wina Februar 2022
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<strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
Adar I 5782<br />
-#2. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
„Wir müssen laut sein,<br />
wir müssen unsere Rechte<br />
einfordern“ – Der deutsch-israelische<br />
Rapper und politische Aktivist<br />
Ben Salomo über Anti semitismus,<br />
Antizionismus und die deutsche<br />
Hip-Hop-Szene<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
02<br />
9 120001 135738<br />
Nachhaltiges Judentum<br />
Wie eine Sondersteuer in<br />
Israel Abhilfe gegen Plastikgeschirr<br />
& Co. schaffen soll<br />
Bilder des Triumphs – Das Lonka Project:<br />
400 Schoah-Überlebende, 300 internationale<br />
Top-Fotograf:innen und der Wunsch,<br />
Erinnerungen festzuhalten<br />
cover_0222.indd 1 01.02.<strong>2022</strong> 12:18:27
Sehen Sie die Welt aus<br />
unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />
DiePresse.com/Sonntagsabo<br />
Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />
cover_0222.indd 2 01.02.<strong>2022</strong> 12:18:28
Bundeskanzler Nehammer<br />
entschuldigte sich im Namen<br />
Österreichs bei Yair Lapid für die<br />
Ermordung seines Großvaters.<br />
(v.l.) Außenminister Alexander<br />
Schallenberg, Bundeskanzler<br />
Karl Nehammer und Israels<br />
Außenminister Yair Lapid in der<br />
KZ-Gedenkstätte Mauthausen.<br />
© ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com<br />
Editorial<br />
Selten sieht man erwachsene Männer weinen, noch seltener,<br />
wenn sie nicht nur erwachsen, sondern auch Staatsmänner<br />
sind. Umso beeindruckender muss der Anlass für<br />
solch ein öffentliches Bekenntnis zur inneren Gefühlswelt<br />
sein. Ein solcher Anlass war die Rede Yair Lapids, der als israelischer<br />
Außenminister an der Gedenkfeier im ehemaligen<br />
Konzentrationslager Mauthausen teilnahm und als Enkel von<br />
Béla Lampel eine Rede hielt. Die Rede eines Enkelsohns, dessen<br />
Großvater im Konzentrationslager Mauthausen ermordet<br />
wurde. Dieser Mann war nicht nur eine Nummer in der diabolischen<br />
Buchhaltung eines hasserfüllten Regimes. Er war<br />
vor allem ein Ehemann und Vater, der mit seinem Sohn zum<br />
Fußballspielen ging, sein Omelett gerne im Kaffeehaus aß<br />
und niemandem Unrecht tat. Und: „Er war einfach<br />
nur… Jude.“ Nur deshalb musste er im April<br />
1945 sterben, noch bevor das Reich des Hasses<br />
einige Wochen später zusammenbrach.<br />
Doch er war auch ein Mann, der auch nach<br />
seinem Tod weiterwirkte: „Großvater Béla, ein<br />
ruhiger Mann, der in der Familie ,Béla, der<br />
Weise‘ genannt wurde, sandte mich hierher,<br />
um in seinem Namen zu sagen, dass die Juden<br />
nicht aufgegeben haben. Sie haben einen starken,<br />
freien und stolzen Jüdischen Staat geschaffen,<br />
und sie haben seinen Enkelsohn entsendet,<br />
um sie hier heute zu repräsentieren. Die<br />
Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären und<br />
dass man Juden nur mehr im Museum finden<br />
würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die<br />
Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte.<br />
Ruhe in Frieden, Großvater, du hast gewonnen.“<br />
Großvater Béla wurde zum Opfer – eines von sechs Millionen<br />
Opfern des Hasses. Aber er hinterließ seinem Enkel eine<br />
Aufgabe. Sie alle hinterließen uns eine Aufgabe. Sechs Millionen<br />
Mal dieselbe Aufgabe: „Nie wieder!“ Nie wieder Unrecht<br />
dulden, Unterdrückung zulassen, Hass ignorieren, nie wieder<br />
die Zeichen an der Wand übersehen.<br />
Mein eigener Großvater überlebte das Grauen in Mauthausen<br />
mit knapp 20 Jahren, 28 Kilo, schneeweißen Haaren<br />
und schwerem Diabetes. Er starb an den Folgen seines Martyriums<br />
erst Jahrzehnte später. Bis dahin lebte er – und wie<br />
er das tat: Er liebte es zu essen, zu feiern, mit seiner geliebten<br />
Frau ins Theater und in die Oper zu gehen, er liebte es zu reisen,<br />
zu lesen, zu lachen, er liebte seine Tocher und seine Enkelkinder.<br />
Er liebte das Leben, wie es nur jemand kann, der<br />
dem qualvollen Tod ins Auge geblickt hat. Mein Großvater<br />
sprach nie darüber, was er im Lager sah. Doch oft wachte ich<br />
neben ihm auf in der Nacht, wenn er im Traum herzzerreißend<br />
wimmerte.<br />
Unrecht, Hass und Erniedrigung im Keim zu ersticken ist<br />
unsere Aufgabe als Nachgeborene. Das Leben zu lieben ist das<br />
Werkzeug, das die Erfüllung dieser Aufgabe möglich macht.<br />
Das ist das Erbe, das mir mein Großvater hinterlassen hat.<br />
Ihm gerecht zu werden ist nicht immer einfach, auch nicht,<br />
die Last dieses Erbes zu tragen.<br />
Doch für beides gilt ihm mein Dank!<br />
Julia Kaldori<br />
„Vergebung ist<br />
ein Geschenk,<br />
das man sich<br />
selbst schenkt,<br />
indem man einem<br />
anderen<br />
Menschen nicht<br />
erlaubt, dass er<br />
sich in Ihrem<br />
Körper und Geist<br />
breitmacht.“<br />
Edit Eva Eger,<br />
Psychotherapeutin<br />
und Überlebende<br />
der Schoah.<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
feb22.indb 1 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:48
S.48<br />
Die „MS Goldberg“ wird gerade zur<br />
schwimmenden Bühne umgebaut und<br />
soll in Kürze als Jüdisches Theaterschiff in<br />
Berlin-Spandau vor Anker gehen.<br />
INHALT<br />
„[…] neue Sterne glitzern<br />
lassen, an das Verlorene<br />
erinnern, das<br />
Gemeinsame<br />
feiern.“<br />
Peter Sauerbaum,<br />
Kulturmanager<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
20 Bilder des Triumphs<br />
Nachrichten aus Tel Aviv: Aufnahmen<br />
von Überlebenden der Schoah sollen<br />
deren Erinnerungen bewahren,<br />
Texte ihre Geschichten erzählen.<br />
08 Über den Heldenplatz<br />
Es ist Zeit, einen der wichtigsten<br />
Plätze der Stadt umzugestalten: ein<br />
Blick auf die Geschichte des Heldenplatzes<br />
und Fragen zu seiner Zukunft.<br />
12 „Kritisches Bewusstsein“<br />
Andreas MailathPokorny im WINA-Interview<br />
über sein Engagement für bewusste<br />
Erinnerungskultur an der MUK<br />
– Musik und Kunst Privatuniversität<br />
der Stadt Wien.<br />
15 Frachtflugzeuge nach Maß<br />
IAI, Israel Aircraft Industries, profitiert<br />
von der Annäherung Israels an mehrere<br />
arabische Staaten und liefert<br />
Frachtflugzeuge in Einzelanfertigung.<br />
16 Keim der Hoffnung<br />
Eine Delegation des Jewish Diplomatic<br />
Corps des World Jewish Congress<br />
besuchte die Vereinigten Arabischen<br />
Emirate. IKG Generalsekretär Benjamin<br />
Nägele erzählt im WINA-Interview<br />
über seine Eindrücke.<br />
18 Plastik & Judentum<br />
Quer durch Israel türmen sich Plastikberge.<br />
Eine umstrittene Steuer auf<br />
Wegwerfgeschirr soll nun Abhilfe<br />
schaffen. Doch was sagen eigentlich<br />
die alten Schriften zum Naturschutz?<br />
S.27<br />
Kein Blupp Blupp<br />
Goldige News im grauen <strong>Februar</strong>: Israelische Verhaltensforscher<br />
haben Fischen das Fahren beigebracht.<br />
Eine WINA-Hommage auf die schillernden<br />
Fahranfänger!<br />
18 Natur & Tora im Einklang<br />
5782 ist im landwirtschaftlichen Zyklus<br />
in Israel gemäß der Tora ein Schmitta<br />
Jahr, also ein Brachjahr. Nicht alle Bauern<br />
aber folgen dieser Mitzwa.<br />
24 „Kommen unter die Räder“<br />
Ben Salomo, Rapper und Aktivist gegen<br />
Antisemitismus, im WINA-Gespräch<br />
über politische Enttäuschungen,<br />
verfehlte Bildungspolitik und die<br />
Willkür der Mehrheitsgesellschaft.<br />
28 Jüdisches Mallorca<br />
Die Xuetas entdecken ihr jüdisches<br />
Selbstbewusstsein und die Geschichte<br />
ihrer Vorfahren. Eine moderne<br />
Emanzipationsgeschichte.<br />
„Das wäre so, als würde<br />
man Indianern Kolonialisierung<br />
vorwerfen, wenn<br />
sie im Bundesstaat Indiana<br />
ein Tipi aufbauen.<br />
Es ist eine Dekolonialisierung,<br />
dass es<br />
Israel gibt.“<br />
Ben Salomo<br />
S.24<br />
2 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 2 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:51
KULTUR<br />
34 Ein zeitloses Leben<br />
Die Lebensgeschichte von Dora und<br />
Anna Kallmus wird von Kulturpublizistin<br />
Eva Geber in Madame D’Ora –<br />
Tagebücher nacherzählt.<br />
37 Schwarzes Schaf flippt aus<br />
In seinem aberwitzigen Roman kaddish.com<br />
erzählt der Amerikaner<br />
Nathan Englander vom Dilemma eines<br />
Sohnes in Zeiten des Internets.<br />
38 Jugend ins Theater bringen<br />
Im Stück Die Ärz tin steckt viel von<br />
Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi.<br />
Autor und Regisseur Robert Icke hat<br />
es geschickt mit heuti gen Identitätsdiskursen<br />
angereichert.<br />
44 Was wäre wenn<br />
Ein Heldenmythos, eine Liebesgeschichte<br />
oder doch nur gescheiterte<br />
Träume: das facettenreiche Leben in<br />
Lizzie Dorons neuem Roman.<br />
42 Manfreds Geschichte<br />
Ein Sohn und jüdischer Geheimkommando<br />
Offizier macht sich im<br />
Sommer 1945 auf die Su che nach<br />
seinen Eltern in Theresienstadt.<br />
44 Der Dichter und die Macht<br />
Vor 20 Jahren starb der deutsche<br />
Schriftsteller, Denker, DDR-Rückkehrer<br />
und Alterspräsident des Deutschen<br />
Bundestages Stefan Heym in Israel.<br />
48 Avantgardistin & Pädagogin<br />
Eine Ausstellung im Linzer Lentos Museum<br />
beleuchtet die vielen Facetten<br />
der nahezu vergessenen jüdischen<br />
Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis.<br />
50 Im Bauch des Lastkahns<br />
Die „MS Goldberg“ wird gerade in eine<br />
multifunktionale moderne Bühne verwandelt.<br />
Als Jüdisches Theaterschiff<br />
wird sie danach von Berlin aus auf<br />
große Fahrt gehen.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
Coverfoto: Ben Salomo © Daniel Shaked<br />
22 WINA_Kommentar<br />
Itamar Gross über die Segnungen<br />
des israelischen Hightech-Paradieses<br />
Silicon Wadi<br />
27 WINA_Lebensart<br />
Fische sind Navigationskünstler –<br />
und Teil unseres Lifestyles<br />
30 Matok & Maror<br />
Ein Besuch beim Imbiss „Chez Berl“<br />
in der Stadtgutgasse<br />
31 WINA_kocht<br />
Sind Gugelhupf und Kugel kulinarische<br />
verwandt und warum wir die<br />
Tassen im Schrank lassen sollen …<br />
47 Urban Legends<br />
Paul Divjak über das Virus, das nur<br />
kurz von den massiven ökologischen<br />
Problemen ablenken kann<br />
53 WINA_Werk-Städte<br />
Ein Besuch in der Spanischen<br />
Synagoge in Prag<br />
54 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den <strong>Februar</strong><br />
56 Das letzte Mal<br />
Geiger und Komponist Yury Revich<br />
über die Freiheit beim Musizieren<br />
und sein glamouröses Hobby<br />
„Nach unseren Unterlagen<br />
gab es hier keinen<br />
Bruch mit der NS-Geschichte,<br />
genauso<br />
wenig wie in<br />
ganz Österreich.“<br />
Andreas Mailath-Pokorny<br />
S.10<br />
Andreas Mailath-Pokorny<br />
erklärt, warum er sein Engagement<br />
für die Aufarbeitung<br />
der NS -Geschichte und die bewusste<br />
Erinnerungskultur auch<br />
als Rektor der MUK – Musik<br />
und Kunst Privatuniversität der<br />
Stadt Wien fortsetzt.<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
feb22.indb 3 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:54
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
BILDER DES<br />
TRIUMPHS<br />
Professionelle Aufnahmen von Überlebenden der Schoah<br />
sollen deren Erinnerungen bewahren, bevor es zu spät ist.<br />
is vor Kurzem hatten die sechzig Porträts<br />
noch mitten in Jerusalem gehangen, am Safra-Platz,<br />
neben der Stadtverwaltung. Die<br />
Bilder zeigen Überlebende in ihren heutigen<br />
Wohnzimmern, mit ihren Karrieren und<br />
Familien, am Küchentisch, vor Bücheregalen<br />
oder Glasschränken, mit ihren Haustieren. Keine Fotos<br />
aus dem Familienalbum, sondern Profiaufnahmen. Es<br />
war eine Ausstellung im Freien, an einem Ort, an dem<br />
noch nie Kunstwerke gezeigt worden waren. Begonnen<br />
hatte sie im vorigen April am israelischen Schoah-Gedenktag,<br />
und sie hätte nur ein paar Wochen dauern sollen.<br />
Dann aber wurde sie vier Mal verlängert. Das Interesse<br />
war groß. Zehntausende sind auf dem Weg ins<br />
Rathaus hier verharrt, haben sich die Fotos und ihre<br />
Geschichten angeschaut.<br />
Die meisten Aufnahmen sind in Farbe, aber es gibt<br />
auch Schwarzweißbilder. Manche sind bis zu zwei Meter<br />
groß. Sie alle könnten unterschiedlicher nicht sein.<br />
Zu jedem Foto gehört ein Text, der jeweils knapp die<br />
Biografie der oder des Porträtierten erzählt, auf Hebräisch,<br />
Englisch und Arabisch. Es sind Einblicke in Lebensläufe,<br />
geprägt von Flucht, Verlust, Schrecken und<br />
unsäglichem Leid, aber auch von Resilienz und Lebensenergie.<br />
Die so von internationalen Topfotografen Porträtierten<br />
sind Teil des Lonka-Projekts, das es sich zur<br />
Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung zu bewah-<br />
Von Gisela Dachs<br />
Einblicke in Lebensläufe, geprägt von Flucht,<br />
Verlust, Schrecken und unsäglichem Leid, aber<br />
auch von Resilienz und Lebensenergie.<br />
ren. Initiator ist ein Fotografenpaar: der Amerikaner<br />
Jim Hollender und die Israelin Rina Castelnuovo. Beide<br />
waren beruflich Jahrzehnte lang vor allem im Takt des<br />
Nahostkonflikts unterwegs. Sie arbeitete für die New<br />
York Times, er für große Nachrichtenagenturen. Sie wohnen<br />
nicht weit weg von Jerusalem und sind gerade zum<br />
zweiten Mal Großeltern geworden. 2018 saßen sie vor<br />
dem Fernseher und konnten einen Bericht über die Ignoranz<br />
französischer Jugendlicher in Hinblick auf die<br />
Schoah nicht fassen. Wie könne das sein, fragte sich<br />
Jim, in einem Land, das einst selbst unter Nazi-Besatzung<br />
war? Bilder, dachte Rina, könnten hier einen Weg<br />
zu den jüngeren Generationen bahnen.<br />
Rinas Mutter, Eleonore „Lonka“ Nass, die aus Krakau<br />
stammte und fünf Lager überlebt hatte, war wenige<br />
Monate zuvor gestorben. Ihr Vater war mit seinen<br />
Eltern in Polen versteckt gewesen, bevor er sich<br />
den Partisanen anschloss. Zuhause wurde nicht über<br />
die Vergangenheit geredet. Sie sei ihr ganzes Leben<br />
von diesen Erinnerungen davongelaufen, erzählt Rina,<br />
nach dem Tod ihrer Mutter aber fühlte sie, dass die Verantwortung<br />
für die Vergangenheit jetzt bei ihr und ihrer<br />
Schwester liege. Jims Vater kämpfte als amerikanischer<br />
Soldat im Zweiten Weltkrieg. Erst spät erfuhr der<br />
Sohn, dass er in Italien schwer verwundet worden war.<br />
Als Jim 1983 nach Israel kam, um mit der Kamera<br />
über den Libanonkrieg zu berichten, sah er auf den<br />
Straßen von Tel Aviv zum ersten Mal Menschen mit einer<br />
Nummer auf dem Arm. Er erinnert sich daran, wie<br />
sie dort im Café saßen und leise auf Polnisch plauderten.<br />
Die Idee, sich ihnen und ihren Geschichten zu widmen,<br />
hatte er schon vor dreißig Jahren. Doch es sollte<br />
dauern, bis er die Zeit dazu fand. „Ich wünschte, ich<br />
hätte das Projekt schon vor Jahren begonnen, um<br />
diese Menschen länger zu begleiten“, sagt er heute.<br />
4 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 4 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:54
© Lois Lammerhuber/The Lonka Project, 2020<br />
Liese Scheiderbauer wurde 1936 in Wien geboren.<br />
Als die Nationalsozialisten kamen, konvertierte ihre<br />
Mutter zum Judentum, um bei ihren Kindern und ihrem<br />
jüdischen Ehemann bleiben zu können. Er wurde<br />
1938 nach Buchenwald und später nach Auschwitz<br />
verschleppt und überlebte. Liese, ihre Mutter und ihre<br />
Schwester wurden 1945 aus dem KZ Theresienstadt<br />
befreit. Im Lager hätte sie immer getanzt, um ihre<br />
Ängste zu überwinden, erzählt sie später. Nachdem<br />
Liese ihr Studium an der Hochschule für Musik und<br />
darstellende Kunst abgeschlossen hatte, wurde sie<br />
Tänzerin im Ballett der Volksoper. „Ich hatte ein sehr<br />
gutes Leben ‚danach‘, muss ich sagen – mit Unterbrechungen,<br />
wie jede andere auch. Ich lebe mein Leben<br />
wie ein Geschenk.“<br />
Ágnes Keleti wurde 1921 in Budapest geboren. Im<br />
Alter von vier Jahren begann sie mit dem Kunstturnen<br />
und wurde schnell erfolgreich. 1940 sollte<br />
sie bei den Olympischen Spielen antreten, was sie<br />
aufgrund ihrer jüdischen Abstammung jedoch<br />
nicht mehr durfte. Sie überlebte die Schoah mit<br />
falschen Papieren auf dem Land. Ihr Vater wurde<br />
in Auschwitz ermordet, ihre Mutter und Schwester<br />
überlebten unter dem Schutz Raoul Wallenbergs<br />
in Budapest. Erst mit 31 Jahren nahm Ágnes 1952 an<br />
den Olympischen Spielen teil und gewann die erste<br />
ihrer olympischen Goldmedaillen; es sollten noch<br />
einige folgen. 2015 kehrte Àgnes Keleti wieder nach<br />
Budapest zurück, wo sie 2021 ihren<br />
100. Geburtstag feierte.<br />
© Bea Bar Kallos/The Lonka Project, 2020<br />
© Robert Gompert/The Lonka Project, 2020<br />
Paul Schwarzbart wurde 1933 in Wien geboren.<br />
Paul, sein Vater Fritz und seine Mutter Sidi flohen<br />
1938 nach Brüssel. Pauls Vater wurde 1940 verhaftet,<br />
deportiert und kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager<br />
ermordet. 1943 holte ein Mitarbeiter<br />
des belgischen Untergrunds den knapp Zehnjährigen<br />
ab; er bekam eine neue Identität, falsche Papier<br />
und wurde in den Zug nach Jamoigne gesetzt.<br />
Dort wurde er von einem Fremden abgeholt und<br />
in ein katholisches Internat gebracht, wo er den<br />
Krieg überlebte, ohne jemals seine wahre Identität<br />
preiszugeben. Nach Kriegsende kehrte Paul zu<br />
seiner Mutter nach Brüssel zurück. Drei Jahre später<br />
verließen sie Europa Richtung New York.<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
feb22.indb 5 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:59
© Allan Tannenbaum/The Lonka Project,<br />
Rabbi Arthur Schneier wurde 1930 in Wien geboren.<br />
Sein Vater starb noch vor Kriegsbeginn. Im September<br />
1939 floh er mit der Mutter zu den Großeltern nach Ungarn.<br />
Sie wurden 1944 nach Auschwitz deportiert und<br />
ermordet. Arthur und seine Mutter überlebten in Budapest<br />
in einem der Schutzhäuser Raoul Wallenbergs. Er<br />
kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück und emigrierte<br />
1947 in die USA. Arthur Schneier ist seit über 50 Jahren<br />
Oberrabbiner der Park East Synagoge in New York und<br />
für seinen Einsatz für Religionsfreiheit, Menschenrechte<br />
und Toleranz international bekannt.<br />
Inge Ginsberg wurde 1922 als Ingeborg Neufeld in Wien geboren,<br />
wo sie wohlbehütet aufwuchs. 1938 wurde die Familie auseinandergerissen,<br />
der Vater in das KZ Dachau verschleppt. Die Mutter<br />
tauchte mit Inge und deren Bruder unter und floh bald darauf mit<br />
ihnen über die Alpen in die Schweiz, wo sie überlebten. Nach dem<br />
Krieg pendelte Inge zwischen der Schweiz, Amerika und Israel, heiratete<br />
dreimal und arbeitete als Musikjournalistin und Komponistin.<br />
Mit über 90 Jahren trat sie noch mit der Death-Metal-Band Inge<br />
& the TritoneKings auf und kam 2015 in die Schweizer Vorrunde<br />
des Eurovision Song Contest. Inge Ginsberg starb 2021 in Zürich<br />
nach einer überwundenen Covid-19-Infektion – nach Aussage von<br />
Freunden an Depression und Einsamkeit.<br />
© Ursula Markus/The Lonka Project, 2020<br />
Der Auftrag lautete, Aufnahmen zu machen,<br />
die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen<br />
und mehr als nur ihre Gesichter zeigen.<br />
Das Paar, gut vernetzt in internationalen Fotografenkreisen,<br />
wandte sich an ihre Kollegen und Kolleginnen<br />
in aller Welt und bat sie, einen Schoah-Überlebenden<br />
zu treffen und zu porträtieren. „Alle haben den<br />
gleichen Auftrag bekommen, aber ohne irgendeine genauere<br />
Anweisung, wie sie das tun sollten“, erzählt Jim.<br />
„Jede und jeder konnte vorgehen, wie er oder sie wollte.<br />
Sie konnten mit einer riesigen Kamera arbeiten oder<br />
nur mit dem Handy. Es sollten aber Aufnahmen sein,<br />
die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen und<br />
mehr als nur das Gesicht zeigen. Und das ist, was die<br />
Ausstellung so faszinierend macht.“ Mitgemacht haben<br />
sofort alle. Es habe niemanden gegeben, der nicht gesagt<br />
hätte, „es ist mit eine Ehre.“<br />
Inzwischen umfasst das Lonka Project 400 Bilder, aufgenommen<br />
von 300 Fotograf:innen. Die Hälfte der Porträtierten<br />
sind Israelis, die anderen stammen aus aller<br />
