Und ich bereite zur Zeit mit einem jungen Künstler<br />

ein Projekt vor, das ich selbst produziere und<br />

schreibe. Wir haben gemeinsam an einem Lied<br />

gearbeitet – und nach drei Stunden war der<br />

erste Versuch, das Lied als Ganzes zu singen, ein<br />

to ler „Aha-Moment“.<br />

Das letzte Mal, dass ich mich wie eine echte<br />

Wienerin fühlte .<br />

Den heutigen Abend verbrachte ich mit meinem<br />

Freund zu Hause, und er hat mich übe redet, Josef<br />

Hader anzuschauen .. Sämtliche Charaktere,<br />

die Hader in seinem Programm verkörperte,<br />

kannte ich bereits aus meinem Leben in Wien.<br />

Das letzte Mal, da s ich gerne wild gewesen<br />

wäre, es aber leider doch nicht war .<br />

Ein sehr jüdischer Moment: Ein Facharzt, den<br />

ich konsultierte, hat mir nur drei Minuten seiner<br />

Zeit gewidmet. Ich wo lte einfach schreien: „Ich<br />

bin mir sicher, da s du diese Unannehmlichkeiten<br />

überhaupt nicht kennst, also versuche zumindest,<br />

mir dein Mitleid vorzutäuschen! Ah –<br />

und gib mir eine konkrete Lösung!“ Im Ende fekt<br />

habe ich es dann doch nicht gemacht. Aber ich<br />

glaube, ich gehe in Zukunft ohnehin lieber zu einem<br />

anderen Arzt.<br />

Das letzte Mal zu richtigen Zeit am richtigen<br />

Ort war ich . Die Musik hat mich zur richtigen Zeit an den richtigen<br />

Ort gebracht, als ich meinen Freund kennen<br />

gelernt habe. Es waren verschiedene Zufä<br />

le, die uns zusammengebracht haben. Timing<br />

war sehr wichtig in unserem Fall – und ich bin<br />

seitdem sehr sehr glücklich :-).<br />

Das letzte Mal zu viel Geld ausgegeben<br />

habe ich …<br />

Zu viel gebe ich nie aus – aber ich habe einen<br />

Soft-Spot für Second-Hand-Kleidung und coole<br />

A cessoires. Wenn ich bei einem HUMANA-Shop<br />

vorbeifahre, mu s ich einfach hineinsehen – und<br />

es kommen immer wieder „Metzies“ dabei heraus.<br />

Als ich meine Familie in London zu Rosch<br />

ha-Schana besucht habe, bin ich auch mit einem<br />

vo len Ko fer nach Hause geflogen. Lieblingsstück<br />

daraus ist ein Blumenhut. Ich bin mir noch<br />

nicht sicher, zu welchem Event ich ihn tragen<br />

könnte, aber er is trotzdem sehr schön!<br />

1 wına | <strong>Dezember</strong> 2016<br />

Das LETZTE MAL<br />

sion, wie ich sie selbst nur aus Filmen<br />

kannte. Beim Film Beuys im<br />

vo len Friedrichstadtpalast blieb<br />

mir der Atem weg.<br />

Das letzte Mal filmreif gefeiert<br />

habe ich …<br />

. beim Sederabend auf Einladung<br />

meiner Mu ter, mit meinen Schwestern<br />

und unseren Kindern, also<br />

drei Generationen. Es war ein festliches<br />

Tohuwabohu, wir können ja<br />

a le nicht sti l halten. Das sind dann<br />

Szenen wie aus einem Woody-Allen-<br />

Film, ich würde das gerne mal mit<br />

Meine letzte oscarverdächtige<br />

Leistung war …<br />

. vie leicht, als ich unseren Kater<br />

mitten in der Nacht intuitiv gepflegt<br />

habe, als er von einem Marder völlig<br />

zerkratzt und zerbissen, nass und<br />

zi ternd nach Hause gekommen ist.<br />

Nach zwei Stunden hat er sich beruhigt,<br />

und am nächsten Tag wo lte er<br />

schon wieder strawanzen gehen.<br />

Das letzte große Drama in<br />

meinem Leben war …<br />

. die plötzliche Erkrankung meiner<br />

Tante. Sie kämpft tapfer um ihr<br />

Meine letzte wichtige „Regieanweisung“<br />

bekam ich …<br />

. von meiner Mu ter, als sie mir<br />

sagte: „Mirjam, du darfst glücklich<br />

Metzies<br />

iM Koffer<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber<br />

auch ein letztes. Noa Ben-Gur vom<br />

Soul-Funk-Projekt Playing Savage berichtet<br />

über glückliche Zufä le, den falschen Arzt<br />

und ihren Soft-Spot für Blumenhüte.<br />

Noa Ben-Gur aka Savage wurde in New York geboren und ist<br />

kla sisch ausgebildete Musikerin. Die 29-Jährige studierte<br />

von 2007 bis 2011 an der Universität Tel Aviv und von 2012<br />

bis 2014 an der Uni Wien. Im Jahr 2015 gewann sie in der<br />

Kategorie „Songwriter des Jahres“ für Thorsteinn Einar sons<br />

Song Leya den Amadeus Austrian Music Award. Seit 2015 arbeitet<br />

sie mit dem Wanda-Produzenten Paul Ga lister an dem<br />

Soul-Funk-Projekt Playing Savage. Das Album Wild erschien<br />

dieser Tage. De sen Lyrics hat die talentierte Musikerin übrigens<br />

innerhalb von zwei Wochen geschrieben.<br />

facebook.com/PlayingSavageMusic<br />

Vom<br />

Das lETZTE MAl<br />

Das letzte Mal<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes<br />

Mal. Regisseurin Mirjam Unger erzählt über filmreife<br />

Sederabende, einen oscarverdächtigen Pflegeeinsatz<br />

und die wichtigste Regieanweisung ihrer Mutter.<br />

Lampenfieber hatte ich …<br />

bisher bei jeder Premiere.<br />

Glücklichseindürfen<br />

Im Rahmen des Festivals der jüdischen Kultur 2017 läuft<br />

Mirjam Ungers Film Vienna’s Lost Daughters (2007).<br />

Im Film porträtiert die geborene Klosterneuburgerin acht<br />

jüdische Frauen, die 1938/39 vor dem National-<br />

sozialismus aus Wien nach New York geflüchtet sind, und<br />

zeichnet ihre traumatischen Erfahrungen mit Flucht und<br />

Ankunft in einem neuen ungewi sen Leben auf.<br />

Vienna’s Lost Daughters: 18.5., 18–20.30 Uhr, Votivkino, mit anschließendem Gespräch der Regi seurin mit Giora Seeliger<br />

Weitere Infos: ikg-kultur.at<br />

© Severin Wurnig<br />

© Christine Ebenthal<br />

Die letzte kulinarische<br />

Enttäuschung war …<br />

mein Frühstück.<br />

Das letzte Mal mir selbst ein<br />

Geschenk gemacht habe ich,<br />

ich mit meiner Tochter nach der<br />

Zeugnisvergabe Eis essen war.<br />

Die letzte perfekte Nacht im<br />

Hotel hatte ich …<br />

(darüber rede ich nicht.)<br />

Das letzte Mal stolz auf mich<br />

war ich, als .<br />

ich endlich meinen Keller aufgeräumt<br />

habe.<br />

Claudia Androsch streitet im<br />

Oktober leidenschaftlich als Helene<br />

Thimig mit der<br />

1 wına | Oktober 2017<br />

Ma sary (Erika<br />

Deutinger) und<br />

lene Thimig vergöttert Max Reinhardt.<br />

Premiere: 5.10.2017,<br />

weitere Termine: 6., 12., 13., 14.,<br />

19., 20., 21. 10.2017,<br />

Beginn: 19.30 Uhr<br />

KiP – Kultur im Prückel (Theater im<br />

Soute rain des Café Prückel),<br />

Biberstraße 2, 1010 Wien<br />

Keller-<br />

geschichten<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein<br />

letztes. Schauspielerin und Hotelmanagerin Claudia<br />

Androsch erzählt uns in dieser Ausgabe, womit sie<br />

sich (und ihre Tochter) belohnt.<br />

Claudia Androsch, bekannt aus der TV-Serie Kaisermühlenblues,<br />

absolvierte ihre Ausbildung bei Susi Nicoletti, Ida Kro tendorf<br />

und Uta Hagen in New York. Neben ihrer Film- und Fernsehtätigkeit<br />

reichen Engagements vom Theater in der Josefstadt,<br />

dem Stad theater Koblenz und der Theater Rampe Stuttgart über<br />

die Salzburger Festspiele bis hin zum niederöste reichischen Donaufestival<br />

und steirischen herbst. Zudem betreibt die Wienerin<br />

gemeinsam mit ihrer Schwester ein Fastenhotel in Altau see.<br />

Das LETzTE MAL<br />

Das letztes ….<br />

erfreuliches Erlebnis ha te<br />

ich .<br />

als ich bei meiner letzten<br />

Deutschland-Tournee das erste<br />

Mal mit einem großen Orchester<br />

gepfi fen habe.<br />

Das letzte Mal auf etwas<br />

gepfiffen habe ich .<br />

ebendort, und zwar auf einen<br />

Walzer von Johann Strauß.<br />

Das letzte Mal, dass mir jemand<br />

eine gute „Regieanweisung fürs<br />

Leben" gegeben hat, war .<br />

der Tipp eines Ko legen, da s man<br />

Steaks auch mithilfe von Staniolpapier<br />

und Bügeleisen garen<br />

kann.<br />

Meinen letzten bühnenreifen<br />

Kulinarik-Auftri t ha te ich .<br />

als Genießer von geräuchertem<br />

Aal in einer kleinen Fischerhü te<br />

irgendwo in Ostfriesland.<br />

Das letzte Mal als Wiener<br />

habe ich mich gefühlt .<br />

bei jedem Versuch, in Deutschland<br />

einen kleinen Espre so zu be-<br />

1 wına | Februar 2018<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Das Konzert von Ute Lemper im<br />

<strong>Dezember</strong> im Konzerthaus war außergewöhnlich<br />

und sensatione l. Auch ihr<br />

Auftri t am vergangenen Life Ba l mit<br />

„Sag mir wo die Blumen sind“ war sehr<br />

emotional.<br />

Die letzte rauschende Ba lnacht<br />

ha te ich .<br />

Beim diesjährigen Wiener Opernba l,<br />

der jedes Jahr eines meiner absoluten<br />

Winter-Highlights ist.<br />

Mein letztes persönliches Highlight<br />

beim Life Ba l war …<br />

Unser Relaunch im vergangenen Jahr.<br />

Es war emotional und stringent und<br />

auf den Punkt gebracht. Mit wenig<br />

Ablenkung hat der Ba l 2017 geprunkt,<br />

ohne zu prahlen und war unterhaltsamer<br />

denn je.<br />

Das letzte Mal, da s ich jemanden<br />

unerwartet für den Life Ball begeis-<br />

Unerwartet aber nicht weniger ho f-<br />

nungsvo l: mein Besuch bei Rodgers<br />

& Hammerstein in New York um die<br />

Rechte für „The Sound of Music“ zu<br />

besprechen. Wer den Ba l noch nie<br />

selbst erlebt hat, kann die We le der<br />

Hilfsbereitschaft, der Solidarität, des<br />

Miteinander schwer erme sen.<br />

56 wına | Mai 2018<br />

steak<br />

GebüGeltes<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes. In diesem<br />

Monat erzählt uns Stefan Fleischhacker, Theaterdirektor und Kunstpfeifer,<br />

von kulinarischen Aha-Erlebnissen und sagt,<br />

worauf er pfeift.<br />

Stefan Fleischhacker ist Bühnenbildner, Schauspieler, Tenor und pa sionierter<br />

Kunstpfeifer. Vor a lem aber betreibt der gebürtige Tiroler das „Letzte<br />

erfreuliche Operntheater“ (L.E.O.) im Dritten Bezirk, auf de sen Bühne der<br />

Mann mit Pfiff im Februar etwa den Tannhäuser spielt.<br />

stefanfleischhacker.at,<br />

theaterleo.at<br />

Das LeTzTe MAL<br />

Singen<br />

Vom Summen und<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In dieser<br />

Ausgabe berichtet Gery Keszler, Gründer und Organisator des legendären<br />

Life Ba l, wie er auf Ideen kommt und welcher Sound of Musik<br />

ihm im vergangenen Jahr besonders nahe gegangen ist.<br />

Für sein 25. Jubiläum hat sich der Life Ba l ein überaus öste reichisches Mo to ausgesucht.<br />

Denn am 2. Juni steht bei der Charity-Veranstaltungen, die a ljährlich im Wiener<br />

Rathaus sta tfindet und die zu den weltweit bedeutendsten AIDS-Benefizevents gehört,<br />

a les im Zeichen von „The Sound of Music". Der Musikfilm aus dem Jahr 1965 – besonders<br />

in Asien und Amerika beliebt – thematisiert die Flucht der singenden Familie Trapp<br />

aus dem Dri ten Reich. Genau wie beim Life Ba l wird auch in dem pi toresken Schauspiel<br />

somit ein ernsthafter Hintergrund im a lerbesten Unterhaltungsformat präsentiert. Dafür,<br />

dass der prunkvo le Ba l zu einer unverge sen Nacht wird, sorgen auch zahlreiche prominente<br />

FreundInnen Gery Keszlers aus dem In- und Ausland – wie auch die i lustre<br />

Heerschar an feierwütigen Gästen. Der Erlös geht an globale Hilfsprojekte.<br />

Life Ba l, 2. Juni 2018, alle Infos: lifeplus.org<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

In diesem Monat erzählt Schauspieler Cornelius<br />

Obonya vom Glück im Unglück und dem Pech, im<br />

Pyjama vor dem Fernseher zu sitzen, wenn man<br />

eigentlich dort drin zu sehen sein so lte.<br />

das LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal …<br />

Mazl unD<br />

schlaMassel<br />

übe rascht von Marie von Ebner-<br />

Eschenbach war ich …<br />

.. bei der Vorbereitung zu den aktuellen<br />

Proben von Maslans Frau. Die Protagonistin<br />

Evi legt eine Konsequenz an<br />

den Tag, die kaum zu überbieten ist.<br />

Der zentrale Liebeskampf ist erotisch,<br />

bi ter, hochmodern und spannend wie<br />

ein Krimi. Es lohnt sich, Krambambuli<br />

mal kurz zu verge sen und sich mit<br />

dieser De-facto-Zeitgeno sin zu<br />

konfrontieren.<br />

Das letzte Mal, da s ich die Rax<br />

leuchten gesehen habe, war …<br />

. bei Sonnenuntergang hinter dem<br />

Thalhof. Romantischer geht es nicht<br />

mehr. Dramatischer auch kaum .<br />

Das letzte Mal auf Sommerfrische<br />

war ich …<br />

In den raren Probenpausen, wenn der<br />

Wind durch die Bäume fährt, habe ich<br />

eine Ahnung von „Sommerfrische“.<br />

Für mich setzt sie allerdings erst so<br />

richtig im September ein … und das<br />

meistens im spätsommerfrischen Süden<br />

Europas.<br />

Das letzte Mal als echte Wienerin<br />

habe ich mich gefühlt …,<br />

.. als ich an der Academy for Drama<br />

and Cinema in Hanoi Mannerschni ten<br />

mit meinen StudentInnen geteilt habe.<br />

Das letzte Mal „Was denkst du?“<br />

gefragt worden bin ich …<br />

. heute auf der Probe. So eine Probe<br />

ist ja ein ständiges gegenseitiges „Was<br />

denkst du“, verbal und nonverbal. Oft<br />

zeigt sich, da s das Spiel das Denken<br />

quasi von links überholt und erfrischt.<br />

Gedankensommerfrische sozusagen …<br />

1 wına | Sommer 2018<br />

Das letzte Mal…<br />

Das letzte Mal, da s ich spontan mein<br />

Akkordeon ausgepackt und für Menschen<br />

musiziert habe, war ..<br />

in Jerusalem im Sommer 2018 nach<br />

einem Konzert in der Altstadt. Im Innenhof<br />

eines Wohnhauses ergab sich spontan<br />

eine Late-Night-Jamsession mit<br />

Musikerko legen und mehreren herumstreunenden<br />

Katzen.<br />

Das letzte Mal, da s ich mich in Graz<br />

als Wiener fühlte, war .<br />

im Zug ungefähr auf halber Strecke<br />

zwischen Wien und Graz, also ziemlich<br />

genau irgendwo am Semmering. Wobei<br />

da selbe in umgekehrter Richtung gilt .<br />

Das letzte Mal Tango getanzt habe<br />

ein paar kühne Schri te auf meiner<br />

Slack-Line im Garten, bevor ich den<br />

Tanz sprunghaft beenden mu ste :-)<br />

Die CD „Mélange Oriental“<br />

ist außerdem erhältlich<br />

über: stefanheckel.at<br />

SLACK-LINE-<br />

TANGO<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Musiker Stefan Heckel erzählt uns in diesem Monat von<br />

einer Jamsession für Katzen und warum sein Instrument,<br />

das Akkordeon, in Wahrheit eh ein echtes Leichtgewicht ist.<br />

Stefan Hecke lebt und arbeitet in Wien und Graz. Er studierte an der<br />

Kunstuniversität Graz Ja zklavier sowie an der Royal Academy of Music<br />

London Komposition. 2018 traf er auf dem Festival „Sounding<br />

Jerusalem“ mit dem Öste reicher Erich Oskar Hue ter (Violonce lo)<br />

und dem israelischen Perku sionisten Chen Zimbalista zusammen<br />

und sie gründeten das Trio Mélange Oriental. Im Rahmen des<br />

20. Internationalen A kordeon Festival 2019 spielen die Musiker<br />

mit den unterschiedlichsten kulture len und stilistischen Hintergründen<br />

jetzt ihre feine „Musik aus der Altstadt Jerusalems“.<br />

Do., 7. 3., 20 Uhr, Vindobona, 20., Wallensteinplatz 6,<br />

akkordeonfestival.at<br />

Cornelius Obonya erö fnet gemeinsam mit dem Wiener Klezmer<br />

Orchester das diesjährige Yiddish Culture Festival (25.11.–13.12.).<br />

A bi sele Maz lautet der Titel des Programms, bei dem Obonya Texte<br />

öste reichischer jüdischer Autoren liest, die vom Naziregime verfolgt, ins exil<br />

getrieben oder umgebracht worden sind. Als Special Guests werden auch<br />

Wiens bekanntester Ja z-Vibraphonisten, Martin Breinschmid, Constantin<br />

64 wına | März 2019<br />

42 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 42 28.12.21 03:32


43<br />

wına-magazin.at<br />

EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER REDAKTION<br />

Das letzte Mal, dass ich für mich<br />

persönlich eine Weisheit aus dieser Rubrik mitgenommen<br />

habe, war ...<br />

... aus dem Interview mit Filmemacherin Mirjam<br />

Unger, deren Mutter einmal sagte: „Du darfst<br />

glücklich sein.“ Ich habe mir daraufhin einige<br />

Gedanken darüber gemacht, warum die Menschen<br />

mit sich selbst manchmal so streng sind.<br />

Das letzte Mal, dass ich mir gewünscht habe,<br />

fremdsprachlich besser aufgestellt zu sein, war ...<br />

... am Ende eines Gesprächs mit dem großartigen<br />

Arik Brauer über Humor. Die Pointe seines<br />

Lieblingswitzes erzählte er nämlich auf<br />

Hebräisch.<br />

Das letzte Mal, dass mir bei meiner Arbeit für<br />

diese Rubrik ein wenig anders wurde, war ...<br />

... als mir der „Cyberagent“ Ari Kravitz nicht nur<br />

seine Antworten zuschickte, sondern auch gleich<br />

die geleakten Passwörter für all meine E-Mail-<br />

Accounts mit dem Rat, sie rasch zu ändern. Und<br />

dabei am besten etwas subtiler vorzugehen. Seitdem<br />

verwende ich nur noch komplizierte Kennworte<br />

– die ich regelmäßig vergesse.<br />

Das letzte Mal, dass mich Das letzte Mal mental<br />

ziemlich gefordert hat, war ...<br />

... beim Telefonat mit Crêperist und Spitzenkoch<br />

Royi Shwartz. Der Feinschmecker berichtete mir<br />

45 Minuten lang so detailliert vom Kochen, Essen<br />

und Genießen, dass ich noch Tage von fermentiertem<br />

Sauerteig, aromatischem Paprika, cremiger<br />

Burrata und Balsamico-Perlen fantasierte.<br />

Das letzte Mal, dass ich mich über etwas gewundert<br />

habe, war ...<br />

... heute! Nämlich darüber, dass bis auf eine einzige<br />

Ausnahme alle Fragen, die ich für diese Rubrik<br />

verschickt habe – und das waren immerhin<br />

über 250! –, immer anstandslos beantwortet<br />

wurden.<br />

© MICHAEL BEDNAR-BRANDT<br />

Über 250 Fragen hat WINA-Autorin Nicole Spilker in den vergangenen Jahren<br />

Menschen nach ihren letzten Malen gestellt – zum Jubiläum muss sie nun selbst ran.<br />

MEIN<br />

ERSTES MAL<br />

Eine kleine Auswahl:<br />

Nur einige der 50 lustigen,<br />

Nur einige der 50 lustigen,<br />

klugen und manchmal auch traurig stimmenden<br />

klugen und manchmal auch traurig stimmenden Letzten<br />

Letzten<br />

Male<br />

Male, die Nicole Spilker in den vergangenen Jahren zusam-<br />

, die Nicole Spilker in den vergangenen Jahren zusammengesammelt<br />

hat.<br />

mengesammelt hat.<br />

64 wına | September 2018<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein<br />

letztes. Und weil sich in diesem Monat das Jahr<br />

5778 verabschiedet, haben wir Obe rabbiner Arie<br />

Folger gebeten, den Blick noch einmal auf die<br />

vergangenen Monate zu richten.<br />

Schokoriegelmomente<br />

© Eli Itkin<br />

Das letzte Mal…<br />

dass sich einer meiner Neujahrswünsche<br />

erfü lt hat, war …<br />

. natürlich im vergangenen Jahr, als wir<br />

auch Neujahrsgebete sahen, die erfü lt wurden.<br />

Wir baten um Leben und sind da, um miteinander<br />

zu sprechen. Wir baten um Gesundheit,<br />

und trotz einiger sehr schmerzhafter<br />

Monate (Bänderze rung) bin ich heute wieder<br />

sportlich in Bewegung. Wir baten um Frieden,<br />

in Israel und in der Welt, und . na, ja, alles<br />

geht nicht gleich vor unseren Augen in<br />

Erfü lung. Dafür will der liebe G" t, da s wir<br />

vorerst geduldig werden.<br />

Das letzte Mal einen Neuanfang<br />

gestartet habe ich …<br />

. im Winter. Nach besagter Verletzung fing ich<br />

im <strong>Jänner</strong> wieder an, Ski zu fahren – und bin<br />

sogar besser geworden! Ich ha te auch vor,<br />

einige Bücher zu lesen, die auf meiner Liste<br />

stehen, schaffe aber nicht a le, die ich mir<br />

vorgenommen habe. Grade lese ich jedoch ein<br />

Buch, dass ich bereits anno 2010 lesen wollte:<br />

„Judaism: A Way of Being“ von David Gelernter.<br />

Ein gutes Buch, das viele Denkanstöße liefert.<br />

Das letzte Mal gedacht: ,5778 war eigentlich<br />

gar kein so übles Jahr’ habe ich …<br />

. als ich mir überlegte, wie viele Menschen<br />

ich in diesem Jahr kennengelernt und noch<br />

besser kennengelernt habe. Und nach Chanuka<br />

ist unsere Tochter geboren, eine kleine<br />

Wienerin.<br />

Das letzte Mal gedacht: ,Na endlich geht<br />

dieses Jahr zu Ende’ habe ich …<br />

. als ich von einigen Freunden und Bekannten<br />

Abschied nehmen mu ste oder Menschen<br />

begleitet habe, während sie Abschied von<br />

einem Familienmitglied nehmen mu sten.<br />

Das tut immer weh.<br />

Das letzte Mal, dass mir etwas Süßes<br />

pa siert ist, war ...<br />

... gestern. Es geschieht immer etwas Süßes.<br />

Und wenn das unsere Einste lung ist, dann<br />

finden wir immer etwas Süßes im Leben (und<br />

wenn nicht, hilft immer noch der Griff zum<br />

Schokoladeriegel).<br />

DaS LETzTE MAL<br />

56 wına | September 2017<br />

Fotograf Daniel Shaked erzählt uns in dieser<br />

Ausgabe, wo er sich das letzte Mal als echter Wiener<br />

gefühlt hat. Kleiner Spoiler: Es war nicht in der<br />

öste reichischen Hauptstadt ...<br />

KEIN<br />

KAFFEEHAUS<br />

IN SICHT<br />

Daniel Shaked, 1978 in Teheran geboren und in Wien<br />

aufgewachsen, gründete mit 17 Jahren das Hip-Hop-<br />

Magazin The Me sage. Seit 2007 ist der zweifache Vater<br />

hauptberuflich als freier Fotograf tätig – mit Vorliebe für<br />

schwarz-weiße Analogfotografie.<br />

danielshaked.com<br />

Von 10. bis 12. September sind Daniel Shakeds Bilder und die Exponate<br />

weiterer junger jüdischer KünstlerInnen aus Wien anlä slich des Tages<br />

der o fenen Tür der IKG in der Pop-up-Galerie,<br />

Rabensteig 3, 1010 Wien, zu sehen.<br />

ikg-wien.at<br />

© Luiz Lima<br />

Das letzte Mal,<br />

da s ich ein perfektes Bild<br />

fotografiert habe, war .<br />

Das perfekte Bild gibt es nicht, nur<br />

die Suche danach beziehungsweise<br />

die temporäre I lusion, dass das<br />

letzte Bild das beste wäre. Bis<br />

zum nächsten.<br />

Das letzte Mal wahnsinnig<br />

aufgeregt war ich .<br />

. bei der Geburt meines Sohnes.<br />

Das letzte Mal etwas verloren<br />

habe ich .<br />

. mit ziemlicher Sicherheit beim<br />

letzten Shooting. Ich verlege regelmäßig<br />

Sachen, während ich fotografiere.<br />

Mit Vorliebe die Objektivab-<br />

deckungen.<br />

Das letzte Mal einen Film<br />

entwickelt habe ich ..<br />

. vor 3, 4 Jahren. Ich entwickelte<br />

über viele Jahre lang meine Schwarzweiß-Filme<br />

ganz kla sisch im Badezimmer,<br />

um sie danach zu scannen.<br />

Seit meine Kinder auf der Welt<br />

sind, ziehe ich es vor, im Badezimmer<br />

nicht mehr mit Chemikalien zu<br />

hantieren.<br />

Das letzte Mal als „echter Wiener“<br />

fühlte ich mich .<br />

. als ich in Berlin verzweifelt nach<br />

einem gemütlichen Ka feehaus<br />

gesucht habe.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

64 wına | Juli_August 2019<br />

Es gibt für a les ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Audrey und Nuriel Molcho vom Hutlabel Nomade Moderne berichten in<br />