Welt, darunter auch aus Österreich. Auf den vielen<br />
Bildern festgehalten sind etwa die 101-jährige Turnerin<br />
Àgnes Keleti, Anne Franks Stiefschwester Eva Schloss,<br />
einer der jüngsten Auschwitz-Überlebenden, Ryszard<br />
Horowitz, und Moshe Zion, der einst mit den „Teheran-<br />
Kindern“ nach Palästina gekommen war und sich zuletzt<br />
um Hilfe für kranke Kinder im Gazastreifen gekümmert<br />
hat, bis er sich vor Kurzem das Leben nahm.<br />
Er gehört zu den 25 Porträtierten, die seit Beginn des<br />
Projekts gestorben sind. In Jerusalem hat auch noch<br />
ein anderes Bild viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen<br />
– Leila Jabarin ist da mit einem muslimischen Kopftuch<br />
zu sehen. Sie wurde 1942 als Helen Brashatsky in<br />
Auschwitz geboren, wohin ihre schwangere Mutter aus<br />
Jugoslawien deportiert worden war. Das Baby überlebte<br />
mit seiner Familie durch den Schutz eines christlichen<br />
Arztes. In Israel heiratete sie später einen Araber<br />
und konvertierte zum Islam. Erst spät in ihrem Leben<br />
schrieb sie sich in ein Programm für Schoah-Überlebende<br />
ein und rang sich danach durch, ihren acht Kindern<br />
und dreißig Enkelkindern erstmals von ihrer Vergangenheit<br />
zu erzählten.<br />
Die Ausstellung ist mittlerweile in das Haus der<br />
Ghettokämpfer in Norden Israels weitergezogen. 48<br />
Bilder und ihre Geschichten sollen dort vor allem eine<br />
Brücke zu den jungen Israelis schlagen. Der Direktor,<br />
Yigal Cohen, spricht von Bildern des Triumphes, die<br />
von einer unglaublichen Lebenskraft zeugen. Vor einem<br />
Jahr hatte der damalige Präsident Rivlin seine Residenz<br />
in Jerusalem dafür geöffnet – und zuvor eine<br />
Zeitlang auch die UNO in New York. Rina weiß nicht,<br />
ob ihrer Mutter, einer der bescheidensten Menschen<br />
überhaupt, wie sie erzählt, das nach ihr benannte Projekt<br />
gefallen hätte. Aber aus ihrer Sicht ist es das, was<br />
sie tun kann.<br />
6 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 6 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:04
HIGHLIGHTS | 01<br />
„Nie wieder vergessen!“<br />
Yair Lapid erinnert sich in Mauthausen an<br />
seinen ermordeten Großvater und bittet<br />
die Welt, sich „daran zu erinnern, dass<br />
Béla Lampel keine Nummer war“.<br />
„Die Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären<br />
und dass man Juden nur mehr im Museum finden<br />
würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die<br />
Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte.<br />
Ruhe Min Frieden, Großvater, du hast gewonnen.“<br />
it diesen Worten schloss der israelische Außenminister<br />
Yair Lapid seine Rede in der<br />
Gedenkstätte Mauthausen am internationalen<br />
Holocaustgedenktag. Der Enkel von Béla Lampel,<br />
der im KZ Ebensee ermordet wurde, war<br />
der ranghöchste israelische Politiker, der seit<br />
dem Besuch des damaligen Staatspräsidenten<br />
Moshe Katzav im Jahr 2004 Österreich besucht<br />
hat. Sowohl in der Gedenkstätte in Mauthausen<br />
wie auch bei der Gedenkfeier an der Schoah-Namensmauer<br />
in Wien wurde er von Mitgliedern<br />
der österreichischen Regierung begleitet.<br />
„Ich entschuldige mich im Namen der Republik<br />
für die hier begangenen Verbrechen“, sagte<br />
Bundeskanzler Karl Nehammer in Mauthausen<br />
und versprach, „alles zur Bekämpfung des Antisemitismus<br />
zu tun“. Ein Versprechen, das auch<br />
Bundesministerin Karoline Edtstadler unterstrich,<br />
denn „wir sind es den Millionen von<br />
Jüdinnen und Juden, die verschleppt, entrechtet<br />
und ermordet wurden, schuldig,<br />
das zu tun“.<br />
In einer gemeinsamen Erklärung,<br />
die von der Israelitischen Gemeinde<br />
Wiens initiiert und sowohl von der Regierungsspitze<br />
wie auch vom Bundespräsidenten<br />
unterzeichnet wurde, heißt<br />
es dazu: „Wir alle sind gefordert, Zivilcourage<br />
zu zeigen, zu widersprechen, wenn antisemitische,<br />
romafeindliche oder fremdenfeindliche<br />
Worte fallen. [...]<br />
Es beginnt mit der Sprache und mit Symbolen<br />
– überall, auf der Straße, im öffentlichen Raum,<br />
im privaten Bereich, im Parlament. Wir alle sind<br />
aufgefordert, achtsam zu sein.“ Es dürfe null Toleranz<br />
gegenüber Antisemitismus, Ausgrenzung<br />
und Hass geben – so die Reaktion von Pamela<br />
Rendi-Wagner (SPÖ). Und auch Beate Meinl-Reisinger<br />
(NEOS) meinte dazu, dass „es unabdingbar<br />
sei, dass wir uns an den Holocaust nicht nur<br />
erinnern, sondern auch Zivilcourage zeigen und<br />
widersprechen, wenn antisemitische oder fremdenfeindliche<br />
Worte fallen“.<br />
2.200<br />
Veranstaltungen<br />
fanden im Festjahr 2021 JLID – 1.700<br />
Jahre jüdisches Leben in Deutschland<br />
statt. Dazu kamen unzählige Projektförderungen<br />
und internationale Veranstaltungen,<br />
wie etwa das große<br />
Konzert Generation zu Generation<br />
im Wiener Rathaus im vergangenen<br />
Herbst. Und da die Pandemie viele<br />
Veranstaltungen verhinderte, geht<br />
das Festjahr – mit Unterstützung der<br />
Bundesregierung Deutschlands –<br />
nun in die Verlängerung.<br />
Gerührt.Yair<br />
Lapid und Karl<br />
Nehammer sichtlich<br />
berührt in<br />
der Gedenkstätte<br />
Mauthausen.<br />
© ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com; © Ouriel Morgenstern; © March of the Living International<br />
Angriff auf<br />
die Geschichte<br />
Schoah-Überlebende wehren sich mit<br />
einer Kampagne gegen die gefährliche<br />
Verharmlosung des Holocaust.<br />
Laut einer internationalen Umfrage der<br />
Initiator:innen gab es in den letzten zwei<br />
Jahren fast 60 Millionen Beiträge und Kommentare<br />
in sozialen Medien, die die Pandemie<br />
und deren Folgen in irgendeiner Weise<br />
mit dem Holocaust in Verbindung bringen.<br />
Auf dieses besorgniserregende Phänomen<br />
möchten sie nun mit der Kampagne Angriff<br />
auf die Geschichte aufmerksam machen.<br />
/ecm<br />
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<strong>2022</strong><br />
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7<br />
© Xxx<br />
feb22.indb 7 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:05
Demonstrationsplatz<br />
Die Hofburg. Der Heldenplatz<br />
und die Neue Hofburg mit dem<br />
Erzherzog-Karl-Denkmal, um 1910.<br />
„Anschluss“ 1938. Die Menschenmenge<br />
jubelt dem Führer nach seinem<br />
Triumphzug über den Ring zu.<br />
Nachdenken über den Heldenplatz<br />
Wer wird eigentlich an diesem Ort im Zentrum Wiens geehrt? Wofür wird er sonst genutzt?<br />
Und ist es nicht Zeit, den Platz umzugestalten? Ein Blick in die Geschichte des<br />
Heldenplatzes und Fragen zu seiner Zukunft.<br />
Von Alexia Weiss<br />
ochenende für Wochenende<br />
sorgen die Demonstrationen der<br />
Corona-Maßnahmen- und Impfgegner<br />
für eine Bilderflut in Nachrichtensendungen,<br />
auf News-Portalen<br />
und in Social Media. Darauf zu sehen:<br />
Österreich-Fahnen in Massen und damit<br />
auch eine nationale Vereinnahmung der<br />
inzwischen massiv nach rechts abgedrifteten<br />
Proteste. Immer wieder im Bild: FPÖ-<br />
Chef Herbert Kickl, der hier ein ums andere<br />
Mal Brandreden gegen die Regierung<br />
hält und sich in einer „Diktatur“ sieht, aber<br />
auch der mehrmals wegen NS-Wiederbetätigung<br />
verurteilte Gottfried Küssel.<br />
Was außerdem auffällt: schräge Outfits<br />
von weißen Ganzkörperanzügen bis<br />
zu mit Alufolie umwickelten Hüten. Seit<br />
Monaten sind bereits immer wieder gelbe<br />
Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“<br />
bei diesen Protesten zu sehen – es handelt<br />
sich in der Anmutung um die von<br />
den Nazis einst Jüdinnen und Juden aufgezwungenen<br />
„Judensterne“. Sie irritieren<br />
ebenso wie so manches hochgehaltene<br />
Schild: Mitte <strong>Februar</strong> fand sich auf<br />
einem ein Foto Adolf Hitlers, darüber die<br />
Worte „Impfen macht frei“, darunter die<br />
Worte „I’ll be back“.<br />
Hitler-Schild wie Sterne transportieren<br />
verquere Botschaften: Rechte bis Rechtsextreme<br />
bemühen einen Opferstatus und<br />
stellen dabei immer wieder eine Verbindung<br />
zum Nationalsozialismus her. Das<br />
ist wiederum eine Verharmlosung des NS-<br />
Terrors und der Schoah, erstens, und zweitens<br />
möchte man den Demonstrierenden<br />
zurufen: Wärt ihr in einer Diktatur, könntet<br />
ihr auch nicht Woche für Woche die Wiener<br />
Innenstadt als Aufmarschplatz missbrauchen.<br />
Einer der zentralen Orte dieser Demonstrationen<br />
ist der Heldenplatz. Hier versammelt<br />
man sich, hier werden immer wieder<br />
Reden geschwungen, von hier gibt es Fotos<br />
um Fotos. Damit ergibt sich sofort eine<br />
gedankliche Brücke: an den Heldenplatz,<br />
auf dem die Massen einst Adolf Hitler zujubelten.<br />
Aber auch an den Heldenplatz, den<br />
Thomas Bernhard 1988 in seinem gleichnamigen<br />
Theaterstück – 50 Jahre nach<br />
Hitlers Auftritt dort – zeichnete und welcher<br />
der österreichischen Gesellschaft in<br />
den „Waldheim“-Jahren kein gutes Zeugnis<br />
ausstellte: Er legte Kontinuitäten in einem<br />
Ausmaß bloß, das weh tat und entsprechend<br />
auch für Debatten sorgte. Und<br />
schließlich an den Heldenplatz, an dem<br />
zwischen 1996 und 2012 deutschnationale<br />
schlagende Burschenschaften immer am<br />
8. Mai in der Krypta des Äußeren Burgtores,<br />
dem Österreichischen Heldendenkmal,<br />
einen Kranz niederlegten und damit<br />
für Provokation sorgten: Das Gedenken an<br />
die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten<br />
wirkte Jahr um Jahr wie eine öffentlich<br />
dargebotene Verherrlichung des Nationalsozialismus.<br />
Der Heldenplatz erzählt aber auch andere Geschichten.<br />
Hier fand 1993 das Lichtermeer<br />
statt, ein zivilgesellschaftliches Aufzeigen<br />
gegen Fremdenfeindlichkeit, ein Zeichen<br />
gegen rechts, gegen den Populismus und<br />
Rassismus des damaligen FPÖ-Chefs Jörg<br />
Haider, gegen dessen „Österreich zuerst“-<br />
Volksbegehren. 300.000 Menschen wurden<br />
Teil des Lichtermeers – es wurde damit<br />
die größte Demonstration der Zweiten<br />
Republik. Hier kam es seit 2002 am 8. Mai<br />
zu Gegendemonstrationen gegen das Heldengedenken<br />
der rechten Burschenschafter,<br />
hier findet seit 2013 am 8. Mai das „Fest<br />
der Freude“ statt und damit wurde der Tag<br />
positiv konnotiert: Gefeiert wird das Ende<br />
des NS-Terrorregimes, dabei erinnert man<br />
sich an die Opfer des Nationalsozialismus.<br />
© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com; Glückler, Herbert / OeNB-Bildarchiv / photonews.at / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />
8 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 8 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:13
Gedankliche Brücke<br />
Totengedenken des Korporationsring<br />
(WKR) am Jahrestag der Kapitulation Hitler-<br />
Deutschlands – unter großen Protesten.<br />
Demonstration der Gegner<br />
der Corona-Maßnahmen bei<br />
der Rede von Herbert Kickl.<br />
© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com; Glückler, Herbert / OeNB-Bildarchiv / photonews.at / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />
„Ich glaube,<br />
man muss sich<br />
trauen, den<br />
Heldenplatz und<br />
die Neue Burg<br />
größer und neu<br />
zu denken.“<br />
Monika Sommer,<br />
Direktorin des Hauses<br />
der Geschichte<br />
Sie stehen auch im Mittelpunkt<br />
des zivilgesellschaftlichen<br />
Gedenkens<br />
am 27. Jänner, dem internationalen<br />
Holocaust-<br />
Gedenktag,<br />
Was sich heute außerdem<br />
am Heldenplatz befindet:<br />
das Haus der Geschichte,<br />
das sich unter der Leitung von<br />
Monika Sommer seit 2018 erfolgreich um<br />
eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung<br />
mit Zeitgeschichte und damit<br />
auch mit den Jahren des Nationalsozialismus<br />
sowie dessen Nachwirken in den<br />
darauffolgenden Jahrzehnten bemüht.<br />
Das Museum, das in einem Teil der Neuen<br />
Burg neben der Nationalbibliothek untergebracht<br />
ist, kämpft allerdings seit Beginn<br />
mit Platzproblemen. Die Ausstellungsfläche<br />
von 800 Quadratmetern ist doch sehr<br />
knapp bemessen, um Zeitgeschichte adäquat<br />
zu verhandeln.<br />
Immer wieder streckt das Haus daher<br />
seine Arme auch ins Freie, auf den Platz<br />
vor der Burg aus – zuletzt wurde hier eine<br />
Freiluftausstellung gezeigt, die „das Wiener<br />
Modell der Radikalisierung“ offenlegte.<br />
Aufgezeigt wurde darin, dass Österreich<br />
nicht nur nicht das<br />
erste Opfer NS-Deutschlands<br />
war, sondern sogar<br />
vieles, was an systematischer<br />
Verfolgung von Juden<br />
und Jüdinnen von den<br />
Nationalsozialisten implementiert<br />
wurde, zuvor in<br />
Wien erprobt worden war:<br />
vom Vermögensentzug bis hin zu den Massendeportationen<br />
in Konzentrationslager,<br />
Ghettos und Vernichtungsstätten im Osten.<br />
Doppelt absurd erscheint es dann, dass sich<br />
just an diesem Platz zeitgleich Demonstrierende<br />
gegen Coronamaßnahmen in eine<br />
Linie mit den Opfern von damals stellen.<br />
In provisorischen, auf Rasenflächen des<br />
Platzes errichteten Ausweichquartieren<br />
sind derzeit zudem Einrichtungen des Parlaments<br />
untergebracht. Das Haus am Ring<br />
brauchte eine Generalsanierung, wenige<br />
Gehminuten entfernt finden Plenarsitzungen<br />
von National- und Bundesrat in der<br />
Hofburg statt. Andere Räumlichkeiten wie<br />
etwa Büros fanden am Heldenplatz eine vorübergehende<br />
Heimat. Dass der Heldenplatz<br />
grundsätzlich Adresse für ein neues<br />
Gebäude – oder auch Denkmal – werden<br />
könnte, schien bis vor Kurzem nahezu ausgeschlossen.<br />
Verwaltet wird der Platz von<br />
der Burghauptmannschaft. Und diese ließ<br />
bisher eine zusätzliche Bebauung nicht zu.<br />
Für das Parlament wurde nun eine Ausnahme<br />
gemacht. Wodurch sich die Frage<br />
stellt: Wie lange werden die provisorischen<br />
Bauten noch stehen? Und was wird danach<br />
sein? Sollte man nicht über eine anderweitige<br />
mögliche Nutzung des Ortes diskutieren?<br />
Sollte man nicht überhaupt über<br />
eine Umgestaltung des Platzes sprechen?<br />
Warum etwa parken vor der ebenfalls in<br />
der Hofburg untergebrachten Organisation<br />
für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
in Europa (OSZE) nach wie vor Autos? Die<br />
Innenstadt wird nach und nach zur Fußgängerzone<br />
umgestaltet – aber dieser Platz<br />
fungiert nach wie vor als Parkplatz?<br />
Ich habe zunächst bei der Parlamentsdirektion<br />
nachgefragt, wie lange die provisorischen<br />
Bauten noch am Heldenplatz<br />
stehen werden. Parlamentsdirektor Harald<br />
Dossi schrieb mir dazu: „Die temporäre<br />
Nutzungsbewilligung ist derzeit mit<br />
August 2023 befristet.“ Zum jetzigen Zeitpunkt<br />
sei die Wiederinbetriebnahme des<br />
Parlamentsgebäudes mit Herbst <strong>2022</strong> geplant.<br />
„Die Nutzung der Pavillons wird aber<br />
darüber hinaus noch geraume Zeit andau-<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
feb22.indb 9 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:23
Repräsentation der Republik<br />
Parlamentsaußenstelle:<br />
temporäre Büros im provisorischen<br />
Gebäude auf dem Rasen.<br />
1945 brachte auch hier eine Zäsur. Ab Ende<br />
der 1940er-Jahre gab es zunächst sonntägliche<br />
Messen in der Krypta, ab 1951 legern,<br />
da auch im sanierten Parlamentsgebäude<br />
nicht alle Organisationseinheiten<br />
Platz finden und wir deswegen weitere Flächen<br />
in unmittelbarer Parlamentsnähe für<br />
den parlamentarischen Betrieb langfristig<br />
organisieren müssen. Jedenfalls wird<br />
nach vollständiger Absiedlung der Abbau<br />
der Pavillons erfolgen.“<br />
Mit Herbst 2023 könnten die temporären<br />
Gebäude am Heldenplatz also wieder<br />
verschwunden sein – wenn das Parlament<br />
bis dahin anderswo Räumlichkeiten gefunden<br />
hat. Dossis Worte sind diesbezüglich<br />
zögerlich: Wird man bis dahin Büros<br />
in Parlamentsnähe bezogen haben? Wann<br />
auch immer sich das Parlament aber vom<br />
Heldenplatz zurückzieht: Könnte nicht<br />
über eine Weiternutzung der Pavillons<br />
nachgedacht werden? Oder über einen<br />
Neubau an der Stelle, an dem jetzt die Pavillons<br />
stehen?<br />
Meine nächste Ansprechpartnerin dazu<br />
ist Monika Sommer, die Direktorin des<br />
Hauses der Geschichte. Sie sieht am Heldenplatz<br />
einerseits eine starke Repräsentation<br />
der Republik, etwa durch die Kranzniederlegungen<br />
am Nationalfeiertag – die<br />
allerdings auch über die Jahrzehnte vom<br />
holprigen Umgang Österreichs mit seiner<br />
NS-Vergangenheit und mit den NS-Opfern<br />
erzählen (mehr dazu später). „Es ist aber<br />
auch ein Platz der Zivilgesellschaft, vor allem<br />
durch das Lichtermeer 1993.“<br />
Und obwohl der Platz gefühlt von der<br />
Monarchie besetzt zu sein scheint, stimmt<br />
dies nicht, wie Sommer zu bedenken gibt.<br />
Die Neue Burg wurde zwar Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts geplant, der letzte Trakt sei<br />
aber erst 1920 fertiggestellt worden. Und<br />
jener Bauteil, der später zum Gedenkort<br />
wurde, das Äußere Burgtor, wurde zwar<br />
nach der Zerstörung der napoleonischen<br />
Truppen 1809 von 1821 bis 1824 wiederaufgebaut.<br />
Die erste militärische Gedenkfunktion<br />
kam ihm aber erst zu einer Zeit<br />
zu, als Österreich bereits mit einem Fuß in<br />
der Republik stand. 1916 wurden für Helden<br />
des Ersten Weltkriegs 107 metallene<br />
Lorbeerkränze im Gebälk des Gebäudes<br />
angebracht.<br />
Heidemarie Uhl, Richard Hufschmied<br />
und Dieter A. Binder haben in dem 2021 im<br />
Böhlau Verlag erschienenen Band Gedächtnisort<br />
der Politik die Entwicklung des Gedenkens<br />
am Heldenplatz nachgezeichnet. Erst<br />
1934 wurde demnach im Äußeren Burgtor<br />
das Österreichische Heldendenkmal<br />
eingeweiht. Im linken Flügel befand sich<br />
ein Andachtsraum für nicht katholische<br />
Konfessionen und darin eine Gedenktafel<br />
für den 1934 bei einem nationalsozialistischen<br />
Putschversuch ermordeten Kanzler<br />
Engelbert Dollfuß, die nach dem „Anschluss“<br />
1938 entfernt wurde.<br />
Im rechten Teil des Burgtors wurde die<br />
Krypta errichtet. In ihr wurde das vom<br />
Bildhauer Wilhelm Frass errichtete Denkmal<br />
des „Toten Kriegers“ aufgestellt. Dass<br />
er bereits zu diesem Zeitpunkt Nationalsozialist<br />
war, machte er 1938 im Völkischen<br />
Beobachter publik: Er habe im Sockel des<br />
Denkmals eine NS-Huldigungsschrift verborgen.<br />
Überprüft wurde das erst 2012 unter<br />
dem damaligen SPÖ-Verteidigungsminister<br />
Norbert Darabos. Und tatsächlich<br />
fand sich in einer Metallhülse ein Schriftstück<br />
von Frass, aber überraschenderweise<br />
auch ein zweites: eine Gegenschrift seines<br />
Mitarbeiters Alfons Riedel.<br />
Doch zurück in die 1930er-Jahre. Von<br />
1934 bis 1938 war die Krypta „der Schauplatz<br />
der staatlichen und militärischen Gedenkkultur<br />
der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“,<br />
formuliert es die Historikerin Uhl,<br />
die ich ebenfalls zum Thema Heldenplatz<br />
kontaktierte. Am 15. März 1938 legte Adolf<br />
Hitler einen Kranz in der Krypta nieder,<br />
es war der Tag seiner „Anschluss“-Rede<br />
auf dem Balkon der Neuen Burg, der heute<br />
just in jenen Teil des Gebäudes fällt, in dem<br />
das Haus der Geschichte untergebracht ist.<br />
Jeden März kam es daraufhin bis 1945 hier<br />
zu Kranzniederlegungen am offiziellen nationalsozialistischen<br />
„Heldengedenktag“.<br />
ten der Verband der Unabhängigen (VdU),<br />
die Vorläuferpartei der FPÖ, und Kameradschaftsverbände<br />
Kränze vor dem Soldatendenkmal<br />
nieder. 1955 fand nach<br />
Abschluss des Staatsvertrags das erste Totengdenken<br />
für die Gefallenen des Ersten<br />
und Zweiten Weltkriegs unter Beteiligung<br />
von Vertretern der Regierung und des<br />
Bundesheeres statt. Organisiert wurde<br />
die Feier vom Österreichischen Kameradschaftsbund,<br />
erzählt Uhl.<br />
Bis 2011 sollte das Bundesheer nun jedes Jahr<br />
zu Allerseelen das militärische Totengedenken<br />
in der Krypta abhalten. 1959 wurden<br />
dazu auch die Jahreszahlen 1939 und 1945<br />
angebracht – „damit wurden die gefallenen<br />
Wehrmachtssoldaten offiziell in das<br />
staatlich-militärische Gedenken der Republik<br />
Österreich integriert“, merkt Uhl<br />
an. „Das stand im Widerspruch zur Opferthese.“<br />
1965 wurde ein Weiheraum mit einem Denkmal<br />
für den österreichischen Widerstand eingerichtet<br />
und dort am ersten Nationalfeiertag,<br />
dem 26. Oktober 1965, ein Kranz von<br />
der Regierung niedergelegt. Von 1966 bis<br />
2011 legten Bundespräsident und Bundesregierung<br />
am Nationalfeiertag jeweils<br />
Kränze sowohl in der Krypta als auch im<br />
Weiheraum nieder. 1996 begannen dann<br />
deutschnationale Burschenschaften am<br />
8. Mai einen Kranz in der Krypta niederzulegen<br />
und betrauerten dabei die Niederlage<br />
Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.<br />
Nach und nach entwickelte sich<br />
eine Gegenbewegung zu dieser Gedenkkultur<br />
– es formierte sich die Plattform<br />
Jetzt Zeichen setzen, der auch die Israelitische<br />
Kultusgemeinde angehört.<br />
2012 sollte vieles verändern: Am 27. April<br />
fand anlässlich des Jahrestags der Gründung<br />
der Zweiten Republik zum letzten<br />
Mal eine Kranzniederlegung der Regierung<br />
vor dem Kriegerdenkmal von Frass<br />
statt. Nachdem der grüne Abgeordnete<br />
Harald Walser darauf aufmerksam gemacht<br />
hatte, dass sich nicht nur einfache<br />
Soldaten, sondern mit Josef Vallaster<br />
auch ein Massenmörder in den Totenbüchern<br />
fand, wurden diese aus der Krypta<br />
entfernt und dem Staatsarchiv übergeben.<br />
Nun entschied man sich auch dazu<br />
nachzusehen, ob sich im Sockel des Kriegerdenkmals<br />
tatsächlich eine NS-Huldigungsschrift<br />
befand, was sich schließlich ja<br />
bewahrheiten sollte. Das Verteidigungsministerium<br />
untersagte daraufhin alle Kranz-<br />
© Stefan F¸rtbauer / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />
10 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 10 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:26
Platz der Zivilgesellschaft<br />
© Stefan F¸rtbauer / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />
niederlegungen vor der Skulptur. „Das war<br />
schon ein starkes Zeichen“, sagt Uhl.<br />
Von 2012 bis 2015 wurden die Kranzniederlegungen<br />
am Nationalfeiertag und das militärische<br />
Totengedenken nicht mehr vor dem<br />
Denkmal des toten Kriegers, sondern vor<br />
der 2002 errichteten Gedenktafel für die<br />
Angehörigen des Bundesheeres der Zweiten<br />
Republik durchgeführt. Seit 2013 gibt<br />
es am 8. Mai Feierlichkeiten in Erinnerung<br />
an die Opfer des Nationalsozialismus<br />
und das Ende des NS-Terrorregimes,<br />
das Bundesheer hält dabei eine Mahnwache<br />
vor der Krypta ab, das Mauthausen<br />
Komitee Österreich veranstaltet das Fest<br />
der Freude. 2013 gab das Verteidigungsministerium<br />
auch den Startschuss für eine<br />
Neugestaltung des Heldendenkmals. In der<br />
Folge wurde die Krypta säkularisiert und<br />
zu einem Ausstellungsraum. 2015 widmete<br />
sich die erste Schau dem Kriegsende 1945,<br />
2016/17 die Ausstellung Letzte Orte vor der Deportation<br />
den Sammellagern in Wien und<br />
den Deportationen vom<br />
Wiener Aspangbahnhof<br />
aus. 2019 wurde in der<br />
Ehrenhalle ein neues Ehrenmal<br />
des Bundesheeres<br />
errichtet, seitdem findet<br />
das militärische Totengedenken<br />
dort statt. Nur der<br />
Weiheraum steht nun für<br />
Kranzniederlegungen am<br />
Nationalfeiertag zur Verfügung.<br />
Doch dieser Weiheraum<br />
wurde ja 1965 zur<br />
Ehrung des Widerstands<br />
eingerichtet – „er ist nur<br />
den politischen Widerstandskämpfern<br />
gewidmet, alle anderen<br />
Opfergruppen kommen nicht vor“, betont<br />
Uhl.<br />
Was in diesem Hin und Her auffällt: Die<br />
Republik hatte ihre Mühe, sich bezüglich<br />
der Mitverantwortung für die Gräuel des<br />
Nationalsozialismus zu positionieren. Und:<br />
Keines der Denkmale am Heldenplatz würdigt<br />
eben die Opfer des Nationalsozialismus.<br />
In Wien gibt es für die jüdischen Opfer<br />
das Holocaust-Mahnmal von Rachel Whiteread,<br />
wo inzwischen vom offiziellen Österreich<br />
am Holocaust-Gedenktag Kränze niedergelegt<br />
werden. Und dieses Jahr wurde<br />
die Schoah-Namensmauer eröffnet. Auch<br />
diese könnte Ort künftiger offizieller Zeremonien<br />
werden, meint Sommer. Dennoch<br />
mache sich am Heldenplatz eine Leerstelle<br />
bemerkbar. „Es braucht ein neues Gesamtkonzept,<br />
bei dem es eben auch ein Zeichen<br />
„Unser Staatssystem,<br />
unsere<br />
Regierungsform<br />
hat sich noch<br />
nicht eingeschrieben<br />
in<br />
diesen Platz.“<br />
Monika Sommer<br />
der Mitverantwortung für die NS-Zeit gibt“,<br />
meint die Direktorin des Hauses der Geschichte.<br />
Dies könnte ein neues Denkmal<br />
oder auch die Umgestaltung des Äußeren<br />
Burgtors sein.<br />
Es brauche nicht nur ein Denkmal für<br />
alle Opfer des Nationalsozialismus, sondern<br />
einen noch grundsätzlicheren Gedenkort,<br />
einen, der die Republik präsentiert.<br />
„Es braucht einen ehrenden Ort des<br />
Gedenkens“, sagt Sommer. „Für mich hat<br />
sich das auch nach dem Anschlag im November<br />
2020 gezeigt: Letztendlich hat man<br />
doch wieder den Stephansdom für eine<br />
Gedenkveranstaltung gewählt. Was spannend<br />
ist: dass man einen Ort, der eindeutig<br />
einer Konfession zugeordnet ist, für ein<br />
Gedenken wählt, dessen Rahmen überkonfessionell<br />
hätte sein müssen. Es gibt<br />
keinen säkularen Ort für Gedenken von<br />
bundesweiter Relevanz.“ In diese Kerbe<br />
schlägt auch Uhl. „Die momentane Situation<br />
ist unbefriedigend. Von einem Nationaldenkmal<br />
kann man beim Heldendenkmal<br />
nicht sprechen. Und<br />
es gibt nichts, was als nationales<br />
Symbol der Republik<br />
am Heldenplatz steht.“<br />
Wie aber ließe sich das<br />
auflösen? „Ich glaube,<br />
man muss sich trauen,<br />
den Heldenplatz und die<br />
Neue Burg größer und neu<br />
zu denken“, sagt Sommer.<br />
Ob sie hier auch an mehr<br />
Fläche für das Haus der<br />
Geschichte denkt? Nun,<br />
meint die Direktorin, einerseits<br />
sei der Heldenplatz<br />
der beste Platz zum<br />
Ausverhandeln von Zeitgeschichte, aber<br />
ja, mehr Ausstellungsräumlichkeiten wären<br />
natürlich fein. Eine Möglichkeit wäre<br />
ein Aufbau am Äußeren Burgtor, „so wie die<br />
Kuppel des Reichstags in Berlin, das ist ein<br />
starkes Zeichen“. Und was wäre eben mit jenen<br />
Flächen, auf denen nun die Ausweichquartiere<br />
des Parlaments errichtet wurden?<br />
„Diese Standorte sind prinzipiell toll<br />
und wären auch ein starkes symbolisches<br />
Zeichen einer selbstbewussten Zweiten Republik.“<br />
Vor allem aber gibt sie zu bedenken:<br />
„Unser Staatssystem, unsere Regierungsform<br />
hat sich noch nicht in diesen<br />
Platz eingeschrieben.“<br />
Ähnlich formuliert es auch Uhl: „Es gibt<br />
nichts, was als nationales Symbol der Republik<br />
am Heldenplatz steht.“ Ein Wettbewerb<br />
für ein neues Denkmal könne nur schiefgehen,<br />
befürchtet sie allerdings. „Wie auch<br />
Corona-Denkmal der Hoffnung<br />
von Emmerich Weissenberger<br />
und Nora Ruzsics.<br />
das Einheitsdenkmal in Berlin zeigt, kann<br />
moderne Kunst eine solche Denkmalaufgabe<br />
nicht gut lösen.“ Die Historikerin hat<br />
aber einen anderen Vorschlag: Es gibt bereits<br />
ein Republikdenkmal, das derzeit im<br />
Schweizergarten steht und das kaum jemand<br />
kenne. Nur einmal, 2015, fanden die<br />
staatlich-militärischen Republiksgründungsfeierlichkeiten<br />
im April bei diesem<br />
Denkmal statt. Dieses wurde zum Gedenken<br />
an die Errichtung der Ersten und Zweiten<br />
Republik errichtet. Damit hätte man<br />
nicht nur einen offiziellen Ort für Kranzniederlegungen.<br />
„Solche Denkmale sind<br />
auch Treffpunkte für Demonstrationen,<br />
für zivilgesellschaftliche Forderungen.“<br />
Die Pavillons für das Parlament haben<br />
hier jedenfalls einen neuen Debattenraum<br />
eröffnet. Auch wenn sie nur temporär geplant<br />
wurden, zeigen sie, dass sich der Heldenplatz<br />
durchaus umgestalten ließe, sofern<br />
die Burghauptmannschaft ihr Okay<br />
dazu gibt. Dort hüllt man sich allerdings<br />
in Schweigen, eine diesbezügliche Anfrage<br />
wurde nicht beantwortet. Am Ende<br />
wird es aber ohnehin eine Frage sein, die<br />
die politisch Verantwortlichen zu klären<br />
haben. Wird der Heldenplatz in seiner<br />
jetzigen Form seinem Namen gerecht?<br />
Und ja, dass der Bundespräsident dort Social-Media-wirksam<br />
immer wieder seinen<br />
Hund äußerln führt, ist charmant.<br />
Doch welcher andere ähnliche Platz in einer<br />
europäischen Metropole ist im Alltag<br />
abseits von Demonstrationen und Kranzniederlegungen<br />
vor allem eines: Hundezone?<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
feb22.indb 11 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:29
INTERVIEW MIT ANDREAS MAILATH-POKORNY<br />
„Mit Musik und Kunst kann man<br />
kritisches Bewusstsein schaffen“<br />
Andreas Mailath-Pokorny erklärt, warum er sein Engagement für<br />
die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die bewusste Erinnerungskultur<br />
auch an der Wiener Musik- und Kunstuniversität fortsetzt.<br />
Interview: Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />
WINA: Sie waren 17 Jahre SPÖ-Kulturstadtrat und sind seit<br />
September 2018 Rektor der Musik- und Kunst-Privatuniversität<br />
der Stadt Wien (MUK). Wie geht es dem Rektor<br />
einer Musik- und Kunstuniversität in Zeiten der Covid-<br />
Pandemie?<br />
Andreas Mailath-Pokorny: Wir haben den Betrieb<br />
aufrecht erhalten, hatten aber auch keine andere<br />
Wahl: Onlineunterricht in Kammermusik, bei Blasinstrumenten<br />
oder bei Chören kann man eine zeitlang<br />
machen, aber nicht auf Dauer. Wir konnten den<br />
Präsenzunterricht anbieten, weil wir sehr früh eine<br />
Covid-Taskgroup auf Uni-Ebene eingerichtet und<br />
das Regelwerk laufend für unsere Bedürfnisse adaptiert<br />
haben. Es gab viele Sonderregeln, die Spucke<br />
der Bläser musste zum Beispiel als Sonderabfall<br />
entsorgt werden. Aber wichtig ist, dass niemand ein<br />
Semester verloren hat.<br />
Andreas Mailath-<br />
Pokorny – als Politker<br />
wie auch als Rektor stets<br />
um einen bewussten<br />
Umgang mit der Vergangenheit<br />
bemüht.<br />
Wie viele Studierende gibt es an der MUK, und woher kommen<br />
sie?<br />
I Wir haben 850 Studierende. Diese kommen zu je<br />
einem Drittel aus Österreich, aus der EU und dem<br />
Rest der Welt, großteils aus Asien. Das Erfreuliche<br />
ist, dass wir kaum jemand während der Covid-Krise<br />
verloren haben. Es gibt pro Jahr etwa 1.500 Bewerbungen,<br />
leider können wir jährlich nur 200 Neuaufnahmen<br />
machen.<br />
Sie firmieren als Privatuniversität, wieso?<br />
I Anders, als es unser Name suggeriert, sind wir eine<br />
öffentliche Universität der Stadt Wien. Da laut Verfassung<br />
nur der Bund für Universitäten zuständig<br />
sein darf, mussten wir, wie auch andere Landeskonservatorien,<br />
einen strengen Akkreditierungsprozess<br />
für den Universitätsstatus durchlaufen. Wir sind daher<br />
formal privat, aber nicht materiell: 95 Prozent<br />
finanziert die Stadt Wien, es gibt keine Studiengebühren,<br />
mit Ausnahme Angehöriger weniger Drittstaaten.<br />
Das ist sehr großzügig?<br />
I Das ist richtig. Bis auf 300 Euro Anmeldegebühr<br />
ist das Studium kostenlos. Bei meinen Einführungs-<br />
„Nach unseren Unterlagen<br />
gab es hier keine Bruch<br />
mit der NS-Geschichte,<br />
genauso wenig wie in<br />
ganz Österreich.“<br />
Andreas Mailath-Pokorny<br />
12 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 12 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:30
Keine Zäsur nach 1945<br />
veranstaltungen sage ich immer dazu, dass ein Studienplatz<br />
jährlich 23.000 Euro kostet, die Differenz<br />
wird vom Steuerzahler, der Steuerzahlerin geleistet.<br />
Also eine gewisse Demut, Dankbarkeit ist schon<br />
angebracht.<br />
Sie haben an der MUK das fortlaufende Forschungsprojekt<br />
Hausgeschichte – Zeitgeschichte initiiert und betreiben<br />
es mit viel Engagement. Das Projekt fokussiert auf<br />
drei Schwerpunkte: 1. die Auseinandersetzung mit den ab<br />
1938 verfolgten und vertriebenen Lehrkräften und deren<br />
Studenten und Studentinnen sowie die Erforschung der<br />
politischen Nähe von Mitgliedern des Lehrkörpers zum Nationalsozialismus;<br />
2. die Frage nach Raub und Restitution<br />
von Musikinstrumenten, Büchern und Noten sowie 3. die<br />
Folgen der NS-Politik nach 1945 in Wien für die Musikausbildung.<br />
Was können Sie uns dazu erzählen?<br />
I Auch als Kulturstadtrat habe ich mich um einen bewussten<br />
Umgang mit der Vergangenheit, mit der Erinnerungskultur<br />
bemüht. Bei meinem ersten Rundgang<br />
in der Universität suchte ich nach einer Tafel<br />
zur Erinnerung an die Vertriebenen und Opfer des<br />
Nationalsozialismus. Lediglich eine kleine Tafel an<br />
der Außenmauer der Johannesgasse 4A, ehemals<br />
Standort der Radio Verkehrs AG (RAVAG), erinnert an<br />
die blutige Erstürmung des Gebäudes im Verlauf des<br />
NS-Putsches vom 25. Juli 1934. Das war alles. Meine<br />
Nachfragen und Recherchen ergaben dann, dass die<br />
Musikschule der Stadt Wien 1938 eine Gründung der<br />
Nazis war und daher keine Juden und Jüdinnen mehr<br />
zugelassen waren.<br />
Wie kam es zu dieser „Neugründung“?<br />
I Als ich den Auftrag zur Entstehungsgeschichte gegeben<br />
habe, stand das Projekt bereits in den Startlöchern:<br />
Unter der wissenschaftlichen Leitung von<br />
Universitätsprofessor Oliver Rathkolb und den Doktorinnen<br />
Susana Zapke und Julia Teresa Friehs war<br />
mit der Aufarbeitung schon begonnen worden. Dabei<br />
stellte sich heraus, dass die Nazis drei Vereine<br />
– das Neue Wiener Konservatorium, das Konservatorium<br />
für volkstümliche Musikpflege und das Wiener<br />
Volkskonservatorium – zwangsenteignet, die Vermögen<br />
konfisziert und berühmte jüdische Lehrende<br />
und Studierende vertrieben haben, unter anderen<br />
auch den Pianisten Paul Wittgenstein, der später in<br />
den USA berühmt wurde.<br />
Wie „nazifiziert“ man Musik?<br />
I Gute Frage. Diese neue Musikschule der Stadt Wien<br />
wurde in den Dienst der NS-Propaganda gestellt<br />
(siehe Infokasten), auf die politische Gefügigkeit des<br />
Lehrpersonals wurde akribisch geachtet. Nicht wenige<br />
gehörten zu den „verdienten“ Parteigenossen.<br />
Gab es eine Zäsur nach 1945?<br />
I Nach unseren Unterlagen gab es hier keine Bruch<br />
mit der NS-Geschichte, genauso wenig wie in ganz<br />
Österreich. Am Anfang begann man belastete Per-<br />
sonen auszuschließen. Nach kurzer Zeit klagte man<br />
hier, genau wie in der Justiz und auch anderswo,<br />
„dann hamma keine Beamte mehr“! Erst daraufhin<br />
wurde diese zynische Bezeichnung der „Minderbelasteten“<br />
erfunden. An der Musikschule wurde der<br />
Direktor ausgetauscht – und das war es.<br />
Zwei Drittel der Lehrenden sind weiter tätig gewesen.<br />
Man hat offensichtlich 1945 und danach keinen<br />
Anlass gesehen, eine Zäsur zu dokumentieren.<br />
Sie haben das 75-Jahr-Jubiläum 2020 zum Anlass genommen,<br />
die bisherige Forschungsarbeit, an der auch Experten<br />
und Expertinnen der MUK, des Kunsthistorischen und des<br />
Wien Museums beteiligt gewesen sind, zu dokumentieren.<br />
I Wir wollten das Buch Die Musikschule der Stadt Wien im<br />
Nationalsozialismus – Eine „ideologische Lehr- und Lerngemeinschaft“<br />
(Hollitzer Verlag) bereits 2020 präsentieren,<br />
aber die Pandemie verhinderte auch das.<br />
War eine Rückgabe von Vermögen aus den Vorläufer-Institutionen<br />
des MUK möglich?<br />
I Wir haben alles nachschauen lassen, aber bis jetzt<br />
stießen wir in der Bibliothek nur auf zwei kleine, völlig<br />
unauffällige Büchlein, die mit einer Widmung<br />
versehen waren, und das führte uns zu den Besitzern.<br />
Die Widmung des Autors Felix Weingartner an<br />
„Frl. Dr. Elsa Bienenfeld“ führte uns zu deren rechtmäßigen<br />
Erben. Bienenfeld, 1877 in Wien geboren,<br />
im Mai 1942 in Maly Trostinec ermordet, war eine<br />
bekannte Musikwissenschaftlerin. Unter anderem<br />
absolvierte sie eine private Ausbildung in Komposition<br />
und Musiktheorie bei Alexander von Zemlinsky<br />
und Arnold Schönberg. Sie promovierte 1903<br />
als erste österreichische Absolventin im Fach Musikwissenschaft.<br />
Wo haben Sie ihre Verwandten entdeckt?<br />
MUSIKBILDUNG FÜR DAS „BREITE VOLK“<br />
S. Zapke, O. Rathkolb,<br />
K. Raminger, J. T.<br />
Friehs, M. Wladika<br />
(Hg.): Die Musikschule<br />
der Stadt Wien im<br />
Nationalsozialismus.<br />
Hollitzer 2020,<br />
296 S., € 40<br />
Bereits am 2. Mai 1945 erfolgte die Eröffnung des Konservatoriums der Stadt Wien als Nachfolgerin<br />
der von den Nazis 1938 gegründeten „Hauptanstalt der Musikschulen der Stadt Wien“.<br />
Als dessen neuer Direktor wurde Dr. Wilhelm Fischer (1886–1962) als NS-Opfer vorgestellt, die<br />
Geschichte der Lehranstalt in der NS-Zeit und die Umstände ihrer Gründung und der Nachwirkungen<br />
blieben aber völlig im Dunkeln.<br />
Fischer war im April 1938 als Jude zwangsweise pensioniert worden und wurde bis 1945 in einer<br />
Metallfabrik als Zwangsarbeiter eingesetzt. Seine Schwester wurde in Auschwitz ermordet, seine<br />
85-jährige Mutter verstarb nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in einem Notquartier.<br />
Verschwiegen wurde nach 1945 auch, dass der temporäre NS-Gauleiter von Wien Odile Globocnik<br />
(1904–1945), der spätere „Schlächter von Lublin“, die Zwangsschließung der drei Musikinstitute<br />
bereits zwischen 1934 und 1938 veranlasste und ausschließlich NSDAP-Mitglieder als Lehrpersonal<br />
einsetzte. Schnell wurde klar, dass die neue Musikschule der Stadt Wien mit den „streng<br />
weltanschaulich gerichteten Musikschulen der Hitlerjugend und ‚Kraft durch Freude‘-Musikschulen“<br />
zusammenarbeiten sollte. Der politische Auftrag lautete: „Es geht nicht um die Ausbildung<br />
einiger besonders Begabter und die damit verbundenen Spitzenleistungen. Die Tonkunst soll nun<br />
wieder eine die weitesten Kreise des Volkes umfassende Kunstpflege werden.“<br />
wına-magazin.at<br />
13<br />
feb22.indb 13 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:31
DR. ANDREAS MAILATH-<br />
POKORNY<br />
(Jahrgang 1959) ist promovierter<br />
Jurist. Sein Diplom für International<br />
Relations erlangte er am Bologna<br />
Center der Johns Hopkins University.<br />
Die berufliche Karriere startete Mailath-Pokorny<br />
im diplomatischen Dienst<br />
des Außenamtes. Von 1988 bis 1996<br />
war er im Kabinett des österreichischen<br />
Bundeskanzlers Franz Vranitzky<br />
– zuletzt als Büroleiter – tätig. Danach<br />
leitete er bis 2001 die Kunstsektion im<br />
Bundeskanzleramt und wechselte in<br />
der Folge in die Wiener Stadtregierung<br />
als Stadtrat für Kultur und Wissenschaft.<br />
Ab 2015 kamen die Bereiche<br />
Sport, Information und Informationsund<br />
Kommunikationstechnik dazu.<br />
„Den Heldenplatz<br />
positiv<br />
besetzen und<br />
die Freude über<br />
die Befreiung<br />
1945 öffentlich<br />
zu manifestieren.“<br />
I Zuerst fanden wir den Verweis auf eine Familie<br />
Blauhorn, die in der Grinzinger Allee in Wien gewohnt<br />
hatte. Deren Nachfahren entdeckten wir in<br />
London: Susie Deyong ist die Erbin dieser „musikalischen<br />
Abhandlung“. Wir wollten Frau Deyong das<br />
Büchlein persönlich bei der verschobenen Jubiläumsfeier<br />
im MUK überreichen. Es hat sich mit ihr<br />
und ihrem Sohn eine nette Freundschaft entwickelt,<br />
und die ganze Familie wird bei nächster Gelegenheit<br />
nach Wien kommen. Inzwischen sind sie alle österreichische<br />
Staatsbürger nach dem neuen Gesetz, wofür<br />
wir in der Stadt so lange gekämpft haben.<br />
Das Online-Gedenkbuch zur Erinnerung an Lehrende und<br />
Studierende, die unter dem NS-Regime verfolgt wurden,<br />
wird in Kürze freigeschaltet?<br />
I Da wollen wir alle Namen auflisten, in der Hoffnung<br />
auf neue Eingaben und zahlreiche Ergänzungen.<br />
Bei der Forschung und Restitution sind wir ja<br />
zumeist auch auf Zufälligkeiten angewiesen, wir nutzen<br />
damit die Grundidee des World Wide Webs in<br />
der Hoffnung, dass Menschen in aller Welt noch fehlende<br />
Puzzles eingeben. Das funktioniert nach dem<br />
Wikipedia-Prinzip.<br />