diesem Monat von brennenden Männern, dem Sesshaftwerden<br />

und 100 liebenswerten Menschen.<br />

Weil sie die perfekte Kopfbedeckung nicht fanden, erlernten Nuriel Molcho<br />

und seine heutige Ehefrau Audrey einfach selbst den Job des Modisten – und<br />

gründeten das Label Nomade Moderne. Mi tlerweile haben sie nicht nur<br />

einen kleinen Shop auf dem Naschmarkt, sondern liefern ihre individue len<br />

Maßhüte mit Materialien aus der halben Welt in die halbe Welt.<br />

Eines sind ihre Kreationen, die stets ein gewo ltes Makel wie eine<br />

ausgefranste Krempe oder kleine Brandmale haben,<br />

a lerdings immer noch nicht: perfekt. Und das ist auch gut so.<br />

nomade-moderne.com<br />

© Valerie Voithofer<br />

Das letzte Mal .<br />

gut behütet gefühlt haben wir<br />

uns …<br />

.. zu unserer Hochzeit in<br />

Marokko, umzingelt von den<br />

100 Menschen, die wir am<br />

meisten auf dieser Welt lieben.<br />

Das letzte Mal, dass wir eine<br />

ganz besondere Kopfbedeckung<br />

trugen, war …<br />

. vor ein paar Jahren am Festival<br />

Burning Man, ein spiritue les<br />

Kunstfest in der Mitte der Wüste<br />

Nevadas, für das wir ganz besondere<br />

Hüte kreiert hatten.<br />

Das letzte Mal, dass wir keinen<br />

Hut dabei hatten, aber dringend<br />

einen gebraucht hä ten, war …<br />

. . zur Paris Fashion Week, bei<br />

der wir leider unsere Hüte zu<br />

Hause vergessen ha ten.<br />

Es ha trotzdem geklappt, gute<br />

Kontakte zu machen.<br />

Das letzte Mal, dass wir an einem<br />

Ort gedacht haben, „hier könnten<br />

wir selbst als moderne Nomaden<br />

sesshaft werden“, war …<br />

. eigentlich immer mehr am<br />

Land, egal wo. Solange es grüne<br />

Natur und frische Luft gibt, fühlen<br />

wir uns dort wohl.<br />

Das letzte Mal auf etwas „den<br />

Hut draufg’haut“ haben wir .<br />

Wir hauen nur mit Absicht auf den<br />

echten Nomade-Moderne-Hut, als<br />

künstlerischer Ausdruck. Sich so<br />

über etwas zu ärgern, dass man<br />

wirklich den Hut schmeißt, ist<br />

eine Zeitverschwendung. Da muss<br />

schon einiges schiefgehen, aber<br />

auch dann glauben wir eher daran,<br />

ihn wieder aufzuheben . :-)<br />

DAS LETZTE MAL<br />

DER ZEITVERSCHWENDER<br />

ARGER<br />

56 wına | Juni 2019<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem<br />

Monat erklärt Avi Kravitz, Software-Unternehmer und White<br />

Hat-Hacker, wann er Passwörter vergisst und warum am<br />

Schabbes nichts bei ihm vibriert.<br />

VIRUS?<br />

NUR IN DER NASE!<br />

SAvi Kravitz macht sich mit seinem Start-up „Cyper Trap“ auf die Jagd nach<br />

Cyberkriminellen. Das Softwareunternehmen ist eines der führenden im IT-<br />

Security-Bereich der Täuschungs-Technologie (Deception Technology).<br />

Um große Unternehmen vor digitalen Angreifern zu schützen, legt „Cyber<br />

Trap“ eine virtuelle Falle aus. Dabei wird für den Angreifer eine möglichst<br />

attraktive, kontrollierte Umgebung geschaffen, in der er sich möglichst lange<br />

aufhält, damit sein Verhalten beobachtet und analysiert werden kann. Kravitz<br />

gehört zu den White Hat-Hackern, die ihr Wissen sowohl innerhalb der<br />

Gesetze als auch der Hacker-Ethik verwenden.<br />

cybertrap.com<br />

© Michaela Mejta<br />

Das letzte Mal dass ...<br />

mir jemand in meine ausgelegte<br />

CyberTrap ging, war …<br />

... vor wenigen Tagen. Es handelte<br />

sich um Hacktivisten aus dem mittleren<br />

Osten, die es mit geschickten<br />

Tricks fast geschafft hatten, ein<br />

Unternehmen zu kapern.<br />

Das letzte Mal, dass ich mein<br />

Passwort vergessen habe ...<br />

... war unmittelbar nach meinem<br />

letzten langen Urlaub. Ich konnte da<br />

wieder so richtig abschalten und die<br />

Dinge hinter mir lassen. Auch mein<br />

Passwort.<br />

Das letzte Mal, dass ich mir einen<br />

Virus eingefangen habe …<br />

... war im Winter des vorletzten<br />

Jahres. Das war so ein furchtbarer<br />

Schnupfen, Schuld war ein<br />

Rhinovirus.<br />

Das letzte Mal offline war ich …<br />

... letzten Shabbes. Ich bekomme<br />

täglich unzählige Mails, Nachrichten<br />

oder Anrufe (irgendwo auf der Welt<br />

ist immer Tag!) und ständig läutet<br />

oder vibriert irgendein Gerät.<br />

So eine Auszeit inklusive Digital<br />

Detox ist schon etwas Feines.<br />

Das letzte Mal abgestürzt bin<br />

ich ...<br />

... in der Nacht auf den 1.1.2018<br />

auf der philippinischen Insel Coron.<br />

Nach einem Motorradunfall<br />

mit kurzem Krankenhausaufenthalt<br />

entstand ein Long-Island-Iced-<br />

Tea-Moment in der Hotelbar kurz<br />

vor Mitternacht. Mit frisch verbunden<br />

Wunden, vollgepumpt mit Medikamenten<br />

und zerfetzen Klamotten<br />

habe ich auf das neue Jahr<br />

angestoßen.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

1 wına | Sommer 2018<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Regisseurin und Autorin Anna Maria Krassnigg erzählt WINA<br />

von ihren Proben zu Marie von Ebner-Eschenbach, dramatischen<br />

Sonnenuntergängen und geteilten Mannerschni ten in Hanoi.<br />

Gedankensommerfrische<br />

Anna Maria Krassnigg ist Regi seurin, Schauspielerin,<br />

Autorin und Universitätsprofe sorin für Regie am Max Reinhardt Seminar.<br />

Seit 2015 leitet die gebürtige Wienerin zudem das Kultur- und Wissenschafts-<br />

programm Wortwiege am Thalhof in Reichenau an der Rax. In diesem Sommer<br />

steht dort Marie von Ebner-Eschenbach im Mi telpunkt. Außerdem veranstaltet<br />

der Thalhof regelmäßig unter dem Mo to „Was denken Sie?“ Gesprächsrunden,<br />

am 19. August etwa mit Schauspielerin Erika Pluhar, am 1. September mit Scheidungsanwältin<br />

Helene Klaar. Und am 5. August findet das Raxleuchten I sta t,<br />

eine szenisch-musikalische Reise durch 200 Jahre Thalhof-Literatur.<br />

thalhof-wortwiege.at<br />

© Martin Schwanda<br />

Das letzte Mal …<br />

übe rascht von Marie von Ebner-<br />

Eschenbach war ich …<br />

. bei der Vorbereitung zu den aktuellen<br />

Proben von Maslans Frau. Die Protagonistin<br />

Evi legt eine Konsequenz an<br />

den Tag, die kaum zu überbieten ist.<br />

Der zentrale Liebeskampf ist erotisch,<br />

bi ter, hochmodern und spannend wie<br />

ein Krimi. Es lohnt sich, Krambambuli<br />

mal kurz zu verge sen und sich mit<br />

dieser De-facto-Zeitgeno sin zu<br />

konfrontieren.<br />

Das letzte Mal, da s ich die Rax<br />

leuchten gesehen habe, war …<br />

. bei Sonnenuntergang hinter dem<br />

Thalhof. Romantischer geht es nicht<br />

mehr. Dramatischer auch kaum .<br />

Das letzte Mal auf Sommerfrische<br />

war ich …<br />

In den raren Probenpausen, wenn der<br />

Wind durch die Bäume fährt, habe ich<br />

eine Ahnung von „Sommerfrische“.<br />

Für mich setzt sie a lerdings erst so<br />

richtig im September ein … und das<br />

meistens im spätsommerfrischen Süden<br />

Europas.<br />

Das letzte Mal als echte Wienerin<br />

habe ich mich gefühlt …,<br />

. als ich an der Academy for Drama<br />

and Cinema in Hanoi Mannerschni ten<br />

mit meinen StudentInnen geteilt habe.<br />

Das letzte Mal „Was denkst du?“<br />

gefragt worden bin ich …<br />

. heute auf der Probe. So eine Probe<br />

ist ja ein ständiges gegenseitiges „Was<br />

denkst du“, verbal und nonverbal. Oft<br />

zeigt sich, da s das Spiel das Denken<br />

quasi von links überholt und erfrischt.<br />

Gedankensommerfrische sozusagen …<br />

das LETZTE MAL<br />

56 wına | Juni 2017<br />

Das letzte Mal,<br />

begeistert von einem Kauf-<br />

hausbesuch war ich …<br />

vergangenen Herbst bei Ha rods<br />

in London, wo die labyrinthische<br />

Anordnung der Abteilungen auf<br />

sieben Stockwerken in Kombination<br />

mit dem aufwändigen, gleichsam<br />

bühnenhaften Interieur einen Sog<br />

ausübte, dem ich mich nicht zu<br />

entziehen vermochte. Noch mehr<br />

aber faszinierte mich die überdrehte<br />

Betriebsamkeit der unzähligen unter<br />

einem Dach getätigten Mikrogeschäfte,<br />

die mich an das systematisch<br />

chaotische Treiben an der<br />

Börse erinnerte.<br />

Das letzte Stück Textil, mit dem<br />

ich mich ausgiebig beschäftigt<br />

habe, war …<br />

ein spezialgefertigter Lederhandschuh,<br />

in dessen schulterhohem<br />

Armteil Anbringungen für Bleistifte,<br />

Papier und einen Handspiegel<br />

eingearbeitet sind.<br />

Das letzte Mal viel zu viel Geld<br />

habe ich ausgegeben für …<br />

einen secondhand gekauften<br />

Rock aus Transsilvanien.<br />

Das letzte It-Girl, das meine Aufmerksamkeit<br />

weckte, war …<br />

Clara Bow, das erste überhaupt so<br />

genannte „It-Girl“. In dem Film It<br />

(1927) spielt sie die Kaufhausangeste<br />

lte Be ty Lou Spence, die das Herz<br />

ihres großbürgerlichen Vorgesetzten<br />

mit einem Besuch im proletarischen<br />

Vergnügungspark gewinnt – zwischen<br />

Frittenbude, „Fun House“ und einer<br />

Fahrt mit einem „Social Mixer“ überschriebenen<br />

Karu se l!<br />

Das letzte Mal wienerisch habe<br />

ich mich gefühlt .<br />

bei einer recht stereotypen<br />

Interaktion mit einem Ke lner<br />

im Ka feehaus.<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

In diesem Monat wurde die Künstlerin Kathi Hofer zu<br />

Dingen befragt, um die es auch in ihrem Beitrag für das JMW<br />

geht: Kaufhäuser, It-Girls und Lederhandschuhe<br />

mit Bleistifthalterung.<br />

DAMEN-<br />

SPENDE<br />

Kathi Hofer wurde für die Au ste lung Kauft bei Juden!<br />

vom Jüdischen Museum Wien eingeladen, sich mit einer eigenen<br />

Arbeit auf die ausgeste lten Motive zu beziehen und dadurch<br />

neue Blickwinkel zu scha fen. Ihr Beitrag wurde von der „Damenspende“<br />

inspiriert, die die weiblichen Angeste lten des Kaufhauses<br />

Gerngro s auf einem Ba l im <strong>Jänner</strong> 1910 als Geschenk<br />

erhielten. Die 35-jährige Künstlerin ist in St. Johann im Pongau<br />

aufgewachsen und lebt und arbeitet in Berlin und Wien.<br />

kathihofer.com<br />

DAS LETZTE MAL<br />

© Hanna Putz<br />

Die Au ste lung „Kauft bei Juden! Geschichten einer Wiener Geschäftskultur“ läuft noch bis zum 19. November (siehe auch Seite xx)<br />

Weitere Infos: jmw.at<br />

1 wına | April 2020<br />

© corn.at/Deuticke<br />

Das letzte Mal, ..<br />

da s mich die berühmte Angst vor dem<br />

weißen Bla t ergri fen hat, war …<br />

… gerade eben. Unbeantwortete E-Mails haben<br />

den gleichen E fekt auf mich. Die Angst motiviert<br />

mich oft, etwas fertigzumachen.<br />

Manchmal a lerdings lähmt sie mich, und dann<br />

höre ich mi ten im Satz –<br />

Das letzte Mal einen handschriftlichen<br />

Brief geschrieben habe ich …<br />

… Anfang März, als ich in unserem Stiegenhaus<br />

einen Ze tel für meine Nachbarn aufhängte. Wer<br />

Hilfe beim Einkaufen brauche, könne sich an<br />

mich wenden. Bis jetzt hat sich noch niemand<br />

gemeldet, zum Glück. Ich ha se einkaufen.<br />

Das letzte Mal eine schöne Postkarte<br />

bekommen habe ich …<br />

… im Februar von meiner Cousine, die in Israel<br />

war. Sie zeigt ein gezeichnetes Kamel, das besserwisserisch<br />

durch eine Bri le schaut und dabei<br />

breit grinst. Vie leicht hat es sie an mich erinnert?<br />

Ich wi l es nicht wi sen.<br />

Das letzte Mal, da s mich ein Thema,<br />

über das ich geschrieben habe, nicht<br />

mehr losgela sen hat, war …<br />

… eines meiner letzten Interviews für „Generation<br />

unverho ft”. Ich habe für die Kolumne<br />

mehrere Menschen porträtiert, die erst als<br />

junge Erwachsene den Glauben für sich entdeckten<br />

und nun deutlich traditione ler als<br />

ihre Eltern leben. Mich haben ihre Entscheidungsproze<br />

se besonders intere siert.<br />

Das letzte Mal stolz auf einen Text von<br />

mir war ich …<br />

… heute Nachmi tag, als ich Freunden eine<br />

WhatsApp-Nachricht schrieb. Da bin ich viel<br />

lustiger als in meinen Artikeln und Interview-<br />

Antworten.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Autorin Anna Goldenberg berichtet in diesem Monat von<br />

einem be serwisserischen Kamel, motivierender Angst<br />

und ihrem Einkaufsha s.<br />

HORROR<br />

VACUI<br />

Anna Goldenberg, geboren 1989 in Wien, studierte Psychologie<br />

an der Universität von Cambridge sowie Journalismus an der Columbia<br />

University und war anschließend Redakteurin der Wochenzeitung<br />

Jewish Daily Forward in New York. Zurück in Wien begann<br />

sie für den Falter über Politik und Medien zu schreiben und den<br />

Podcast der Wochenzeitung zu betreuen. 2018 erschien ihr vielgelobtes<br />

Buchbebüt Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvate<br />

re tete (Zsolnay Verlag). Für WINA berichtete sie regelmäßig<br />

über die Generation unverho ft – in dieser Ausgabe leider zum<br />

letzten Mal.<br />

Versteckte Jahre.<br />

Der Mann, der meinen<br />

Großvater re tete.<br />

Zsolnay Verlag,<br />

189 S., 20,60 €<br />

56 wına | April 2019<br />

Das letzte Mal,<br />

da s ich dachte, „Therese“ hat noch<br />

immer aktue le Ansätze, ..<br />

... war, als bei der Mindestsicherung, die ja<br />

häufig von Alleinerzieherinnen in Anspruch<br />

genommen wird, und auch bei der Familienbeihilfe<br />

Einsparungen gemacht wurden.<br />

Da wird den Schwächsten, nämlich Kindern<br />

aus armen Familien, mit geringen Bildungschancen,<br />

noch etwas weggenommen. Das<br />

kann ich nicht verstehen. Auch Thereses<br />

Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Kinder<br />

eine gute Bildung erhalten.<br />

Das letzte Mal, da s ich auch gerne Teil<br />

des Wiener Fin de Siècle gewesen wäre,<br />

war, ...<br />

. als ich in den Filmbildern aus der<br />

Schnitzler-Zeit, die der Experimentalfilmer<br />

Erich Heyduck für unser Stück erstellt hat,<br />

die schönen Kleider und Hüte der Damen<br />

gesehen habe.<br />

Das letzte Mal, dass ich mich zu sehr mit<br />

einer meiner Bühnenfiguren identifiziert<br />

habe .<br />

Ja, ich gebe zu, das passiert schon mal,<br />

wenn ich mich intensiv in eine Geschichte<br />

hineinlebe. Da kann es passieren, dass ich<br />

durch Wien spaziere, mir die vielen Autos<br />

wegdenke, die schönen Gebäude bewundere<br />

und mir vorste le, ich wäre Therese.<br />

Je länger ich mich mit einem Stück beschäftige,<br />

umso mehr Para lelen entdecke ich<br />

zwischen der Bühnenfigur und mir. Wahrscheinlich<br />

suche ich mir intuitiv Sto fe aus,<br />

die mich stark ansprechen. Dann ist der<br />

innere Antrieb größer, das Stück wirklich<br />

auf die Bühne zu bringen.<br />

Das letzte Ma lieber mit einem riesigen<br />

Ensemble gearbeitet hä te ich gerne .<br />

Es wäre natürlich to l, wenn auch dieses<br />

Stück auf eine große Bühne käme. Ci sy<br />

& Hugo a Caracas – unser Musiktheater<br />

über Cissy Kraner und Hugo Wiener – war<br />

ja mehrmals im Akzent auf der großen<br />

Bühne, das hat schon eine super Wirkung.<br />

Das letzte Mal, da s ich dachte, gemeinsam<br />

mit meinem Mann zu arbeiten hat doch<br />

Vorteile, . .<br />

... war heute Morgen, als ich noch ein bi s-<br />

chen müde war und er mir erst einmal einen<br />

Ka fee mit einem Ku s am Schreibtisch<br />

serviert hat.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Es gibt immer ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

In diesem Monat berichtet uns Schauspielerin Rita Hatzmann-<br />

Luksch über die Aktualität von Schnitzler-Stücken und die<br />

Vorteile, mit dem eigenen Mann zu arbeiten.<br />

KAFFEE MIT<br />

KÜSSCHEN<br />

Rita Hatzmann-Luksch steht als Ein-Frau-Show auf der Bühne. Sie<br />

bringt Schnitzlers über 300 Seiten starken Roman Therese als ergreifende<br />

Geschichte einer Frau auf der Suche nach Liebe und<br />

Selbstbestimmung in neuer Fa sung auf die Bühne. Live eingebunden<br />

wird die Lebensgeschichte in die eigens dafür erste lten<br />

Kompositionen ihres Ehemanns Georg O. Luksch. Den malerischen<br />

Hintergrund für die Performance bietet eine visue l-experimente le<br />

Filmprojektion von Erich Heyduck mit Bildern aus der Schnitzler-Zeit.<br />

Therese: Samstag, 11. Mai 2019, 19 Uhr, Waldmü lerzentrum,<br />

Hasenga se 38, 1100 Wien, im Rahmen der Bezirksfestwochen<br />

Favoriten, Eintri t frei!<br />

Weitere Infos & Termine: ensemble21.at<br />

© Ensemble21<br />

ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

onat erzählt Schauspieler Cornelius<br />

Glück im Unglück und dem Pech, im<br />

em Fernseher zu sitzen, wenn man<br />

h dort drin zu sehen sein sollte.<br />

l unD<br />

laMassel<br />

erö fnet gemeinsam mit dem Wiener Klezmer<br />

jährige Yiddish Culture Festival (25.11.–13.12.).<br />

t der Titel des Programms, bei dem Obonya Texte<br />

er Autoren liest, die vom Naziregime verfolgt, ins exil<br />

racht worden sind. Als Special Guests werden auch<br />

a z-Vibraphonisten, Martin Breinschmid, Constantin<br />

anflöte sowie andere i lustre Überraschungsgäste ertet.<br />

erö fnungsgala A bi sele Mazl,<br />

29. November, 19 Uhr, MuTh.<br />

yiddishculturevienna.at<br />

© Ernst Kainerstorfer<br />

etztes! In dieser<br />

isator des legenr<br />

Sound of Musik<br />

gangen ist.<br />

und<br />

n<br />

isches Mo to ausgea<br />

ljährlich im Wiener<br />

enefizevents gehört,<br />

Jahr 1965 – besonenden<br />

Familie Trapp<br />

toresken Schauspiel<br />

t präsentiert. Dafür,<br />

h zahlreiche promiauch<br />

die i lustre<br />

ilfsprojekte.<br />

1 wına | September2020<br />

© Rainer Hosch_print<br />

Das letzte Mal .<br />

da s mir ein gut parfümierter Mann<br />

begegnet ist, war …<br />

… neulich auf dem Hochzeitsfest eines guten<br />

Freundes. Ich saß an einem Tisch neben<br />

einem graumelierten, braungebrannten<br />

Dandy; ebenso sympathisch wie wohlriechend.<br />

Die Projektion konnte ich zunächst<br />

nicht zuordnen. Nach einigen konzentrierten<br />

Atemzügen war’s dann unverkennbar:<br />

Cacharel pour L´Homme, ein Meisterwerk von<br />

Gerard Goupy – in der Vintage-Version von<br />

1981 wohlgemerkt.<br />

Das letzte Mal, da s ich von einem Geruch<br />

umgehauen wurde war …<br />

Bei a ler Freude für olfaktorische Phänomene<br />

jeder Art, verge se ich doch immer wieder<br />

wie herausfordernd bakterielle Eiweißzerfa<br />

lsprozesse sein können. Ich sag nur:<br />

Schwitzende Menschen in einer viel zu engen<br />

Aufzugskabine, die sich in Slow-Motion zu<br />

bewegen scheint ...<br />

Das letzte Mal, da s mich ein Geruch an<br />

meine Kindheit erinnert hat, war …<br />

… im Umkleideraum des alten Strandbades<br />

in Baden bei Wien. Die Holzkästchen, die<br />

Sonnenmilch und in der Sommerluft: eine<br />

leichte Schwefelnote.<br />

Das letzte Mal, dass ich ein Kompliment<br />

für meinen Duft bekommen habe, war …<br />

… als ich neulich den Prototyp meines, im<br />

kommenden Jahr erscheinenden Cologne<br />

Imperiale getragen habe: Eine Neuinterpretation<br />

des kla sisch-eleganten Colognes; zitrisch-frisch<br />

mit zarten Holznoten. Dezent<br />

präsent, mit einer klaren Duftaura, die unaufdringlich<br />

begleitet und sich sichtlich als Compliment-Getter<br />

entpuppt …<br />

Das letzte Mal, dass mir etwas gestunken<br />

hat, war …<br />

… als sta t der, in einem deutschen Online-<br />

Store beste lten, vermeintlichen zwei Paar<br />

Sneaker-Schnäppchen nach wochenlangem<br />

Warten und vergeblichen Kontaktierungsversuchen,<br />

ein kleines Päckchen aus China in<br />

der Post lag. Der Inhalt: zwei trashige, extrem<br />

nach Plastik stinkende Sonnenbri len ...<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! I<br />

n diesem Monat berichtet der Autor, Künstler und Duftexperte<br />

Paul Divjak über einen wohlriechenden Dandy, Schwitzen im<br />

Aufzug und unliebsame Post aus China.<br />

GUTER<br />

RIECHER<br />

Es gibt wenig, was Paul Divjak nicht macht: Er ist Doktor der Philosophie,<br />

künstlerisch in den Bereichen Literatur, Film, Fotografie, Musik, Performance<br />

und Insta lation tätig und Kolumnist, etwa für WINA! Sein olfaktorisches Intere<br />

se bündelte der Wiener bereits im E sayband „Der Geruch der Welt“, nun ist<br />

sein Sachbuch „Der parfümierte Mann“ erschienen. Paul Divjak komponiert zudem<br />