Seit 2011 sind Sie auch Präsident des Bunds Sozialistischer<br />
AkademikerInnen (BSA). Als SPÖ-Finanzstadtrat Sepp Rieder<br />
und Innenminister Caspar Einem im Jahr 2002 die Rolle<br />
des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger<br />
Nationalsozialisten nach 1945 schonungslos aufarbeiten<br />
wollten, hatten sie noch mit starkem Widerstand in der<br />
SPÖ und im BSA zu kämpfen. Sie machen das jetzt mit dem<br />
MUK, wie wird das insgesamt aufgenommen?<br />
I Bei diesem Thema hat sich wahnsinnig viel verändert.<br />
Die Erinnerungskultur ist mittlerweile lückenlos<br />
positiv besetzt.<br />
Verstehen das die Studierenden aus aller Welt auch?<br />
I Von je weiter entfernt sie kommen, umso weniger<br />
ist es ein Thema. Ich habe auch eine kleine Vorlesung,<br />
bei der ich versuche, politische Kulturgeschichte<br />
zu thematisieren: Auch wenn Studierende<br />
nur vier Jahre in Österreich sind, müssen sie sich mit<br />
der Kultur des Landes auseinandersetzen, nicht nur<br />
mit dem Instrument oder dem Fach, das sie erlernen.<br />
Ich sehe das auch als einen wichtigen Bestandteil<br />
einer Integrationsarbeit, dass man jungen Menschen<br />
vermittelt: Wenn ihr hier Teil des Kulturlebens<br />
sein wollt, dann müsst ihr auch unsere Geschichte<br />
kennen, denn dieses dunkle Kapitel ist ein Teil unserer<br />
Identitäten.<br />
Rektor Andreas Mailath-Pokorny im<br />
Interview mit Autorin Marta S. Halpert.<br />
Sie haben als Wiener Stadtrat von 2001 bis 2018 die Erinnerungskultur<br />
in der Stadt vorangetrieben. Nur einige Beispiele:<br />
die Einführung eines Festes der Freude am 8. Mai,<br />
die Restitution von über 30.000 Kunstobjekten. Zahlreiche<br />
Denk- und Mahnmale gehen auf Ihre Initiative zurück, z. B.<br />
das Deserteursdenkmal, Spiegelgrund, Aspangbahnhof.<br />
Zusatztafeln bei Straßenschildern, die Umbenennung des<br />
Lueger-Rings und die Sanierung jüdischer Friedhöfe. Immer<br />
wieder heißt es, die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />
ist erstarrt, nur wenige Zeitzeugen der Schoah leben noch.<br />
Bedeutet das den Schlussstrich unter dieses Thema? Auch<br />
für Sie?<br />
I Das Fest der Freude ist mir heute fast das wichtigste<br />
Symbol, denn es bedeutet nicht nur, gegen einen<br />
faschistischen Trauermarsch zu demonstrieren,<br />
sondern etwas Aktives dagegen zu tun: den Heldenplatz<br />
positiv zu besetzen und die Freude über die Befreiung<br />
1945 öffentlich zu manifestieren. Insbesondere<br />
angesichts der aktuellen Tatsache, dass man<br />
von Menschen vereinnahmt wird, die behaupten,<br />
sie seien die Mehrheit, aber für die Stadt nichts Gutes<br />
wollen.<br />
Apropos Schlussstrich: Das Gedenken darf nicht<br />
in einem Ritus erstarren, deshalb müssen wir zu<br />
Menschen gelangen, die mit dem Thema wenig Berührung<br />
haben. Jedes Jahr entsteht eine neue Generation,<br />
und deshalb reicht es nicht, dass nur wir uns<br />
erinnern, unter uns bleiben. Es bringt nichts, wenn<br />
wir uns freuen, einander bei diesen Veranstaltungen<br />
wieder zu treffen. Natürlich fehlen uns die Zeitzeugen<br />
jetzt schon, sie sind das emotionalste Element<br />
bei der Erinnerung. Aber es geht ja um grundlegendere<br />
Fragen, nämlich was ist Aufklärung, was sind<br />
objektive Tatsachen, und was ist erfunden. All diese<br />
Dinge muss man permanent vermitteln, ohne besserwisserisch<br />
zu sein, aber schon auch mit einer gewissen<br />
Autorität.<br />
Was meinen Sie damit?<br />
I Sich von Gewalt und Aggressivität zurückdrängen<br />
zu lassen, finde ich nicht richtig. Staatliche Autorität<br />
ist schon dafür einzusetzen, wofür sie eigentlich<br />
da ist, und klar zu sagen, was Sache ist. Das ist eine<br />
Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen.<br />
Ich versuche den jungen Menschen laufend zu<br />
vermitteln, dass sie gerade als Künstler und Künstlerinnen<br />
nicht isoliert leben, sondern Teil einer Gesellschaft<br />
sind, und über der Musik und Kunst ist es besonders<br />
wichtig, kritisches Bewusstsein zu schaffen.<br />
14 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 14 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:35
Abraham-Abkommen<br />
Frachtflugzeuge<br />
für den Golf<br />
© IAI<br />
Vor wenigen Jahren wäre es noch undenkbar<br />
gewesen: IAI, Israel Aircraft<br />
Industries, hat einen prestigeträchtigen<br />
Auftrag von einem arabischen<br />
Kunden erhalten. Ab 2023 wird das Unternehmen<br />
zunächst vier Boeing-Großraumflugzeuge<br />
des Typs 777 zu Frachtfliegern<br />
umbauen. Das berichtet das Fachmagazin<br />
für Luft- und Raumfahrt<br />
Flug Revue in seiner<br />
jüngsten Ausgabe.<br />
Der Auftraggeber ist<br />
die Sky-Cargo-Tochter<br />
einer der weltweit<br />
größten Fluglinien,<br />
Emirates. Diese gehört<br />
dem Emirat Dubai.<br />
Der komplexe Umbau<br />
wird in einer Werft von<br />
Etihad in Abu Dhabi<br />
durchgeführt, mit israelischen<br />
und arabischen<br />
Technikern Seite<br />
an Seite.<br />
Der politische Hintergrund<br />
für derartige<br />
wirtschaftliche Möglichkeiten<br />
ist das so genannte Abraham-<br />
Abkommen. Mit diesem wurden im Herbst<br />
2020 volle diplomatische Beziehungen zunächst<br />
mit den Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten aufgenommen, dann auch mit<br />
Bahrain, dem Sudan und Marokko.<br />
Was wird bei derartigen Umbauten<br />
konkret gemacht? Die Konversion vom<br />
Passagier- zum Frachtflugzeug beginnt<br />
damit, eine große seitliche Tür aus dem<br />
Rumpf herauszuschneiden, im Gegenzug<br />
erfolgen zusätzliche Verstärkungen der<br />
Struktur, auch ein neuer Ladeboden wird<br />
eingezogen. Die Fenster verschwinden,<br />
hinter den beiden Piloten gibt es dann<br />
noch einen Ruheraum mit Bett und WC<br />
sowie eine kleine Reisebox mit Sitzen für<br />
mitfliegende Lademeister oder Kuriere.<br />
Der Umbau erfordert neue Typisierungen<br />
IAI, Israel Aircraft Industries,<br />
ist eines der ersten Hightech-Unternehmen,<br />
das von<br />
der jüngsten Annäherung an<br />
mehrere arabische Staaten<br />
profitiert.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Der Prototyp des neuen BB777-300ER.<br />
Eine große seitliche Tür wird aus dem Rumpf<br />
geschnitten, ein neuer Ladeboden wird eingezogen<br />
und die Fenster verschwinden.<br />
Probleme bei<br />
internationalen<br />
Lieferketten führen<br />
dazu, dass wichtige<br />
Bauteile oder Komponenten<br />
in der Luft<br />
transportiert werden,<br />
wenn es Verzögerungen<br />
bei Containerschiffen<br />
gibt.<br />
bei den Luftfahrtbehörden vor Ort, aber<br />
auch in den USA und in Europa.<br />
Die Covid-19-Krise sollte dieses Geschäft<br />
weltweit kräftig anschieben: Trotz<br />
teils dramatischer Einbrüche am Reisemarkt<br />
hat die Nachfrage nach Frachtkapazitäten<br />
nicht nachgelassen, im Gegenteil.<br />
Probleme bei internationalen Lieferketten<br />
führen dazu, dass wichtige<br />
Bauteile oder Komponenten<br />
in der Luft transportiert<br />
werden, wenn es<br />
Verzögerungen bei Containerschiffen<br />
gibt.<br />
IAI hat auf diesem<br />
Spezialgebiet eine Erfahrung<br />
von vielen Jahren.<br />
Bisher wurden von dem<br />
Unternehmen mehr als<br />
250 solcher Umbauten<br />
durchgeführt, vor allem<br />
der gängigen Boeing-Typen<br />
737, 747 und 767. Die<br />
mächtige 777, mit 850 verkauften<br />
Exemplaren eines<br />
der erfolgreichsten Großraumflugzeuge,<br />
wurde<br />
erst seit Kurzem in dieses Programm aufgenommen.<br />
Bei den bisherigen Aufträgen<br />
spielte die Zusammenarbeit mit internationalen<br />
Flugzeug-Leasingunternehmen<br />
die tragende Rolle. Das ist vor allem die<br />
niederländische AerCap, seit der Verschmelzung<br />
mit GE Capital Aviation Services<br />
(GECAS) einer der weltweit größten<br />
Vermieter von Jets.<br />
Doch auch die vier fix vereinbarten<br />
Umbauten in Abu Dhabi sollen nicht die<br />
einzigen bleiben. Beide Partner – IAI wie<br />
der lokale Werftbetreiber Etihad – geben<br />
sich optimistisch, dass es großes Potenzial<br />
für Folgegeschäfte gebe. Darüber hinaus<br />
liefert Israel den Emiraten inzwischen bereits<br />
auch Militärtechnologie, etwa Drohnenabwehrsysteme.<br />
Das wurde bei der<br />
letzten Dubai Air Show bekannt.<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
feb22.indb 15 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:35
INTERVIEW MIT BENJAMIN NÄGELE<br />
Keim der Hoffnung<br />
Ende 2021 besuchte eine Delegation des Jewish<br />
Diplomatic Corps des World Jewish Congress die Vereinigten<br />
Arabischen Emirate. Mit der Normalisierung der Beziehungen<br />
zwischen Israel und den Emiraten wird auch der Umgang mit<br />
der jüdischen Welt neu gestaltet. Ein Gespräch mit<br />
IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele über<br />
seine Eindrücke dieser Reise.<br />
Interview: Von Alexia Weiss<br />
WINA: 2020 wurde zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten ein Friedensvertrag unterzeichnet. Nun<br />
bereiste das Jewish Diplomatic Corps, dem Sie angehören,<br />
Abu Dhabi und Dubai. Wie ist das politisch zu bewerten?<br />
Benjamin Nägele: Dieses Friedensabkommens war<br />
die Grundlage und der Beweggrund unserer Delegationsreise.<br />
Man betritt Neuland, indem man Beziehungen<br />
mit Ländern aus einer Region wiederaufleben<br />
lässt, in der es lange ein Spannungsfeld mit<br />
Israel und damit vermeintlich auch ein Spannungsfeld<br />
mit der jüdischen Welt insgesamt gab. Und nun<br />
wird ausgelotet, welche Auswirkungen die normalisierten<br />
Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten eben auch auf die Beziehungen<br />
zur jüdischen Welt bringen könnten.<br />
„Nun wird<br />
ausgelotet,<br />
welche Auswirkungen<br />
die<br />
normalisierten<br />
Beziehungen<br />
zwischen Israel<br />
und den<br />
Vereinigten<br />
Arabischen<br />
Emiraten eben<br />
auch auf die<br />
Beziehungen<br />
zur jüdischen<br />
Welt bringen<br />
könnten.“<br />
Benjamin Nägele<br />
Was hat Sie bei dieser Reise am meisten überrascht?<br />
I Es hat mich vieles positiv überrascht: zum einen,<br />
dass einige meiner Vorstellungen von dieser Region<br />
teilweise auf falschen Annahmen beruhten, wie eben<br />
dem Spannungsfeld mit Israel, aber auch den Erfahrungen<br />
mit islamistischem Terror, der aus Teilen<br />
der Region gefördert wird und der auch in Europa<br />
steigt, sowie dem alltäglichen Antisemitismus,<br />
dem Juden auch in Wien begegnen. Und andererseits<br />
dann zu sehen, wie sicher eine jüdische Gemeinde<br />
gerade in dieser Region leben kann, aber auch, wie<br />
warm und herzlich unsere Delegation empfangen<br />
wurde. Ich habe schon an vielen ähnlichen Delegationen<br />
teilgenommen, es aber noch nie erlebt, dass<br />
sich hier 40 Personen, die auch als jüdisch erkennbar<br />
sind, eine ganze Woche ohne jegliche Security<br />
bewegen können. Es war schön zu sehen, dass das<br />
ausgerechnet in einem arabischen Land und in dieser<br />
Region möglich ist, und eine traurige Erkenntnis,<br />
dass das in Europa und auch im eigenen Land<br />
nicht mehr möglich ist.<br />
Und wie sicher fühlt man sich, wenn man allein etwa in Dubai<br />
auf der Straße unterwegs ist und Kippa trägt?<br />
I Zu 100 Prozent sicher. Es gibt kaum einen anderen<br />
Ort, an dem ich mich mit Kippa so sicher gefühlt<br />
habe. Das hat mich persönlich selbst überrascht. Wir<br />
hatten auch eine Führung durch den Shuk, und immer<br />
wieder kamen Jugendliche, die offensichtlich<br />
Locals waren, die einfach nur gelächelt haben, gewunken<br />
und „Shalom“ gerufen. Die Sicherheit ist in<br />
den Emiraten grundsätzlich sehr hoch, aber auch,<br />
wenn man als jüdische Person wahrgenommen wird,<br />
wird man willkommen geheißen, in jedem Kontext,<br />
ob das nun bei Treffen mit Ministern, NGOs oder<br />
auch im privaten Rahmen ist. Es gab ausnahmslos<br />
positives Feedback.<br />
Was waren die wichtigsten Zusammenkünfte auf politischer<br />
und diplomatischer Ebene?<br />
I Für mich persönlich war es das Zusammentreffen<br />
mit der jüdischen Gemeinde, die sich gerade konstituiert<br />
und ihre Strukturen aufbaut. Darüber hinaus<br />
sehr beeindruckend und informativ waren auch<br />
die Termine mit ranghohen Politikern und Ministern,<br />
etwa dem Handelsminister Tani Al Zeyoudi. Wir haben<br />
aber auch ein Mitglied der Königsfamilie kennenlernen<br />
dürfen, Scheich Nahyan bin Mubarak Al Nahyan,<br />
der Minister für Toleranz und Koexistenz ist. Dass es<br />
für diesen Bereich einen Minister gibt, zeigt auch, welchen<br />
Stellenwert dieses Thema hat. Das Interesse am<br />
Gegenüber und der gezeigte Respekt gehen hier spürbar<br />
über die Förmlichkeit der diplomatischen Gastfreundschaft<br />
hinaus.<br />
16 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 16 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:36
Erfolgreiches Friedensabkommen<br />
Vor der Sheikh Zayed<br />
Grand Moschee in Abu<br />
Dhabi: Benjamin Nägele bei<br />
der Delegationsreise in den<br />
Emiraten.<br />
Sie haben auch die jüdische Gemeinde in Dubai besucht. Wie<br />
sehen die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten aus?<br />
I Grundsätzlich muss man sagen, dass die Toleranz<br />
gegenüber anderen Religionen und Kulturen groß<br />
ist. In Abu Dhabi wird derzeit das Abrahamic Family<br />
House errichtet, ein Gebäudekomplex, in dem eine<br />
Synagoge, eine Kirche und eine Moschee in selber<br />
Größe nebeneinander gebaut werden. Das empfand<br />
ich als stellvertretend für das, was dieses Land heute<br />
repräsentiert: Toleranz.<br />
Was die jüdische Gemeinde betrifft: Es haben<br />
auch vor Unterzeichnung des Friedensvertrags mit<br />
Israel schon einige Israelis dort gelebt, das waren<br />
aber nur Menschen mit einer Doppelstaatsbürgerschaft<br />
und das Praktizieren des Judentums war<br />
nur im Privaten möglich. Nun aber institutionalisiert<br />
sich da eine jüdische Gemeinde, die mittlerweile<br />
auch Teil des World Jewish Congress ist, einen<br />
Minjan hat und regelmäßig einen Schabbat-G-ttesdienst<br />
macht. Es gibt bereits ein koscheres Catering,<br />
und der Aufbau einer koscheren Infrastruktur wird<br />
auch staatlich gefördert. Es ist sehr bewegend zu sehen,<br />
wie da eine neue Gemeinde entsteht. Und ich<br />
hoffe, dass es in Zukunft auch zu einem engen Austausch<br />
mit der jüdischen Gemeinde Wien kommt.<br />
Neuland betreten: Delegationsreise<br />
der World Jewish Congress<br />
in Dubai und den Vereinigten<br />
Arabischen Emirate nach dem<br />
hististorischen Friedensabkommen<br />
2020: Besuch des Israel Pavillon<br />
auf der EXPO in Dubai (o. li.); die<br />
Königsfamilie und Scheich Nahayan<br />
Mabarak Al Nahayan, Minister<br />
für Toleranz, im Austausch mit der<br />
Delegation (o. re.); der Staatsminister<br />
für Außenhandel Thani bin<br />
Ahmed Al Zeyoudi im Gespräch (u.).<br />
Was lässt sich aus diesen nun intensivierten Beziehungen mit<br />
einem arabischen Staat für die Beziehungen mit anderen arabischen<br />
beziehungsweise muslimisch geprägten Ländern aus<br />
jüdischer Sicht lernen?<br />
I Einerseits, dass Frieden möglich ist, egal, in welchem<br />
Spannungsverhältnis die Länder in den Jahrzehnten<br />
zuvor waren. Es nährt aber auch die Hoffnung, dass<br />
das ein Gamechanger zum Positiven in der gesamten<br />
Region ist. Auch andere Länder in der Region finden<br />
wieder zu Beziehungen mit Israel, man besinnt sich zurück<br />
auf das Gros an Gemeinsamkeiten, die viel größer<br />
sind als die Kleinigkeiten, die zu Spannungen führen.<br />
Schön wäre, wenn dadurch das Judentum, das es<br />
in der Geschichte in der gesamten Region gab, wieder<br />
aufleben würde.<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
feb22.indb 17 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:36
Der Erschaffung unserer Welt gedenken<br />
Plastik & Judentum<br />
Die Recycling-Container der israelischen Städte sind überfüllt<br />
mit Plastik, aber auch an den Stränden und Spazierwegen<br />
im Land türmen sich die Plastikabfälle. Nun soll eine<br />
umstrittene Steuer auf Wegwerfgeschirr Abhilfe schaffen.<br />
Doch was sagen die alten jüdischen Schriften zum Thema<br />
Naturschutz?<br />
Von Daniela Segenreich-Horsky<br />
gruppe für Wegwerfgeschirr bilden. Viele<br />
der kinderreiche Familien behelfen sich<br />
regelmäßig bei Feiertags– und Schabbatmahlzeiten<br />
mit Plastiktellern und -bechern,<br />
um sich so das Leben ein wenig zu<br />
erleichtern. Das Umweltbewusstsein ist<br />
dabei oft etwas getrübt, oder, wie Rabbiner<br />
Benayahu Tavila es in einem Beitrag<br />
mit dem Titel Was ist unsere Pflicht gegenüber<br />
der Umwelt beschreibt: „Die Thora-Studienhallen<br />
befassen sich nicht mit diesen<br />
Themen [...]. Der durch das Plastik entstandene<br />
Schaden an der Umwelt entzieht<br />
sich unserem Blickfeld, das oft nicht über<br />
den Mistwagen, der die Abfälle abholt, hinausgeht.“<br />
Haben also die religiösen Texte gar keinen<br />
Bezug oder Standpunkt zum Thema<br />
Umwelt – ist der Naturschutz denn kein<br />
Imperativ oder sogar eine religiöse<br />
Pflicht? „Die jüdischen Schriften, wie die<br />
Thora und die Halacha sprechen sehr<br />
wohl über dieses Thema“, meint der Lehrer<br />
und Umweltaktivist aus Jerusalem und<br />
verweist auf die Bibel, wo es schon in der<br />
Genesis heißt, wir Menschen seien ein Teil<br />
der Welt und dürfen sie nicht zerstören.<br />
„Die Lebensweise in den charedischen Gemeinden<br />
belastet die Umwelt eigentlich<br />
kaum, die Leute leben bescheiden, reisen<br />
wenig, konsumieren nicht viel, haben<br />
meist keine Autos. Aber was den Verbrauch<br />
von Plastikgeschirr betrifft, da<br />
zeichnen wir uns nicht aus. Es fehlt in unserer<br />
religiösen Gemeinde an Bewusstsein<br />
„Die Lebensweise<br />
in den charedischen<br />
Gemeinden belastet<br />
die Umwelt eigentlich<br />
kaum, die Leute<br />
leben bescheiden,<br />
reisen wenig, konsumieren<br />
nicht viel,<br />
haben meist keine<br />
Autos. Aber was den<br />
Verbrauch von<br />
Plastikgeschirr betrifft,<br />
da zeichnen<br />
wir uns nicht aus.“<br />
Rabbiner<br />
Benayahu Tavila<br />
Israel ist einer der westlichen<br />
Staaten mit den höchsten Abfallquoten.<br />
Mit der neuen Besteuerung<br />
von Plastikgeschirr will das<br />
Ministerium für Umweltschutz<br />
nun eine Umerziehung der Konsumenten<br />
und damit ein Einbremsen im<br />
Verbrauch dieser so umweltschädlichen<br />
Materialien bewirken. Naturgemäß rief<br />
diese Entscheidung bei Herstellern und<br />
Vertrieben Unmut hervor. Einige große<br />
Plastikhersteller bevorzugen andere Lösungen,<br />
wie zum Beispiel die vermehrte<br />
Wiederverwertung ihrer Produkte. Takeaway–Unternehmen<br />
sind ratlos und berufen<br />
sich auf die nötige Hygiene, die ihrer<br />
Meinung nach im heißen israelischen<br />
Klima und noch dazu in der Zeit von Corona<br />
mit herkömmlichen Gläsern nicht<br />
gewährleistet ist. Die Idee der Besteuerung<br />
sei vielleicht ein Schritt in die richtige<br />
Richtung, aber nicht genug durchdacht,<br />
lautet der allgemeine Konsens der<br />
betroffenen Branchen. Da bräuchte es<br />
noch zusätzliche Maßnahmen, wie etwa<br />
Erziehung und Recycling. Im Moment<br />
erschwere die Abgabe den weniger zahlungsstarken<br />
Konsumenten den Kauf von<br />
Wegwerfgeschirr, während die besser Betuchten<br />
weiterhin im Verbrauch von Plastiktellern<br />
schwelgen können.<br />
Ein empörter Aufschrei über die durch<br />
die Steuer entstandene Verteuerung kam<br />
auch von Konsumenten aus den religiösen<br />
Communitys, die eine wichtige Zielfür<br />
den Umweltschutz. Die Menschen,<br />
sind damit beschäftigt, durch den Tag zu<br />
kommen, und verlassen sich, was größere<br />
Themen wie die Natur betrifft, auf unseren<br />
Schöpfer – ‚der wird sich schon um die<br />
Welt kümmern.‘“<br />
„Die Reformbewegung in Israel hat sich<br />
schon immer mit diesem Thema auseinandergesetzt,<br />
zum Teil auch deswegen,<br />
weil sie sehr mit der Kibbuzbewegung verbunden<br />
ist“, erklärt hingegen Rabbiner<br />
Golan Ben-Chorin. Dabei würden auch<br />
die Texte mehr in ihrer wörtlichen Bedeutung<br />
verstanden, und da gäbe es sehr<br />
© 123RF; Flash 90/Yonatan Sindel<br />
18 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 18 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:37
Nachhaltig und religiös<br />
Wegwerfgesellschaft. Eine<br />
Sondersteuer soll gegen Plastikberge<br />
in Israel Abhilfe schaffen.<br />
© 123RF; Flash 90/Yonatan Sindel<br />
alle sieben Jahre ruhen und darf nicht bebaut<br />
werden. Was dann dennoch auf den<br />
Feldern wächst, wird den Armen überlassen.<br />
Mit dieser Auszeit soll eine Ausbeutung<br />
des Bodens verhindert und gleichzeitig<br />
ein soziales Anliegen erfüllt werden.<br />
Damit ist die Schmitta eine wichtige religiöse<br />
Vorschrift, um die Erde und ihre Ressourcen<br />
zu bewahren. „Im übertragenen<br />
Sinn stellt sich damit für jeden von uns<br />
auch die Frage, worauf er oder sie persönlich<br />
in seinem Leben verzichten kann, um<br />
in besserer Harmonie mit der Natur zu leben“,<br />
fügt Ben-Chorin noch als weitere Interpretation<br />
hinzu.<br />
Der Rabbiner, der sich auch als „spiritueller<br />
Entrepreneur“ bezeichnet, bewerviele<br />
Hinweise zur Bewahrung und Schätzung<br />
der Natur: „Da heißt es schon in Beresheet<br />
(Genesis), ‚Gedenkt der Erschaffung<br />
unserer Welt.‘ Und während diese Worte<br />
am Freitagabend beim Kiddusch gesprochen<br />
werden, sitzt dann oft eine Familie<br />
mit 13 Kindern vor mindestens 15 Sets von<br />
Plastiktellern.“<br />
Synagoge im Grünen. Natürlich müsse jeder<br />
seine persönlichen Entscheidungen<br />
zum Thema Konsum und Umweltschonung<br />
treffen, meint der Rabbiner. Er<br />
selbst fühlt sich der Natur verbunden und<br />
verpflichtet. Er hat noch vor über einem<br />
Jahrzehnt in Rosh Pina im Norden Israels<br />
eine „Synagoge im Grünen“ gegründet, einen<br />
ökologischen Garten, in dem die Betenden<br />
der Natur und auch den Naturphänomenen,<br />
die in den religiösen Texten<br />
beschrieben werden, näher sein können.<br />
Und weil wir seiner Meinung nach<br />
alle einfach Menschen sind – ohne Grenzen,<br />
hielt er dort auch oft G-ttesdienste gemeinsam<br />
mit christlichen oder muslimischen<br />
Gemeinden ab.<br />
Stolz verweist Ben-Chorin auch auf den<br />
Tu-Bishvat Seder, die Mahlzeit zum Neujahrsfest<br />
der Bäume, der in seiner Gemeinde<br />
dieses Jahr wieder ganz im Zeichen<br />
der Natur stand. Und er betont die<br />
Aktualität des Schmitta-Jahres, das gerade<br />
begonnen hat, und die Wichtigkeit<br />
dieser Einrichtung für die Umwelt. Dabei<br />
soll laut der religiösen Gesetze die Erde<br />
„Da heißt es schon<br />
in Beresheet (Genesis),<br />
‚Gedenkt der<br />
Erschaffung unserer<br />
Welt.‘ Und während<br />
diese Worte am Freitagabend<br />
beim Kiddusch<br />
gesprochen<br />
werden, sitzt dann<br />
oft eine Familie mit<br />
13 Kindern vor mindestens<br />
15 Sets von<br />
Plastiktellern.“<br />
Rabbiner<br />
Golan Ben-Chorin<br />
tet die Erziehung zum Umweltschutz und<br />
gegen unnötigen Konsum als sehr wichtig<br />
und hat auch bei seiner eigenen Familie<br />
immer grossen Wert darauf gelegt. So<br />
gäbe es bei ihm zuhause beispielsweise<br />
keinen Fernseher, „um nicht noch einen<br />
unnötigen Bildschirm zu kaufen“. Sein<br />
Sohn habe sich dann dennoch einen gewünscht,<br />
lebe aber seinen Bezug zur Umwelt<br />
auf andere Art: Er verwendet kein<br />
Plastik und schuf am Anfang der Corona-<br />
Epidemie mit recycelten Möbeln und Accessoires<br />
am Rande der Carmel-Wälder<br />
neben Haifa einen „gemütlichen Ort im<br />
Grünen“ für sich und seine Freunde, aber<br />
auch für jeden Vorbeikommenden, der<br />
dort verweilen wollte.<br />
Für die traditionelleren Gemeinden<br />
hingegen sieht der orthodoxe Rabbiner<br />
Benayahu Tavila den Zugang nicht so<br />
sehr in der Erziehung zum Naturschutz,<br />
sondern in einem verstärkten Umweltbezug<br />
über die religiösen Texte: „Bei vielen<br />
Charedim gibt es großes Misstrauen den<br />
Wissenschaften gegenüber, Wissenschaft<br />
und Glaube vertragen sich nicht immer.<br />
Deswegen ist der wissenschaftlich belegte<br />
Zugang zum Umweltschutz in unseren<br />
Gemeinden nicht so erfolgreich.“<br />
Er setzt darauf, dass sich bei seiner Gemeinde<br />
durch den religiösen Aspekt, also<br />
durch vermehrte Diskussionen der relevanten<br />
Stellen in der Thora, vielleicht etwas<br />
in Richtung Bewusstsein für unsere<br />
Welt bewegen lässt.<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
feb22.indb 19 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:42
Brachzeiten<br />
Folgt man den Vorgaben der Tora,<br />
sollte sich der Mensch „die Erde<br />
nicht untertan machen, wie die<br />
archaische Bibelübersetzung<br />
nahe legen würde, sie also nicht beherrschen<br />
und schon gar nicht ausbeuten“,<br />
betont der Rabbiner. Jedes siebente Jahr<br />
soll daher auf dem Gebiet des biblischen<br />
Israel nichts aktiv auf den Feldern angepflanzt<br />
werden – nur was von selbst<br />
wächst, darf, wenn es gereift ist, auch<br />
geerntet und konsumiert werden.<br />
Brachzeiten kannte man übrigens<br />
sowohl in der antiken wie auch in der<br />
mittelalterlichen Landwirtschaft. Sie<br />
wurden eingesetzt, um dem Boden die<br />
Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Im<br />
Mittelalter war in Europa dabei die Dreifelderwirtschaft<br />
sehr verbreitet: Ein Drittel<br />
des Feldes wurde mit Wintergetreide<br />
wie Roggen oder Emmer, ein zweites<br />
Drittel mit Sommergetreide wie Hafer,<br />
Gerste oder Hirse bestellt. Und der dritte<br />
Teil des Feldes blieb vom Menschen unbepflanzt<br />
und diente oft als Viehweide.<br />
Es gab in der Vergangenheit allerdings<br />
auch im Land Israel Situationen, in denen<br />
es Rabbiner für nötig befanden, die<br />
Felder nicht ein Jahr brach liegen zu lassen:<br />
dann nämlich, wenn es auf Grund<br />
schlechter Ernten, etwa nach Dürren<br />
oder Unwettern, eine Hungersnot gab.<br />
Das war etwa im 19. Jahrhundert mehrmals<br />
der Fall.<br />
Argumentiert wurde dann mit Pikuach<br />
Nefesh – also der Rettung von Leben. Heter<br />
Mechira nennt man das Modell, bei<br />
dem das Land zunächst an Nichtjuden<br />
verkauft wird, damit es dann von diesen<br />
bestellt werden kann. Damit bleibt das<br />
hier Erwirtschaftete auch weiter koscher.<br />
Nach dem Schmitta-Jahr wird das Land<br />
wieder zurückgekauft. Das Prinzip erinnert<br />
an den Chametz-Verkauf zu Pessach<br />
– ist aber doch etwas völlig anderes, wie<br />
Rabbiner Hofmeister erklärt. „Heter Me-<br />
IM EINKLANG MIT<br />
NATUR & TORA<br />
5782 ist im landwirtschaftlichen Zyklus im Land<br />
Israel gemäß der Tora ein Schmitta-Jahr, also<br />
ein Brachjahr. Nicht alle Bauern folgen dieser<br />
Mitzwa, aber es werden immer mehr, wie<br />
Wiens Gemeinderabbiner Schlomo<br />
Hofmeister im Gespräch mit WINA erzählt.<br />
Andere greifen immer noch auf den Heter Mechira,<br />
ein Umgehungskonstrukt zurück. Im israelischen<br />
Landwirtschaftsministerium setzt man<br />
inzwischen auf neue Technologien, um einen<br />
Anbau ohne Erde zu ermöglichen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
chira dient einzig und allein dazu, das<br />
Gebot des Schmitta-Jahres zu umgehen.“<br />
Bis heute wird allerdings in Israel von<br />
vielen weiterhin das Brachjahr durch Inanspruchnahme<br />
von Heter Mechira vermieden.<br />
Gerne beruft man sich dabei<br />
auf Rabbiner Avraham Kook, der 1930<br />
anlässlich einer neuerlichen Hungersnot<br />
zustimmte, das Brachjahr ausfallen<br />
zu lassen. Er formulierte dafür allerdings<br />
zwei Bedingungen: Heter Mechira dürfe<br />
praktiziert werden, weil Eretz Israel nicht<br />
von Juden regiert werde und weil die jüdische<br />
Bevölkerung eine Minderheit darstelle.<br />
Sollte sich eines von beiden ändern<br />
– was mit der Staatsgründung der Fall war<br />
– sollte seinem Verständnis nach Heter<br />
Mechira nicht mehr funktionieren, um<br />
den Toravorgaben zum landwirtschaftlichen<br />
Zyklus zu entgehen.<br />
Zuletzt gebe es allerdings immer mehr<br />
Stadtrabbinate, die wieder zum Modell<br />
des Brachjahres zurückkehren, erzählt<br />
Rabbiner Hofmeister. Alle sieben Jahre<br />
würden es mehr und mehr Bauern, die<br />
Landwirtschaft wieder nach den Regeln<br />
der Tora betreiben. Wie viele es tatsächlich<br />
sind, lässt sich allerdings schwer eruieren.<br />
Das israelische Landwirtschaftsministerium<br />
blieb der diesbezüglichen<br />
Anfrage von WINA leider über mehrere<br />
Wochen und bis zum Redaktionsschluss<br />
eine Antwort schuldig und verwies ledig-<br />
20 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 20 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:43
Jedes siebente Jahr<br />
an die Vorgaben der Tora halten möchten,<br />
sowie Bauern, die Landwirtschaft<br />
aus Umwelt- und Klimaschutzgründen<br />
möglichst ursprünglich betreiben<br />
möchten. So würden seit der Jahrtausendwende<br />
alle sieben Jahre eben immer<br />
mehr Farmer ein Brachjahr einlegen.<br />
Mit durchaus guten Erfahrungen, wie<br />
Rabbiner Hofmeister betont: „Einerlich<br />
auf die allgemeinen statistischen Daten<br />
zum Ackerbau im Land.<br />
Sammeln für das Schmitta-Jahr. Dafür unterstrich<br />
man im Ministerium Bemühungen,<br />
gerade im heurigen Brachjahr<br />
alternative Anbauweisen, die ohne Erde<br />
auskommen, zu fördern. Sieben Millionen<br />
Schekel (knapp zwei Millionen Euro)<br />
stehen zur Verfügung, um etwa erdlose<br />
Kulturverfahren in Gewächshäusern,<br />
die mit Nährlösungen arbeiten, zu unterstützen.<br />
Das helfe allerdings nach rabbinischer<br />
Meinung nichts, um den Toravorschriften<br />
von Schmitta zu entgehen,<br />
betont dazu Rabbiner Hofmeister<br />
Die traditionelle Unterstützung für<br />
Bauern, die sich an das Schmitta-Jahr<br />
halten, sieht ganz anders aus: Seit vielen<br />
Jahrhunderten wurde in der Diaspora<br />
für die Bauern in Eretz Israel Geld gesammelt.<br />
Seit dem 17. Jahrhundert seien<br />
solche Sammlungen bekannt, erzählt<br />
Rabbiner Hofmeister. Solche seien zum<br />
Beispiel aus der Zeit vor dem Holocaust<br />
auch aus burgenländischen Gemeinden<br />
überliefert. Spendenboxen wie früher<br />
gebe es heute zwar in Wien nicht mehr,<br />
„aber es gibt auch bei uns Spendenaufrufe<br />
zur Unterstützung der Schmitta“.<br />
Grundsätzlich kämen hier heute zwei<br />
Strömungen zusammen: jene von Teilen<br />
der Orthodoxie, die sich möglichst genau<br />
„Achtet darauf,<br />
meine Welt nicht zu<br />
beschädigen und<br />
zu zerstören, denn<br />
wenn ihr das tut,<br />
wird es niemanden<br />
geben, der sie<br />
reparieren wird!“<br />
Midrasch Kohelet Rabba 1<br />
seits gibt es eine große solidarische Unterstützung<br />
für diese Betriebe und Bauern.<br />
Es hat sich aber auch gezeigt, dass<br />
die Erträge in den darauffolgenden Jahren<br />
ausgiebiger waren.“ Das Schmitta-<br />
Jahr gilt übrigens nicht nur für Bauern,<br />
die vom Getreide- und Gemüseanbau leben.<br />
Auch wer privat in seinem Garten<br />
oder auch nur am Balkon Früchte, Gemüse,<br />
Blumen oder Grünpflanzen anbaut,<br />
muss sich an das Brachjahr halten<br />
– jedenfalls wenn er oder sie sich an die<br />
Tora hält.<br />
Viel wird dieser Tage über den Klimawandel<br />
und Naturkatastrophen berichtet.<br />
Rabbiner Hofmeister ist allerdings davon<br />
überzeugt, dass die Umwelt noch gerettet<br />
werden kann, wenn man die Dringlichkeit<br />
der Tora erkennt. „Achtet darauf,<br />
meine Welt nicht zu beschädigen und zu<br />
zerstören, denn wenn ihr das tut, wird<br />
es niemanden geben, der sie reparieren<br />
wird!“ (Midrasch Kohelet Rabba 1)<br />
© 123RF<br />
Hydroponischer Anbau: Erdlose Kulturverfahren<br />
in Gewächshäusern sind nach rabbinischer<br />
Meinung keine Lösung, um die Toravorschriften<br />
des Schmitta-Jahres zu umgehen.<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
feb22.indb 21 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:44
WINA KOMMENTAR<br />
Hightech-Alltag in Israel<br />
Silicon Wadi* – Hightech-Karriereparadies mit Büros in Google-Manier, Gemeinschaftsgefühl<br />
und Feierabendbier am Strand von Tel Aviv.<br />
ls ich kurz vor Beginn der Corona-Pandemie<br />
nach Israel kam, schien mir der Weg in die begehrte<br />
Hightech-Branche ohne IT-Abschluss<br />
sehr schwierig. Aus eigener Erfahrung kann<br />
ich nun sagen, dass der Einstieg mit der genügenden<br />
Motivation zur Weiterentwicklung<br />
und Onlinekurse durch-<br />
Von Itamar Gross<br />
aus möglich ist. Vor allem, wenn<br />
man deutschsprachig ist. Denn in Abteilungen wie Sales,<br />
Marketing und Kundendienst sowie im technischen<br />
Projektmanagement wird händeringend nach deutschsprachigem<br />
Personal gesucht.<br />
Selbst als Berufs- oder Quereinsteiger stehen Jobs vor<br />
allem in Customer-Support- und Sales-Abteilungen offen.<br />
Ich habe mich für Sales entschieden und musste<br />
durch ganze sieben Interviewrunden durch, bis ich die<br />
finale Zusage meiner ersten Hightech-Position erhielt.<br />
Neben beruflichen Fähigkeiten werden dabei auch weitere<br />
Aspekte wie etwa „cultural fit“ geprüft.<br />
An meinem ersten Tag im neuen Office verstand ich<br />
sofort, wieso sich das Warten gelohnt hat: Neben den<br />
im Vergleich zum israelischen Arbeitsmarkt überdurchschnittlich<br />
hohen Gehältern bieten Unternehmen dieser<br />
Art auch moderne Büros mit den neusten Technologien<br />
an. Bezahlte Team-Events, Billard- und Tischtennistische<br />
im Büro, ein privates Fitnessstudio, private Krankenversicherung<br />
und vieles mehr gehören hier zum Standard.<br />
Auch für Verstärkung ist gesorgt. Neben einer prall gefüllten<br />
Küche mit allem, was das Herz begehrt (vorbereitetes<br />
Frühstück und Abendessen, Obst, Gemüse, Naschereien,<br />
Sandwiche und professioneller Kaffeemaschine), erhalten<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusätzlich monatliches<br />
Mittagessensgeld (200 bis 300 Euro).<br />
Doch es sind nicht nur die Büros im „Google-Stil“, die<br />
die Arbeit in einem Hightech-Büro so attraktiv machen.<br />
Selbst als Unternehmen mit mehreren hundert oder tausend<br />
Mitarbeitern versucht man jedem Individuum das<br />
Gefühl zu gegeben, Teil einer größeren Idee zu sein. Flache<br />
Hierarchien, Transparenz in Bezug auf anstehende<br />
Unternehmensentscheidungen, die Möglichkeit mitzuwirken<br />
und mit dem Unternehmensgründer auch mal<br />
am Mittagessentisch zu plaudern, helfen, eine offene<br />
und inkludierende Atmosphäre zu schaffen.<br />
Das alles gibt es nicht geschenkt! Zu den Kriterien für<br />
den Erfolg eines Unternehmens gehören die Leistung<br />
und Moral der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Von<br />
einem Mitarbeiter eines Hightech-Unternehmens wird<br />
Erfolgseifer, Identifikation mit dem Produkt und die damit<br />
verbundenen Extrameilen erwartet. Daher braucht<br />
es eine gewisse Immunität für Leistungs- und Erfolgsdruck,<br />
denn schließlich stehen Unternehmen dieser Art<br />
auch wegen ihrer Mitarbeiter da, wo sie heute sind.<br />
Wer die Karriere nach dem<br />
Motto „work hard, play hard“<br />
aufbauen möchte, sollte die<br />
Möglichkeiten am Silicon Wadi<br />
nicht unbeachtet lassen.<br />
© 123RF<br />
Im Vergleich zu früheren Arbeitsstellen in Europa bin<br />
ich sehr froh, in der florierenden Hightech-Szene in Tel<br />
Aviv angekommen zu sein. Vor allem schätze ich die Möglichkeit,<br />
täglich mit kreativen und klugen Köpfen zusammenzuarbeiten,<br />
und die für Israel bekannte offenchaotische<br />
Arbeitsatmosphäre.<br />
Ich kann jungen Uni-Absolventen, Young Professionals<br />
und Quereinsteigern wärmstens empfehlen, sich<br />
einmal mit dem israelischen Hightech-Arbeitsmarkt zu<br />
beschäftigen. Keine Hebräischkenntnisse zu haben, gilt<br />
hier nur als schwache Ausrede. In den internationalen<br />
Unternehmen wird meistens auf Englisch kommuniziert,<br />
weswegen Hebräischkenntnisse überhaupt nicht vorausgesetzt<br />
werden. Viel wichtiger sind gutes Englisch und<br />
weitere europäische Fremdsprachen, vor allem Deutsch<br />
und Französisch. Wer also seine Karriere nach dem Motto<br />
„work hard, play hard“ aufbauen möchte, sollte die Möglichkeiten<br />
des Silicon Wadi nicht unbeachtet lassen – nicht<br />
zuletzt wegen des Feierabendbiers bei Sonnenuntergang<br />
am Strand von Tel Aviv.<br />
* Als Silicon Wadi wird die an Hochtechnologieunternehmen dichte Küstenebene rund um Tel Aviv bezeichnet.<br />
22 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 22 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:44
HIGHLIGHTS | 02<br />
Ein bisserl Hohenems in Wien<br />
Seit 30 Jahren hat das Jüdische Museum<br />
Hohenems einen festen Platz<br />
in der österreichischen Museumslandschaft<br />
und setzt Akzente, die<br />
durch Kooperationen mit anderen<br />
Häusern über Vorarlberg hinauswirken.<br />
Ab sofort möchte das Museum<br />
noch regelmäßiger als bisher<br />
auch in Wien präsent sein. Einmal<br />
im Jahr soll daher von nun an eine<br />
Ausstellung aus Hohenems in der<br />
Bundeshauptstadt zu sehen sein.<br />
Den Anfang macht die Schau Die<br />
letzten Europäer. Jüdische Perspektiven<br />
auf die Krisen einer Idee, die seit<br />
21. Jänner im Volkskundemuseum<br />
in der Josefstadt zu sehen ist.<br />
Um so ein ehrgeiziges Projekt umzusetzen,<br />
ist jede Hilfe willkommen,<br />
und die haben das Vorarlberger Museum<br />
und sein Direktor Hanno Loewy<br />
bekommen: Ende 2021 konstituierten<br />
sich die Wiener Freunde des jüdischen<br />
Museums Hohenems. Ihnen gehören<br />
unter anderen Gertraud Auer B’orea<br />
d’Olmo, Generalsekretärin des Kreisky<br />
Forums, der frühere Wiener Kulturstadtrat<br />
Andreas Mailath-Pokorny, der Jurist<br />
Andreas Köb, Ulrike Kinz, Obfrau des<br />
Vereins Vorarlberger*innen in Wien, sowie<br />
die Kommunikationsexpertin Sonja<br />
Kato an. Die Gruppe hat sich vorgenommen,<br />
jedes Jahr 30.000 Euro an Spenden<br />
zu sammeln, um eine Schau aus Hohenems<br />
nach Wien zu bringen. Was man<br />
damit erreichen möchte? Für das Hohenemser<br />
Museum „ein Schaufenster in<br />
Wien“ schaffen, wie es Kato formuliert.<br />
Wofür Hanno Loewy sich über die<br />
Jahre einen Namen gemacht hat: mit seinen<br />
Ausstellungsprojekten aktuell gesellschaftspolitisch<br />
relevante Fragen zu<br />
stellen. Das ist ihm sowie den beiden Kuratorinnen<br />
Felicitas Heimann-Jelinek und<br />
Michaela Feurstein-Prasser auch mit der<br />
„Europäer“-Schau gelungen. Mehr als 75<br />
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
stehe vieles, das nach 1945 erreicht<br />
wurde, wieder zur Disposition, kritisiert<br />
Loewy. Konfrontiert seien wir heute mit<br />
© Dietmar Walser, Hohenems<br />
Nationalismus und neuer Abschottung.<br />
Der europäische Imperativ des „Niemals<br />
wieder!“ werde von vielen in Frage gestellt,<br />
auch in Österreich. Das „christlichjüdische<br />
Abendland“ werde bemüht, um<br />
gegen Zuwanderung aufzutreten. Und<br />
die Corona-Pandemie habe die Länder<br />
Europas statt näher aneinander weiter<br />
auseinandergebracht. Nationale Interessen<br />
würden gegen europäische ausgespielt.<br />
Die Schau Die letzten Europäer stellt<br />
jüdische Pioniere der europäischen Idee<br />
vor, darunter Persönlichkeiten wie den Juristen<br />
Hersch Lauterpracht, später Richter<br />
am Internationalen Gerichtshof in Den<br />
Haag, der die Terminologie „Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit“ entwickelt<br />
hat, den Schriftsteller Stefan Zweig, aber<br />
auch den späteren SPÖ-Bundeskanzler<br />
Bruno Kreisky. „Die Auswahl der vorgestellten<br />
Europäer und Europäerinnen erfolgte<br />
nach deren Einsatz für die – in unseren<br />
Augen – brennendsten Fragen im<br />
Prozess des europäischen Friedensprojekts<br />
und der Bildung der Europäischen<br />
Union, wie beispielsweise für die Ratifizierung<br />
der Europäischen Menschenrechtskonvention,<br />
für die Benennung<br />
und Verurteilung von Genoziden oder<br />
gegen Kolonialismus“, erläuterte dazu<br />
Kuratorin Heimann-Jelinek gegenüber<br />
WINA. Anhand von Biografien<br />
werde – in austellungsgebotener<br />
Kürze – die Entwicklung von juristischen,<br />
demokratischen, egalitären<br />
und humanitären Prinzipien,<br />
ihre Verankerung im Regelwerk<br />
der europäischen Gemeinschaft<br />
dargestellt sowie die permanenten<br />
Anläufe, diese immer wieder zu<br />
konterkarieren. wea<br />
Frau<br />
oder Mann<br />
mit Krawatte.<br />