Düfte (siehe Seite #) und Duftinsta lationen, u. a. „Letztes Jahr in Jerusalem“<br />

im Garten des Jüdischen Museums in Hohenems – und er weiß sogar, wie es im<br />

Welta l duftet: Im Rahmen der Au ste lung Der Mond für das Naturhistorische<br />

Museum Wien gestaltete Divjak das Werk „Der Geruch des Mondes“.<br />

pauldivjak.com<br />

Paul Divjak:<br />

Der parfümierte Mann.<br />

Edition Atelier,<br />

152 S., € 20<br />

1 wına | Juni/Juli <strong>2021</strong><br />

© w.detailsi n.at<br />

Das letzte Mal,<br />

da s ich reisen wo lte, aber doch nicht<br />

durfte, war wenige Wochen nach der Geburt<br />

meines Kindes. Es ist ein Baby für<br />

Fortgeschri tene – ich bin Anfängerin.<br />

Diese Lautstärke bei gleichzeitig fehlendem<br />

Schlaf hat mich trotz der Freude hart<br />

erwischt. Da kam der Satz aus mir: „Wie<br />

schön wäre es, einfach für ein Wochenende<br />

auf Erholung zu fahren.“ Ich meinte<br />

natürlich ohne Baby.<br />

Das letzte Mal, da s ich mich gerne mit<br />

einem Wochenendurlaub belohnt hä te,<br />

ist eigentlich jetzt. Jetzt bin ich an einem<br />

Punkt, an dem ich uns gern dafür belohnen<br />

würde, wie gut wir mi tlerweile mit den<br />

Grenzerfahrungen des Elternseins umgehen.<br />

Unser Baby dürfte jetzt sogar mit.<br />

Das letzte Mal, dass ich von einer Reise<br />

am liebsten nicht wieder zurückgekommen<br />

wäre, war – wenn ich etwas antworten<br />

mu s – Pula in Kroatien. Eigentlich freue<br />

ich mich nämlich immer aufs Zurüc kommen<br />

zu unseren Katzen. Aber dieser Urlaub<br />

war der perfekte Sommer: ein Mobile<br />

Home direkt am Meer. Der Morgenka fee im<br />

Schlafgewand am Strand. Eine Wespe beobachten,<br />

wie sie sich Stück für Stück vom<br />

Schinken schneidet. Eine Reisegemeinschaft,<br />

die ich ins Herz geschlo sen habe.<br />

Das letzte Mal, da s ich etwas unfrisiert<br />

gemacht habe, war heute: ein Spaziergang<br />

im Prater mit dem H arknoten von vorm<br />

Schlafengehen am Vorabend. Für die Lesebühne<br />

bin ich dann doch zu eitel für keine<br />

Frisur, aber privat bin ich für eine Frisur, die<br />

sitzt, oft zu faul.<br />

Das letzte Mal, da s ich auf einer Veranstaltung<br />

mit perfekt frisierten Menschen<br />

war, war vie leicht bei meiner Sponsion.<br />

Außerdem war ich die einzige Frau mit<br />

Hose. Das hat mich doch etwas schockiert.<br />

Das war viel au fä liger als jegliche H artracht.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem Monat<br />

berichtet Autorin Nadine Kegele aus der Baby-Nachtschicht von<br />

einem Urlaub, der niemals hä te zu Ende gehen mü sen.<br />

VOM WEGFAHREN<br />

UND WESPEN<br />

Die Vorarlbergerin Nadine Kegele, 40, debütierte 2013 mit dem Buch Annalieder,<br />

im selben Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen und gewann<br />

dort den Publikumspreis. 2017 erschien ihre Protoko lsammlung Lieben mu s man<br />

unfrisiert über das Selbstverständnis von Frauen. Im Text für das Theaterstück Bin<br />

noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse beschäftigte sie sich mit Therese Zauser,<br />

geboren 1910, die als 19-Jährige Feldkirch verließ und als Artistin arbeitete. In<br />

Nordafrika und den Mi telmeerländern trat sie als Sängerin und Tänzerin (oder,<br />

wie sie es nannte, „danseuse et chanteuse fantaisiste“) auf. Nach einem Auftritt in<br />

Deutschland wurde Zauser wegen feindlicher Äußerungen gegenüber dem Naziregime<br />

denunziert, verhaftet und im Oktober 1941 in das KZ Ravensbrück transportiert.<br />

Dort verliert sich ihre Spur. Die Sterbeurkunde des KZ Ravensbrück ist auf<br />

den 1. Februar 1942 datiert.<br />

Bin noch in Tanger und darf nicht reisen/Thérèse:<br />

30.6., 20 Uhr, Theater Hamakom,<br />

hamakom.at<br />

1 wına | August/September <strong>2021</strong><br />

© Andrea Pe ler<br />

Das letzte Mal,<br />

da s mich der Text eines Austropop-Kla sikers<br />

ein Stück klüger gemacht hat, war …<br />

. die Zeile „Denn immer, immer wieder geht die<br />

Sonne auf“. Als a leinerziehende Mama von drei<br />

Kindern und als Künstlerin ist es wichtig, immer<br />

ein Licht am Ende jedes Tunnels zu sehen. Wenn<br />

es nicht so ist, helfen mir die Musik und ihre Lyrik<br />

sehr schne l.<br />

Das letzte Mal, da s ich an einem Austropop-<br />

Song gescheitert bin, war …<br />

I am from Austria ist ein enorm gutes Lied in Text<br />

und Komposition. Dieses so umzusetzen, wie es<br />

das Ohr des Zuhörers gewohnt ist, fordert. Ich<br />

liebe diesen Song, er hat mich in der Zeit, als ich<br />

in Luxemburg gelebt habe, sehr oft intensiv berührt<br />

und zum Weinen gebracht, weil ich große<br />

Sehnsucht nach Wien ha te!<br />

Das letzte Mal, da s ich ein Lied auf<br />

Wienerisch für mich entdeckt habe, war …<br />

„A Mehlspeis, so a Kaiserschma rn, ist das<br />

Schönste weit und breit, der kitzelt so beim<br />

Runterfahr’n …“ – hach, ich liebe die süße<br />

Welt Wiens!<br />

Das letzte Mal, da s ich jemandem ein Stück<br />

„Mein Wien“ gezeigt habe, war …<br />

. zwischen den Lockdowns, und zwar einem<br />

Freund, der mich aus der Schweiz besuchen kam.<br />

Dieser hat dann seinen Aufenthalt zum Teil damit<br />

verbracht, a les in Wien zu Fuß zu erkunden. Ich<br />

mache in Wien a les mit dem Rad. Egal wie weit<br />

die Wege sind!<br />

Das letzte Mal gedacht, „Mein Wien – wie schön<br />

es doch ist!“, habe ich, …<br />

. als ich vorgestern durch die neu renovierte<br />

Zo lerga se im 7. Bezirk gegangen bin, wo sich die<br />

Kulturen und die Altersgruppen wunderbar mischen<br />

und miteinander leben und kommunizieren.<br />

Das letzte Mal gedacht, „Mein Wien – wie deppert<br />

es aber auch sein kann“, habe ich .<br />

Es fä lt mir schwer, diese Frage zu beantworten,<br />

weil ich nach vielen Jahren im Ausland und nach<br />

einem wunderbaren Aufenthalt in Eisenstadt einfach<br />

so glücklich bin, wieder in Wien zu leben, zu<br />

arbeiten, zu sein … Wien ist meine zweite Heimat<br />

nach Israel, denn dort bin ich geboren. Blut ist<br />

kein Wa ser, aber Wien berührt mich täglich mit<br />

seinen Gassen, Geschichten, Boshaftigkeiten und<br />

Herzlichkeiten.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat erzählt Sängerin Shlomit Butbul über die Krux<br />

mit I am from Austria und kitzelnden Kaiserschma rn.<br />

SÜSSE WIENER<br />

WELT<br />

Geboren in Israel und aufgewachsen in Wien – schon immer schlug<br />

Schlomit Butbuls Herz für zwei Städte. Aber auch für die Musik.<br />

Schließlich wurde ihr das künstlerische Talent bereits durch ihre<br />

Mu ter Martha Butbul aka Ja z Gi t in die Wiege gelegt. In diesem<br />

Sommer wagt sich die klassisch ausgebildete Sängerin, die auch in<br />

der Weltmusik zuhause ist, auf neues Te rain: Sie singt im Wiener<br />

Dialekt! In ihrem Programm Mein Wien widmet sie sich der Musik von<br />

Danzer & Fendrich, Udo Jürgens, Ralf Benatzky, Karl Hodina,<br />

Marianne Mendt und natürlich: Ja z Gi ti!<br />

Mein Wien: 7.8., 19.30 Uhr, Schutzhaus Wasserwiese,<br />

shlomitbutbul.com<br />

1 wına | Mai <strong>2021</strong><br />

© Go tfried & Söhne<br />

Das letzte Mal,<br />

da s ich am liebsten etwas aus meinem<br />

Shop selbst behalten hä te, war, …<br />

als ich für Pessach bei Adama, meiner Lieblingskeramikmanufaktur<br />

in Israel, eine Bestellung<br />

an Sederte lern aufgegeben ha te. Ich<br />

entdeckte eine neue Serie von Espre sotassen:<br />

stapelbar, multifunktional und in zahlreichen<br />

Farben. Eine erste Auswahl habe ich<br />

gleich mitbestellt. Sie sind wundervo l!<br />

Man will sie einfach alle haben!<br />

Das letzte Mal, da s ich einen Fehlkauf<br />

getätigt habe, war …<br />

Anfang des Jahres. Es war Lockdown, draußen<br />

war es eisig, die Fitne scenter geschlo sen.<br />

Hochmotiviert bestellte ich einen Ministepper.<br />

Klein und kompakt, sodass man ihn praktisch<br />

unter dem Be t verstauen kann. Dort steht er<br />

nun seitdem, unbewegt. So wie ich.<br />

Das letzte Mal, da s ich etwas geschenkt<br />

bekommen habe, was man nicht kaufen<br />

kann, war …<br />

zu meinem letzten Geburtstag ein selbst-<br />

geschriebener Song meines neunjährigen<br />

Sohnes mit dem Titel I love Mom.<br />

Das letzte Mal, da s ich einen kleinen<br />

Kaufrausch ha te, war, .<br />

als mir träumte, mein Geschäft wäre l ergekauft<br />

und ich müsse dringend alles und noch<br />

viel mehr nachbestellen. Ich fuhr – im Traum –<br />

nach Israel, London und Paris und beste lte in<br />

großen Mengen die schönsten Dinge der lässigsten<br />

Designer*innen. Ich erinnere mich an<br />

das Gefühl eines überwältigenden Farbenrausches,<br />

in den ich mein Geschäft hü len<br />

wo lte…<br />

Das letzte Mal, dass ich jemandem eine<br />

gute Idee von mir verkaufen konnte, war …<br />

beim Nachdenken darüber, wie man wieder<br />

gut aus der aktuellen wirtschaftlichen Krise<br />

kommt, wie man Sehnsüchte sti lt, die die<br />

Krise motiviert und mit wem man ideal kooperieren<br />

kann. Nach einem zehnminütigen<br />

Gespräch war a les geklärt. Das Ergebnis erwartet<br />

Sie im September bei GOTTFRIED &<br />

SÖHNE.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

In diesem Monat erzählt uns die Inhaberin vom Museum shop<br />

GOTTFRIED & SÖHNE über unbezahlbare Geschenke und was<br />

sich unter ihrem Be t nicht bewegt.<br />

IM FARBRAUSCH<br />

Von ihrem Urgroßvater, einem jüdischen Tuchhändler, hat Elisabeth<br />

M. Go tfried nicht nur den Nachnamen geerbt, sondern wohl auch die<br />

Freude an schön gestalteten Dingen. Kein Wunder also, da s es die studierte<br />

Kunsthistorikerin nach Stationen im Restaurierungsgewerbe und<br />

als Chefredakteurin von EIKON, der internationale Zeitschrift für Fotografie<br />

und Medienkunst, letztlich in diesen freundlichen Warenhau salon im<br />

Jüdischen Museum zog. Seit knapp drei Jahren betreibt die Wienerin hier<br />

ihren Concept Store für israelisches Design aus der ganzen Welt, der zugleich<br />

aber – sobald es Corona zulä st – auch wieder ein o fener Ort der<br />

Begegnung sein so l.<br />

GOTTFRIED & SÖHNE, 1., Dorotheerga se 1, Tel.: 01/512 28 51<br />

gottfriedundsoehne.com<br />

1 wına | April <strong>2021</strong><br />

© Ana Pozderac; Milkink Creative Studio<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich eine Crepe gege sen habe, war …<br />

Ich e se jeden Tag meine Crêpes – zum Frühstück,<br />

zum Abende sen, immer in abgewandelter<br />

Form. Die Initialzündung zu diesem Thema<br />

ha te ich aber in der „La Creperie de Hampstead“.<br />

Als ich in London bei Gordon Ramsay<br />

arbeitete, ging ich dort oft e sen. Was holt man<br />

sich, wenn man fünf Tage die Woche bis tief in<br />

die Nacht in der Küche arbeitet? Streetfood! Und<br />

was ich dort kennenlernte, hat meine Id e von<br />

einer Crêpe total auf den Kopf gestellt. Ich wo lte<br />

immer im fine dining Fuß fa sen, aber plötzlich<br />

fügte sich a les zusammen: Meine lebenslange<br />

Leidenschaft für Sauerteigbrot etwa und das<br />

Bedürfnis, direkten Kontakt mit glücklichen Gästen<br />

zu haben. Aus der Hauben-Küche habe ich<br />

mir die Liebe für die besten und frischesten Produkte<br />

mitgenommen. Also bin ich einfach ein<br />

traiteur of happine s, also ein Glückslieferant,<br />

geworden.<br />

Das letzte Mal, da s ich Tel Aviv vermisst<br />

habe, war .<br />

Jeden Tag! Am meisten vermisse ich meine Familie.<br />

Der einzige Grund, der für Wien als Standort<br />

sprach, war, dass man in vier Stunden wieder zu<br />

Hause ist (lacht). Denn eigentlich ist diese Stadt<br />

der schlimmste Ort für einen Str etfood-Laden,<br />

weil es einfach keine Kultur dafür gibt.<br />

Das letzte Mal, da s ich das Kochen von Haute<br />

Cuisine vermi st habe, war .<br />

Die harte Arbeit in der Sterne-Küche vermi se ich<br />

kein bi schen, da lobe ich mir meine jetzige Freiheit.<br />

Und an den Tagen, an denen ich frei habe,<br />

koche ich mir eben etwas Schickes mit guten<br />

Zutaten und funky Maschinen.<br />

Das letzte Mal, da s mir in der Küche etwas<br />

richtig mi slungen ist, war .<br />

Das pa siert mir täglich! Aber nicht nur beim<br />

Kochen. Vor einigen Tage ha te ich etwa das<br />

Pech, einen Charge Mü lsäcke mit Loch am<br />

Boden gekauft zu haben: So ergo s sich der<br />

ganzen Mist nach Feierabend über die Straße …<br />

Das letzte Mahl, das ich mir wünschen<br />

würde, ...<br />

Das ist einfach: Ich würde gerne meine erste<br />

Begegnung mit der Michelin-Sterne-Küche wiederholen,<br />

die 2002 sta tfand. Und zwar den<br />

ganzen Abend: Das Menü, die Getränke und<br />

der Service im ausgezeichneten New Yorker<br />

Restaurant von Daniel Boulud.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes. In<br />

diesem Monat berichtet uns Royi Shwartz, Koch und Crêperie-<br />

Betreiber in MAriahilf, über bewu stseinserweiterndes<br />

Streetfood und Sterneküche als Henkersmahlzeit.<br />

DER GLÜCKS-<br />

LIEFERANT<br />

Royi Shwartz hat bereits in den Küchen berühmter Köche wie<br />

Angela Hartne t, Charlie Tro ter und Gordon Ramsay gearbeitet.<br />

Seit Anfang des Jahres betreibt der Feinschmecker aus Tel Aviv,<br />

der außerdem am Culinary Institute of America in New York<br />

studierte, eine angesagte Crêperie, die eine Luxusversion des beliebten<br />

Teigfladens auf Sauerteigbasis anbietet.<br />

Royi's Crêperie, 6., Hofmühlga se 18,<br />

royiscreperie.com<br />

1 wına | Oktober <strong>2021</strong><br />

© Privat<br />

Das letzte Mal,<br />

da s ich einen filmreifen Moment ha te, war, …<br />

. vor einigen Wochen in der Straßenbahn, als eine etwas<br />

verwirrt wirkende Frau sich weigerte, eine Maske aufzusetzen,<br />

und darüber lautstark philosophiert hat, da s wir<br />

a le Habsburger sind. Andere Fahrgäste haben die Dame<br />

(in urwienerischem Dialekt) gebeten, Sie möge bi te eine<br />

Maske aufsetzen oder einfach au steigen. Nach einigen<br />

Minuten Disku sion hat sich ein Sprechchor gebildet,<br />

der „Au steigen! Au steigen!“ rief. Das war an Sku rilität<br />

kaum zu überbieten. In dem Moment habe ich mich gefragt:<br />

„Wo ist die versteckte Kamera?“<br />

Das letzte Mal, da s ich etwas mit Marko Feingold<br />

erlebt habe, das unbedingt noch eine Fortsetzung<br />

gebraucht hätte, war …<br />

Jedes Treffen mit Marko war ein Erlebnis, das ich gerne<br />

wiederholt hä te. Er war über zehn Jahre Zeitzeuge bei<br />

den MoRaH-Reisen, und jede Reise mit ihm war anders,<br />

aber immer inspirierend und prägend. Als ich die Nachricht<br />

von seinem Tod erhalten habe, war ich gerade bei<br />

Starbucks, um die Zeit zwischen zwei Terminen zu überbrücken.<br />

Ich bin keine Person, die in der Ö fentlichkeit so<br />

schne l zu weinen beginnt, aber in dem Moment, in dem<br />

ich über den Tod eines der für mich prägendsten Menschen<br />

erfahren habe, liefen die Tränen Mitten im Café.<br />

Jedes Gespräch mit Marko hä te eine Fortsetzung gebraucht.<br />

Sein Charme, sein Humor, seine Liebe zum<br />

Leben waren große Inspirationen, an die ich immer<br />

gerne zurückdenken werde.<br />

Das letzte Mal, da s ich glücklich aus dem Kino kam,<br />

war …<br />

Vie leicht nicht unbedingt glücklich, aber sehr berührt<br />

und b eindruckt hat mich Fuchs im Bau. Der Film zeigt,<br />

wie wichtig Verständnis, Geduld und ein einfühlsamer<br />

Umgang mit Jugendlichen sind, da s man neue Wege gehen<br />

kann und für seine Ideale kämpfen mu s.<br />

Das letzte Mal, da s ich eine brillante Idee für einen<br />

to len Film gehabt habe, war …<br />

Vorgestern, als ich mit meinen Ko legen ein Meeting<br />

ha te. Da sprudelt es immer vor Ideen und Euphorie.<br />

Aktue l arbeiten wir an Kurzfilmprojekten mit Jugendlichen<br />

zum Thema Zivilcourage. Das ist auch Teil des<br />

MoRaH-Programms.<br />

Das letzte Mal, da s ich gerne etwas Zeit zurückgespult<br />

hä te, war …<br />

Immer an meinem Geburtstag, wenn man realisiert,<br />

da s man wieder ein Jahr älter ist :) Spaß! Ich habe vor<br />

Kurzem mit meiner Schwester darüber geredet, was<br />

man im Leben gerne anders gemacht hä te oder wo<br />

wir gerne die Zeit zurückspulen würden. Fazit: Es ist<br />

gut so, wie es ist, denn ich wäre heute nicht die, die<br />

ich bin, wenn ich nicht gute, nicht ganz so gute, prägende,<br />

lustige und traurige Situationen in meinem Leben<br />

gehabt hä te.<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Produzentin Iris Singer berichtet über Sprechchöre<br />

in der Bahn, einen jährlichen Geburtstagswunsch<br />

und den inspirierenden Marko Feingold.<br />

Iris Singer hat Theater-, Film- und Medienwi senschaft<br />

studiert und arbeitet seit 2008 im Medien- und<br />

Eventbereich. Sie ist Geschäftsführerin und Produzentin<br />

bei Licht und Linsen Film und Medienproduktion, freie<br />

Moderatorin und Sprecherin. Als ste lvertretende Obfrau<br />

von MoRaH hat die gebürtige Wienerin über Jahre<br />

gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden Marko<br />

Feingold an der Gedenkveranstaltung March of the Living<br />

im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau teilgenommen.<br />

Für den im Oktober anlaufenden Film Marko Feingold –<br />

ein jüdisches Leben betreut sie die Zielgruppenarbeit.<br />

stadtkinowien.at, morah.at<br />

„WO IST DIE<br />

VERSTECKTE<br />

KAMERA?“<br />

56 wına | Februar 2017<br />

Das letzte Mal<br />

von einem Stück Handarbeit<br />

beeindruckt war ich …,<br />

als ich die Strickkünste meiner<br />

Mu ter sah. Leider strickt sie<br />

meinem Hund Waldi einen<br />

Pu lover und nicht mir.<br />

Das letzte Digital Detox<br />

war …<br />

nach Silvester, weil<br />

mein Handy in die Toile te<br />

gefallen war.<br />

Der letzte Fehlkauf war …<br />

ein weißer Blazer, den ich vor<br />

ca. zwei Jahren erstanden<br />

habe und der zu nichts zu passen<br />

scheint. Bis heute hängt er<br />

in meinem Kleiderschrank und<br />

ärgert mich.<br />

Der letzte gute Rat, den<br />

ich bekam, lautete …:<br />

„Lächle und die Welt gehört<br />

dir.“<br />

Das letzte Mal, dass ich ein<br />

Mitglied meiner Familie sehr<br />

zu schätzen wu ste, war …,<br />

als ich krank im Be t lag.<br />

Das letzte Mal, dass ich mich<br />

im besten Sinne erwachsen<br />

fühlte, war …,<br />

als ich meine Buchhaltung<br />

machte und bemerkt habe,<br />

dass ich meine Finanzen<br />

unter Kontro le habe.<br />

Für a les gibt es ein erstes Mal – aber<br />

auch ein letztes Mal. Bloggerin Leonie-<br />

Rachel Soyel erzählt von Hundepu lis,<br />

erwachsener Buchhaltung und einem<br />

denkwürdigen Hoppala in der<br />

Silvesternacht.<br />

ALLES UNTER<br />

KONTROLLE<br />

Die junge Wienerin betreibt ihren<br />

eigenen Lifestyleblog, in dem sich<br />

viel um Mode dreht, aber nicht a les:<br />

„Es ist eine Art Tagebuch über das<br />

Leben mit a l seinen Auf und Abs.“<br />

leonierachel.com<br />

DAS LETZTE MAL<br />

© Martin Phox<br />

wına | März <strong>2021</strong><br />

1<br />

© A na Hayat<br />

Das letzte Mal, ..<br />

. da s ich von einem weit entfernten<br />

Ort träumte, war .<br />

.. von meinem absoluten Lieblingsort auf<br />

der ganzen Welt: Madrid.<br />

Der letzte große Städtetrip war .<br />

. natürlich Madrid, und es war im Februar<br />

2020, nur zwei Wochen, bevor Covid-19 dazu<br />

führte, da s Europa seine Grenzen schlo s.<br />

Es ist eine Tradition, da s mein Mann und ich<br />

an meinem Geburtstag im Februar nach<br />

Madrid reisen. Wir kennen diese Stadt sehr<br />

gut, entdecken aber immer neue Orte.<br />

Ich habe dort viele Fotos für künftige I lustrationen<br />

gemacht, weil eines der nächsten<br />

Bücher über Madrid sein wird.<br />

Das letzte Mal, da s ich ein altes (Reise-)<br />

Tagebuch von mir in die Hand nahm, war ...<br />

Ich habe kein Tagebuch, es ist nicht wirklich<br />

mein Ding :-). Wenn ich mich an etwas erinnern<br />

möchte, gehe ich zu meinen Fotos.<br />

Von denen habe ich viele gemacht (ich<br />

meine: SEHR viel). Das bringt mich immer<br />

in eine schöne nostalgische Stimmung.<br />

Ein p ar dieser Erinnerungen kann man als<br />

I lustrationen auf meinem Instagram-<br />

A count unter @citykat_stories finden.<br />

Das letzte Mal, da s Tel Aviv mich<br />

beeindruckt hat, war .<br />

Jeden Tag! Das letzte Mal waren es riesige<br />

Bäume am Rothschild Boulevard, die ein<br />

scha tiges Dach über den Fußgängern<br />

bildeten. Ich plane schon, daraus eine<br />

I lustration zu machen.<br />

Das letzte Mal von einem Reiseziel<br />

en täuscht war ich .<br />

. in Bulgarien; es erinnerte mich zu sehr<br />

an die Sowjetunion in den 1980ern …<br />

DAS LETZTE MAL<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat berichtet die I lustratorin Ira Ginzburg aus<br />