Ida Maly,<br />
1928/30.<br />
AUSSTELLUNG.TIPP<br />
Wie Prophezeiungen<br />
auf die Gräuel<br />
Die Künstlerin Ida Maly (1894–1941)<br />
lebte und arbeitete in Wien, München,<br />
Berlin und Paris. 1928 kam sie mit der<br />
Diagnose Schizophrenie in die Psychiatrieanstalt<br />
Feldhof in Graz und wurde im<br />
<strong>Februar</strong> 1941 im Rahmen der sogenannten<br />
„Aktion T4“ in die NS-Tötungsanstalt<br />
im Schloss Hartheim in der Nähe<br />
von Linz abtransportiert, wo sie ermordet<br />
wurde. Ihre in Graz entstandene<br />
Bilder wirken wie Prophezeiungen auf<br />
die Gräuel der „Euthanasie“, ihr Gesamtwerk<br />
dokumentiert den Weg einer<br />
Künstlerin aus den vermeintlich Goldenen<br />
Zwanzigern bis hin zur Ermordung<br />
durch die NS-Tötungsmaschinerie.<br />
www.lentos.at<br />
Rasch werde klar, dass die jüdische mit der<br />
europäischen Geschichte verflochten ist<br />
und es keinen Sinn mache zu versuchen, das<br />
eine vom anderen zu trennen.<br />
Die letzten<br />
Europäer.<br />
Jüdische Perspektiven<br />
auf die Krisen einer Idee.<br />
volkskundemuseum.at<br />
wına-magazin.at<br />
23<br />
feb22.indb 23 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:46
INTERVIEW MIT BEN SALOMO<br />
„Wir Juden geraten<br />
unter die Räder“<br />
Beim Interview-Termin mit WINA gibt sich Jonathan Kalmanovich, besser bekannt<br />
als Ben Salomo, kämpferisch. Es ist Zeit, sich zu wehren, meint der in Berlin lebende<br />
„Israeli mit Integrationshintergrund“, so seine Selbstbezeichnung.<br />
Als Rapper und Veranstalter wurde Ben Salomo bekannt, 2019 veröffentlichte der<br />
44-Jährige seine Autobiografie, in der er sich unter anderem mit dem Antisemitismus<br />
im Deutsch-Rap auseinandersetzt. Doch Antisemitismus ist ein Übel, das sich<br />
nicht nur im Deutsch-Rap in den vergangenen Jahren breit machte. Es ist ein gesamtgesellschaftliches<br />
Problem, dem sich Ben Salomo als Aktivist, zum Beispiel mit<br />
Vorträgen an Schulen, entgegenstellt. Ein Gespräch über politische Enttäuschungen,<br />
verfehlte Bildungspolitik und die Willkür der Mehrheitsgesellschaft.<br />
Interview: Thomas Kiebl, Fotos: Daniel Shaked<br />
24<br />
wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 24 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:47
Schwächendes Unwissen<br />
WINA: Im vergangenen Jahr ist die Anzahl antisemitischer<br />
Straftaten in Deutschland abermals angestiegen. Was läuft<br />
in Deutschland gegenwärtig falsch?<br />
Ben Salomo: Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale.<br />
Das gesellschaftliche Klima für Juden in Deutschland<br />
wird zusehends schwieriger. Die Corona-Krise<br />
hat ganz bestimmte Merkmale von Antisemitismus<br />
nach oben gespült – vor allem die verschwörungsideologischen<br />
Aspekte, bei denen Juden als die Drahtzieher<br />
hinter einer Pandemie ausgemacht werden. Es<br />
gab in den vergangenen Jahren unfassbare Tabubrüche,<br />
die im Zuge der Corona-Pandemie in breiten Teilen<br />
der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wurden.<br />
Dazu gehören Demos, bei denen Rechtsradikale gemeinsam<br />
mit Esoterikern, die sich Blumen in ihrer<br />
Haare flechten und meinen, sie seien für Frieden,<br />
marschieren. Das sind Leute, die gleichzeitig Plakate<br />
hochhalten, auf denen Bill Gates und die Rothschilds<br />
der Versklavung der Menschheit bezichtigt werden.<br />
Die Corona-Pandemie wird als absoluter Brandbeschleuniger,<br />
was den Antisemitismus anbelangt, in<br />
die Geschichte eingehen.<br />
Fühlen Sie sich von der Politik im Stich gelassen?<br />
I Nicht nur im Stich gelassen. Die Politik verstärkt in<br />
Teilen dieses Problem noch. Wie passt das zusammen,<br />
wenn deutsche Außenminister sagen, man müsse den<br />
Antisemitismus überall bekämpfen – egal, woher er<br />
kommt –, aber dann, wenn sie Europa verlassen, offen<br />
antisemitische Regime umschmeicheln und mit<br />
denen kuscheln? Man kann nicht gleichzeitig meinen,<br />
man sei ein Freund der Juden, möchte Antisemitismus<br />
bekämpfen und Israels Sicherheit sei einen<br />
wichtig, wenn man hinter den Kulissen mit Antisemiten<br />
zusammenarbeitet. Zudem ist Deutschland bei<br />
den Vereinten Nationen immer mit von der Partie,<br />
wenn es um das einseitige Israel-Bashing geht. Das<br />
schürt natürlich den israelbezogenen Antisemitismus<br />
in der Gesellschaft. Bei solchen Freunden frag<br />
ich mich, braucht man da noch Feinde? Ich glaube,<br />
dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit vielen<br />
dieser Vorgänge nicht einverstanden ist. Aber es gibt<br />
zu wenig Widerstand dem gegenüber.<br />
Bei ihrem letzten Israel-Besuch bezeichnete Ex-Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel die Sicherheit Israels als Teil der deutschen<br />
Staatsräson.<br />
I Das ist mehr als heuchlerisch, wenn man bedenkt,<br />
dass Deutschland durch sehr intransparente Kanäle<br />
Organisationen in der Region um Israel und in den palästinensischen<br />
Gebieten finanziert; Organisationen,<br />
die Israels Sicherheit mehr untergraben als stabilisieren.<br />
Das Thema betrifft gerade auch das linke politische<br />
Spektrum. In Teilen der Linken gibt es eine sehr<br />
seltsame Vorstellung dessen, was Israel ist. Israel etwa<br />
als Kolonialstaat zu bezeichnen, ist komplett hirnrissig.<br />
Schließlich stammen Juden aus dem Nahen Osten,<br />
das Gebiet hieß eben einmal Judäa. Das wäre so,<br />
als würde man Indianern Kolonialisierung vorwerfen,<br />
wenn sie im Bundesstaat Indiana ein Tipi aufbauen.<br />
Es ist eine Dekolonialisierung, dass es Israel gibt.<br />
In der SPD ist die Haltung zu Israel im Nahostkonflikt ein kontrovers<br />
diskutiertes Thema.<br />
I Ich könnte die SPD anhand ihrer Entwicklungen<br />
in den vergangenen Jahren niemals wählen. Ich erinnere<br />
an die ehemalige Parteivorsitzende Andrea<br />
Nahles, die 2012 sagte, dass die SPD und die Fatah gemeinsame<br />
politische Werte und strategische Ziele verbinden.<br />
Also Demokratie kann dieser politische Wert<br />
schon einmal nicht sein, und was die strategischen<br />
Ziele anbelangt – auf dem Logo der Fatah wird Israel<br />
eliminiert. Die JuSos haben Nahles Aussage vor Kurzem<br />
sogar wiederholt und die Fatah zur Schwesterorganisation<br />
erklärt. Der ehemalige Vizekanzler Sigmar<br />
Gabriel hat einst in Hebron Israel als Apartheidsregime<br />
bezeichnet – und dabei nicht erwähnt, dass 97<br />
Prozent von Hebron Juden nicht betreten dürfen. Das<br />
sind Halbwahrheiten, die herausposaunt werden.<br />
Und dann gibt es Außenminister Heiko Maas, der behauptet,<br />
dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen<br />
sei – gleichzeitig aber kein bisschen abrückt vom<br />
Israel-Bashing in den Vereinten Nationen. Dass es einen<br />
Shift der jüdischen Bevölkerung weg von den Sozialdemokratien<br />
und was links davon ist hin zu den Liberalen<br />
oder sogar zur CDU gibt, kann ich daher gut<br />
nachvollziehen.<br />
Hat der Kampf gegen Antisemitismus die modernen Mechanismen<br />
verschlafen?<br />
Unsere eigenen Organisationen haben verschlafen,<br />
den Nachwuchs politisch zu schulen und aufzuklären.<br />
Alles, was ich über diese Region weiß, musste<br />
ich mir selbst erarbeiten. Ich habe in keinem jüdischen<br />
Jugendzentrum die Geschichte Israels oder die<br />
jüdische Geschichte ausreichend gelernt – also dass<br />
wir im Ursprung eine orientalische Kultur sind, die<br />
durch Vertreibung und Verschleppung in der Diaspora<br />
landete. Dieses Unwissen schwächt uns nach<br />
innen. Deswegen haben wir so viele antizionistische<br />
Juden, die mit Selbsthass herumlaufen, weil sie gar<br />
nicht ihre eigene Geschichte kennen. Gleichzeitig<br />
ist es in Deutschland ein wunderbares Geschäftsmodell,<br />
„israelkritisch“ zu sein. Wir Juden sind weltweit<br />
gesehen als Bevölkerung so wenige, wenn wir<br />
es nicht schaffen, Verbündete an unsere Seite zu<br />
holen, die diesem Geschichtsrevisionismus widersprechen,<br />
dann haben wir einen ganz, ganz schweren<br />
Stand. Aber wie sollen sie das tun, wenn wir in<br />
unseren eigenen Kreisen diesen Geschichtsrevisionismus<br />
zugelassen haben? Wir müssen jetzt eine<br />
Generation aufbauen von jüdischen Leuten, die die<br />
Historie kennt, die begreift, dass Zionismus unser<br />
Selbstbestimmungsrecht ist – und dass wir Zionisten<br />
es sind, die diesen Begriff definieren. Genau wie<br />
Frauen Feminismus definieren und eben nicht Antifeministen.<br />
So gehört der Begriff wieder zurück in<br />
unsere Hand.<br />
„Das wäre so,<br />
als würde man<br />
Indianern Kolonialisierung<br />
vorwerfen,<br />
wenn sie<br />
im Bundesstaat<br />
Indiana ein Tipi<br />
aufbauen. Es ist<br />
eine Dekolonialisierung,<br />
dass es<br />
Israel gibt.“<br />
Ben Salomo<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
feb22.indb 25 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:48
Fehlt der deutschen Gesellschaft eine Null-Toleranz-<br />
Politik, was Antisemitismus anbelangt?<br />
I Es reicht in Deutschland heutzutage aus,<br />
Juden mit Zionisten auszutauschen und sich<br />
dann zu entschuldigen. Die, die nicht davon<br />
betroffen sind, sind damit zufrieden und arbeiten<br />
mit diesen Leute problemlos weiter.<br />
Dem Islamismus und dem muslimischen<br />
Antisemitismus wird größtmögliche Toleranz<br />
entgegengebracht. Angenommen, irgendein<br />
TV-Moderator wäre bei den Corona-Leugnern<br />
mitgelaufen, hätte ihm das jemand verziehen?<br />
Das glaube ich nicht. Aber etwa bei<br />
den Al-Kuds-Demos mitzulaufen, wo teilweise<br />
Schals von Terrororganisationen getragen<br />
oder Fahnen von Terrororganisationen geschwungen<br />
werden, ist kein großes Problem.<br />
Bei den Corona-Demos oder Demos von Rechten<br />
würde man niemals diese Toleranz zeigen.<br />
Vollkommen zu Recht. Wenn es um diese Form<br />
des Antisemitismus geht, passiert es. Aber was<br />
erwarten wir denn? Wir sehen es von unseren<br />
Politikern genauso. Es gibt keine wirkliche Abgrenzung<br />
vom Antisemitismus. Wir Juden geraten<br />
unter die Räder.<br />
Wie kann man sich als Community dagegen wehren?<br />
I Die Mentalität der Juden in der Diaspora<br />
zeigt sich in der russischen Aussage „Jude<br />
schweig, und du wirst weiterleben“. Die Mentalität,<br />
die uns jahrhundertelang in der Diaspora<br />
das Überleben gebracht hat, ist heute<br />
eine Mentalität, die uns wieder zum Verlust<br />
der Selbstbestimmung bringt. Wir müssen<br />
heute genau das Gegenteil tun. Wir müssen<br />
laut sein, wir müssen unsere Rechte einfordern.<br />
Auch wenn wir wenige sind. Wobei ich<br />
glaube, dass wir viele Verbündete haben,<br />
aber wir müssen diese Verbündete empowern.<br />
Das bedeutet, wir müssen selbst empowern,<br />
wir müssen cool werden. Unsere Selbstbestimmung,<br />
die wir zu verteidigen haben,<br />
muss als etwas Cooles, etwas Gutes verstanden<br />
werden.<br />
Sie halten Vorträge an Schulen zu Antisemitismus.<br />
Wenn Sie mit Schüler:innen arbeiten: Haben Sie das<br />
Gefühl, dass Ihre Inhalte ankommen?<br />
I Ich würde sagen: ja. Sicherlich nicht bei<br />
allen. Es gibt immer wieder Leute, die von<br />
zuhause aus eine sehr starke antisemitische<br />
Prägung haben. Aber bei den meisten<br />
glaube ich schon, dass es wirkt. Die Frage<br />
ist, wie nachhaltig das ist. Wenn ich da war,<br />
ist es vielleicht zwei Wochen im Kopf. Danach<br />
passiert aber in Israel irgendetwas, irgendwelche<br />
Bilder kursieren in den sozialen<br />
Netzwerken, irgendwelche Fakes, und dann<br />
ist das wieder vergessen. Gleichzeitig gibt es<br />
BEN SALOMO,<br />
geboren als Jonathan Kalmanovich 1977<br />
in Rechovot, Israel, gehört zu den außergewöhnlichsten<br />
Vertretern des Deutsch-<br />
Rap: er verarbeitet seine jüdische<br />
Identität offensiv in seinen Texten und ist<br />
damit eine Ausnahme in der deutschen<br />
Hip-Hop-Szene, die immer wieder durch<br />
rassistische, homophobe und frauenverachtende<br />
Aussagen auffällt. Mit<br />
seinem klaren Bekenntnis zum Judentum<br />
und Israel tritt Ben Salomo nicht nur<br />
antisemitischen Tendenzen im Deutsch-<br />
„Wir müssen<br />
laut sein, wir<br />
müssen unsere<br />
Rechte einfordern.<br />
Auch<br />
wenn wir<br />
wenige sind.“<br />
Rap entgegen, sondern macht auch auf<br />
den wachsenden Antisemitismus in der<br />
Gesellschaft aufmerksam. Ein Skandal<br />
um antisemitische Texte von Rapper-<br />
Kollegen bei der Echo-Preis-Verleihung<br />
2018 bewegte ihn zum Ausstieg aus der<br />
Hip-Hop-Szene: „Hier gehöre ich nicht<br />
mehr hin. Deutsch-Rap ist<br />
genauso antisemitisch wie Rechtsrock“,<br />
wie er seinen Ausstieg damals begründete.<br />
2019 erschien seine Autobiografie<br />
Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens.<br />
Für seinen Einsatz für den Frieden und<br />
gegen Rassismus erhielt Salomo unter<br />
anderem 2019 das Robert-Goldmann-<br />
Stipendium und 2020 den ersten Internationalen<br />
Pforzheimer Friedenspreis.<br />
Salomo rappte im Herbst 2021 beim<br />
prominent besetzten Großkonzert Von<br />
Generation zu Generation im Arkadenhof<br />
des Wiener Rathauses.<br />
sehr erfolgreiche und reichweitenstarke Propagandakanäle<br />
wie Islam-Fakten, Generation Islam oder TRT<br />
Deutsch, die auf die Jugendlichen einwirken.<br />
Braucht es an Schulen ein Fach wie Medienkompetenz, damit<br />
Jugendliche solche Propagandakanäle einordnen können?<br />
I Sicherlich. Es gibt so viele erwachsene Personen, die<br />
vor drei Jahren noch vernünftig waren, aber seit der<br />
Corona-Pandemie sehr skurrile Theorien verbreiten,<br />
die durch Social Media genährt wurden. Was erwarten<br />
wir dann von Schüler:innen? In Deutschland ist<br />
es auch verabsäumt worden, die Verstrickung von Nationalsozialismus<br />
mit der arabischen Welt aufzuarbeiten.<br />
Und ich zeige das denen bei meinen Vorträgen.<br />
Das erfahren die Jugendlichen zum ersten Mal – und<br />
teilweise die Lehrer auch. Die Geschichtsvermittlung<br />
in Deutschland, die Leute, die hier Ministerien aufgebaut<br />
haben, Bildungsministerium, Außenministerium<br />
und so weiter, das waren ja keine lupenreine<br />
Demokraten. Dementsprechend haben sich da bestimmte<br />
Traditionen oder unliebsame Wahrheiten,<br />
die man lieber unter dem Teppich kehrt, erhalten.<br />
Deswegen sage ich immer, wenn behauptet wird, der<br />
Antisemitismus in Europa sei ein importierter: nein.<br />
Es ist ein recycelter Antisemitismus! Es ist schön,<br />
wenn man Dinge wie Dosen oder Papier recycelt. Aber<br />
Antisemitismus sollte nicht recycelt werden.<br />
Man könnte auch sagen, dass die deutsche Bildungspolitik<br />
versagt hat, wenn vier von zehn Schüler:innen ab 14 nichts<br />
mit dem Begriff „Auschwitz“ anfangen können.<br />
I Auschwitz sowieso, aber was den Schüler:innen<br />
auch nicht vermittelt wird, ist der Mechanismus, der<br />
zum Holocaust führte. Theodor Adorno sagte schon<br />
in den Fünfzigerjahren, Antisemitismus ist das Gerücht<br />
über die Juden. Dass die Juden alle reich sind,<br />
ist ein Gerücht. Dass die Juden Brunnen vergiftet<br />
haben, ist ein Gerücht. Das kann man nicht belegen,<br />
beweisen, da gibt es keine Fakten. Das sind Gerüchte.<br />
Wenn den Leute nicht beigebracht wird, dass es mit<br />
Gerüchten beginnt, dann hat man das Fundament<br />
nie gelernt.<br />
Wenn wir diese Macht der Gerüchte als Ausgang nehmen:<br />
Wie fällt Ihr Ausblick für die Zukunft aus?<br />
I Sehr, sehr düster. Aber das Schlimme ist, dass man<br />
uns in Israel auch nicht in Ruhe lässt. Ein Freund von<br />
mir, der Alija gemacht hat, sagte: In Deutschland sind<br />
wir wie kleine Mäuschen, die Angst haben müssen,<br />
dass uns ein Geier oder eine Katze den Kopf abreißt.<br />
In Israel sind wir freilaufende Löwen, die aufpassen<br />
müssen, dass nicht manchmal ein Wilderer kommt<br />
und uns abknallt, aber in Israel sind wir wenigstens<br />
frei. Oder, wie meine Tante über Israel gesagt hat:<br />
„Wir leben hier auf einem Vulkan, aber es ist unsere<br />
Sache, ob wir gute Seismografen haben, die uns<br />
davor warnen, wann er ausbricht und wie wir uns<br />
davor schützen.“ Hier sind wir auf die Mehrheitsgesellschaft<br />
angewiesen, und das bedeutet auch, der<br />
Willkür ausgeliefert zu sein – auch heute wieder.<br />
26 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 26 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:49
LEBENS ART<br />
KEIN BLUPP BLUPP<br />
Goldige News im grauen <strong>Februar</strong>: Israelische Verhaltensforscher<br />
haben Fischen das Fahren beigebracht. Eine kleine<br />
WINA-Hommage auf die schillernden Fahranfänger!<br />
SCHWIMMSCHULE<br />
Wie steht es um die Navigationsfähigkeiten<br />
von Tieren? Dieser<br />
Frage wollten israelische Verhaltensforscher<br />
von der Ben-Gurion University<br />
of the Negev in Be’er Scheva mit<br />
einem skurrilen Versuchsaufbau am<br />
Beispiel eines Goldfisches beantworten.<br />
Dafür konstruierten die Forscher<br />
ein „Fish Operated Vehicle (FOV)“, bei<br />
dem ein kleines Aquarium auf einem<br />
fahrbaren Untersatz montiert war. Die<br />
Hochstapler<br />
Weil man von Zeit zu Zeit nicht nur was<br />
Knackiges zwischen die Kiemen braucht,<br />
sondern eben auch im besten Fall bis zu drei<br />
Liter Flüssigkeit am Tag trinken soll, gibt es<br />
dieses stapelbare Gläserset von Doiy.<br />
u.a. über connox.at<br />
Schwarm-Wissen<br />
Wer sich beim Duschen des Öfteren<br />
langweilt, kann ja die vielen kleinen Goldfische<br />
auf diesem Vorhang zählen. Wer ein<br />
längeres Vollbad vorzieht: Es gibt auch passende<br />
Handtücher dazu!<br />
u.a. über juniqe.de<br />
Brit-Fish<br />
Entworfen wurde der „Gluggle Jug“ in den 1870er-<br />
Jahren in Staffordshire. Beliebt ist die Wasserkaraffe<br />
aber nicht nur für ihr Äußeres: Beim Ausschenken<br />
gluckert es dunkel aus der Tiefe des Fischbauchs.<br />
u.a. über gluckigluck.com<br />
IN FAHRT. Wissenschafter der Ben-<br />
Gurion-Uni haben in einem Experiment<br />
Goldfischen Beine gemacht.<br />
elektronische Steuerung lenkte das<br />
Elektromobil immer genau in die Richtung,<br />
in die sich der Fisch ausrichtete.<br />
So konnte sich der Goldfisch auch „an<br />
Land“ fortbewegen. Mehrere Tage<br />
lang trainierten die Forschenden den<br />
Fisch und brachten ihm bei, wie er<br />
das Fahrzeug steuern konnte. Dafür<br />
konditionierten sie den Fisch auf ein<br />
Zielobjekt außerhalb des Aquariums.<br />
Wenn der Fisch das Fahrzeug zu diesem<br />
Objekt lenkte, wurde er mit Futter<br />
belohnt. Nach und nach lernte der<br />
Fisch die Steuerung des Fahrzeugs so<br />
gut, dass er sogar kleine Hindernisse<br />
umfahren konnte, um das Zielobjekt<br />
zu erreichen. Wir klatschen begeistert<br />
in die Flossen!<br />
Wand-Aquarium<br />
Auf dieser Vliestapete schillern zauberhaft Fische<br />
in einer traumhaften Landschaft aus Unterwasserpflanzen<br />
und Ranken. „Nautilus“, so<br />
der passende Name des Designs, gibt es<br />
übrigens auch in anderen Farbkombis.<br />
cole-and-son.com<br />
GoodLack<br />
Das knallige „Orange mit Goldfisch“ lässt Schuppen<br />
von den Augen fallen! Gibt es aus biobasierten<br />
Rohstoffen für die Wand und als (Möbel-)Lack<br />
mit schimmernder oder matter Optik.<br />
misspompadour.de<br />
Italo-Hit<br />
Da Goldfische Süßwasser bevorzugen, werden<br />
sie sardische Strände eher vom Hörensagen<br />
kennen. Für alle, die auch nie im weißen Sand<br />
der Insel sitzen, gibt es jetzt zumindest den<br />
orangen Samtsessel „Porto Pino“.<br />
kare.at<br />
Fotos: picturedesk.com/Ronen Zvulun; Hersteller; 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
feb22.indb 27 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:54
Von der Inquisition bis heute<br />
Aus dem Schatten in die Sonne:<br />
Die Xuetas auf Mallorca<br />
Als Xuetas werden die Nachfahren jener Juden auf Mallorca bezeichnet,<br />
die während der Inquisition zur Konversion gezwungen wurden. Heute<br />
entdecken sie ihr jüdisches Selbstbewusstsein und die Geschichte ihrer<br />
Vorfahren neu. Eine moderne Emanzipationsgeschichte.<br />
Von Silke Fries<br />
Toni Piña ist ein bekannter Koch auf<br />
Mallorca, mit eigener Radioshow, er<br />
lebt in Sóller, im Nordosten der Insel.<br />
Bis vor wenigen Jahren wusste er nicht<br />
allzu viel über die Geschichte seiner Familie,<br />
was er wusste: Sie waren Xuetas, Nachfahren<br />
von Juden, die im Mittelalter zur<br />
Konversion gezwungen wurden. Die Xuetas<br />
wurden bespitzelt, unterdrückt und<br />
verfolgt. Auch Toni Piñas Familie ging es<br />
so: „Es gibt Berichte aus dem Jahr 1691,<br />
danach wurden einige Piñas durch die<br />
Inquisition beschuldigt, heimlich das Judentum<br />
zu pflegen.“ Sie mussten sich vor<br />
dem Inquisitionsgericht in Palma de Mallorca<br />
verantworten und wurden zu jahrelangem<br />
Galeerendienst verurteilt, danach<br />
war die Familie ruiniert. Allein der<br />
Verdacht, Kryptojude zu sein, reichte<br />
aus. Und der Name Piña wurde für viele<br />
Jahrhunderte zum Stigma. „Meine Mutter<br />
hat in den Fünfzigerjahren geheiratet,<br />
sie musste es um sechs Uhr morgens tun.<br />
Denn die Leute wollten nicht, dass sie mit<br />
einem Xueta die Ehe einging.“ Auch Toni<br />
Piña hat in seiner Jugend Ähnliches erfahren:<br />
„Wenn man als Teenager zum ersten<br />
Mal ein Mädchen traf, dann sagten viele<br />
Eltern: ‚Mit diesem Jungen gehst du nicht<br />
aus, das ist ein Xueta.‘“<br />
Den Begriff Xueta gibt es nur auf Mallorca.<br />
Umstritten ist, ob er hergeleitet<br />
wurde von der katalanischen Bezeichnung<br />
für Jude oder von dem katalanischen<br />
Wort für Speck oder Schweinefleisch. Das<br />
sagt Laura Miró Bonnin. Auch sie stammt<br />
von einer Familie ab, die im Mittelalter<br />
gezwungen wurde, zum Katholizismus zu<br />
konvertieren. Die Historikerin hat zu dem<br />
Thema geforscht, dabei stellte sie fest, dass<br />
sich die Schicksale vieler Familien ähnelten.<br />
Allein der Verdacht, heimlich weiter<br />
nach jüdischen Gesetzen zu leben, reichte<br />
im Mittelalter aus, um verurteilt<br />
zu werden.<br />
Vor rund 330 Jahren brannte<br />
mitten in Palma de Mallorca der<br />
letzte Scheiterhaufen, darauf<br />
starben die Geschwister Caterina<br />
und Rafael Tarongí, auch<br />
der Rabbiner Rafel Valls wurde<br />
lebend verbrannt. Sie hatten<br />
sich geweigert, ihrem Glauben<br />
abzuschwören und sich zu Jesus<br />
Christus zu bekennen. Überlieferungen<br />
zufolge sollen 30.000<br />
Menschen zugesehen haben.<br />
Danach galt jüdisches Leben<br />
auf Mallorca als ausgelöscht.<br />
Viele Xuetas lebten besonders<br />
demonstrativ ihren katholischen<br />
Glauben, einige wurden<br />
Priester oder Nonnen. Tatsächlich<br />
aber ging die Diskriminierung weiter.<br />
Denn jeder auf Mallorca konnte schon anhand<br />
der Nachnamen erkennen, welche<br />
Familien jüdischen Ursprungs sind. Namen<br />
wie Miró, Bonnin, Aguiló, Forteza,<br />
Cortés und Piña waren Anlass genug, ausgegrenzt<br />
zu werden. „Xuetas wurden stigmatisiert,<br />
und es gab jede Menge Vorurteile.<br />
Etwa, dass sie schmutzig seien, geizig<br />
und verschlagen und nur auf ihren wirtschaftlichen<br />
Vorteil bedacht“, sagt Laura<br />
Miró Bonnin. Und noch in den 70er- und<br />
80er-Jahren sei es vor allem im Viertel von<br />
Palma de Mallorca zu Übergriffen gekommen,<br />
in dem viele Nachfahren von Juden<br />
lebten. „Das war vor allem, als zeitgleich<br />
im spanischen Fernsehen eine Serie über<br />
den Holocaust gezeigt wurde. Es wurden<br />
Wände beschmiert, auch mit Hakenkreuzen.<br />
Das ist gerade mal rund 40 Jahre her.“<br />
Miquel Segura Aguiló hat Bücher über<br />
die jüdische Geschichte auf Mallorca geschrieben,<br />
vieles kennt er aus eigener An-<br />
„Wir glauben,<br />
dass es notwendig<br />
ist, die<br />
unbekannte<br />
jüdische Geschichte<br />
Mallorcas<br />
und den<br />
inspirierenden<br />
Widerstand<br />
der mallorquinischen<br />
Juden<br />
in traumatischen<br />
Zeiten<br />
zu erzählen.“<br />
Dani Rotstein<br />
schauung. Xuetas hätten<br />
nicht jede Schule<br />
besuchen dürfen, Karrieren<br />
in der Justiz oder<br />
beim Militär seien lange<br />
unmöglich gewesen.<br />
Über das Thema „Xuetas“<br />
habe man während<br />
der Franco-Diktatur offiziell<br />
nicht sprechen<br />
dürfen auf Mallorca,<br />
es sei unter die Pressezensur<br />
gefallen. Dennoch<br />
habe man ihn als<br />
jungen Mann noch diskriminiert:<br />
„Wenn man<br />
abends aus dem Kino<br />
kam, haben sie an den<br />
Ecken gestanden und<br />
haben dir ‚Xueta‘ oder<br />
‚Schwein‘ hinterhergerufen. Das war eigentlich<br />
verboten.“ Und obwohl es offiziell<br />
keine Trennung gab zwischen Alt- und<br />
Neu-Christen, habe man die gesellschaftliche<br />
Spaltung überall gespürt, auch in<br />
der Kathedrale von Palma: „In der Osterwoche<br />
predigte der Priester von der Kanzel<br />
gegen die Juden, die immer noch unter<br />
uns lebten und die Jesus getötet hätten.<br />
Bis zum zweiten vatikanischen Konzil war<br />
das normal.“<br />
Heute ist das Thema Xuetas kein großes<br />
mehr auf der Ferieninsel. Wenn man Mallorquiner<br />
auf der Straße nach der Bedeutung<br />
des Begriffes fragt, können vor allem<br />
junge Leute kaum etwas damit anfangen.<br />
Ältere wissen häufig, welche Nachnamen<br />
Xueta-Namen sind, über die jüdische Geschichte<br />
der Insel weiß aber kaum jemand<br />
Bescheid.<br />
Dani Rotstein möchte das ändern. Der<br />
junge Jude aus New York bietet Touren an<br />
28 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 28 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:54
Mallorcas jüdische Geschichte<br />
auf den Spuren jüdischen Lebens<br />
in Palma de Mallorca. Dabei erfährt<br />
man, dass bereits im zweiten<br />
Jahrhundert Juden auf den<br />
Balearen lebten. Es gab Zeiten, in<br />
denen das Königshaus von Mallorca<br />
den Juden Schutz bot – es<br />
waren Kaufleute darunter, Kartografen,<br />
Ärzte, Seefahrer. Vor allem<br />
im späten Mittelalter jedoch<br />
gab es nur drei Optionen: Flucht,<br />
Tod oder Taufe. Das sagt auch Miquel<br />
Segura Aguiló, der seinen Stammbaum<br />
bis ins Mittelalter zurückverfolgen<br />
kann: „Bei der Kathedrale von Palma wurden<br />
sie mit einem Eimer Wasser getauft.<br />
Von diesem Moment an gab es offiziell<br />
keine Juden mehr auf Mallorca. Es gab die<br />
Konvertiten, und es wurde unterschieden<br />
zwischen Alt-Christen und Neu-Christen.“<br />
Die katholische Kirche auf Mallorca tat<br />
ein Übriges, um die jüdische Geschichte<br />
vergessen zu machen. Dani Rotstein hat<br />
bei seiner Führung durch die Altstadt von<br />
Palma die Igelesia de Montesión erreicht –<br />
ein mächtiger heller Kirchenbau, von Jesuiten<br />
genau dort errichtet, wo zuvor die<br />
Synagoge von Palma stand. Rotstein führt<br />
die Besucher auch an der Kathedrale von<br />
Palma vorbei. Nicht weit davon ist das Gebäude,<br />
in dem im Mittelalter die Inquisition<br />
über Kryptojuden richtete. Teilnehmer<br />
der Gruppe um Dani Rotstein tragen<br />
ebenfalls Xueta-Nachnamen. Kaum einer<br />
aber ist sich der jüdischen Wurzeln ihrer<br />
Familien bewusst. „Viele der rund 20.000<br />
Xuetas auf Mallorca sind heute sehr gläubige<br />
Katholiken und haben nicht das geringste<br />
Interesse, zum Judentum zurückzukehren“,<br />
erklärt Rotstein, „es berührt<br />
sie nicht. Sie sind katholisch aufgewachsen<br />
und wollen es auch bleiben.“<br />
Für umso bemerkenswerter findet er,<br />
dass sich einige wenige heute zum Glauben<br />
ihrer Vorfahren bekennen. Toni Piña<br />
und Miquel Segura Aguiló zählen dazu. Sie<br />
waren mit die ersten Xuetas, die sich vom<br />
Katholizismus ab- und zum Judentum<br />
hingewandt haben. „Das ist etwas Besonderes“,<br />
erzählt Rotstein, „vielleicht fühlten<br />
sie sich von ihren Vorfahren gerufen.“<br />
Der Kreis schließt sich. Für Xuetas auf Mallorca<br />
gilt eine Sonderregel: Wenn sie nachweisen<br />
können, dass die Mütter in ihrem<br />
Stammbaum jüdisch waren, dann müssen<br />
sie nicht konvertieren, sie kehren<br />
ohne rabbinische Prüfung zurück zum<br />
Judentum. Für Toni Piña hat sich damit<br />
ein Kreis geschlossen: Seit Generationen<br />
Jüdische Identität neu entdecken (v. o.<br />
n. u.): Der Koch Toni Piña (li.) beim Challe-Backen.<br />
Dani Rotstein bei seiner Stadtführung<br />
durch Palma und das Ehepaar Aguiló bei<br />
einer Limmud-Veranstaltung.<br />
Unbekannte jüdische Geschichte.<br />
Eine Plakette am Boden beim ehemaligen<br />
jüdischen Viertel erinnert an die einstige<br />
– oft grausame – jüdische Geschichte der<br />
Stadt Palma.<br />
gab es in der Familie Gewohnheiten,<br />
die er sich nicht erklären<br />
konnte: Bei einem Todesfall<br />
etwa wurden die Spiegel im Haus<br />
verhängt, auch wurde bereits an<br />
Freitagen geputzt und nicht, wie<br />
bei den Nachbarn üblich, erst am Samstag.<br />
Auch habe er von seiner Großmutter<br />
ein Messer geerbt, von dem er heute weiß,<br />
dass es ein Schächtmesser ist. Der Koch hat<br />
sich dem Glauben auch über die Küche<br />
und die Tora genähert: „Hier findet man,<br />
was man essen und wie man es zubereiten<br />
soll. Und während ich die Tora las und<br />
mir die Schwierigkeiten meiner Vorfahren<br />
auf Mallorca vorstellte, wurde in mir eine<br />
Spiritualität geweckt, die ich vorher nicht<br />
gekannt hatte.“ Auch seine Frau hat den<br />
Glauben ihrer Vorfahren angenommen,<br />
sie haben ihr Eheversprechen vor einem<br />
Rabbiner in Israel wiederholt. Piña ist sicher:<br />
Heute handelt und denkt er anders<br />
als früher, ist auf andere Weise glücklich,<br />
der Blick auf das Leben habe sich geändert.<br />
Dass seine Kinder und Enkel katholisch<br />
geblieben sind, ist für ihn kein Problem.<br />
Ähnlich wie Miquel Segura Aguiló zählt er<br />
heute zu den festen Mitgliedern der jüdischen<br />
Gemeinde auf Mallorca.<br />
Seit sich nach der Franco-Diktatur in<br />
den 1970er-Jahren die Insel für den Tourismus<br />
immer mehr geöffnet hat, ist die<br />
Gruppe gläubiger Juden auf den Balearen<br />
angewachsen. In der Nähe des Jachthafens<br />
von Palma de Mallorca, in der Carrer<br />
de Monsenyor Palmer, liegt hinter einem<br />
unauffälligen schmiedeeisernen Tor mit<br />
zwei Davidsternen die Inselsynagoge. Es<br />
ist ein großer Raum im Erdgeschoß eines<br />
unscheinbaren Mehrfamilienhauses,<br />
und man muss schon wissen, dass zwischen<br />
Cafés und hinter einem Parkplatz<br />
der Gebetsraum zu finden ist. Miquel Segura<br />
Aguiló ist im Vorstand der Synagoge,<br />
mit seiner Frau feiert er dort regelmäßig<br />
Schabbat und die hohen jüdischen Feiertage.<br />
Ihr Leben habe sich geändert, und<br />
ihre katholischen Kinder wüssten das:<br />
„Weihnachten gibt es für meine Frau<br />
und mich nicht mehr, und meinen Enkeln<br />
sage ich: Das sind keine Weihnachtsgeschenke,<br />
sondern Geschenke zu Chanukka.<br />
Und ihnen“, sagt er lachend, „ihnen<br />
ist das egal.“<br />
wına-magazin.at<br />
29<br />
feb22.indb 29 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:56
MATOK & MAROR<br />
Die französische Präposition „chez“<br />
ist hier äußerst irreführend. Denn<br />
beim Imbiss Chez Berl handelt es<br />
sich doch um Speisen, die sowohl aus der<br />
osteuropäischen wie auch israelisch-mediterranen<br />
Küche stammen. Das sieht man<br />
schon an der Klientel, die sich vom späten<br />
Vormittag an bis nach 15 Uhr um die Budel<br />
scharrt. Zwei Jeschiwa-Burschen mit ihren<br />
Rollern holen sich gebratene Hühnerkeulen,<br />
Pommes und Salzgurken, um diese in<br />
der nahegelegenen Lernstube noch warm<br />
zu verspeisen. Eine junge Mutter kauft<br />
gleichzeitig frische Hotdogs für ihre unruhigen<br />
Zwillinge im Kinderwagen.<br />
Nichts deutet hier auf französische Eleganz<br />
hin, ganz im Gegenteil, hier fühlt<br />
man sich heimisch-nostalgisch und denkt<br />
an die Jugendzeit im koscheren Elternhaus<br />
zurück. Dieses Gefühl vermitteln auch die<br />
Besitzer des Imbisses und der koscheren<br />
Fleischerei. Das Ehepaar Jaffa (Scheindl)<br />
und Bernat (Berl) Ainhorn lebt seit 1976 in<br />
Wien. Die jeweiligen Familien stammen<br />
ursprünglich aus Munkács und Szöllös (aus<br />
einst ungarischem, später ukrainisch-russischem<br />
Gebiet) und kannten einander bereits<br />
aus der alten Heimat, als sie 1971 nach<br />
Israel auswanderten. Denn alle blieben ihren<br />
erlernten Berufen treu: Der Vater von<br />
Jaffa Ainhorn, geborene Friedmann, war<br />
Schächter, der Vater von Berl Ainhorn war<br />
Mohel*. In den naheliegenden Orten half<br />
man einander mit dem religiösen Personal<br />
ständig aus.<br />
In der ersten koscheren Fleischerei in<br />
Wien nach 1945 in der Großen Pfarrgasse,<br />
bei Resetritsch, begann Ainhorn seine Tätigkeit<br />
als Maschgiach (Koscher-Aufseher),<br />
bevor er seine eigene Fleischerei vor über<br />
35 Jahren eröffnete. Schwiegersohn Jitzchak<br />
Hager entwickelte die Idee des Imbisses:<br />
„So frisches Fleisch wie bei uns<br />
wird kaum wo angeboten und verarbeitet“,<br />
lacht Jaffa Ainhorn. „Zweimal in der<br />
Woche gibt es frisches Hühnerfleisch und<br />
einmal Kalbfleisch.“<br />
Imbiss Chez Berl:<br />
Schwärmen vom koscherknusprigen<br />
Schawarma<br />
Vor allem heimisch-vertraute Speisen gibt es in der Fleischerei<br />
Bernat Ainhorn in der Stadtgutgasse auf der„Mazzesinsel“.<br />
„So frisches Fleisch<br />
wie bei uns wird kaum<br />
wo angeboten und<br />
verarbeitet“, freut<br />
sich Jaffa Ainhorn im<br />
WINA-Gespräch.<br />
WINA- TIPP<br />
IMBISS CHEZ BERL<br />
Koscher-Fleisch Bernat Ainhorn<br />
Große Stadtgutgasse 7, 1020 Wien<br />
+43/(0)1/214 56 21<br />
Di.– Do., 8– 18.30 Uhr; Fr., 8– 12 Uhr;<br />
Imbiss: Di.– Do., 12– 16 Uhr<br />
Der Imbiss ist nur von Dienstag bis Donnerstag<br />
von 12 bis 16 Uhr geöffnet und bietet<br />
wunderbare heimische Gerichte an:<br />
Kalbsrippen (klein und groß zwischen 18<br />
und 20 €); Kalbsschnitzel mit Erdäpfel-Mayonnaise-Salat<br />
oder Pommes (22 €); Leberkäsescheibe<br />
oder Hühnerkeule um jeweils<br />
7,50 €; und koschere Würstel gibt es schon<br />
um 3,50 €. Weiters auf der Karte: saftige<br />
Hamburger (5 €), Wurstgulasch mit Beilage<br />
(12 €) oder reguläres Rindsgulasch mit<br />
Beilage (15 €); Gefülltes Kraut um wohlfeile<br />
7,50 €. Herrliches Pastrami holt man sich<br />
von der gekühlten Fleischvitrine und lässt<br />
es sich mit diversen Beilagen in eine Pita<br />
füllen. Als Beilagen kann man frische Salate<br />
wählen, wie zum Beispiel Coleslaw, israelischen<br />
Salat oder frischen Krautsalat.<br />
Was man in der osteuropäischen Küche<br />
des Stetls freilich nicht kannte, war<br />
Schawarma, das geschnetzelte Fleisch<br />
vom Großspieß. Bei Chez Berl ist das eine<br />
wahre Köstlichkeit: Hier werden mehrere<br />
Fleischsorten aneinander gereiht, das ergibt<br />
Knusprig-Würziges von allem. <br />
Paprikasch<br />
<br />
Heimisch bis<br />
nostalgisch:<br />
Die Fleischerei<br />
Ainhorn mit<br />
ihrem angegliederten<br />
Imbiss.<br />
* Ein Mohel ist ein Fachmann, der die Brit Mila, die männliche<br />
Beschneidung nach jüdischer Sitte, vollzieht.<br />
© Reinhard Engel<br />
30 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 30 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58
WINAKOCHT<br />
Sind Gugelhupf und Kugel<br />
eigentlich kulinarische Verwandte, …<br />
… und was hat es mit den fehlenden Tassen im Schrank auf sich? Die Wiener Küche steckt<br />
voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Koch-<br />
Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion!<br />
zwei Süßspeisenherzen schlagen in meiner Brust: das<br />
eine für den Wiener Gugelhupf, das andere für süße<br />
Kugel-Varianten. Auch wenn die Zubereitung divergiert,<br />
die Bezeichnungen Gugel und Kugel klingen ja<br />
durchaus ähnlich. Besteht vielleicht eine kulinarische<br />
Verwandtschaft? <br />
Julia S. aus Wien<br />
Gerne haben wir für Sie „Stammbaumforschung“<br />
betrieben. Dabei sind wir auf<br />
mehrere Quellen gestoßen, die die beiden von<br />
Ihnen erwähnten Süßspeisen tatsächlich einer<br />
kulinarischen Familie zuordnen. So schreibt<br />
zum Beispiel das Kuratorium kulinarisches<br />
Erbe Österreichs: „Eng verwandt mit dem Gugelhupf<br />
ist die/der Kugel, eine Speise der jüdischen<br />
Küche.“<br />
Der Kugel und der Gugelhupf sind also<br />
so betrachtet zwei Äpfel vom selben Stamm,<br />
auch wenn sie aufgrund ihrer unterschiedlichen<br />
Zubereitung und Zutaten kaum noch<br />
als solche wahrgenommen werden. Eine pikante<br />
Kugelvariante und ein Gugelhupf muten<br />
dann schon eher wie Apfel und Birne an,<br />
die man bekanntlich nicht miteinander vergleichen<br />
kann. Und bereiten Köchin oder<br />
Koch den Kugel aus dem Schabbat-Rezeptbuch<br />
seinen Namen ignorierend dann auch<br />
noch in einer flachen, eckigen Auflaufform zu,<br />
ist die Verwandtschaft zum Gugelhupf auch<br />
optisch nicht mehr zu erahnen. Es gibt jedoch<br />
noch Haushalte, in denen man die familiäre<br />
Verbindung der beiden Speisen in der Küche<br />
ehrt. Dort wird der Kugel, wie dereinst, rund<br />
oder eben als Guglhupf (!) serviert.<br />
Bei der kulinarischen Ahnenforschung haben<br />
wir übrigens festgestellt, dass der Stammbaum<br />
über die Jahrhunderte ganz schön viele<br />
regionale Äste ausgetrieben hat. So findet man<br />
in Zeiten, da weltweit mehr gegooglet als gegugelhupft<br />
wird, viele nahe und auch weit entfernte Verwandte<br />
von Gugelhupf und Kugel, die sich zum Beispiel Kärntner Reindling,<br />
deutscher Napf- oder Setzkuchen, französischer Savarin<br />
oder auch besoffener Kapuziner, Kuglof in Ungarn, Tulband in<br />
den Niederlanden oder Bábovka in Tschechien nennen. Es gibt<br />
NUDEL-KUGEL MIT<br />
ZIMT UND ROSINEN<br />
ZUTATEN<br />
für 8 bis 10 Portionen:<br />
500 g Bandnudeln<br />
250 g Rosinen<br />
2 EL Zimt<br />
2 EL Zucker<br />
1 EL Kartoffelmehl<br />
4 EL neutrales Pflanzenöl<br />
1 Prise Salz<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Backrohr auf 180°C vorheizen. Die<br />
Nudeln weichkochen, 1 EL Zimt ins<br />
Kochwasser geben. Nudeln abgießen<br />
und 200 ml des Kochwassers<br />
für später aufheben. Nudeln mit<br />
Rosinen, Zucker, einem 1 EL Zimt<br />
und der Prise Salz in einer großen<br />
Schüssel vermischen. In einer zweiten<br />
Schüssel Kartoffelmehl mit<br />
dem Kochwasser und Öl mit einem<br />
Handrührgerät verquirlen. Die Mischung<br />
in die Schüssel mit den Nudeln<br />
geben und alles gut durchmischen.<br />
Nudelmasse in eine runde,<br />
eingeölter 23-cm-Kuchenform geben<br />
und festdrücken. Im Rohr ca.<br />
30 Minuten backen, bis die Oberfläche<br />
des Auflaufs braun und knusprig<br />
ist. Vor dem Servieren ab- oder<br />
auch ganz auskühlen lassen.<br />
sogar einen Kugel-Onkel in Amerika: Jüdische<br />
Familien, die auswanderten, nahmen<br />
die Kugel-Spezialität mit, wo sie seitdem als<br />
Bundt Cake (von der Bundform) bekannt ist.<br />
Der aus einer jüdischen Familie stammende<br />
Dichter Heinrich Heine hat den Kugel übrigens<br />
sehr geschätzt und ihn einmal in einem<br />
Brief als „heiliges Nationalgericht“ der<br />
Juden bezeichnet. Welche Zubereitungsart er<br />
bevorzugte, ist leider nicht überliefert. Unser<br />
Rezept – natürlich in einer von Ihnen präferierten<br />
süßen Variante – hätte ihm aber sicher<br />
gemundet.<br />
Servus und Schalom,<br />
ich hoffe, ihr glaubt nicht, ich hätte nicht mehr alle<br />
Tassen im Schrank. Aber ich würde gerne wissen,<br />
woher dieser Spruch kommt. Und weil ihr ja KüchenexpertInnen<br />
seid, dachte ich, meine „Geschirrfrage“<br />
wäre bei euch vielleicht gut aufgehoben …<br />
<br />
Daniel W., Klosterneuburg<br />
Mit Geschirr hat die Redewendung zwar<br />
nichts zu tun, wir helfen Ihnen aber<br />
dennoch gerne weiter. Die „Tassen“, um die es<br />
hier geht, wirken nur auf den ersten Blick wie<br />
urdeutsche Gefäße für Heißgetränke – die sich<br />
im Übrigen vom arabischen „tas“ für „Schälchen“<br />
ableiten. Hinter den „Tassen“ in Ihrem<br />
Spruch verbirgt sich hingegen ein jiddisches<br />
Wort, dem man seine Herkunft nicht mehr<br />
ansieht, wurde es doch umgangssprachlich<br />
eingeschliffen. Ursprünglich leitet es sich von<br />
„toshia“ ab, was so viel bedeutet wie Klugheit<br />
oder (Geistes-)Witz. Wenn also jemand „toshia“<br />
fehlt in seinem Oberstübchen-Schrank,<br />
dann tickt er nicht mehr ganz richtig oder es<br />
fehlt ihm zumindest an Verstand. Folglich hilft<br />
jemandem mit „Sprung in der Tasse“ auch<br />
kein Porzellankleber, und eine „trübe Tasse“<br />
wird auch mit Klarspüler zu keiner auf- und anregenden Persönlichkeit.<br />