Tel Aviv von scha tigen Bäumen, die wie gemalt sind, und von<br />

nostalgischen Ausflügen ins Fotoalbum.<br />

STADTGESCHICHTEN<br />

ZUM AUSMALEN<br />

Fürs Reisen gut vorbereiten: I lustratorin und Grafikdesignerin Ira Ginzburg hat<br />

für zukünftige Tel-Aviv-Trips einen Stadtführer mit Insidertipps, To-do-Listen,<br />

Wi senswertem über die lokale Kultur, E sen, Tre fpunkte und vieles mehr<br />

zusammengeste lt. In Tel Aviv Stadtgeschichten lä st die gebürtige<br />

Moskauerin aber auch viel Platz für eigene Zeichnungen, Bilder, Notizen und<br />

Geschichten: Der Urlaub ist vielleicht vorbei, aber die Erinnerungen bleiben<br />

in diesem hübschen Buch gebündelt.<br />

Ira Ginzburg:<br />

Tel Aviv Stadtgeschichten.<br />

Arie la Verlag, 18 €<br />

iraginzburg.com<br />

dezeber.indb 43<br />

dezeber.indb 43 28.12.21 03:32<br />

28.12.21 03:32


04<br />

Cover_0419_GR.indd 1 01.04.2019 13:38:23<br />

04<br />

9 120001 135738<br />

Cover_0419_GR.indd 1 01.04.2019 13:38:23<br />

10<br />

februar 2016<br />

Sie über uns<br />

Vor einer Dekade haben wir (die IKG Wien) WINA gegründet.<br />

Durch die Unterstützung von Medienexperten und<br />

einem engagierten Team ist ein frisches, peppiges Magazin<br />

in einer neuen Erscheinungsform und mit qualitativ hochwertigen<br />

Inhalten namhafter Journalistinnen und Journalisten<br />

entstanden. Ein Produkt, das jüdisches und nicht<br />

jüdisches Lesepublikum verbindet und eine Visitenkarte<br />

der Kultusgemeinde darstellt. An dieser Stelle möchte ich<br />

jenen danken, die dabei entscheidend mitgeholfen haben:<br />

Alexander Rendi und den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe,<br />

den ehrenamtlichen Mitgliedern des Beirats und<br />

vor allem unserer seit zehn Jahren werkenden Chefredakteurin<br />

Julia Kaldori, der Anzeigenleiterin Manuela Glamm<br />

und dem ganzen Team. Ich denke, dass mit WINA vor zehn<br />

Jahren ein guter und wichtiger Weg beschritten wurde, und<br />

gratuliere allen, die dafür verantwortlich sind!<br />

Ariel Muzicant, Ehrenpräsident der IKG Wien<br />

Liebes WINA!<br />

Du warst ein Wunschkind, doch deine<br />

Geburt war kompliziert. Schon im Vorfeld<br />

präsentierte die Mischpoche ihre<br />

Vorstellungen darüber, wie du denn<br />

aussehen und was du alles werden<br />

solltest. Fesch solltest du sein und auch<br />

klug. Hochglänzend, aber bitte mit<br />

Tiefgang. Erwachsen, aber auch jung.<br />

Dynamisch im Auftreten, entspannend<br />

im Umgang. Urban, ganz gewiss – doch<br />

mit einem Hauch „Städtl“. Vor allem<br />

aber: Du solltest unabhängig sein und<br />

frei – und doch stets deiner Mutter<br />

verbunden!<br />

Robust geboren, hast du alle Kinderkrankheiten<br />

überstanden. Heute lebst<br />

du vergnügt mit all deinen Gegensätzen<br />

und Widersprüchlichkeiten – schließlich<br />

bist du ein jüdisches Kind – und<br />

repräsentierst die Vielfalt deiner Herkunftsfamilie.<br />

Verbindest uns untereinander<br />

und mit den Menschen in der<br />

Welt. Du bist unsere Stimme geworden<br />

und manchmal auch unser Gewissen.<br />

Wie alle Kinder bist du mal laut, ab und<br />

an auch aufmüpfig. Ja, und du kostest,<br />

oi – wie alle Kinder! Doch wie alle<br />

Kinder gibst du mehr, als du nimmst.<br />

Wir sind stolz auf dich. Wir lieben dich.<br />

Alles Gute zum Geburtstag!<br />

Robert Sperling, Journalist und<br />

ehem. Kultusvorstand der IKG Wien<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

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WIR DÜRFEN ES!<br />

DIE JEWISH MONKEYS BRINGEN<br />

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DIE SUCHE NACH ANTWORTEN<br />

NATIONALRATSPRÄSIDENT WOLFGANG SOBOTKA<br />

ZUR NEUEN ANTISEMITISMUS-STUDIE<br />

Wir gratulieren WINA<br />

zum 10-jährigen<br />

Firmenjubiläum!<br />

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Diversität statt Multikulturalität<br />

für eine Weltstadt wie Wien.<br />

Stadträtin Elisabeth Wehsely im<br />

Interview_06<br />

P.b.b. 11Z039078 W | Verlagspostamt 1010 Wien | ISSN 2307-5341<br />

erinnern neu denken ein Königreich für die<br />

Über die neue Österreich-ausstellung<br />

in der Gedenkstätte tendste Sammlerin moderner israli-<br />

Kunst lily Elstein gilt als bedeu-<br />

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Flucht hat viele Gesichter<br />

hasem Kassabji stammt aus aleppo. Im Interview erzählt er seine<br />

Geschichte und erinnert sich auch an seine jüdische Großmutter<br />

44 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 44 28.12.21 03:32


HIGHLIGHTS | 03<br />

Der Riss in der Familie<br />

Family Matters: Gillian Laubs Album ihrer politisierten Familie<br />

Gillian Laub wuchs in<br />

einem gutbürgerlichen<br />

Suburbia-Vorort<br />

New Yorks auf in einer gutbürgerlichen<br />

jüdischen<br />

Familie, in der verbal alles<br />

mittels a lot definitorisch<br />

eingekreist wurde: a lot of<br />

people, a lot of money, a<br />

lot of love.<br />

1999 begann sie ihre Familie<br />

zu fotografieren, als<br />

Ersten ihren Großvater,<br />

der sich sommers im Garten<br />

sonnte, bekleidet mit<br />

einer Badehose mit Zebramuster<br />

und Goldkette.<br />

Nun hat sie ihre Aufnahmen<br />

aus mehr als 20 Jahren<br />

zusammengeführt in<br />

Family Matters (Aperture,<br />

200 S.). Selbstredend intim.<br />

Natürlich provozierend.<br />

Insider-Blick, Outsider-Ansicht.<br />

Die Kamera<br />

ist für Gillian Laub Instrument<br />

der Erkenntnis, zugleich Distanzierungsmittel. „Ich musste nahe<br />

an das heranrücken, was mir Bauchschmerzen bereitet“, sagte sie in<br />

einem Interview. Nicht selten trifft die Karl Kraus’sche Betonung von<br />

„Familienbande“ auf den letzten zwei Silben exakt das, was auf den<br />

Fotos zu sehen ist. Eine zusätzliche, politisch<br />

zerrissene Note, nicht selten bedrängend bis<br />

bösartig, kommt durch abgedruckte Familienkommentare<br />

ins Spiel, weil die US-Präsidentschaftswahlen<br />

2016 und 2020 sowie<br />

die Corona-Pandemie und deren Bekämpfung<br />

tiefen Zwist erzeugten und bösartige<br />

untergriffige Aggressionen hochsteigen ließen.<br />

A.K.<br />

aperture.org<br />

MUSIKTIPPS<br />

Alle vor der Linse<br />

Wonderland: ein Querschnitt durch die Modefotografie<br />

der Annie Leibovitz<br />

Wer war nicht alles vor ihrer Kameralinse?! Karl Lagerfeld<br />

und Nancy Pelosi, Ben Stiller, Lady Gaga<br />

oder Sarah Jessica Parker, die englische Königin Elizabeth<br />

II. und Yves Saint-Laurent.<br />

Dieser große, sehr gut gedruckte Band (Phaidon,<br />

440 S.) mit 350 opulenten, opulent und sehr oft geistreich<br />

inszenierten Aufnahmen unterstreicht optisch,<br />

dass für diese Fotografin jede Aufnahmesession eine<br />

Performance ist, ja sein muss. Leibovitz selbst nannte<br />

bei einer Präsentation in New York, zu der tout fashionable<br />

New York strömte plus jede Menge Intellektueller,<br />

Wonderland eine „Liebesode an die Mode“. Dass Anna<br />

Wintour, die wohl einflussreichste Modemagazin-Chefin<br />

der letzten Jahrzehnte, einen Essay beisteuern durfte,<br />

liegt auf der Hand. Denn es war Wintour, die vor Jahren<br />

Leibovitz den ersten Mode-Shooting-Auftrag gab. Zuvor<br />

war Leibovitz bekannt geworden durch ihre Arbeiten,<br />

vor allem Musiker-Porträts, für den Rolling Stone.<br />

Dann entwickelte sie eine ganz eigene Handschrift für<br />

Vogue und Vanity Fair. Als sie<br />

einmal Penélope Cruz zusammen<br />

mit einem spanischen Torero<br />

hochdramatisch fotografierte,<br />

realisierte sie, dass Blut<br />

aus seinem Hosenbein floss –<br />

am Tag zuvor war sein Bein von<br />

einem Stierhorn durchbohrt<br />

worden. A.K.<br />

phaidon.com<br />

7<br />

KAM<br />

Paul Hindemith, oy. Und schon<br />

blieb (vor Corona) das Konzert<br />

nur halb ausgebucht. Dabei ist<br />

es ganz und gar nicht ohrhörfeindlich. Das<br />

zeigt Sharon Kam nun auf ihrer Einspielung<br />

Hindemith – Klarinettenkonzert (Orfeo). Dieses<br />

Opus verbindet sie mit zwei weiteren kammermusikalischen<br />

Werken für Klarinette, jenes<br />

von 1948 einst geschrieben für – kein Scherz! –<br />

Benny Goodman. Eigentlich will man diese Musik<br />

nicht anders hören als alla Kam.<br />

SCHEPS<br />

Joseph Haydn und Edvard Grieg,<br />

Debussy und Chilly Gonzales. Etwas<br />

von Beethoven und etwas Filmmusik.<br />

Und dazu noch ein Musiktrack aus ei-<br />

nem Computer-Videospiel. Was die Pianistin<br />

Olga Scheps, , immerhin Echo-Klassik-Preisträgerin<br />

und als Jugendliche von niemand Gerin-<br />

gerem als Alfred Brendel gefördert, auf Family<br />

(Sony) wagt, davon träumen andere nicht einmal,<br />

wenn sie wild träumen. Und nicht so be-<br />

törend schön Klavier spielen wie Olga Scheps.<br />

WALLFISCH<br />

Man will acht Euro wahrlich schön<br />

ausgeben? Dann gibt es nur eines<br />

– die aktuell preisreduzierte CD<br />

Karl Weigl – Cellokonzert (CPO). Wie der Cellist<br />

Raphael Wallfisch zusammen mit den Pianisten<br />

Edward Rushton, John York und dem Konzerthausorchester<br />

Berlin unter dem Dirigat von<br />

Nicholas Milton diese spätromantische Musik<br />

des 1881 geborenen Wieners ausdeutet, der<br />

1949 starb, ist hinreißend. Und der Wild Dance<br />

eine einzige Zugaben-Rakete! A.K.<br />

© aperture.org; phaidon.com<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

dezeber.indb 45 28.12.21 03:33


INTERVIEW MIT BARRIE KOSKY <br />

„Warum wir Mozart lieben? Weil<br />

er die Musik unserer Seele<br />

niedergeschrieben hat!“<br />

Barrie Kosky zu Besuch in Wien<br />

anlässlich seiner aktuellen Inszenierung<br />

von Mozarts Don Giovanni.<br />

Der international erfolgreiche Opernregisseur Barrie Kosky spricht<br />

über seine Arbeit an der Wiener Staatsoper, seine Wagner-Katharsis in<br />

Bayreuth und sieht wenig Parallelen zwischen dem Wiener und Berliner<br />

Publikum. Interview: Marta S. Halpert<br />

WINA: Sie haben von Wien aus 2005 ihre beeindruckende<br />

Karriere als Opernregisseur begonnen, nachdem Sie zuvor<br />

vier Jahre lang mit Airan Berg das Schauspielhaus geleitet<br />

haben. Sie sagten öfter, dass man Ihre Arbeit in Wien nie so<br />

richtig ernst genommen habe. Wie meinen Sie das?<br />

Barrie Kosky: Wir haben ab 2001 ein interessantes<br />

Konzept für das Schauspielhaus erarbeitet: Es bestand<br />

aus der Verknüpfung unterschiedlicher Genres<br />

wie Musiktheater, Schauspiel, Oper, Puppentheater<br />

und Video aus verschiedenen Ländern und in vielen<br />

Sprachen. Jetzt, nach 20 Jahren, macht das Wiener<br />

Burgtheater so ziemlich das Gleiche.<br />

Waren Sie mit Ihrer Auffassung von Theater zu früh dran?<br />

I Vielleicht, jedenfalls haben es damals nicht alle<br />

Menschen verstanden. Aber wir hatten fast immer<br />

ein volles Haus mit einem bunten, eingeschworenen<br />

Kult-Publikum. Ich erinnere mich, dass die Kollegin<br />

Andrea Breth in jede Produktion kam; Elisabeth Orth<br />

und Klaus Maria Brandauer zählten auch zu unse-<br />

„Die Bayreuther<br />

Erfahrung<br />

war<br />

sehr wichtig<br />

für mich: [...]<br />

dieser Dibbuk<br />

von Wagner,<br />

der auf meiner<br />

Schulter gesessen<br />

und in<br />

meiner Seele<br />

gewohnt hat,<br />

ist weg.“<br />

Barrie Kosky<br />

ren treuen Besuchern. Es war eine schöne Zeit, aber<br />

der Funke ist nie richtig übergesprungen: In anderen<br />

Städten wie Berlin, Sidney, Paris oder London fühlt<br />

man sofort, wie das Publikum reagiert und mitgeht.<br />

Als ich 2003 meine erste Arbeit in Berlin gemacht<br />

habe, ist der Funke sofort übergesprungen. So wurde<br />

die Stadt zu meiner künstlerischen Heimat und mein<br />

Wohnzimmer.<br />

Wie fühlt es sich dann an, als international renommierter<br />

Regisseur an die Wiener Staatsoper gerufen zu werden?<br />

I Es war die persönliche Einladung von Direktor Bogdan<br />

Roš , die mich hergebracht hat. Er hat viele<br />

meiner Inszenierungen gesehen und schlug vor, dass<br />

ich mit Musikdirektor Philippe Jordan die drei Mozart-Da<br />

Ponte-Opern hier mache. Ich habe zugesagt,<br />

als er darauf hinwies, dass er noch keine Besetzung<br />

habe, denn so konnte ich diese mit dem Intendanten<br />

und dem Musikdirektor erarbeiten. Das ist die<br />

einzige Möglichkeit für mich, gute Arbeit zu machen.<br />

© Frederic Kern / Action Press / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />

46 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 46 28.12.21 03:33


Wagners Dibbuk<br />

© Frederic Kern / Action Press / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />

Wann wurde diese Zusammenarbeit fixiert?<br />

I Dieser Vorschlag liegt etwa drei Jahre zurück: Direktor<br />

Roš hat die Ambition, das Kernrepertoire neu zu<br />

denken und an der Staatsoper ein Mozart-Ensemble<br />

mit neuen Sängern und Sängerinnen zu besetzen, also<br />

nicht mit großen, bekannten Stimmen, aber fantastischen<br />

Musikerinnen und Künstlern, die in Wien noch<br />

nicht bekannt sind. Das war Musik in meinen Ohren,<br />

denn Roš hat eine sehr klare, respektvolle Vorstellung<br />

davon, dass die Beziehung eines Regisseurs oder<br />

einer Regisseurin zu den Sängern eine gute und positive<br />

sein muss. Die künstlerische Zusammenarbeit<br />

in den letzten sechs Wochen war wunderbar, daher ist<br />

es so brutal und traurig, dass wir die Premiere ohne<br />

Zuschauer machen müssen. Ich mache kein Theater<br />

fürs Fernsehen, das ist nicht mein Beruf.<br />

Bei der Opernmatinée zum Don Giovanni meinten Sie,<br />

nach Mozart-Proben wären Sie fröhlich und nach Wagner-<br />

Proben schlecht gelaunt? Das verstehe ich gut, aber warum<br />

machen Sie es dann?<br />

I Das heißt nicht, dass ich keine Wagner-Oper machen<br />

möchte, doch ich erlebe diese Ambivalenz gleichzeitig<br />

mit der Macht seiner Musik, manchmal in einer<br />

unguten Art, sie geht jedenfalls unter die Haut. Das<br />

ist aber nicht schlecht, das Gleiche könnte ich über<br />

Alban Berg oder Modest Mussorgsky sagen. Auch deren<br />

Musik macht mich emotional unstabil, weil die<br />

Musik etwas mit einem macht. Es ist ja auch egal, ob<br />

man Mozart melancholisch oder tragisch empfindet:<br />

Auch nach drei Stunden Probe denke ich mir, jetzt<br />

wirst du für sechs Stunden pro Tag dafür bezahlt, dass<br />

du in einem Zimmer sitzt und diese Musik endlos hören<br />

kannst. Was gibt es Schöneres? Wir sagen einfach,<br />

Mozart war ein Genie, vergessen aber, warum wir Mozart<br />

lieben: Weil Mozart die Musik unserer Seele ist!<br />

Zurück zu Wagner: Sie sind der erste jüdische Regisseur,<br />

der von Katharina Wagner persönlich eingeladen wurde,<br />

die Meistersinger von Nürnberg in Bayreuth zu inszenieren.<br />

Wagners Antisemitismus und die Vereinnahmung<br />

Bayreuths durch die Nazis sind ein Faktum. Sie haben das<br />

Angebot zuerst abgelehnt, dann doch angenommen, und<br />

es wurde ein fulminanter Erfolg. Sie haben oft und deutlich<br />

betont, welch große Probleme Sie mit Wagner und dieser<br />

Oper im Besonderen haben, vor allem, wie schwer es ist,<br />

den Antisemiten Wagner von seinen Stücken zu trennen.<br />

Warum machen Sie es doch?<br />

I Wagner ist sicher einer der einflussreichsten<br />

Komponisten, und es ist unglaublich,<br />

was er an Musiktheater geschaffen<br />

hat. Tristan und Isolde gehört zu<br />

meinen Lieblingsstücken, ich liebe jeden<br />

Takt vom Anfang bis zum Ende. Ich<br />

empfinde diese Musik als einen endlosen<br />

Ozean, in dem man sich verlieren kann.<br />

Und in dieser Oper findet man auch keinen<br />

Antisemitismus, Wagners Charakter<br />

als politischer Mensch ist innerhalb dieser<br />

Erzählung nicht vorhanden.<br />

In anderen Stücken, wie Meistersinger<br />

oder Nibelungenring, ist es hingegen<br />

als Jude, der ich bin, eine große, komplexe<br />

Herausforderung, das Antisemitische<br />

an diesem furchtbar problematischem<br />

Mann nicht zu sehen. Ich kann<br />

nicht sagen – wie viele andere das versuchen<br />

–, dass Alberich, Mime oder Beckmesser<br />

nicht in tausend Jahre europäischem<br />

Antisemitismus mariniert sind.<br />

Denn sie sind es, und als Jude weiß ich<br />

das. Vielleicht hat ein nicht jüdisches Publikum keine<br />

Ahnung, was wir da denken und fühlen, aber es ist da.<br />

Sie machen es dafke*, um Ihre Jewtopia-Trilogie zu zitieren?<br />

I Man hat als Regisseur die Wahl: Man kann sagen,<br />

ich mache das Stück nicht, es geht für mich nicht. Vor<br />

fünfzehn, zwanzig Jahren habe ich so gedacht. Aber<br />

ehrlich gesagt, war die Bayreuther Erfahrung sehr<br />

wichtig für mich: Ich habe mich durch diese Katharsis<br />

befreit, dieser Dibbuk von Wagner, der auf meiner<br />

Schulter gesessen und in meiner Seele gewohnt hat,<br />

ist weg. In Bayreuth hatte ich bei der letzten Vorstellung<br />

im fünften Jahr der Wiederaufnahme plötzlich<br />

den Gedanken, jetzt ist der Kreis geschlossen. Ich habe<br />

keine Angst mehr vor diesem Mann, ich kann diese<br />

Sachen jetzt komplett trennen, und ich kann im Probenraum<br />

viel befreiter arbeiten.<br />

Wir werden also noch mehr Wagner-Interpretationen von<br />

Ihnen sehen dürfen?<br />

I Ich werden sicher meine Ambivalenz und die Problematik<br />

mit diesem Mann nie lösen. Die Konfrontation<br />

mit Wagner ist per se nicht schlecht, denn er ist<br />

in diesen Stücken stark verankert: Wotan ist Wagner,<br />

Holländer ist Wagner, Alberich ist Wagner, zwar in unterschiedlichen<br />

Facetten, aber er sitzt in diesen Figu-<br />

BARRIE KOSKY wurde 1967 in<br />

Melbourne geboren und lebt heute<br />

in Berlin. Nach einer Ausbildung in<br />

Klavier und Musikgeschichte an der<br />

Universität Melbourne wandte er<br />

sich der Theater- und Opernregie<br />

zu. Von 1990 bis 1997 war er künstlerischer<br />

Leiter der Gilgul Theatre<br />

Company. Dort inszenierte er Der<br />

Dybbuk, Es brennt ... Levad, The<br />

Wilderness Room und Der operirte<br />

Jud’ – alles Werke, mit denen Kosky<br />

zu Fragen jüdischer Kultur und<br />

jüdischer Identität arbeitete.<br />

Am Wiener Schauspielhaus<br />

war Kosky von 2001 bis 2005<br />

Ko-Direktor. Seit der Spielzeit<br />

2012/2013 ist er Intendant der<br />

Komischen Oper Berlin. Seine<br />

originellen Produktionen wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet.<br />

Engagements als Opernregisseur<br />

führten Barrie Kosky unter anderen<br />

an die Bayerische Staatsoper München,<br />

zum Glyndebourne Festival,<br />

an das Royal Opera House London<br />

sowie an die Opern in Zürich<br />

und Frankfurt am Main. Seine<br />

Inszenierungen wurden außerdem<br />

an der Los Angeles Opera, Wiener<br />

Staatsoper, Oper Graz, Staatsoper<br />

Hannover, am Teatro Real Madrid<br />

und Theater Basel gezeigt. 2019<br />

hatte er mit Jacques Offenbachs<br />

Orphée aux Enfers sein gefeiertes<br />

Debüt bei den Salzburger Festspielen.<br />

Im gleichen Jahr arbeitete<br />

Barrie Kosky auch an der Opéra<br />

national de Paris, der Metropolitan<br />

Opera New York sowie beim<br />

Festival Aix-en-Provence.<br />

* dafke, jiddisch für „aus Trotz“<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

dezeber.indb 47 28.12.21 03:33


Inszenieren für die Gegenwart<br />

„Ich habe keine<br />

Aufnahme von<br />

Karajan oder<br />

Böhm, obwohl<br />

ich beide als Musiker<br />

sehr schätze.<br />

Ich wähle andere<br />

Dirigenten,<br />

weil das Problem<br />

ist, wenn ich<br />

die beiden höre,<br />

fange ich an,<br />

darüber nachzudenken,<br />

was sie<br />

getan oder besser<br />

gesagt nicht<br />

getan haben.“<br />

Barrie Kosky<br />

* Barrie Kosky: On Ecstasy, 2020.<br />

ren. Ich habe viele Angebote, den Ring in Deutschland<br />

zu machen, ich habe alle abgelehnt. Für 2023 beginne<br />

ich jetzt mit den Arbeiten für den Ring im Londoner<br />

Royal Opera House, und es ist mir ganz klar, dass ich<br />

den Bayreuth-Stil nicht nach London transferiere. Das<br />

englische Publikum soll keine antisemitischen, deutschen<br />

Bilder auf der Bühne sehen. Da versuche ich etwas<br />

ganz anderes.<br />

Hierzulande bemüht man sich bei den großen Dirigenten<br />

Karajan und Böhm, die politische Person und die künstlerische<br />

Leistung zu trennen. Wie sehen Sie das?<br />

I Diese Geschichte ist sehr problematisch. Ich habe<br />

keine Aufnahme von Karajan oder Böhm, obwohl ich<br />

beide als Musiker sehr schätze. Ich wähle andere Dirigenten,<br />

weil das Problem ist, wenn ich die beiden höre,<br />

fange ich an zu denken, was sie getan oder besser gesagt<br />

nicht gemacht haben, also nicht geholfen haben.<br />

Im Vergleich zu anderen nicht jüdischen Dirigenten,<br />

wie Hans Knappertsbusch oder Arturo Toscanini, die<br />

alles richtig gemacht und auch hier geblieben sind.<br />

Wie würden Sie das Wiener Publikum mit dem Berliner vergleichen?<br />

I Ich war in den letzten 16 Jahren oft in Wien. Ich sehe<br />

jetzt eine größere Offenheit, vielleicht ist sie auf dem<br />

Weg, wo sie vor dem Zweiten Weltkrieg war, in eine<br />

kosmopolitische Stadt. Ich habe hier auch damals<br />

wunderbare Menschen kennengelernt, fantastische<br />

Künstlerinnen wie Ruth Brauer, eine meiner Lieblingsmusen,<br />

die ich oft nach Berlin bringe. Wir haben<br />

zwar in Wien und Berlin drei Opernhäuser, aber<br />

das Publikum ist sehr verschieden. Seit dem Mauerfall<br />

ist in Berlin das Publikum wunderbar durchmischt.<br />

Es gibt nur eine Minderheit, die sagt, ich gehe nur in<br />

die Deutsche Oper oder nur in die Komische Oper Berlin<br />

(KOB), weil ich ein Kind der DDR bin, und das ist<br />

mein Stammhaus. Das gibt es nicht mehr, die Berliner<br />

sind wahnsinnig neugierig und gehen in alle drei<br />

Häuser. Sie kommen wegen eines besonderen Werkes,<br />

sie wollen etwas Neues sehen, ob Operette oder<br />

modernes Musiktheater. Das ist auch der Unterschied<br />

zu Wien: Sie kommen nicht in die KOB, um „na, was<br />

macht denn der Kosky wieder“ zu fragen und dann lieber<br />

zu raunzen, „ich kenne das Stück nicht, ich kenne<br />

die Sänger nicht“ … das ist ein wenig die Wiener Art.<br />

Sie haben als Intendant großen Erfolg mit Ihrem Repertoire,<br />

das gleichzeitig drei Genres umfasst, sowohl Mozarts<br />

Zauberflöte, Schönbergs Moses und Aron und Bernsteins<br />

West Side Story. Die Kartenpreise sind auch niedrig. Wie<br />

machen Sie das?<br />

I Erstens ist unser Publikum jünger, im Durchschnitt<br />

49 Jahre. Zweitens sind die Städte und die Geschichten<br />

der Opernhäuser sehr verschieden. Die Wiener<br />

Staatsoper soll nicht wie die Komische Oper sein und<br />

umgekehrt, das wäre lächerlich. Aber ein Opernhaus<br />

darf nicht nur durch die Vergangenheit definiert werden,<br />

auch nicht über die Zukunft, sondern nur durch<br />

die Gegenwart: Was machen wir heute, was ist jetzt<br />

los? Nostalgie und Erinnerung sind wichtig für Theater<br />

und Oper, wir wissen das, ich habe auch kein Problem<br />

damit – aber bitte nicht so viel!<br />

Sie denken da an die Wiener Staatsoper?<br />

I Direktor Roš ist sehr authentisch in seiner Art und<br />

sagt, es muss letztendlich auch Neues passieren, wir<br />

müssen eine neue Generation von Sängerinnen und<br />

Sängern herbringen, wir brauchen eine andere Ästhetik.<br />

Natürlich ist die Staatsoper ein führendes Opernhaus<br />

in der Welt, aber es ist nicht das einzige, diese<br />

Einstellung gehört der Vergangenheit an.<br />

Wir können uns günstigere Preise leisten, weil wir<br />

nicht so teure Sänger und Sängerinnen haben wie<br />

die Staatsoper, und hauptsächlich hilft uns dabei ein<br />

eigenes Ensemble. Wir sind keine großen Stimmfetischisten,<br />

in Wien wäre es dumm zu sagen, wir wollen<br />

diese großen Stimmen nicht. Aber wir machen Musiktheater<br />

in einem Felsenstein-Haus mit einer ganz<br />

anderen Praxis.<br />

Wie ist es Ihnen gelungen, Ihr Publikum so stark auch mit<br />

unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu durchmischen?<br />

I Man muss Prioritäten setzen, gleich in der ersten<br />

Spielzeit haben wir ein eigenes Konzept für die türkische<br />

Community entwickelt. Es gibt Workshops, wir<br />

gehen in Schulen, bauen damit eine Brücke in das<br />

Opernhaus. Es reicht nicht zu sagen, „wir sind ein offenes<br />

Haus der Vielfalt“ und „komm, lieber türkischer<br />

Mann, in diesen Tempel“. Man muss Fakten schaffen:<br />

Mit einem Bus bringen wir ein 90-minütiges Programm<br />

mit fünf Sängern und vier Musikern ins Altersheim,<br />

in die Schule und in den Kindergarten, damit<br />

die Menschen ein Gespür dafür entwickeln, dass wir<br />

zu ihnen kommen. Vielfalt muss gelebt werden!<br />

Die fantastische Hühnersuppe Ihrer polnischen Großmutter<br />

Leah beschreiben Sie bis heute voller Sehnsucht und<br />

Genuss.* Ihre ungarische Großmutter Magda hingegen hat<br />

Sie mit der Oper vertraut gemacht: Als Siebenjähriger hat<br />

sie Ihnen Madame Butterfly untergejubelt. Sie verabschieden<br />

sich im Sommer <strong>2022</strong> nach zehn Jahren von der KOB<br />

mit einer All-Singing-All-Dancing Yiddish Revue. Werden<br />

Sie keine Madame Butterfly für Magda inszenieren?<br />

I Das ist eine sehr interessante Frage, denn obwohl<br />

mich diese Oper als erstes Werk so tief beeindruckt<br />

und auch beeinflusst hat, war die Butterfly im späteren<br />

Leben nie meine Oper. Sie war zwar meine Tür<br />

in die Opernwelt, sie berührt mich, aber sie interessiert<br />

mich nicht. Ich finde Tosca das viel interessantere,<br />

bessere Stück. Daher freue ich mich, dass ich<br />

in den nächsten Jahren in Amsterdam eine Puccini-<br />

Trilogie (Tosca, Turandot, Trittico) machen darf. Meine<br />

Tosca ist schon im April <strong>2022</strong> zu sehen.<br />

48 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 48 28.12.21 03:33


„Die Vergangenheit liegt in der Luft“<br />

Jana Enzelberger ist eine<br />

stille, stets hoch konzentrierte<br />

Künstlerin von beeindruckender<br />

Intensität. Geboren wurde<br />

sie in der Sowjetunion, seit 20<br />

Jahren lebt sie in Wien. Und obwohl<br />

sie schon seit ihrer Kindheit<br />

um ihre jüdischen Wurzeln<br />

wusste, hat sie erst in den letzten<br />

Jahren und in Wien damit<br />

begonnen, sich in ihrer künstlerischen<br />

Arbeit damit auseinanderzusetzen,<br />

aber auch<br />

dank Freunden ihren ganz persönlichen<br />

Weg zu ihrer eigenen<br />

„Jüdischkeit“ zu finden. Wie<br />

schwer, hindernisreich und bewegend<br />

dieser Weg war, darüber<br />

hat die Fotografin und<br />

Grafikerin aus Anlass ihrer aktuellen<br />

Einzelausstellung Wiener<br />

Begegnungen sehr offen im Gespräch<br />

mit WINA erzählt.<br />

Interview: Angela Heide,<br />

Fotos: Jana Enzelberger<br />

Jana Enzelberger<br />

begann schon früh in<br />

mit ersten künstlerischen<br />

Arbeiten. Doch<br />

erst in ihrer Wahlheimat<br />

Wien hat sie<br />

sich der Fotografie<br />

zugewandt.<br />

wına-magazin.at<br />

49<br />

dezeber.indb 49 28.12.21 03:33


Fotografin und Grafikerin<br />

INTERVIEW MIT JANA ENZELBERGER <br />

WINA: Du hast um deine jüdischen Wurzeln relativ früh<br />

schon gewusst, dich aber erst in den letzten Jahren näher<br />

damit beschäftigt. Wie kam es dazu?<br />

Jana Enzelberger: Ich wurde in Russland geboren, in<br />

eine jüdische Familie, aber mit zugeschütteten Wurzeln.<br />

Denn das Jüdischsein war damals nicht so „üblich“:<br />

Alle waren sowjetisch, alle waren russisch, und<br />

es wurden weder christliche noch jüdische oder sonstige<br />

religiöse Feste gefeiert, auch keine Weihnachten.<br />

Was es gab, waren der Erste Mai und Silvester.<br />

Ich wusste um den jüdischen Hintergrund meiner<br />

Mutter ab meinem Teenageralter, und eigentlich mehr<br />

aus Zufall, da damals, in den Achtzigerjahren, immer<br />

wieder im Bekanntenkreis darüber gesprochen wurde,<br />

wer wohin auswandert und wer in den Westen, aber<br />

eben auch nach Israel geht.<br />

Hier in Wien habe ich einen sehr engen Freund, der<br />

ebenfalls jüdisch ist und mit seiner Familie die jüdische<br />

Tradition ganz bewusst lebt und auch weitergibt<br />

– so wie er seine Kinder erzieht, so wie er an Schabbat<br />

in die Synagoge geht –, und durch ihn erst finde ich<br />

langsam zu meinen Wurzeln.<br />

Wann und warum bist du nach Wien gekommen?<br />

I Es war der Wunsch meiner Eltern, die beide Ärzte<br />

sind und für die eine gute Ausbildung absolut zentral<br />

war, dass ich in der Schule schon Deutsch lerne. Später<br />

habe ich Germanistik studiert und in diesem Fach<br />

auch promoviert und gearbeitet. Nach Wien bin ich<br />

vor rund 20 Jahren durch meinen damaligen Mann gekommen<br />

– und dieses erste Jahr in Wien war für mich<br />

unglaublich schwierig, denn das Deutsch, das ich gelernt<br />

hatte, und das Wienerische, mit dem ich es nun<br />

tagtäglich zu tun hatte: Da lagen Welten dazwischen,<br />

die Sprachmelodie ist so ganz anders. Und ich dachte,<br />

mein Hirn platzt!<br />

Wohin hat es dich in Wien beruflich zuerst gezogen?<br />

I Ich habe zuerst in einem Kunstverein gearbeitet,<br />

doch es war ein klassischer Bürojob, und rasch war<br />

mir klar, dass ich so nicht leben will. Zu diesem Zeitpunkt<br />

habe ich einen Mitarbeiter des Vereins Hemayat<br />

kennengelernt, dem Wiener Betreuungszentrum<br />

für Folter- und Kriegsüberlebende, das psychiatrische<br />

und psychotherapeutische Unterstützung bietet und<br />

in dem ich in den folgenden 15 Jahren als Dolmetscherin<br />

gearbeitet und parallel dazu eine Ausbildung zur<br />

Traumaberaterin absolviert habe. Daneben gab es Aufträge<br />

des Niederösterreichischen Therapiezentrums in<br />

Sankt Pölten und der Caritas Familienberatung.<br />

Anfang 2020, fast zeitgleich mit dem ersten Lockdown im<br />

Zuge der Covid-19-Pandemie, hattest du ein Burnout, das<br />

dein Leben in gänzlich neue Bahnen geworfen hat. Willst du<br />

uns darüber erzählen?<br />

„Das Deutsch,<br />

das ich gelernt<br />

hatte,<br />

und das Wienerische,<br />

mit<br />

dem ich es<br />

nun tagtäglich<br />

zu tun<br />

hatte: Da<br />

lagen Welten<br />

dazwischen.“<br />

Jana Enzelberger<br />

Aufatmen hieß<br />

Jana Enzelbergers<br />

letzte Einzelausstellung<br />

im Rahmen<br />

von Wachau in<br />

Echzeit.<br />

I Die Arbeit war in all diesen Jahren nicht nur psychisch<br />

sehr belastend, denn du lernst so viele Menschen und<br />

deren oft tragische Schicksale kennen –, sie war auch<br />

ganz persönlich existenziell belastend, denn, und das<br />

ist ein systemisches Problem, es gibt keine Anstellungen,<br />

in keinem der Bereiche, in denen ich gearbeitet<br />

habe, und ich habe oft bis weit über die Grenzen meiner<br />

Möglichkeiten hinaus gearbeitet, konnte aber aus<br />

rein existenziellen Gründen nicht weniger arbeiten,<br />

und irgendwann ging das einfach nicht mehr. Ich hatte<br />

bereits acht Jahre zuvor ein Burnout gehabt, war jedoch<br />

nach nur einem Monat wieder zurück in den Job<br />

gegangen. Diese zu kurze Auszeit, die ich nach dem<br />

ersten Burnout genommen hatte, hat sich Jahre später<br />

gerächt. Vor sechs Jahren habe ich ein gutes Mittel gefunden,<br />

um mit den Belastungen umgehen zu lernen:<br />

Ich habe mit dem Ballettunterricht begonnen, dem ich<br />

bis heute treu geblieben bin und den ich auch im tiefsten<br />

zweiten Burnout des letzten Jahres nie aufgegeben<br />

habe. Dennoch musste ich ab März 2020 acht Monate<br />

lang in Krankenstand, eine Zeit, die in der Rückschau<br />

zwar sehr belastend war, mein Leben aber um 180<br />

Grad – und zum Guten – gedreht hat.<br />

Wann hast du das erste Mal gespürt oder gewusst, dass du<br />

einen künstlerischen Weg einschlagen willst?<br />

I Ich wollte eigentlich immer schon Künstlerin werden<br />

und habe schon früh gemalt und gezeichnet – es<br />

war als Kind sicher auch eine Art Fluchtmöglichkeit.<br />

Aber so wenig, wie ich Ärztin geworden bin, was ja<br />

der Wunsch meiner Eltern gewesen wäre, so wenig<br />

bin ich dann Kunsthistorikerin geworden, was eigentlich<br />

mein erster Berufswunsch war. Doch auch wenn<br />

es lange Jahre gebraucht hat, so ist mit der Zeit dieses<br />

Künstlerische, vor allem das Gestalterische wieder zu<br />

mir zurückgekehrt.<br />

50 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 50 28.12.21 03:33


mit russisch-jüdischen Wurzeln<br />

Du hast dich dann aber nicht mehr für die Malerei entschieden,<br />

sondern für die Fotografie, warum?<br />

I Als ich wieder zur Kunst zurückgefunden habe, hatte<br />

ich schon so lange nicht mehr gemalt oder gezeichnet,<br />

dass mein muskuläres Gedächtnis einfach nicht<br />

mehr mitgemacht hat. Und so habe ich mir gedacht,<br />

ok, dann fotografiere ich halt, und habe berufsbegleitend<br />

die Ausbildung zur Fotografin absolviert. Mein<br />

erster Plan war, dass ich beide Wege parallel gehen<br />

könnte – den als Dolmetscherin und den als Künstlerin.<br />

Ein falscher Gedanke, wie sich schließlich herausgestellt<br />

hat. Es ging sich einfach mit meiner Energie<br />

nicht aus. Mein zweites Burnout war dann auch<br />

kurz nach meiner ersten Soloausstellung in der Galerie<br />

MA2, die mich seither auch vertritt. Es war der<br />

Zeitpunkt, an dem mein Kopf eigentlich noch dachte,<br />

dass ich beides machen kann, aber mein Körper gesagt<br />

hat, dass es nicht mehr so weitergehen kann …<br />

Du hast dich in den acht Monaten, die auf deinen Ausstieg<br />

bei Hemayat gefolgt sind, erneut weitergebildet und auch<br />

gleich deine Website selbst gestaltet.<br />

I Die Website kam zuerst, denn ich brauchte etwas,<br />

das ich machen kann, um mich nicht auf die Coach<br />

zu legen und nicht mehr aufzustehen. Das war die Gefahr<br />

in dieser Zeit, dass alles so dunkel und schwarz<br />

wird, dass ich es nicht mehr schaffe – aber ich habe<br />

es geschafft! Ich habe meine Website selbst gestaltet,<br />

und ich habe intensiv nachgedacht, was ich machen<br />

kann und was ich machen will, und so kam ich auf die<br />

Ausbildung zur Mediendesignerin, die ich, sobald es<br />

mir möglich war, an der LIK Akademie für Foto und<br />

Design absolviert habe. Der nächste Schritt war ein<br />

Praktikum beim Tyrolia Verlag, für das ich sehr dankbar<br />

bin und bei dem ich dank sehr freundlicher, engagierter<br />

und leidenschaftlicher Buchmacherinnen<br />

gelernt habe, ein Buch von Null an bis zur Drucklegung<br />

zu begleiten.<br />

Wenn ich dir zuhöre, dann wirkt alles, trotz all der Belastungen<br />

und Schwere, die dich so lange begleitet haben, als hätte<br />

es so sein müssen. Du hast aktuell binnen weniger Monate<br />

zwei Einzelausstellungen, arbeitest als Porträtfotografin und<br />

suchst genau in dem Bereich, den du dir wünscht, dem Verlags-<br />

und Grafikwesen, eine neue Herausforderung.<br />

I Ja, all das ist in diesem letzten Jahr passiert, ich glaube<br />

es fast selbst noch nicht. Zu beiden Ausstellungen habe<br />

ich auch ohne lange zu überlegen und sehr gerne zugesagt.<br />

Vor allem, weil ich merke, dass ich diesen Schritt<br />

machen kann und machen will: dass ich nicht mehr<br />

nur fotografieren will, sondern meine Arbeiten auch<br />

einer breiteren Öffentlichkeit zeigen will, mit anderen<br />

teilen will.<br />

Du arbeitest bei deinen fotografischen Arbeiten vor allem in<br />

Schwarzweiß, warum?<br />

Berührendes<br />

Symbol<br />

jüdischen<br />

Lebens von<br />

heute: eine<br />

Menora, die<br />

als Schattenbild<br />

auf<br />

dem Gehsteig<br />

der Rotenturmstraße<br />

erscheint.<br />

JANA ENZELBERGER<br />

Wiener<br />

Begegnungen<br />

Fotoausstellung<br />

Treffpunkt Lerchenfeld,<br />

Lerchenfelder Straße 141,<br />

1070 Wien<br />

Vernissage: 15. <strong>Dezember</strong><br />

<strong>2021</strong>, 18:30 Uhr<br />

Ausstellung bis 14. <strong>Jänner</strong><br />

<strong>2022</strong> zu den Öffnungszeiten<br />

sowie nach Vereinbarung<br />

lerchenfelderstrasse.at<br />

„Das Bild war<br />

quasi schon<br />

da, ich musste<br />

nur mit meiner<br />

Kamera abdrücken.“<br />

Jana Enzelberger<br />

I Für mich ist es vielleicht der kürzeste Weg, zum Wichtigsten<br />

zu kommen.<br />

In deinen Bildern thematisierst du immer wieder das „jüdische<br />

Wien“, ein Wien, das es so nicht mehr gibt, wie etwa<br />

am Beispiel der zerstörten Synagoge in der Neudeggergasse,<br />

ein jüdisches Wien aber auch, das du an Orten siehst oder<br />

in Dingen, die ohne deine Bilder nicht sichtbar wären, etwa<br />

das Bild einer Menora in der Rotenturmstraße, die so freilich<br />

nicht existiert, sondern eine Art Schatten der Erinnerung ist,<br />

aber auch der Hoffnung und des Lebens. Ist dieses jüdische<br />

Wien deiner Bilder deine Art, dich deinem Judentum, aber<br />

auch Wien zu nähern?<br />

I Zum „Jüdischen“ und Wien kann ich ganz persönlich<br />

erzählen, dass ich eine Zeitlang auf dem Karmelitermarkt<br />

im zweiten Bezirk gelebt habe. Für mich war<br />

die dortige Atmosphäre, in der ich so viel vom einstigen<br />

jüdischen Leben in dieser Stadt gespürt habe,<br />

aber auch die Verfolgung, Zerstörung und Auslöschung<br />

massiv gefühlt habe, so belastend, dass ich es<br />

irgendwann nicht mehr ausgehalten habe. Diese Vergangenheit<br />

liegt, zumindest für mich, in der Luft. Ich<br />

habe damals nicht fotografiert, sondern erst viel später.<br />

Ähnlich ist es auch mit dem Bild der Menora auf<br />

der Rotenturmstraße. Für mich war der historische<br />

Boden – auch der fotografische – schon da, denn genau<br />

von dieser Stelle gibt es Fotos, auf denen dokumentiert<br />

ist, wie Jüdinnen und Juden 1938 gezwungen<br />

wurden, den Boden der Straße zu schrubben. Als ich<br />

dann durch die Straße ging und diesen Schatten gesehen<br />

habe, der für mich so ein deutliches Symbol jüdischen<br />

Lebens ist, war das für mich sofort wieder präsent.<br />

Das Bild war quasi schon da, ich musste nur mit<br />

meiner Kamera abdrücken.<br />

janaenzelberger.com<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

dezeber.indb 51 28.12.21 03:33


Genialer Dirigent<br />

Wiener Dramaturgie<br />

Herbert-von-Karajan-Platz ja, Bruno-Walter-Platz nein. Der Musiker<br />

Michael Fritthum kämpft gegen Windmühlen und für Gerechtigkeit.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Bruno Walter stand<br />

mehr als 850 Mal am<br />

Dirigentenpult der Wiener<br />

Oper, bevor er vertrieben<br />

wurde.<br />

Der Wiener Dialekt klang harmonisch<br />

und wohltuend an mein<br />

Ohr und ich fühlte, ich gehöre<br />

nach Wien – denn der Seele nach war ich<br />

Wiener“, schrieb der am 15. September<br />

1876 in Berlin als Bruno Schlesinger geborene<br />

bedeutende Musiker und Dirigent<br />

Bruno Walter, als er 1947 Europa zum ersten<br />

Mal wieder besuchte. Er war über 60<br />

Jahre alt, als er wie viele andere jüdische<br />

Künstler 1933 Deutschland und 1938 Österreich<br />

fluchtartig verlassen musste, um<br />

sich und seiner Familie das Überleben zu<br />

ermöglichen.<br />

Nicht wenige der vertriebenen jüdischen<br />

Künstler verklärten und überhöhten<br />

ihr Wien-Bild nach der Schoah, um<br />

in der ehemals vertrauten Heimat wieder<br />

aktiv werden zu können. „Letztlich blendete<br />

Bruno Walter seine traumatischen Erfahrungen<br />

mit dem Nationalsozialismus<br />

in Deutschland und Österreich aus und<br />

kehrte zu seinem alten Österreich-Bild<br />

zurück, ohne im Innersten zu vergessen“,<br />

schreibt der Historiker Oliver Rathkolb im<br />

Ausstellungskatalog der Wiener Staatsoper<br />

zum 50. Todestag des Dirigenten.<br />

Bruno Walters Vater machte als Buchhalter<br />

in einer Seidenfabrik Karriere,<br />

seine Mutter beeinflusste ihn seit frühester<br />

Kindheit mit ihrer eigenen musikalischen<br />

Begabung als Absolventin des Sternschen<br />

Konservatoriums. Mit acht Jahren<br />

besuchte Bruno bereits dieses Berliner<br />

Musikinstitut und gab ein Jahr später seinen<br />

ersten öffentlichen Auftritt als Pianist.<br />

1890 beschloss er unter dem Einfluss<br />

von Hans von Bülow, Dirigent zu werden,<br />

und bereits 1893 dirigierte er an der Kölner<br />

Oper. Nur ein Jahr später folgte die Anstellung<br />

als Assistent von Gustav Mahler<br />

an der Hamburger Oper. Mahler wurde<br />

zu Walters künstlerisch prägendem Vorbild,<br />

er betrachtete sich als seinen Schüler,<br />

auch wenn er sich zunächst Mahlers<br />

Bitte verweigerte, ihm an die Wiener Hofoper<br />

zu folgen. Erst nach einer Saison in<br />

Hamburg und Stationen in Breslau, Preßburg,<br />

Riga und Berlin kam er 1901 als Kapellmeister<br />

an die Wiener Hofoper. „Es<br />

© akg-images / picturedesk.com<br />

52 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 52 28.12.21 03:33


Karriere im Exil<br />

© akg-images / picturedesk.com<br />

war atemberaubend, das edel prunkvolle<br />

Innere der Hofoper zu betreten, die vornehmen<br />

Räume Mahlers, sein Direktionsbüro<br />

und den Probensaal zu sehen, die<br />

etwa vierzig Jahre später, 1936 bis 1938 die<br />

meinen sein sollten“, erinnerte er sich in<br />

seinen Memoiren. Von Wien aus begann<br />

seine internationale Karriere mit Gastdirigaten<br />

in London und Rom. 1911 dirigierte<br />

er die Uraufführungen zweier bedeutender<br />

Spätwerke Mahlers: Das Lied von der Erde<br />

in München und die 9. Sinfonie in Wien.<br />

Im selben Jahr wurde Walter österreichischer<br />

Staatsbürger und strich „Schlesinger“<br />

offiziell aus seinem Namen. Bis<br />

1912 stand er mehr als 850 Mal am Dirigentenpult<br />

der Wiener Hofoper. Im Wagner-Jahr<br />

1913 verließ er Wien und wurde<br />

Generalmusikdirektor der königlichen<br />

Hofoper in München, wo er bis 1922 blieb.<br />

Dort erlebte Walter 1916 die ersten antisemitischen<br />

Angriffe, als es hieß „diesem Dirigenten<br />

fehlt zu Wagners Musik die stilistische<br />

Sicherheit.“ Als einziger verteidigte<br />

ihn damals Thomas Mann öffentlich. Unbeirrt<br />

erneuerte Walter das Repertoire in<br />

München und galt als fortschrittlich, nachdem<br />

er 1917 die Uraufführung von Hans<br />

Pfitzners Oper Palestrina dirigierte.<br />

In den USA trat der geniale Musiker im<br />

Jahr 1923 auf, ein Jahr später begann er<br />

seine langjährige Tätigkeit bei den Salzburger<br />

Festspielen. 1929 wechselte er von<br />

Berlin nach Leipzig, wo er Nachfolger von<br />

Wilhelm Furtwängler als Leiter des Gewandhausorchesters<br />

wurde. „Doch schon<br />

vier Jahre später holte ihn endgültig die<br />

rassistische Politik ein. Zwar kehrte er<br />

1933 noch einmal nach einer USA-Tournee<br />

mit seiner Frau nach Deutschland<br />

zurück, doch schon bei der Landung in<br />

Hamburg war ihm klar, dass nun ein totalitäres<br />

Regime am Ruder war“, fasst Rathkolb<br />

die damalige Situation zusammen. Als<br />

Walter sein viertes Konzert mit den Berliner<br />

Philharmonikern geben wollte, drohten<br />

die neuen Machthaber, sie würden im<br />

Saal alles kurz und klein schlagen lassen,<br />

falls Walter das Podium betreten sollte.<br />

Er rettete sich nach Österreich, wo er die<br />

Wiener Philharmoniker und<br />

zahlreiche Aufführungen an<br />

der Wiener Staatsoper sowie<br />

bei den Salzburger Festspielen<br />

leitete. Noch im Jahr 1936<br />

unterschrieb er einen Vertrag<br />

als künstlerischer Berater mit<br />

umfassenden Kompetenzen<br />

an der Wiener Staatsoper.<br />

Nach dem „Anschluss“ 1938 – die Nachricht<br />

vom Einmarsch der Wehrmacht erreichte<br />

ihn als Gastdirigent des Concertgebouworkest<br />

Amsterdam – blieb er mit<br />

seiner Frau dort und wartete auf seine<br />

Tochter, die in Wien inhaftiert war. Nach<br />

ihrer Freilassung machten die drei noch<br />

einige Stationen in Europa durch, gingen<br />

aber im November 1939 schließlich in<br />

die USA, wo der prominente Dirigent vom<br />

Los Angeles Philharmonic Orchestra sofort<br />

eingesetzt und 1946 eingebürgert wurde.<br />

Eine Londoner Zeitung reagierte auf Walters<br />

Vertreibung und seinen Erfolg in den<br />

USA so: „Deutschland hat seinen größten<br />

Dirigenten dem Rest der Welt geschenkt.“<br />

Bruno Walter ließ sich in Kalifornien<br />

nieder und war von 1941 bis 1945 Dirigent<br />

am Metropolitan Opera House in New<br />

York, wo er mit Unterbrechungen bis 1957<br />

wirkte. Zwei Jahre war er zudem Direktor<br />

des New York Philharmonic Orchestra.<br />

Schönen Worten folgten keine Taten. Wenn<br />

man sich die Lebensdaten dieses großen<br />

Musikers ansieht – geboren 1876 in Berlin,<br />

gestorben 1962 in Beverly Hills –, findet<br />

sich aktuell kein rundes Jubiläum, das<br />

zu begehen wäre. Dennoch gibt es einen<br />

sehr triftigen Grund, um jetzt über sein<br />

Schicksal zu berichten und seine Leistungen<br />

festzuhalten: Seit 25 Jahren bemüht<br />

sich der Theater- und Musikwissenschafter<br />

Michael Fritthum vergeblich<br />

darum, dass die Wiener Staatsoper gemeinsam<br />

mit der Stadt Wien den kleinen<br />

Platz an der Seitenfront zur Operngasse<br />

nach Bruno Walter benennt.<br />

„Während Bruno Walter ab 1938 im unfreiwilligen<br />

Exil war, machte das NSDAP-<br />

Parteimitglied Herbert von Karajan un-<br />

„Während Bruno Walter ab 1938<br />

im unfreiwilligen Exil war, machte<br />

das NSDAP-Parteimitglied Herbert<br />

von Karajan unter der Nazi-Diktatur<br />

Karriere.“ Michael Fritthum<br />

ter der Nazi-Diktatur Karriere“, erklärt<br />

Fritthum. „Er starb 1989, und bereits im<br />

September 1996 wurde der Platz zwischen<br />

Kärntner Straße und Opernhaus nach ihm<br />

benannt.“<br />

Doch warum kämpft der 1953 in Kanada<br />

geborene Österreicher so lange und unermüdlich<br />

um ein würdiges Andenken ausgerechnet<br />

für diesen jüdischen Dirigenten?<br />

„Bruno Walter entdeckte ich indirekt<br />

bereits in meiner Kindheit in Toronto:<br />

Ich habe mit großer Begeisterung Leonard<br />

Bernsteins legendäre Young Peoples<br />

Concerts live im Fernsehen erlebt und<br />

wusste, welche einschneidende Rolle Walter<br />

in Bernsteins Karriere gespielt hat“, erzählt<br />

das langjährige Mitglied der Wiener<br />

Staatsoper. „Als Bruno Walter 1943 wegen<br />

einer Grippe ein Konzert der New Yorker<br />

Philharmoniker, das über Radio im ganzen<br />

Land übertragen werden sollte, nicht<br />

dirigieren konnte, überließ er dem damals<br />

25-jährigen Bernstein das Dirigat, und so<br />

begann dessen Weltkarriere.“ Fritthum<br />

glaubt bis heute nicht, dass Walter wirklich<br />

krank war, er habe eher die Grandezza<br />

gehabt, dem jungen Kollegen eine Chance<br />

zu geben.<br />

Fritthum, der ab 1972 als Bratschist in<br />

diversen Orchestern spielte und von 1984<br />

bis 1991 im Chor der Volksoper sang, wurde<br />

von Eberhard Waechter in die Direktion<br />

der Volksoper geholt. Nach dessen plötzlichem<br />

Tod 1992 wechselte er zu Direktor<br />

Ioan Holender an die Wiener Staatsoper.<br />

Hier war er sieben Jahre lang sowohl<br />

für die Leitung sämtlicher Gastspiele der<br />

Staatsoper verantwortlich wie auch für die<br />

gesamte Gedenkdramaturgie des Hauses.<br />

Im Rahmen dieser anspruchsvollen und<br />

umfangreichen Aufgaben konzipierte und<br />

organisierte der Musikfachmann ab 1995<br />

mehr als zwanzig Ausstellungen, unter<br />

wına-magazin.at<br />

53<br />

dezeber.indb 53 28.12.21 03:33


Keine Versöhnung<br />

anderen über Bruckner, Mahler, Strauss,<br />

Donizetti und Gottfried von Einem. Historische<br />

Jubiläen der Staatsoper gehörten<br />

ebenso dazu wie zahlreiche Dirigenten-Würdigungen<br />

etwa von Josef Krips,<br />

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan<br />

sowie Jubiläumsausstellungen für<br />

große Sänger und Sängerinnen des Hauses<br />

am Ring, unter anderem für Helge Rosvaenge,<br />

Paul Schöffler, Hans Hotter, Beniamino<br />

Gigli und Leonie Rysanek.<br />

„Bruno Walter hatte ein großes Herz, er<br />

reichte Karajan zwar nach 1947 versöhnlich<br />

die Hand im Wissen, dass er ein profitierender<br />

Mitläufer war“, so Fritthum. Bei<br />

Wilhelm Furtwängler war Walter strenger.<br />

Ihm schrieb er aus der Emigration: „Bitte<br />

bedenken Sie doch, dass Ihre Kunst Jahre<br />

hindurch als ein äußerst wirksames Mittel<br />

der Auslandspropaganda für das Regime<br />

der Teufel verwendet wurde, dass<br />

Sie durch Ihre bedeutende Persönlichkeit<br />

und Ihr großes Talent diesem Regime wertvolle<br />

Dienste leisteten und dass Anwesenheit<br />

und Tätigkeit eines Künstlers Ihres<br />

Ranges auch in Deutschland selbst jenen<br />

furchtbaren Verbrechern zu kulturellem<br />

und moralischem Kredit verhalf oder min-<br />

„Von der versöhnenden<br />

Geste des Humanisten<br />

Bruno Walter und der<br />

verbindenden Kraft der<br />

Kunst in Gestalt des Wiener<br />

Opernhauses ist zu<br />

meinem großen Bedauern<br />

nichts übrig geblieben.“<br />

Michael Fritthum<br />

destens ihm beträchtlich zu Hilfe kam […] Was<br />

bedeutet dagegen Ihr hilfreiches Verhalten in<br />

einzelnen Fällen jüdischer Not?“*<br />

Auch den Nachfolgern von Direktor Holender,<br />

Dominique Meyer und Bogdan Roš i ,<br />

brachte Fritthum in zahlreichen Briefen und<br />

© wikimedia<br />

Dokumenten sein Anliegen zur Benennung<br />

eines bescheidenen Bruno-Walter-<br />

Platzes vor – auch als Gegengewicht zum<br />

prominenten Karajan-Platz auf der stärker<br />

frequentierten Seite der Oper. Es kamen<br />

freundlich-unterstützende Zusagen, sich<br />

für das Projekt zu verwenden – nur geschehen<br />

ist bis heute nichts. Warum wandte<br />

sich Fritthum nicht direkt an die zuständige<br />

Kulturabteilung der Stadt Wien? „Ich<br />

habe aus Loyalität zu den Operndirektoren<br />

nie etwas hinter ihrem Rücken gemacht“,<br />

erklärt der engagierte und bescheidene<br />

Wissenschafter.<br />

Sowohl in Salzburg wie auch in Berlin<br />

und München wurden Straßen nach Walter<br />

benannt, ebenso der Asteroid (16590)<br />

Brunowalter. Im Vorjahr wurde vor dem<br />

Haus für Mozart ein Stolperstein für ihn<br />

verlegt. Das geschah alles außerhalb von<br />

Wien.<br />

„Von der versöhnenden Geste des Humanisten<br />

Bruno Walter und der verbindenden<br />

Kraft der Kunst in Gestalt des<br />

Wiener Opernhauses ist zu meinem großen<br />

Bedauern nichts übrig geblieben“, betont<br />

Fritthum und fügt hinzu: „Eine Wiener<br />

Dramaturgie, wie sie im Buche steht!“<br />

* Rathkolb, Oliver: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten<br />

Reich. Wien: ÖBV 1991, S. 266f.<br />

DEINE IM FALL<br />

DES FALLES-<br />

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54 – wına Dein | <strong>Dezember</strong> Außenministerium<br />

<strong>2021</strong><br />

24/7<br />

dezeber.indb 54 28.12.21 03:33


Virtouse Partituren<br />

Elfriede Jelinek ist 75<br />

und kein bisschen leise<br />

Das Theater in der Josefstadt feiert die Jubilarin mit dem<br />

bedrückenden Stück über das Massaker von Rechnitz im Jahr<br />

1945. Sona MacDonald wartet auf den baldigen<br />

Einsatz als Gräfin Batthyány.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Elfriede Jelineks Rechnitz:<br />

„Wir haben es erarbeitet<br />

wie ein Maler, der<br />

zurücktritt, um das Werk<br />

besser sehen zu können“,<br />

erzählt Schauspielerin<br />

Sona MacDonald.<br />

„V<br />

ielleicht erträgt es mich jetzt, es hat so<br />

viele nicht ertragen. Ich wiege nicht<br />

viel, komme ohne meine toten Verwandten.<br />

Bitte ertrage mich jetzt, mein liebes<br />

Land“, heißt es in der Schlüsselsätze von „Rechnitz<br />

(Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek.<br />

Vor wenigen Wochen feierte die österreichische<br />

Literaturnobelpreisträgerin ihren<br />

75. Geburtstag.<br />

Aus diesem Anlass programmierte das<br />

Theater in der Josefstadt zwei Stücke der<br />

Autorin, die nicht unterschiedlicher sein<br />

könnten: Jelineks Fassung von Oscar Wildes<br />

Der ideale Mann, eine brillante und<br />

pointenreiche Gesellschaftskomödie, in<br />

der sich alles um das wechselvolle Verhältnis<br />

von Politik und Moral dreht. Und<br />

das aufwühlende Stück Rechnitz (Der Würgeengel),<br />

ein sprachgewaltiger und eindringlicher<br />

Text über kollektives Verschweigen<br />

und Verdrängen in Österreich nach 1945.<br />

Beide Projekte sind fertig geprobt und<br />

sollten Ende November, Anfang <strong>Dezember</strong><br />

<strong>2021</strong> zur Aufführung gelangen. Aufgrund<br />

der Covid-19-Bestimmungen wird<br />

es im Falle von Rechnitz nun Mitte <strong>Jänner</strong><br />

<strong>2022</strong> werden.<br />

Es würde den Rahmen sprengen, versuchte<br />

man hier, Elfriede Jelinek eine<br />

umfassende literarische Würdigung zuteilwerden<br />

zu lassen. Das dramatische Geburtstagsgeschenk<br />

Rechnitz des Theaters in<br />

der Josefstadt gibt aber reichlich Einblick<br />

in die gesellschaftspolitische Haltung der<br />

Dichterin. So drückte es auch die schwedische<br />

Nobelpreisakademie aus: „[…] den<br />

„Sie verbindet so viel,<br />

was unsere Geschichte<br />

ausmacht, ein Geschichtsbewusstsein<br />

der abendländischen<br />

und jüdischen Kultur.“<br />

Jossi Wieler<br />

musikalischen Fluss von Stimmen und<br />

Gegenstimmen in Romanen und Dramen,<br />

die mit einzigartiger sprachlicher<br />

Leidenschaft die Absurdität und zwingende<br />

Macht der sozialen Klischees enthüllen“.<br />

Sowohl Musikalisches wie auch<br />

Jüdisches entdeckte der Regisseur Jossi<br />

Wieler bei der Uraufführung des Stückes<br />

2008 an den Münchner Kammerspielen:<br />

„Ihre Texte sind wie musikalische Partitu-<br />

ren. Man muss in sie hineinhören, um den<br />

Klang der Leichtigkeit und Ironie dahinter<br />

freizulegen. Und so virtuos sie auf der<br />

Klaviatur der deutschen Sprache spielt, so<br />

lässt sie sie auch immer wieder fremd klingen“,<br />

erzählt er. „Vielleicht rührt dies von<br />

ihren jüdischen Wurzeln her. Sie verbindet<br />

so viel, was unsere Geschichte ausmacht,<br />

ein Geschichtsbewusstsein der abendländischen<br />

und jüdischen Kultur.“<br />

„Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit<br />

Österreichs ist wirklich immer mein Thema gewesen,<br />

eigentlich in allen meinen Sachen. Ja,<br />

ich würde sagen, das ist mein Angelpunkt.“<br />

(Elfriede Jelinek)<br />

Diesem Credo ist Jelinek auch in Rechnitz<br />

(Der Würgeengel) treu geblieben: In diesem<br />

erschütternden Drama geht es um<br />

die Nacht zum Palmsonntag 1945 – kurz<br />

vor dem Einmarsch der Roten Armee: Da<br />

fand auf dem Schloss der Gräfin Margit<br />

Batthyány im burgenländischen Rechnitz<br />

ein Gefolgschaftsfest der lokalen NS-<br />

Prominenz statt. Zeitgleich wurden 180<br />

ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in<br />

der Nähe des Schlosses erschossen – angeblich<br />

unter Beteiligung der Festgäste.<br />

Bis heute konnten die Ereignisse dieser<br />

Nacht nicht vollständig geklärt werden.<br />

(Siehe Kasten zum Kreuzstadl Rechnitz)<br />

Elfriede Jelinek baut ihr Stück über das<br />

Massaker so auf, dass acht verschiedene<br />

Boten Widersprüchliches berichten, aber<br />

alle immer wieder darauf hinweisen, dass<br />

man doch nichts gesehen habe.<br />

wına-magazin.at<br />

55<br />

dezeber.indb 55 28.12.21 03:33


Sona MacDonald: „Erst am Ende<br />

erfolgt meine Entlarvung dieser Frau, ich<br />

entblöße mich als Gräfin und werde zur<br />

ironischen Sprecherin.“<br />

„Es können nicht alle Opfer sein!, jemand muß<br />

auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich, wir<br />

brauchen jeden Täter, den wir kriegen können,<br />

denn dann können wir uns selbst dazurechnen,<br />

ohne daß man es merkt, wir brauchen dringend<br />

Täter, zu denen auch wir gehören könnten, wenn<br />

wir uns etwas mehr Mühe gäben.“ (Aus „Rechnitz<br />

(Der Würgeengel)“)<br />

Des Vaters jüdische Familie. Elfriede Jelinek<br />

wurde 1946 in Mürzzuschlag geboren.<br />

Ihre Mutter Olga stammte aus einer<br />

Wiener gutbürgerlichen Familie. Ihr jüdischer<br />

Vater Friedrich Jelinek hatte seine familiären<br />

Wurzeln in der Tschechoslowakei<br />

und absolvierte sein Chemiestudium an<br />

der Technischen Hochschule in Wien. Wie<br />

Elfriede Jelinek in einem Beitrag für das Jüdische<br />

Echo im Jahr 2001 schrieb, fand sie einen<br />

Brief zu seiner Zwangspensionierung<br />

im Juli 1939: „[...] für den Reichskommissar: ein<br />

Dr. Wächter e.h., und das Schreiben ist gütig hingeneigt<br />

zu meinem lieben Papa, dem Herrn Friedrich<br />

Jelinek, Vize-Insp. d. städt. E-Werke (keine<br />

Ahnung, daß er das je gewesen ist, ein Beamter<br />

halt, mit Pensionsberechtigung) und das Schreiben<br />

sagt, daß mein Papa auf Grund des §3Abs.1<br />

der Verordnung zur Neuordnung des österr. Berufsbeamtentums<br />

vom 31.5., RGBL.I, S. 607, mit<br />

Ende des Monates Juli 1939 in den Ruhestand<br />

versetzt wird. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung<br />

steht Ihnen nicht zu, steht hier.“<br />

Es ist unbekannt, ob die Tochter je zu<br />

dem Unterzeichner des Briefes recherchiert<br />

hat. Jedenfalls handelt es sich bei<br />

Otto Wächter um jenen Juristen und SS-<br />

Führer, der während des Zweiten Weltkriegs<br />

im besetzten Polen als Gouverneur<br />

des Distrikts Krakau (1939–1942) und des<br />

Distrikts Galizien (1942–1944) brutale Verbrechen<br />

beging. Der jüdisch-britische<br />

Wissenschafter Philippe Sands veröffentlichte<br />

in dem Buch Die Rattenlinie – ein Nazi<br />

auf der Flucht (S. Fischer Verlag 2020) auch<br />

das abenteuerliche Ende des nach 1945<br />

gesuchten Massenmörders: Mit Hilfe des<br />

Vatikans, unter dem Schutz des Bischofs<br />

Hudal, sollte er sich nach Argentinien absetzen,<br />

er verstarb jedoch 1949 überraschend<br />

an einer ungeklärten Vergiftung.<br />

Elfriede Jelinek litt unter dem schwierigen<br />

Verhältnis zu ihrer Mutter, die sie von<br />

frühester Kindheit zum Ballett- und Musikunterricht<br />

zwang, unter anderem Klavier,<br />

Gitarre, Blockflöte, Geige und Bratsche.<br />

Dieses Trauma versuchte sie 1983 in<br />

ihrem Roman Die Klavierspielerin zu verarbeiten.<br />

1964 bestand sie die Matura und erlitt<br />

im gleichen Jahr einen psychischen Zusammenbruch.<br />

Sie schrieb erste Gedichte<br />

sowie Kompositionen und inskribierte<br />

Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte<br />

an der Universität Wien. Nach einigen Semestern<br />

brach Jelinek dieses Studium ab,<br />

absolvierte aber 1971 das Orgelstudium am<br />

Wiener Konservatorium. Kurz darauf lebte<br />

sie mit dem Schriftsteller Gert Loschütz in<br />

Berlin und Rom; 1974 kam sie nach Wien<br />

zurück, wo sie der KPÖ beitrat und bis<br />

SONA MACDONALD<br />

in Wien geboren, machte ihre Ausbildung in<br />

London, den USA und in Wien. Sie debütierte<br />

an der Freien Volksbühne Berlin als Cecily in<br />

Peter Zadeks Inszenierung von Bunbury. Danach<br />

folgten Engagements am Schillertheater Berlin,<br />

am Bayerischen Staatstheater München und<br />

am Theater in der Josefstadt. Sie wirkte in zahlreichen<br />

Musicals mit und war mit musikalischen<br />

Abenden auf Tourneen in Europa und den USA<br />

(z. B. Die sieben Todsünden – Kurt Weill-Abend<br />

oder American Rhapsody). Zuletzt gastierte sie<br />

am Burgtheater als Marlene Dietrich in Spatz<br />

und Engel. Auch in Film und Fernsehen kann<br />

man die Allrounderin sehen. 2016 erhielt sie den<br />

Nestroy-Preis als „Beste Schauspielerin“. Mit<br />

großem Engagement setzt sich Sona MacDonald<br />

für die Erinnerung an vertriebene jüdische<br />

Literaten und Schriftstellerinnen ein. 2020<br />

spielt sie die jüdische Emigrantin Rosa in Tom<br />

Stoppards Leopoldstadt.<br />

© Philine Hofmann; Reinhard Engel<br />

© Reinhard Engel<br />

56 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 56 28.12.21 03:33


Fantastisches Korsett<br />

© Philine Hofmann; Reinhard Engel<br />

© Reinhard Engel<br />

DER KREUZSTADL<br />

RECHNITZ<br />

Wegen seines kreuzförmigen Grundrisses<br />

nannte man den ehemaligen Meierhof<br />

des Gutes Batthyány im Bezirk Oberwart<br />

(Burgenland) Kreuzstadl. Heute nur mehr<br />

als Ruine erhalten, dient er als Mahnmal<br />

für das Massaker.<br />

Kurz vor Kriegsende, am 24. März 1945,<br />

wurden an die eintausend ungarische<br />

Juden von Köszeg/Güns (Ungarn) nach Burg<br />

(Burgenland) transportiert, wo sie beim<br />

„Südostwallbau“ als Zwangsarbeiter eingesetzt<br />

werden sollten. 200 der deportierten,<br />

völlig erschöpften Menschen wurden jedoch<br />

wieder zum Bahnhof Rechnitz rückgeleitet,<br />

da sie für den Arbeitseinsatz zu krank oder<br />

körperlich zu schwach waren.<br />

Am Abend desselben Tages fand im<br />

Schloss Batthyány ein Kameradschaftsfest<br />

statt. Zu den Festgästen zählten die „zuverlässigsten<br />

Getreuen des nationalsozialistischen<br />

Systems“, unter anderen Franz Podezin,<br />

Ortsgruppenleiter von Rechnitz, seine<br />

Sekretärin Hildegard Stadler sowie Funktionäre<br />

der Kreisleitung Oberwart. Ebenfalls anwesend<br />

waren Graf und Gräfin Batthyány,<br />

die ihr Schloss für das Fest zur Verfügung gestellt<br />

hatten, und deren Gutsverwalter.<br />

In der Nacht vom 24. auf den 25. März<br />

1945 wurden ungefähr 180 der ungarisch-jüdischen<br />

Zwangsarbeiter (eine genaue Zahl ist<br />

nicht bekannt) von Franz Podezin und ungefähr<br />

neun weiteren Festgästen ermordet.<br />

Laut Beweisverfahren des Volksgerichtsprozesses<br />

1948 verscharrten Ludwig Groll<br />

und eine zweite Person die Ermordeten notdürftig.<br />

Am folgenden Tag mussten die<br />

überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter<br />

die Toten begraben; noch am selben Abend<br />

wurden auch sie erschossen.<br />

Nach Kriegsende wurden drei Gerichtsverfahren<br />

gegen insgesamt 18 Personen<br />

durchgeführt: Der erste Prozess führte zu<br />

vier Verurteilungen und zwei Freisprüchen.<br />

Im zweiten Verfahren wurde der ehemalige<br />

Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka,<br />

verurteilt, jedoch nicht wegen des Massakers<br />

von Rechnitz, sondern wegen seiner illegalen<br />

Zugehörigkeit zur NSDAP vor dem 13.<br />

März 1938. in In den 1960er-Jahren wurde das<br />

letzte Verfahren eingestellt, da die Beweise<br />

für eine Anklage nicht ausreichend waren.<br />

1991 Mitglied war. Jelinek heiratete Gottfried<br />

Hüngsberg, der dem Kreis um Rainer<br />

Werner Fassbinder angehörte und als Informatiker<br />

in München arbeitete. Im Jahr<br />

1975 erschien der Roman Die Liebhaberinnen,<br />

mit dem ihr der literarische Durchbruch<br />

gelang.<br />

Schon früh wurde der Vater zur emotionalen<br />

Bezugsperson. Als Chemiker bewahrte<br />

ihn sein „kriegsdienlicher“ Beruf<br />

vor der Verfolgung durch das NS-Regime,<br />

er bekam einen Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie<br />

zugewiesen. Friedrich Jelinek<br />

war psychisch labil und starb 1969<br />

in einer psychiatrischen Anstalt. Damals,<br />

mit 23 Jahren, begann Jelinek obsessiv zu<br />

lesen und zu schreiben. „Ich hätte mir gewünscht,<br />

leben zu können, rausgehen,<br />

wenn ich Lust habe“, sagte sie der Literaturkritikerin<br />

Sigrid Löffler einmal in<br />

einem Interview. „Aber die Angst, von<br />

Menschen angeschaut zu werden, war größer.<br />

Ich habe mir den Subjekt-Status des<br />

Schreibens durch einen völligen Rückzug<br />

erkaufen müssen. Ich konnte nicht beides<br />

haben, Leben und Schreiben.“ Jelinek<br />

drückt sich exzessiv und wortgewaltig aus,<br />

oft gleichen ihre sarkastischen Textflächen<br />

bösen Litaneien – und die kennt sie besonders<br />

gut von der ungeliebten katholischen<br />

Klosterschule.<br />

Doch ganz andere Töne schlägt Jelinek<br />

in den persönlichen Textsammlungen auf<br />

ihrer Website an, die man leider nicht zitieren<br />

darf.<br />

Respektvoll und mitfühlend würdigt sie<br />

die teils ermordeten und verstorbenen jüdischen<br />

Familienmitglieder ihres Vaters<br />

mit den schönen Namen Felsenburg, Gottlieb<br />

und Duschak. Sie veröffentlicht unter<br />

anderem das Schwarz-weiß-Foto einer<br />

Hochzeit in der Wiener Synagoge. Oh’ mein<br />

Papa lautet der Titel ihrer Hommage an den<br />

früh verlorenen Vater.<br />

Aber das Politische überwiegt auch in<br />

dieser Zusammenstellung, denn vieles ist<br />

ihr verhasst: vor allem das rechtskonservative<br />

Österreich, das seine NS-Vergangenheit<br />

nicht aufgearbeitet hat. Daher hatte<br />

Jelinek zuerst eine Aufführung von Rechnitz<br />

(Der Würgeengel) in Österreich verboten.<br />

Die österreichische Erstaufführung fand<br />

2012 am Schauspielhaus Graz statt, 2016<br />

war eine Inszenierung am Wiener Volkstheater<br />

zu sehen.<br />

Die Hauptrolle der Gräfin Margit<br />

Batthyány in der Produktion am Theater<br />

in der Josefstadt spielt die gebürtige Wienerin<br />

Sona MacDonald, die einen amerikanischen<br />

Vater hat. Sie verkörperte an<br />

diesem Theater zahlreiche dramatische<br />

Rollen, zuletzt in Tschechows Kirschgarten.<br />

Aber wie geht es ihr mit der Rolle dieser<br />

uneinsichtigen Duldnerin des brutalen<br />

Massakers? „Am Beginn hatte ich Phasen<br />

des großen Unbehagens, im Sinne von, wie<br />

erträgt man diese Emotionen, wie taucht<br />

man da ein, um sich das überhaupt vorzustellen.<br />

Mit Hilfe der Regisseurin Anna<br />

Bergmann schafften wir eine gesunde kreative<br />

Distanz: Wir haben es erarbeitet wie<br />

ein Maler, der zurücktritt, um das Werk<br />

besser sehen zu können“, erläutert Mac-<br />

Donald. Sie empfindet die Sprache Jelineks<br />

als „ein fantastisches Korsett“, das einem<br />

den nötigen Halt und die Haltung gibt.<br />

„Wir fangen mit dem Fest 1945 an, dann<br />

hören wir die Beschreibung der Dienstboten<br />

und reisen mit den verschiedenen Figuren<br />

bis in die 1980er-Jahre. Es geht auch<br />

in ein Häuschen, irgendwo in Österreich,<br />

wo sich die Leute genauso unterhalten wie<br />

damals und auch einen Politiker wählen<br />

würden, den wir verabscheuen. Und das<br />

dramatische Geschehen reicht bis zu den<br />

Nachgeborenen, die es auch nicht wissen<br />

wollen“, erzählt die vielseitige Künstlerin<br />

(siehe Kurzbiografie auf Seite 44).<br />

Die Gräfin ist die ganze Zeit auf der<br />

Bühne, eine Art Botschafterin Jelineks:<br />

„Erst am Ende erfolgt meine Entlarvung<br />

dieser Frau, ich entblöße mich als Gräfin<br />

und werde zur ironischen Sprecherin.“<br />

Und was sagt uns dieses Drama heute?<br />

„Dass dieses Wegschauen ein Ende nehmen<br />

muss, weil sich vor unseren Augen<br />

alles wiederholt, dieses entsetzliche Gedankengut<br />

und die Engstirnigkeit“, ist<br />

sich Sona MacDonald sicher und fügt<br />

hinzu: „Im Zuge meiner Arbeit habe ich<br />

das Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum<br />

an der Universität Wien aufgesucht. Wissen<br />

Sie, wie die Adresse lautet: Batthyánystiege,<br />

Hofburg. Das kann man nicht erfinden,<br />

oder?“<br />

„Indem man diese Sünden der Väter und Großväter<br />

gebetsmühlenhaft immer wieder hervorholt,<br />

ohne ihnen wirklich analytisch auf den Grund gehen<br />

zu wollen oder ihr Fortwirken in der Gegenwart<br />

zu untersuchen, deckt man Geschichte zu,<br />

statt ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Indem<br />

man sich also letztlich geschichtslos und mythologisierend,<br />

also sie mit vielen Worten bloß verhüllend,<br />

diesen Verbrechen stellt, kann man nicht<br />

wirklich die historische Wahrheit für diejenigen,<br />

die nichts mehr darüber wissen, auch emotional<br />

nachvollziehbar machen. Dann erschöpft es sich<br />

in bloßem Gerede. Dieses Gerede versuche ich zu<br />

demaskieren.“ (Elfriede Jelinek)<br />

wına-magazin.at<br />

57<br />

dezeber.indb 57 28.12.21 03:33


Ende einer Ära<br />

DER STILLE VISIONÄR<br />

Wer am Theatermuseum<br />

vorbeigeht, geht meistens<br />

tatsächlich vorbei. Denn<br />

das seit 1991 im Palais Lobkowitz<br />

auf dem Lobkowitzplatz<br />

2, gleich hinter<br />

dem wesentlich bekannteren<br />

Albertinaplatz gelegene<br />

wichtigste Museum<br />

des Landes, wenn es um<br />

Theater, Oper, Tanz und so<br />

vieles mehr der „Theaternation“<br />

Österreich geht,<br />

ist keines, das sich hervortut<br />

oder gar wichtigmacht.<br />

Und selbst die Werbebanner<br />

gleich am Eck<br />

zur Herrengasse verweisen<br />

nicht auf die zahllosen<br />

Schätze des Hauses, das sie<br />

trägt, sondern auf dessen<br />

„Haupthaus“ seit dem Jahr<br />

2001, das Kunsthistorische<br />

Museum und dessen<br />

aktuelle Schau.<br />

Nun verabschiedet sich<br />

der langjährige Direktor<br />

des Hauses, Thomas<br />

Trabitsch. Unaufgeregt,<br />

wenn auch ein wenig<br />

wehmütig. WINA hat ihn<br />

zum Abschied noch einmal<br />

besucht.<br />

Von Angela Heide<br />

Dass das ursprüngliche „Österreichische<br />

Theatermuseum“ hier 1991 eröffnen<br />

konnte, war eine glückliche Fügung<br />

der Stunde. 1922 wurde von Joseph<br />

Gregor im Zuge des Ankaufs der größten<br />

damals existierenden privaten Theatralia-Sammlung<br />

des Schauspielers und<br />

Burgtheater-Direktors Hugo Thimig die<br />

Theatersammlung innerhalb der Österreichischen<br />

Nationalbibliothek gegründet.<br />

Jene von Thimig – Vater von Hans,<br />

Hermann und Helene Thimig und ab 1935<br />

offizieller Schwiegervater von Max Reinhardt,<br />

von denen das Museum ebenfalls<br />

zahlreiche Dokumente anbietet – reiht<br />

sich ein in weitere, darunter ein Teil der<br />

Autografensammlung von Stefan Zweig,<br />

Nachlässe von Carl Michael Ziehrer,<br />

Hermann Bahr und Anna Bahr-Mildenburg,<br />

Josef Kainz, Alfred Roller, Heinrich<br />

Schnitzler, Richard Teschner, Ewald Balser<br />

oder Sammlungsgründer Joseph Gregor.<br />

2005 wurden die Bestände des Wiener<br />

Staatsopernmuseums eingegliedert,<br />

in den letzten Jahren folgten Stella Kadmon,<br />

Fritz Muliar oder Elfriede Ott, Herbert<br />

Wochinz und der Vorlass von Elisabeth<br />

Orth. Aktuell umfasst der Bestand<br />

mehr als drei Millionen Einzelobjekte, darunter<br />

allein über 1.200 Bühnenmodelle,<br />

100.000 Kostüme und Requisiten aus drei<br />

Jahrhunderten, mehr als 100.000 Zeichnungen<br />

und Grafiken sowie rund eine<br />

Million Theaterfotos.<br />

Von der Sammlung zum Museum.<br />

1975 wurde aus der Sammlung<br />

erstmals ein Museum, damals noch im<br />

nahegelegenen Hanuschhof neben der<br />

Wiener Staatsoper. 1991 wanderte es wenige<br />

Meter weiter in das von der Republik<br />

Österreich angekaufte und neu renovierte<br />

Palais Lobkowitz. 2001 folgte<br />

der nächste Schritt: Das Theatermuseum<br />

© privat<br />

58 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 58 28.12.21 03:33


Museum für eine Theaternation<br />

© privat<br />

Thomas<br />

Trabitsch<br />

<strong>2021</strong> auf dem<br />

„Glücksstuhl“<br />

der aktuellen<br />

Ausstellung<br />

Verehrt ...<br />

begehrt ...<br />

Theaterkult<br />

und Sammelleidenschaft.<br />

wurde in den Verband des Kunsthistorischen<br />

Museums aufgenommen.<br />

Mit diesem Schritt wechselte auch die<br />

Leitung des Museums, das von 1979 bis<br />

1997 von Oskar Pausch und von 1997 an<br />

von Helga Dostal geführt worden war.<br />

Kompetenz mit Herz. Mit Thomas<br />

Trabitsch folgte ein erfahrener Museumskurator,<br />

ein „Theaterliebender“ der<br />

ganz besonderen Art: begeisterungsfähig<br />

und leidenschaftlich, visionär, ohne je laut<br />

zu sein, dabei stets bemüht, im Interesse<br />

des Hauses und seiner Mitarbeiter:innen<br />

zu agieren. Eine Ausnahmeerscheinung<br />

also in vielem in der österreichischen<br />

Kunst- und Kulturlandschaft, der nun,<br />

nach 20 arbeitsreichen Jahren und über<br />

60 zum Teil weit über die Grenzen des<br />

Landes wahrgenommenen Ausstellungen<br />

von der Bühne tritt. Und das, wie<br />

es seine Art ist: unaufgeregt, behutsam<br />

und mehr als logisch begleitet<br />

von der dichten<br />

und berührenden Schau<br />

Verehrt ... begehrt ..., die von<br />

eben jener großen Leidenschaft<br />

für das Theater erzählt,<br />

die auch ihn früh<br />

schon erfasst hat, und dabei<br />

gerade die ins Zentrum<br />

der Erzählung rückt, die zu<br />

einem großen Teil verantworten,<br />

dass Österreich<br />

jene viel gerühmte Kulturnation<br />

(geworden) ist: die<br />

Zuschauer:innen und Sammler:innen<br />

(siehe KulturKalender auf S. 64).<br />

Blickt man zurück auf den beruflichen<br />

Werdegang des Theaterwissenschaftlers,<br />

dann scheint heute der Weg an das Theatermuseum<br />

naheliegend. Doch ganz ohne<br />

biografische Windungen ging es für den<br />

im Waldviertel geborenen einzigen Sohn<br />

eines Arztes dann doch nicht.<br />

Schon das Studium begann der 1956<br />

in Gmünd Geborene „gegen den von<br />

meinen Eltern mir zugedachten Berufsweg“.<br />

Aus dem Studium der Musikwissenschaft<br />

wurde rasch jenes der Theaterwissenschaft.<br />

Es folgte ein längerer<br />

Auslandsaufenthalt als Fulbright-Stipendiat<br />

in den USA, das den jungen Akademiker<br />

nach der Musik in die nächste<br />

Leidenschaft einführte: die praktische<br />

Theaterarbeit. „Damals war das Theaterwissenschaftsstudium<br />

in Wien noch eher<br />

theoretisch“, erzählt er im Gespräch mit<br />

WINA anlässlich seines Abschieds. „Ich<br />

wollte mir aber auch praktisches Wissen<br />

zulegen und konnte so vom Studium in<br />

Amerika, das sehr praxisnah ausgelegt ist,<br />

nur profitieren.“<br />

An der University of Kansas assistierte<br />

er unter anderem bei einer Rheingold-Inszenierung,<br />

bei Brechts Kaukasischem<br />

Kreidekreis, schrieb, ebenfalls als<br />

Teil des Lehrplans, Theaterkritiken und<br />

hing nach Ende seiner Studien noch einige<br />

Monate des Reisens an. Fast zwei<br />

Jahre lang war Thomas Trabitsch in den<br />

USA, ehe er nach Österreich zurückkehrte<br />

und promovierte. Auch die nächste Station<br />

wartete zu diesem Zeitpunkt bereits<br />

auf ihn: eine Stelle als Dramaturg an den<br />

Städtischen Bühnen Regensburg, die ihn<br />

für weitere zwei Jahre noch tiefer in die<br />

„Man hat die<br />

Aufgabe, alle<br />

Sparten, die<br />

diesen immensen<br />

Bereich<br />

ausmachen,<br />

mitzudenken.“<br />

Thomas Trabitsch<br />

Welt des Theaters eintauchen<br />

ließ.<br />

Zurück in Wien folgte<br />

die Mitarbeit in der Kulturredaktion<br />

des ORF, wo<br />

er bei Karl Löbl arbeitete,<br />

ehe er für über ein ganzes<br />

Jahrzehnt als Leiter der<br />

Bundesländeraktivitäten<br />

der Jeunesse – Musikalische<br />

Jugend Österreichs<br />

fungierte. Thomas Trabitsch<br />

konzipierte und organisierte<br />

in diesen Jahren<br />

so prominente Zyklen wie Bilder einer Ausstellung<br />

im Kunsthistorischen Museum,<br />

initiierte eigene, viel beachtete transdisziplinäre<br />

Veranstaltungen und Projekte<br />

an unterschiedlichen Orten, wie dem<br />

Weinmuseum, dem Bestattungsmuseum<br />

oder dem Josephinum, arbeitete mit<br />

Walter Richard Langer zum Thema Jazz<br />

und entwickelte mit dem Residenz Verlag<br />

die Reihe Seite an Saite zur Verbindung<br />

von Musik und Literatur. In allen Projekten<br />

versuchte er stets, „Zusammenhänge<br />

herzustellen“, denn, erläutert der scheidende<br />

Direktor: „Ich habe immer darauf<br />

Wert gelegt, dass man den Begriff ,Kultur‘,<br />

der so vieles umfasst, auch in den jeweiligen<br />

Projekten, an denen man arbeitet,<br />

dementsprechend breit erforscht, etwa,<br />

indem man Zusammenhänge zwischen<br />

Theater und bildender Kunst oder Theater<br />

und Musik thematisiert und sichtbar<br />

macht. Natürlich hat man an einem Museum<br />

wie unserem einen Schwerpunkt,<br />

aber man muss in der Lage sein, Verbindungen<br />

und Bezüge herzustellen und<br />

diese auch dem Publikum nachvollziehbar<br />

zu vermitteln.“<br />

Es war unter anderem dieser Ansatz,<br />

der Trabitsch, nachdem er sich nach 12<br />

Jahren von der Jeunesse verabschieden<br />

musste und von da an mehrere Jahre im<br />

Ausstellungsmanagement des Kunsthistorischen<br />

Museums arbeitete, 2001 dazu<br />

bewog, sich als Direktor des nunmehr im<br />

KHM-Verband befindlichen Theatermuseums<br />

zu bewerben. „Auch wenn das in<br />

der Rückschau ‚kokett‘ klingen mag, aber<br />

ich habe damals überhaupt nicht damit<br />

gerechnet, in die engere Wahl zu kommen“,<br />

erinnert sich der Kulturmanager.<br />

Doch dank so wichtiger Ausstellun-<br />

wına-magazin.at<br />

59<br />

dezeber.indb 59 28.12.21 03:33


Persönliche Meilensteine<br />

gen wie Die Botschaft der Musik – 1000 Jahre<br />

Musik in Österreich im Palais Harrach, für<br />

die er sein über viele Jahre aufgebautes<br />

Netzwerk in der österreichischen Musiklandschaft<br />

einbringen konnte, seiner<br />

praktischen, wissenschaftlichen und organisatorischen<br />

Fähigkeiten war er der<br />

richtige Mann für den Neustart: „Ich hatte<br />

den Vorteil, dass ich das Organisieren von<br />

Ausstellungen gut kannte und ein gutes<br />

geschichtliches Wissen mitbrachte.“ Es<br />

sollte erneut so überraschend wie schnell<br />

klappen: „Und dann kam eine Ausstellung<br />

nach der anderen“, erzählt er und bedankt<br />

sich nicht zuletzt im Gespräch bei<br />

seiner Familie für den starken persönlichen<br />

Rückhalt auch in den intensivsten<br />

Zeiten seiner Tätigkeit.<br />

Die große<br />

Gustav-Mahler-<br />

Ausstellung<br />

2010: einer der<br />

persönlichen<br />

Meilensteine<br />

von Thomas<br />

Trabitsch.<br />

Persönliche Meilensteine.<br />

Viele der großen<br />

Ausstellungen der letzten 20<br />

Jahre hat Thomas Trabitsch<br />

selbst initiiert, unter anderen<br />

jene zu Gustav Mahler.<br />

„Das war ein großartiges<br />

Ausstellungsprojekt, für das<br />

ich immer noch unendlich<br />

dankbar bin“, erzählt er. Zu<br />

seinen weiteren persönlichen<br />

Highlights gehört die<br />

Reihe an vielbeachteten Literaturausstellungen,<br />

wie<br />

jene zu Arthur Schnitzler<br />

(2006/2007), Thomas<br />

Bernhard (2009/2010), Peter<br />

Handke (2013) Stefan Zweig (2014/2015)<br />

und Ödön von Horváth (2018/2019)<br />

„Dass wir so viele wunderbare Literaturausstellungen<br />

gemeinsam mit dem<br />

Ausstellungsgestalter Peter Karlhuber umsetzen<br />

durften, war ein Glücksfall, für den<br />

ich noch heute dankbar bin.“<br />

„Ein Theatermuseum<br />

ist<br />

kein ,Luxus‘,<br />

den sich eine<br />

Nation ,leistet‘,<br />

sondern<br />

eine Selbstverständlichkeit.“<br />

Thomas Trabitsch<br />

Immer wieder stellte<br />

Thomas Trabitsch seine<br />

Aufgeschlossenheit für<br />

neue Partnerschaften unter<br />

Beweis; es gab Projekte<br />

etwa mit der MUK, dem<br />

österreichischen Staatsballett<br />

oder so prominenten<br />

Regisseur:innen wie<br />

Katie Mitchell und zuletzt<br />

Yosi Wanunu, dem Gründer<br />

und Leiter von toxic<br />

dreams, dessen Installation<br />

im Theatermuseum<br />

After the End and Before the<br />

Beginning <strong>2021</strong> für den Nestroy-Preis nominiert<br />

war. „Auch die Idee, das ,Kabarett<br />

Fledermaus‘ zu thematisieren, kam von<br />

außen und wurde 2008 durch die Kuratorin<br />

Barbara Lesák wunderbar umgesetzt.“<br />

Wichtig war Thomas Trabitsch stets,<br />

„dass wir ein Museum der vorwiegend<br />

österreichischen Theatergeschichte<br />

sind“, auch wenn er eine Reihe wichtiger<br />

Schauen realisieren konnte, die weit<br />

darüber hinaus reichten und internationale<br />

Aufmerksamkeit erlangten, zuletzt<br />

etwa die beiden fulminanten Ausstellungen<br />

zur Commedia dell’arte und Lodovico<br />

Ottavio Burnacini.<br />

Wichtige Schwerpunkte befassten sich<br />

auch mit jüdischen Theaterkünstlerinnen<br />

und -künstlern, darunter etwa Ausstellungen<br />

zu Fritz Grünbaum oder Max<br />

Reinhardt, wobei, erklärt Trabitsch, nie<br />

deren Judentum im Zentrum stand, sondern<br />

deren eminente künstlerische Bedeutung.<br />

„Ich wähle ein Programm aus,<br />

und wenn dabei jüdische Künstlerinnen<br />

und Künstler im Fokus stehen, so ist es<br />

meine Überzeugung, dass wir auch auf<br />

deren Schicksale und die historischen<br />

Hintergründe hinweisen müssen. Diese<br />

aber zu ,Aufmachern‘ zu machen, um ein<br />

© Theatermuseum/KHM Museumsverband<br />

60 wına | Dez. ’21 ⁄ Jan. ’22<br />

dezeber.indb 60 28.12.21 03:33


Unaufgeregter Abschied<br />

Hermann<br />

Nitsch<br />

beim Besuch<br />

der ihm<br />

gewidmeten<br />

Schau im Theatermuseum,<br />

2015.<br />

© Theatermuseum/KHM Museumsverband<br />

Links und oben:<br />

Abschied von Wien:<br />

Einblicke in die Stefan-<br />

Zweig-Ausstellung,<br />

2006/2007.<br />

heren Ausstellungen mit den finanziellen<br />

Mitteln, über die das Haus zurzeit verfügt,<br />

nicht mehr gemacht werden:<br />

„Das Budget für das Theatermuseum<br />

erfuhr durch lange Zeit keine merkbare<br />

Erhöhung, größere Ausstellungen sind<br />

kaum noch zu realisieren.“<br />

Liebe zum Publikum. Ein großes<br />

Anliegen war es Thomas Trabitsch immer<br />

auch, „ein offenes Haus zu führen, in dem<br />

jede und jeder gerne hereinkommt“.<br />

Für diese große Aufgabe konnte er aus<br />

dem Vollen seiner Erfahrungen und Netzwerke<br />

schöpfen. „Es war immer die Idee,<br />

zu den Veranstaltungen ein Rahmenprogramm<br />

zusammenzustellen.“ Dass dieses<br />

über die obligaten Führungen und<br />

allgemeinen Vermittlungsangebote hinausging,<br />

dafür setzte sich Thomas Trabitsch<br />

beständig ein und holte zahlreiche<br />

renommierte Künstlerinnen und Künst-<br />

Publikum in das Museum zu holen, halte<br />

ich nicht für den richtigen Weg. Wichtiger<br />

war und ist mir, deren künstlerische<br />

Arbeit ins Zentrum zu stellen und diese<br />

nachhaltig in Erinnerung zu rufen und<br />

zu vermitteln.“<br />

Zu den letzten großen Ausstellungen<br />

im ersten Stock des Museums zählten<br />

schließlich ExistenzFest. Hermann Nitsch und<br />

das Theater (2015/2016) und Spettacolo barocco!<br />

(2016/2017), ehe die ehemals für die<br />

Dauerausstellung genützten Räume mehrere<br />

Jahre lang vermietet wurden und aktuell<br />

leer stehen.<br />

Fragt man Thomas Trabitsch danach,<br />

welche Ausstellung er noch gerne umgesetzt<br />

hätte, kommt die Antwort ohne langes<br />

Nachdenken: jene zu Tadeusz Kantor.<br />

Andere Projekte scheiterten an den budgetären<br />

Beschränkungen des Hauses, die<br />

mit den Jahren immer deutlicher zutage<br />

traten. Tatsächlich könnten viele der früler<br />

an das Haus. Besonders gerne erinnert<br />

er sich an die „wunderbare Zusammenarbeit<br />

mit Wolfram Berger und Elisabeth<br />

Orth“, mit der ihn seither eine Freundschaft<br />

verbindet. Künstlerische Freundschaften<br />

hat Thomas Trabitsch kontinuierlich<br />

im Interesse des Hauses gepflegt<br />

und konnte so vieles realisieren, das ohne<br />

seinen leidenschaftlichen Einsatz nicht<br />

möglich gewesen wäre. Dabei ging es ihm,<br />

betont er, „nie um Prominenz, sondern<br />

um Inhalte. Es hat sich eine ,Theatermuseumsgemeinschaft‘<br />

gebildet, die signalisiert,<br />

dass sie angesprochen wird und<br />

die gerne kommt. Es wäre schön, wenn<br />

das so bleibt.“ Und dann setzt er in seiner<br />

so typischen, immer alle Aspekte reflektierenden<br />

Art auch gleich hinzu: „Wenn<br />

man ein Museum wie unseres ausschließlich<br />

auf die Besucherzahlen anlegt, dann<br />

wird es schwierig.“<br />

Wehmut ohne Wehleidigkeit.<br />

Dass die Dinge in einer Welt der<br />

stetig komplexer werdenden Organisationsstrukturen<br />

nicht mehr so einfach<br />

sind wie einst, auch das ist eine Erkenntnis,<br />

die nicht ohne Wehmut beim<br />

Abschied mitschwingt. „Früher konnte<br />

man das alles einfacher und unkompliziert<br />

machen.“ Vieles ist mit der immer<br />

stärker wirksamen Zentralisierung, dem<br />

immer engeren finanziellen Korsett und<br />

in seinen letzten beiden Direktionsjahren<br />

auch mit der Situation im Zuge der Covid-19-Pandemie<br />

weniger bis eben nicht<br />

mehr möglich gewesen. „Wichtig wäre,<br />

dass der Mitarbeiter:innen-Stamm nicht<br />

noch mehr verkleinert wird, sondern gehalten<br />

und wenn möglich – und es wäre<br />

notwendig – auch vergrößert wird“, versucht<br />

sich Thomas Trabitsch auch noch<br />

am Ende seiner Direktionszeit für die Interessen<br />

seines Teams und seiner Nachfolgerin,<br />

Marie-Theres Arnbom, stark<br />

zu machen. Denn davon ist Thomas Trabitsch<br />

überzeugt: „Ein Theatermuseum<br />

ist kein ,Luxus‘, den sich eine Nation ,leistet‘,<br />

sondern eine Selbstverständlichkeit.“<br />

Und er schließt seine langjährige Arbeit<br />

mit einem Plädoyer für die Zukunft des<br />

Theatermuseums: „Es ist ein bedeutendes<br />

Haus. Eine Nation wie Österreich,<br />

die sich als Kunst- und Kulturnation definiert<br />

und als solche auch vermarktet,<br />

hat die Verpflichtung, ein Haus wie das<br />

Theatermuseum auf dem Niveau zu erhalten,<br />

das es braucht, um die Themen so<br />

aufzuarbeiten und zu präsentieren, wie<br />

sie es verdienen.“<br />

wına-magazin.at<br />

61<br />

dezeber.indb 61 28.12.21 03:33


Vielfältige Themen<br />

Von Bildern und Menschen<br />

John Berger, der große englische Kunstkritiker und Romancier,<br />

wäre im November 95 Jahre alt geworden. Seine Schule des Sehens<br />

ist nicht gealtert, und auch seine literarischen Werke sind frisch<br />

und spannend geblieben.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Ein Italiener hat eine Slowenin<br />

zum Ball mitgebracht. Eine Slawin<br />

von den Dörfern, mit Perlen,<br />

Musselin und indischer Seide<br />

empörend herausgeputzt! Beim Walzertanzen<br />

bewegt sie sich ja wie ein betrunkener<br />

Bär; sie presst ihren Partner eng an<br />

sich und stampft mit den Füßen.“<br />

Diese Szene in John Bergers Roman<br />

G. spielt sich im Stadttheater von Triest<br />

ab, im April 1915, unmittelbar vor dem<br />

Kriegseintritt Italiens. Es ist bereits der<br />

Tanz auf einem Vulkan. Die Österreicher,<br />

Herren der mehrsprachigen Stadt, feiern<br />

noch, die italienischen Intellektuellen<br />

wollen Habsburg längst los werden,<br />

und die slowenischen Arbeiter revoltieren<br />

schon – und zünden das Verlagshaus<br />

der italienischsprachigen Zeitung an.<br />

Die namensgebende Hauptfigur des<br />

Romans – G. für (Don) Giovanni oder Garibaldi<br />

(?) – ist ein wohlhabender Kaufmannssohn<br />

aus Livorno mit einer englischen<br />

Mutter. Er flaniert quasi ziellos<br />

durch dieses Triest, provoziert aus einer<br />

Laune heraus – und findet als Ergebnis eines<br />

Missverständnisses dort auch seinen<br />

gewaltsamen Tod. Berger beschreibt die<br />

opulente historische Szenerie präzise und<br />

wortgewaltig, gleichzeitig bricht der Roman<br />

mit manchen Traditionen, gibt politische<br />

und ökonomische Kommentare,<br />

springt immer wieder aus der Handlung<br />

heraus.<br />

G., erschienen 1972, machte Berger<br />

als Schriftsteller über Nacht bekannt. Er<br />

erhielt für das Werk den renommierten<br />

Man Booker Preis. Und er schrieb sich<br />

auch gleich politisch in das Bewusstsein<br />

der englischen Kulturinteressierten ein.<br />

Eine Hälfte seines Preisgeldes spendete er<br />

der Black-Panther-Bewegung. Sein Argument:<br />

Die Sponsoren des Literaturpreises<br />

hätten als Zuckerindustrielle in der<br />

Geschichte auch von Sklavenarbeit profitiert.<br />

Mit der anderen Hälfte finanzierte<br />

Berger sein nächstes politliterarisches<br />

Projekt über Arbeitsmigranten in Europa.<br />

Das Thema beschäftigt uns bis heute, aber<br />

vor 50 Jahren stand es nicht hoch auf der<br />

politischen Agenda.<br />

Dass Berger als Engländer das multikulturelle<br />

Triest der vorigen Jahrhundertwende<br />

so scharf analysieren und so<br />

sinnlich beschreiben konnte, kam freilich<br />

nicht von ungefähr. Väterlicherseits<br />

stammten seine jüdischen Vorfahren aus<br />

diesem Triest – und vorher aus dem habsburgischen<br />

Galizien und aus Böhmen.<br />

Sein Vater, ein Jurist, war allerdings schon<br />

getauft, Berger selbst als überzeugter Linker<br />

nie religiös.<br />

Pointierte, scharfe Texte. Geboren wurde er<br />

1926 in London, mit 18 Jahren begann er<br />

sein Erwachsenenleben in der britischen<br />

Armee. Er schlug aber nicht – wie von einem<br />

bürgerlichen jungen Mann erwartet –<br />

eine Offizierskarriere ein, sondern diente<br />

als einfacher Soldat, lernte dabei erstmals<br />

Menschen aus ärmeren sozialen Verhältnissen<br />

kennen. Das sollte ihn langfristig<br />

politisch prägen.<br />

Nach dem Abrüsten studierte er Malerei<br />

in London, begann auch eine Karriere<br />

als Maler und Kunsterzieher. Durch Zufall<br />

kam er zur BBC und verfasste Kunstkritiken<br />

für das Radio, bald darauf auch für<br />

den linken New Statesman. Dort machte er<br />

sich mit seinen pointierten, scharfen Texten<br />

bald einen Namen, dabei hielt er sich<br />

auch nicht in den damals üblichen engen<br />

Grenzen der Kunstkritik, sondern interpretierte<br />

die Bilder breiter, etwa nach ihrem<br />

sozioökonomischen Umfeld, sah in<br />

ihnen die jeweiligen Herrschaftsverhält-<br />

nisse gespiegelt. Seine Augen fokussierten<br />

auf die unterschiedlichsten Meister<br />

– ob auf Caravaggio oder Rembrandt, ob<br />

auf Picasso oder Degas, ob auf Van Gogh<br />

oder Magritte.<br />

Von dort war es nicht mehr weit zur Beschreibung<br />

moderner Bildsprachen – etwa<br />

des Fernsehens und der Werbung. Oder<br />

zum männlichen Blick auf die Frau, den<br />

Berger recht früh gnadenlos sezierte. Leidenschaftlich<br />

diskutierte er auch die Veränderungen,<br />

die neue Techniken wie Fotografie,<br />

TV und günstige Druckverfahren<br />

für die Vervielfältigung der Kunst mit sich<br />

brachten: Zugang für breite Gesellschaftsschichten,<br />

die davor die Gemälde in den<br />

Adelspalästen nicht hatten sehen dürfen;<br />

dem gegenüber die Abwertung des<br />

Originals durch seine massenhafte Reproduzierbarkeit.<br />

Das lehrte er auch via<br />

BBC-TV-Serie, dabei berief er sich auf den<br />

deutschen Intellektuellen Walter Benjamin,<br />

der genau zu diesem Thema in den<br />

1930er-Jahren gearbeitet hatte.<br />

Benjamin sollte auch in Bergers zweiter<br />

Sphäre ein bedeutender Stichwortgeber<br />

werden, in der Literatur. Er hatte einmal<br />

die Schriftsteller in zwei Kategorien<br />

eingeteilt: jene, die zuhause bleiben und<br />

alle lokalen Traditionen kennen, und jene,<br />

die hinausgehen in die Welt und das genau<br />

beschreiben, was sie dort vorfinden,<br />

woran die Bewohner dieser Welt leiden.<br />

Berger war beides gleichzeitig. Auch<br />

wenn er weiterhin über Kunst publizierte,<br />

schrieb er Erzählungen und Romane,<br />

und er erwies sich dabei als äußerst<br />

kreativ und überraschend vielfältig<br />

in der Themenwahl. So blieb er etwa trotz<br />

seiner linken politischen Gesinnung nicht<br />

© Ulf Andersen / AFP / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />

62 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

dezeber.indb 62 28.12.21 03:33


Zuseher und Zuhörer<br />

© Ulf Andersen / AFP / picturedesk.com; Reinhard Engel<br />

bei den Arbeitern stehen, sondern wandte<br />

sich etwa in einer stimmungsvollen und<br />

mitfühlenden Trilogie SauErde. Geschichten<br />

vom Lande den Bauern in einem französischen<br />

Alpendorf zu. Er wohnte auch selbst<br />

dort lange Jahre in einem einfachen Hof.<br />

Und Berger wechselte wieder die Themen<br />

und Protagonisten. Am Rande einer<br />

Großstadt wurde etwa im Roman<br />

King ein Hund in einer Obdachlosensiedlung<br />

zum Erzähler, durch dessen Augen<br />

die Leser die Ärmsten der<br />

Gesellschaft sehen konnten.<br />

Oder er schrieb mit<br />

Auf dem Weg zur Hochzeit einen<br />

zarten Text über die<br />

Trauungszeremonie einer<br />

schon dem Tod geweihten<br />

Aids-kranken jungen<br />

Frau, über der dennoch<br />

Hoffnung schwebt. In A<br />

und X. Eine Liebesgeschichte<br />

in Briefen lässt er eine andere<br />

junge Frau ihren eingesperrten<br />

Geliebten über<br />

das Leben in der Freiheit<br />

draußen informieren. Es<br />

bleibt offen, ob dieser lediglich<br />

ein politischer Gefangener<br />

ist oder ein gefasster Terrorist<br />

und auch, in welcher Weltgegend oder<br />

welcher historischen Epoche diese Haft<br />

verhängt wurde.<br />

Anklänge an Palästinenser kommen<br />

durch, aber ganz konkret wird Berger dabei<br />

nicht. Als englischer Linker gab er sich<br />

freilich immer wieder sehr Israel-kritisch,<br />

wollte auch nicht, dass seine Bücher in einem<br />

großen israelischen Verlag erscheinen<br />

sollten. Für diese Haltung zog er sich<br />

scharfe Kritik jüdischer englischer Intellektueller<br />

zu.<br />

Nach einem Besuch in Israel und im<br />

besetzten Westjordanland schrieb Berger<br />

über seine widersprüchlichen Gefühle<br />

und Gedanken in der London Review<br />

of Books: „Und so bin ich hier, erfülle unab-<br />

John Berger: „Wenn ich<br />

ein Geschichtenerzähler<br />

bin, dann weil ich zuhöre!“<br />

Buchreihe. John<br />

Bergers Werk umfasst<br />

Romane, Theaterstücke,<br />

Drehbücher …<br />

Begonnen hat alles mit<br />

G., für den er den Man<br />

Booker Prize erhielt.<br />

„Der Zustand der<br />

Verwirrung, in dem<br />

ich lebe, ist bereits<br />

zur Gewohnheit geworden.<br />

Stelle ich<br />

mich ihm, erreiche<br />

ich manchmal eine<br />

gewisse Klarheit.“<br />

John Berger<br />

sichtlich einen Traum, den einige meiner<br />

Vorfahren in Polen, Galizien, im Habsburger<br />

Reich zumindest zwei Jahrhunderte<br />

genährt haben. Und hier finde ich mich<br />

und verteidige die Rechte der Palästinenser<br />

gegen Menschen, die meine Cousins<br />

sein könnten, und gegen den Staat Israel.“<br />

Doch Berger blieb auch nicht auf dieser<br />

politischen Schiene stecken. Als Schriftsteller<br />

und Lyriker hatte er immer eine<br />

andere, tiefere Ebene zu entdecken. „Gedichte<br />

ähneln auch, wenn<br />

sie erzählen, Geschichten<br />

nicht. Alle Erzählungen<br />

handeln von Schlachten<br />

der einen oder anderen<br />

Art, die mit Sieg oder Niederlage<br />

enden. Alles bewegt<br />

sich auf ein Ende zu,<br />

dessen Ausgang bekannt<br />

sein wird“, schrieb er.<br />

Und weiter: „Gedichte,<br />

egal wie gut sie auch sein<br />

mögen, überqueren die<br />

Schlachtfelder, versorgen<br />

die Verletzten, hören<br />

den wilden Monologen<br />

der Triumphierenden<br />

oder der Ängstlichen zu.<br />

Sie bringen eine Art Frieden.<br />

Gedichte sind Gebeten näher als Erzählungen,<br />

aber in der Poesie ist hinter<br />

der Sprache niemand, an den sich diese<br />

Gebete richten.“<br />

Apropos Gebete. Berger, der alte Linke,<br />

wurde wohl in seinem eigenen Lebensherbst<br />

nicht mehr religiös, er wandte<br />

sich aber einem Großen der Vergangenheit<br />

zu, der wohl auch rebellisch gewesen<br />

war, vor dem Wort G-tt jedoch nie zurückschreckte:<br />

dem jüdischen Philosophen Baruch<br />

Spinoza, auch Bento de Espinoza genannt.<br />

Mit Bentos Skizzenbuch schuf Berger<br />

ein faszinierendes Spätwerk. Er schrieb,<br />

Spinoza, der sich in Amsterdam als Glasschleifer<br />

ernährte, habe stets gezeichnet,<br />

allerdings blieb von diesen Skizzenbüchern<br />

nichts erhalten. Also illustrierte<br />

Berger selbst das Buch, das philosophische<br />

Texte von Spinoza eigenen literarischen<br />

gegenüberstellt. Und Berger spricht den<br />

jüdischen Intellektuellen aus dem 17. Jahrhundert<br />

direkt an: „Der Zustand der Verwirrung,<br />

in dem ich lebe, ist bereits zur<br />

Gewohnheit geworden. Stelle ich mich<br />

ihm, erreiche ich manchmal eine gewisse<br />

Klarheit. Du hast uns gezeigt, wie man das<br />

macht.“<br />

John Berger starb im <strong>Jänner</strong> 2017<br />

90-jährig in Frankreich.<br />

wına-magazin.at<br />

63<br />

dezeber.indb 63 28.12.21 03:33


HG. VON MARTINA ZEROVNIK<br />

DAS METRO –<br />

KULTURGESCHICHTE<br />

EINES WIENER VER-<br />

GNÜGUNGSORTS<br />

Hg. v. Martina Zerovnik<br />

ca. 300 S., € 29,90<br />

ab Mitte <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

Ende 1951 eröffnete in der Johannesgasse<br />

4 ein umstrittenes Kino-Projekt der 1926<br />

von der Gemeinde Wien gegründeten<br />

„Kinobetriebsanstalt Ges. m. b. H.“: das<br />

Metro Kino. „Die Gemeinde braucht sie<br />

nur nicht verlängern. Dafür kann sie der<br />

Kiba eine Kinokonzession verleihen und<br />

ihr die Theaterräume vermieten“, hatte es<br />

bereits im März des Jahres unter dem Titel<br />

„Kibanisierung“ in der Wiener Tageszeitung<br />

geheißen. Mit den „Theaterräumen“<br />

war damals die 1945 von Leon Epp<br />

wiedergegründete<br />

„Insel“ in<br />

der Komödie gemeint.<br />

Doch die<br />

Geschichte dieses<br />

seit nunmehr<br />

70 Jahren bestehenden<br />

Kinobetriebs,<br />

der seit<br />

Langem das Filmarchiv<br />

Austria beheimatet,<br />

ist wesentlich<br />

länger:<br />

Größen wie Otto Preminger oder Hans<br />

José Rehfisch waren hier vor ihrer Emigration<br />

leitend tätig, das Deutsche Volkstheater,<br />

später die NS-Organisation „Kraft<br />

durch Freude“ führten den Betrieb zeitweise,<br />

Epp „erfand“ hier das „Theater in<br />

den Bezirken“ …<br />

Mit Das Metro – Kulturgeschichte eines<br />

Wiener Vergnügungsorts gibt das Filmarchiv<br />

Austria anlässlich des (Kino-)Jubiläums<br />

nun eine Kulturgeschichte in Form<br />

eines Sammelbandes heraus, der, so die<br />

Herausgeberin, „auf fast zwei Jahrhunderte<br />

Vergnügen an diesem Standort“ zurückblickt<br />

und mit der wechselvollen Geschichte<br />

dieses Ortes eine<br />

„kleine Geschichte der Wiener<br />

Unterhaltungskultur“ verspricht.<br />

filmarchiv.at<br />

K U L T U R G E S C H I C H T E E I N E S<br />

W I E N E R V E R G N Ü G U N G S O R T S<br />

METRO<br />

DEZEMBER KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

„Zwei Zigarren, die meinem Oscar Straus<br />

nicht mehr zu rauchen vergönnt war<br />

[erhalten von Clara Strauss], 16. Mai 1954<br />

Hubert Marischka“<br />

AUSSTELLUNG<br />

Theatermuseum<br />

Lobkowitzplatz 2, 1010 Wien<br />

ikg-wien.at/festival<br />

BIS 18. APRIL <strong>2022</strong><br />

SOUVENIRS, SOUVENIRS<br />

Verehrt ... begehrt ... ist die letzte<br />

Schau in der langen und ereignisreichen<br />

Direktion von Thomas Trabitsch.<br />

Und sie vereint vieles, das<br />

das Theater und seine Leidenschaften<br />

ausmacht, darunter „Theaterkult<br />

und Sammelleidenschaft“ – so<br />

auch der Untertitel der Ausstellung,<br />

Begeisterung bis Fanatismus, Verehrung<br />

bis zum Kult, hunderte Andenken<br />

und fast ebenso viele Anekdoten.<br />

Hier findet sich so ziemlich<br />

alles aus zwei Jahrhunderten, von<br />

der Spazierstocksammlung über Fächer<br />

und Haarschmuck, Figuren<br />

und Büsten, Kosmetiktaschen, Brillen,<br />

Abzeichen, ja sogar leidenschaftlich<br />

verwahrter Schutt und Asche<br />

ehemaliger Theater in Wien. Mit Verehrt<br />

... begehrt ..., konzipiert und kuratiert<br />

von Karin Neuwirth, ist eine<br />

mehrere hundert Objekte dichte, liebevolle,<br />

humorvoll-sentimentale<br />

Hommage an all jene gelungen, die<br />

Theatergeschichte geschrieben haben<br />

– auf der Bühne ebenso wie mit<br />

den „Fanzise“ von einst.<br />

theatermuseum.at<br />

„... VOR SCHAND UND<br />

NOTH GERETTET“?!<br />

Findelhaus, Gebäranstalt und<br />

die Matriken der Alser Vorstadt<br />

Hg. v. Bezirksmuseum Josefstadt,<br />

Anna Jungmayr<br />

Wien <strong>2021</strong>, 238 S., € 25<br />

Begleitend zur gleichnamigen Sonderausstellung<br />

im Bezirksmuseum Josefstadt, die noch bis Ende<br />

März <strong>2022</strong> zu sehen ist, ist vor Kurzem ein beeindruckend<br />

dichter und schön gestalteter Sammelband<br />

erschienen. Das Wiener „Gebär- und<br />

Findelhaus“ wurde 1784 als Teil des Allgemeinen<br />

Krankenhauses feierlich eröffnet. Es befand sich<br />

an der Ecke Lange Gasse und Alser Straße, gleich<br />

gegenüber vom heutigen „Alten AKH“ und sollte,<br />

lange vor „Babyklappe“ und „Fristenregelung“<br />

Frauen helfen, Kinder sicher und vor allem „unsichtbar“<br />

zur Welt zu bringen beziehungsweise<br />

diese dann auch zur Pflege und Adoption hier<br />

zu lassen. Doch so modern diese Anstalt auf den<br />

ersten Blick wirkte, so grausam war für Jahrzehnte<br />

die Realität, nicht zuletzt auch für jüdische werdende<br />

Mütter ohne soziale Absicherung: „Kinder<br />

jüdischer Mütter mussten, wenn die Aufnahme<br />

ins Findelhaus beabsichtig war, katholisch getauft<br />

werden“, schreibt Leopold Strenn in seinem<br />

Beitrag Spurensuche<br />

in der eigenen Familie. Von<br />

den 1816 bis 1868 belegten<br />

über 2.500 jüdischen<br />

Kindern wurde alle getauft<br />

und von ihren Müttern<br />

getrennt. Ein Wiedersehen<br />

mit der Mutter wurde<br />

nur genehmigt, wenn sich<br />

auch diese taufen ließ –<br />

und keine 20 Prozent der<br />

hier Geborenen überlebten die ersten Lebensjahre.<br />

Dieses Schicksal teilten sie mit tausenden<br />

anderen Kindern, die hier bis zur Schließung 1910<br />

geboren und binnen Tagen weitervermittelt wurden.<br />

Die Ausstellung und der Begleitband geben<br />

ein ebenso erschütterndes wie wissenschaftlich<br />

profundes, bilder- und materialreiches Zeugnis<br />

davon.<br />

TIPP: Kuratorinnenführungen um 18 Uhr gibt<br />

es noch am 26. <strong>Jänner</strong>, 23. Februar und 23. März<br />

<strong>2022</strong>! Anmeldung: bm1080@bezirksmuseum.at<br />

bezirksmuseum.at<br />

© Theatermuseum © KHM-Museumsverband; Metro Kino; Bezirksmuseum Josefstadt<br />

64 wına | <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

dezeber.indb 64 28.12.21 03:33


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