Es kann aber durchaus etwas bringen, mal wieder den Geschirrspüler<br />
auszuräumen, wenn man feststellt, dass nicht mehr<br />
alle Tassen im Schrank sind.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
feb22.indb 31 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58
HIGHLIGHTS | 03<br />
Genau verzaubert<br />
Premonition: Miguel Rothschilds<br />
Fotoband über Vorahnung und<br />
anderes<br />
Überraschung. Und Überraschendes.<br />
Optische Surprisen en gros findet man<br />
im fotografischen Werk des 1963 in Argentinien<br />
geborenen, dort aufgewachsenen und<br />
seit Jahren in Berlin ansässigen Fotografen<br />
Miguel Rothschild. Überraschendes, das wie<br />
delirierende Träume ist.<br />
In seinem neuen Bildband Premonition<br />
mit Texten der Kunstwissenschaftlerin Helen<br />
Adkins führen die 50 Farbabbildungen<br />
Verschobenheitsanmutungen ebenso<br />
vor wie Ängste im Pocketformat, Westentaschenapokalypsen,<br />
Vorahnungen. Und<br />
eben so, als Vorahnung, lässt sich der Titel<br />
auch ins Deutsche übersetzen.<br />
Rothschild bot im Herbst 2011 im Jüdischen<br />
Museum Berlin einen Ein- und Ausblick<br />
auf zwei konzeptuelle Serien,<br />
auf Der Sturm und Nightmare. Damals<br />
hieß es im Begleitkatalog aufschlussreich:<br />
„Die Bilder Nightmare<br />
und Der Sturm scheinen wie aus<br />
der Zeit gefallen und erinnern an<br />
Bilder der Spätromantiker, die eine<br />
idealisierende Sicht der Natur mit<br />
genauer Beobachtung ihrer Phänomene<br />
verbanden.“ Das macht die<br />
suggestive Kraft des Bild-Finders<br />
Miguel Rothschild aus. A.K.<br />
PREMONITION.<br />
Herausgegeben von<br />
Miguel Rothschild.<br />
Kerber, 128 S.<br />
WAGNER & KLEZMER<br />
Der neue jüdische Sound<br />
in Deutschland<br />
Der bekannte Dj und Musiker Yuriy<br />
Gurzhy ist seit seiner Emigration von<br />
der Ukraine nach Berlin auf der Suche<br />
nach DEM aktuellen jüdischen<br />
Sound Deutschlands. In seinem ersten<br />
Buch Richard Wagner und die Klezmerband<br />
mischt er statt Sound spannende<br />
Geschichten zu einer Reise von<br />
den verrauchten Berliner Clubs bis in<br />
die Frankfurter Festhalle.<br />
ariella-verlag.de<br />
MUSIKTIPPS<br />
THE PEOPLE’S PICTURES:<br />
Lee Friedlander.<br />
Eakins Press Foundation, 168 S.<br />
Exakt gefunden<br />
Lee Friedlander: ein Lebensbuch-<br />
Querschnitt in 147 Duoton-Fotografien<br />
Seit mehr als sechzig Jahren ist das visuelle<br />
Amerika kaum vorstellbar ohne<br />
Lee Friedlander. Er, inzwischen 87, ist ein<br />
an Neugier nicht nachlassender Fotograf.<br />
Das bewiesen seine großen Bildserien Self<br />
Portraits, American Monuments und American<br />
Musicians. Die Monografie Lee Friedlander<br />
– The People’s Pictures, die 147 in edlem<br />
Duoton gedruckte Aufnahmen enthält,<br />
zeigt das, was in seinem weitgespannten<br />
Opus am zugänglichsten ist und am demokratischsten<br />
– Menschen. Stolze Menschen.<br />
Ihre Rechte einfordernde Menschen. Menschen<br />
mit ihren Vorbildern. 1968 war das<br />
zum Beispiel Martin Luther King. Menschen,<br />
die ganz unverstellt und ungestellt<br />
auf der Straße aufgenommen wurden.<br />
Menschenkonstellationen. Es<br />
sind die „entscheidenden Momente“<br />
(Cartier-Bresson).<br />
Zur gleichen Zeit stellt Friedlander<br />
auch reflexive Ironie unter<br />
Beweis. So das Frontispiz-<br />
Bild, das eine Meute entfesselt<br />
knipsender Pressefotografen<br />
zeigt. Oder weiter hinten im<br />
Buch, wenn eine Giraffe neugierig<br />
in dieselbe Richtung linst<br />
wie eine Fotografierende. A.K.<br />
AVNI<br />
1998, mit 71 Jahren, erhielt Tzvi Avni<br />
den Preis des Israelischen Premierministers<br />
für sein Lebenswerk. Hierzulande<br />
ist er immer noch zu unbekannt. Das<br />
lässt sich ändern. Mit seinem Klavierkonzert,<br />
das die Pianistin Heidrun Hoffmann, die sich<br />
seit Jahren Avni widmet, und die Deutsche Radio<br />
Philharmonie aus Avnis Geburtsstadt Saarbrücken<br />
für das Label Hänssler eindrücklich eingespielt<br />
hat. Das Plus dieser CD: die Herbstlichen<br />
Zwischenspiele, From There and Then und das intensiv<br />
kurze Andante meditativo.<br />
BERNSTEIN<br />
Ja, der Garten, ach, mehr denn je<br />
Rückzugsort. Das meinte als Satire<br />
Voltaire schon 1759 in Candide. Aus<br />
dem grandios bissigen Roman machte Leonard<br />
Bernstein 1956 ein schwungvolles Musical, das<br />
er 1974 überarbeitete. Marin Alsop erarbeitete<br />
2018 eine eigene Fassung, die in London bejubelt<br />
wurde. Mit Recht! Auch wegen der Besetzung mit<br />
Anne Sofie von Otter, Leonardo Capalbo, Thomas<br />
Allen und dem prächtig aufgelegten, von<br />
Alsop angeleiteten London Symphony Orchestra.<br />
Hinreißende Tanz-im-Garten-Musik!<br />
WEINBERG<br />
Dmitri Schostakowitsch verehrte, ja<br />
vergötterte die zweiaktige Oper Die<br />
Passagierin, , op. 97 von Mieczyslaw<br />
Weinberg (1919–1996). 1996). Und doch ist das kom-<br />
plexe Werk über die Schoah noch immer eher<br />
ein Bühnenstiefkind. Nun präsentiert Capriccio<br />
den Mitschnitt der hochgelungenen Grazer Inszenierung<br />
im Oktober 2021 mit Roland Klut-<br />
tig, den Grazer Philharmonikern und den sehr<br />
guten Solisten Dshamilja Kaiser, Nadja Stefanoff<br />
und Markus Butter (Capriccio). So bewe-<br />
gend wie musikalisch farbig. Hörenswert. A.K.<br />
32 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 32 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58
Jetzt geht es<br />
alle an<br />
In ihrem Jugendroman Dazwischen: Ich ließ Julya<br />
Rabinowich 2016 ihre Heldin Madina erzählen, wie es ist,<br />
flüchten zu müssen und dann zu merken: Auch im vermeintlich<br />
sicheren Land ist nicht alles eitel Wonne. Eine Asylunterkunft hat<br />
wenig gemeinsam mit einer Ferienanlage. Nun legte die Autorin<br />
mit Dazwischen: Wir eine Fortsetzung vor.<br />
Von Alexia Weiss<br />
© Hanser Verlag<br />
Madina hat sich verändert. Der<br />
Kampf ums Hier-bleiben-Dürfen<br />
ist gewonnen, mit ihrer Familie<br />
wohnt sie nun bei ihrer Freundin<br />
Laura. Stück für Stück versucht sie zu leben,<br />
wie eine Jugendliche hier zu Lande<br />
lebt, bemüht sich dabei aber auch, niemanden<br />
vor den Kopf zu stoßen. Noch<br />
sucht sie ihren Platz irgendwo zwischen<br />
den Usancen im Herkunfts- und jenen im<br />
Zufluchtsland.<br />
Dem Grenzen-Ausloten kommt die innerliche<br />
vorauseilende Fürsorge vor allem<br />
für die Mutter in die Quere. Madina ist für<br />
eine Jugendliche sehr erwachsen geworden,<br />
vielleicht auch, weil ihr nun sehr viel<br />
Verantwortung zukommt: Die Mutter leidet<br />
an Depressionen, für den kleinen Bruder<br />
ist sie daher mehr Mutter als Schwester.<br />
Und der Vater ist nicht mehr hier. Ihn<br />
vermisst sie, immer wieder kreisen ihre<br />
Gedanken um ihn. Die Beziehung mit<br />
Markus ist neues Terrain. Und dann ergeben<br />
sich auch noch in der Freundschaft<br />
mit Laura Bruchstellen.<br />
Nein, obwohl Madina nun vermeintlich<br />
in Sicherheit ist, im Paradies ist sie<br />
nicht angelangt, im Kleinen nicht und im<br />
Großen auch nicht. Vor Krieg und Hass<br />
ist sie geflohen, um sich nun einem ausländerfeindlichen<br />
Mob gegenüber zu sehen.<br />
Mit rassistischen Schmierereien<br />
fängt es an – „Asylanten – weg mit dem<br />
Dreck“ –, dann kommen die „Ausländer<br />
raus!“-Rufe. Zuerst auf dem Hauptplatz,<br />
später vor der Türe. Wenn eine grölende<br />
Menge vor dem Haus steht, mit Fackeln in<br />
Julya Rabinowich:<br />
Dazwischen: Wir.<br />
Roman, Hanser <strong>2022</strong><br />
256 S., € 17,94<br />
der Hand, dann ist das schon ein ziemlich<br />
bedrohliches Szenario.<br />
Der Titel „Dazwischen: Wir“ ist allerdings<br />
Programm: längst geht es nicht mehr<br />
nur um die Geschichte Madinas. Julya<br />
Rabinowich schreibt hier unser aller<br />
Geschichte: Wie reagieren wir, wenn<br />
Menschen in unserer Mitte von anderen<br />
Menschen ausgegrenzt und angefeindet<br />
werden? Wie entwickelt sich ein Mob, wie<br />
wird er stärker, und wie können sich ihm<br />
andere entgegenstellen? Zivilcourage ist<br />
hier gefragt. Angesichts dessen, was wir<br />
derzeit auf den Straßen Wiens im Rahmen<br />
der Proteste von Coronamaßnahmengegnern<br />
nahezu jeden Samstag erleben,<br />
sind das Fragen, die aktueller nicht<br />
sein könnten.<br />
Gleichzeitig entwickelt Rabinowich vor<br />
allem die Erzählerin Madina geschickt<br />
Julya Rabinowich schreibt hier unser aller Geschichte:<br />
Wie reagieren wir, wenn Menschen<br />
in unserer Mitte von anderen Menschen ausgegrenzt<br />
und angefeindet werden?<br />
weiter, fügt sanft statt plakativ ein Puzzle<br />
der Zerrissenheit zusammen. Auch wenn<br />
hier große gesellschaftliche Fragen mitverhandelt<br />
werden, ist es dennoch eine<br />
Coming-of-age-Geschichte, die die Autorin<br />
feinfühlig erzählt. Und ja, da merkt<br />
man, dass sie weiß, wovon sie spricht.<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
feb22.indb 33 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58
Bilder für die Ewigkeit<br />
Dora und Anna<br />
Ein zeitloses Leben<br />
Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Dora und<br />
Anna Kallmus wird von der Kulturpublizistin Eva Geber<br />
anhand der Tagebücher und Aufzeichnungen von Dora,<br />
die als die Fotografin Madame D’Ora berühmt wurde, im<br />
Buch Madame D’Ora – Tagebücher nacherzählt.<br />
Von Viola Heilman<br />
„Auf ihr, da<br />
krabbelt eine<br />
Mücke zu Rad,<br />
die andere geht<br />
zu Fuß.“<br />
Dora Kallmus<br />
lenciaga, durch seine Kontakte doch noch<br />
ein Visum zur Ausreise zu bekommen. Als<br />
dann im März 1943 tatsächlich zwei Visa<br />
für beide Schwestern nach Spanien ausgestellt<br />
werden, kommt die Die Rettung für<br />
Anna zu spät. „Und der Schmerz um Anna<br />
entzündet die Wunde“, schreibt Dora.<br />
Als die deutschen Truppen 1942 in Mâcon<br />
einrückten, flüchtete Dora weiter südlich<br />
nach Lalouvesc. Sie wohnte dort bei<br />
einer Familie, die ihr Unterkunft gab. Aus<br />
Dankbarkeit und vielleicht auch aus Langeweile<br />
flickte sie deren Wäsche. In Lalouvesc<br />
lebte Dora bis Ende 1946 unter ständiger<br />
Gefahr, verhaftet zu werden und in<br />
ein Lager zu kommen.<br />
Die Lebensgeschichte der beiden Frauen,<br />
Dora und Anna Kallmus, hat jetzt Eva Geber<br />
anhand der Tagebücher und Aufzeichnungen<br />
von Dora im Buch Madame D’Ora<br />
– Tagebücher aus dem Exil herausgegeben.<br />
Schon 1992 hat Eva Geber<br />
über Dora Kallmus in<br />
Die Frauen Wiens geschrieben.<br />
Damals lernte sie Monika<br />
Faber vom Wiener Photoinstitut<br />
Bonartes kennen,<br />
die bereits einen umfangreichen<br />
Bildband über Madame<br />
D’Ora herausgegeben<br />
hatte.Aber den Entschluss,<br />
das nun erschienene Buch<br />
zu schreiben, hat Eva Geber 2018 nach<br />
dem Besuch einer großen Ausstellung im<br />
Leopold Museum über das Werk von Madame<br />
D’Ora gefasst. Bei dieser Ausstellung<br />
gab es auf Tafeln verschiedene Zitate von<br />
Dora, die als Quellenangabe auf die Ta-<br />
Mâcon und Lalouvesc sind<br />
zwei bezaubernde französische<br />
Kleinstädte etwa vierhundert<br />
Kilometer südlich<br />
von Paris entfernt. Diese Entfernung<br />
zu Paris war für die berühmte Fotografin<br />
Dora Kallmus, bekannt unter ihrem<br />
Künstlernamen Madame D’Ora, lebensrettend,<br />
als 1940 die Nationalsozialisten<br />
in Paris einmarschierten und den Norden<br />
Frankreichs besetzten. Sie verkaufte augenblicklich<br />
ihr Atelier an die Enkel des<br />
Dramatikers Tristan Bernard, arbeitete allerdings<br />
noch dort bis zur großen Razzia<br />
im Juli 1942. Danach flüchtet sie, damals<br />
61 Jahre alt, mit einer jüdischen Mitarbeiterin<br />
aus ihrem Atelier vor den deutschen<br />
Besatzern in die Zone Libre. Mâcon<br />
hat eine imposante Brücke über die Saône,<br />
den Pont Saint-Laurent, dessen Steinbögen<br />
sich im Fluss malerisch spiegeln. Dora<br />
beschreibt die Stadt und<br />
die Brücke in ihrem Tagebuch<br />
und vermerkt an einer<br />
Stelle humorvoll: „Auf<br />
ihr, da krabbelt eine Mücke<br />
zu Rad, die andere geht<br />
zu Fuß.“ Sie schreibt aber<br />
auch, dass sie sich schämt,<br />
an einem so schönen Ort<br />
zu sein, an dem es ihr gut<br />
geht, während gleichzeitig<br />
ihrer Schwester Anna<br />
in Wien die Deportierung<br />
droht. Dora bemühte sich von Paris aus,<br />
ein Visum für die geliebte Schwester zu<br />
bekommen. Wie auch schon in Wien,<br />
kannte Dora in Paris sehr einflussreiche<br />
Menschen. Sie wandte sich an ihren<br />
Freund und Modeschöpfer Cristobal Bagebücher<br />
und Aufzeichnungen hinwiesen.<br />
Vermerkt war auch, dass Dora diese<br />
Texte veröffentlichen wollte, aber abgelehnt<br />
wurde. „Ablehnung gegenüber einer<br />
Frau halte ich nicht aus, und deswegen<br />
habe ich begonnen, mehr darüber<br />
herauszufinden.“<br />
Anfänglich wusste Eva Geber nicht, dass<br />
Dora eine Schwester hatte, mit der sie sehr<br />
eng verbunden war. Anna war vier Jahre<br />
älter als Dora und lebte ein zurückgezogenes<br />
Leben in Frohnleiten bei Graz. Warum<br />
Anna ein Haus in Frohnleiten kaufte, um<br />
dort zu leben, ist bis heute nicht geklärt.<br />
Vielleicht war es die Haushälterin von Arthur<br />
Schnitzler, die mit Anna befreundet<br />
war und ihr diesen Hauskauf empfahl. Für<br />
beide Schwestern war die „Villa Doranna“<br />
in Frohnleiten ein Rückzugsort und eine<br />
Möglichkeit für Dora, sich von ihrer intensiven<br />
Arbeit zu erholen.<br />
Die Schwestern wuchsen Ende des 19.<br />
Jahrhunderts als Töchter eines bekannten<br />
Rechtsanwalts in wohlhabenden Verhältnissen<br />
in Wien auf und wurden nach dem<br />
Tod der Mutter von englischen und französischen<br />
Gouvernanten erzogen. Dora<br />
wollte Fotografin werden und ging 1907<br />
nach Berlin, um Fotografie bei Nikolaus<br />
Perscheid zu lernen. Für Dora war diese<br />
Ausbildung prägend, so schreibt sie, „Perscheid,<br />
das war für die Ewigkeit.“<br />
Zurück in Wien eröffnete Dora ihr erstes<br />
Atelier und kam bei der Wiener Gesellschaft<br />
als Fotografin sehr schnell in Mode.<br />
Doch bald wird Dora Wien zu eng und sie<br />
übersiedelt 1925 nach Paris, wo sie ebenso<br />
erfolgreich in ihrem Atelier bekannte Persönlichkeiten<br />
fotografiert.<br />
34 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 34 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58
Madame D’Ora und ihre<br />
Schwester Anna mit ihren<br />
Hunden vor dem Haus in Frohnleiten,<br />
Steiermark. Foto von<br />
Franz Xaver Setzer, um 1935.<br />
Dora und Anna hatten ein besonders<br />
enges Verhältnis. Aus dem Briefwechsel<br />
zwischen den Schwestern liest man,<br />
wie unglücklich Dora war, wenn sie ein<br />
paar Tage nichts von Anna hörte. Der<br />
rege Briefwechsel zwischen den Schwestern<br />
wurde besonders intensiv, als Anna<br />
das Haus in Frohnleiten durch Arisierung<br />
verloren hatte und aufgrund der Ausweisung<br />
aller Juden aus der Steiermark nach<br />
Wien in ihre Wohnung im 5. Bezirk mit einem<br />
Geschwisterpaar zog. Dieses Zusammenleben<br />
war für die an Einsamkeit ge-<br />
wöhnte Anna nicht leicht zu ertragen. Sie<br />
hoffte mit dem Erlös des Hauses aus Österreich<br />
fliehen zu können, aber da das Geld<br />
von den Nationalsozialisten nie überwiesen<br />
wurde, war Anna gezwungen, in Österreich<br />
zu bleiben und wurde 1941 nach<br />
Łódź in Polen deportiert und im Ghetto<br />
ermordet.<br />
Schon im Moment der Flucht aus Paris<br />
und mit der zunehmenden Angst um<br />
die Schwester ändert Dora die Themen<br />
in ihrer Kunst und ihre Lebenseinstellung.<br />
Der frühere Wunsch nach Luxus<br />
Eva Geber (Hg.):<br />
Madame D’Ora.<br />
Tagebücher aus<br />
dem Exil.<br />
Mandelbaum <strong>2022</strong>,<br />
254 S., € 24<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
feb22.indb 35 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:00
Frauengeschichte(n)<br />
EVA GEBER<br />
ist Grafikerin, Autorin, Kulturpublizistin<br />
35 Jahre AUF-Redaktion, Mitglied der Grazer AutorInnenversammlung,<br />
2009 Wiener Frauenpreis, 2013 Anerkennung<br />
Bruno Kreisky Preis für das politische Buch Der Typus der kämpfenden<br />
Frau, 2018 Goldenes Verdienstzeichen des Landes<br />
Wien, 2021 Theodor Kramer Preis.<br />
und Verschwendung weicht extremer<br />
Bescheidenheit. Nachdem sie in ein kleines<br />
Dachzimmer in einem Hotel in Mâcon<br />
gezogen ist, schreibt sie in ihr Tagebuch:<br />
„Ich will nie mehr in etwas Größerem leben,<br />
alles was drüber ist, ist nur für den<br />
Neid des Nachbarn.“ Der Satz fängt allerdings<br />
an mit den Worten: „Früher wollte<br />
ich 10 Zimmer.“ Sie schreibt weiter, dass<br />
die neue Einstellung ihrer Schwester Anna<br />
gefallen hätte, „sie hätte mich nicht wiedererkannt.“<br />
Scheinbar hatte Anna immer<br />
wieder kritisiert, was sie im Leben von<br />
Dora nicht richtig fand. Auch nach dem<br />
Krieg, zurück in Paris, hatte Dora auch nur<br />
mehr eine Dunkelkammer mit acht Quadratmetern<br />
und wohnte bei einer Dame als<br />
Untermieterin.<br />
Die Arbeiten von Dora gehen ab 1946<br />
in eine völlig andere Richtung. Sie fotografiert<br />
„Displaced Persons“ in den<br />
Flüchtlingslagern der UNRRA und in den<br />
Schlachthäusern von Paris das industrielle<br />
Töten. Die Ähnlichkeit zu Bildern aus<br />
dem Holocaust ist unübersehbar. Haare,<br />
Zähne, Tierteile sind die Sujets. Seltsamerweise<br />
spricht Dora mit niemandem<br />
über diese Arbeit. Aus Angst fragt sie offenbar<br />
auch niemand, warum sie diese<br />
Bilder macht. 1958 hat Dora in Paris eine<br />
große Retrospektive über ihr Lebenswerk,<br />
die Jean Cocteau eröffnet. Auch hier wird<br />
die Thematik der Bilder nicht hinterfragt.<br />
Fotografien bekannter Persönlichkeiten in<br />
einem luxuriösen Ambiente werden neben<br />
Tierkadavern in den Pariser Schlachthöfen<br />
gezeigt.<br />
Ab 1946 kämpfte Dora von Paris aus,<br />
um das Haus in Frohnleiten wieder in<br />
ihr Eigentum zu bekommen. Dabei halfen<br />
ihr ein Rechtsanwalt und ein Sammler<br />
in Deutschland, der zu einem engen<br />
Freund geworden war. Es gelang 1948, das<br />
Haus wieder an Dora zu restituieren, allerdings<br />
blieben die bisherigen Bewohner<br />
im Haus, und Dora bekam nur eine kleine<br />
Kammer zu ihrer Benützung.<br />
Die Recherche zu dem jetzt erschienenen<br />
Buch stellten Eva Geber vor große Probleme<br />
„Ich habe zuerst alle Stellen orten<br />
müssen, wo ich Material finde. Da war zuerst<br />
das Archiv im Preus-Museum für Fotografie<br />
in Horten, Norwegen, dann der Briefwechsel,<br />
der in Hamburg im Museum für<br />
Kunst und Gewerbe war. Reisen war wegen<br />
der Pandemie unmöglich. Vorher geplante<br />
Reisen wurden kurzfristig storniert. Aber<br />
zum Glück hatte das Team im Photoinstitut<br />
Bonartes fast das gesamte Material in<br />
ihrem Archiv“, das Eva Geber<br />
zugeschickt bekam. Problematisch<br />
war auch die Qualität<br />
der Unterlagen. Nur schwer<br />
zu entziffern waren die Aufzeichnungen<br />
von Dora durch<br />
ihre wechselnden Schriftbilder,<br />
die durch unterschiedliche<br />
Stimmungen entstanden.<br />
Die intensive Arbeit mit<br />
dem schriftlichen Nachlass<br />
hat Eva Geber den Charakter<br />
und die Lebenseinstellung<br />
von Dora Kallmus nachvollziehen<br />
lassen. Sie beschreibt<br />
sie als Misanthropin, die ihre<br />
Probleme mit den Menschen<br />
Madame D’Ora,<br />
hier auf einem<br />
Selbstbildnis aus<br />
dem Jahr 1929, zählte<br />
zu den bekanntesten<br />
Fotograf:innen ihrer<br />
Zeit.<br />
hatte, die sie umgaben. Sie beschrieb oft<br />
in komischer Weise diesen Zustand. Ein<br />
treffender Satz dazu ist: „Ich habe lieber<br />
Kontakt zu schlechten Menschen mit guten<br />
Manieren als zu guten Menschen mit<br />
schlechten Manieren.“<br />
Infolge eines Autounfalls 1959 litt Mme<br />
D’Ora an zunehmender Beeinträchtigung<br />
ihres Gedächtnisses. Sie verbrachte ihre<br />
letzten Lebensjahre bei einer Freundin ihrer<br />
ermordeten Schwester Anna in Frohnleiten.<br />
1963 verstarb Dora 82-jährig und<br />
wurde zunächst auf dem Friedhof Frohnleiten<br />
begraben. Allerdings wurde dieses<br />
Grab aufgelöst, wobei der Leichnam im<br />
Grab verblieb, und ein neues Grab wurde<br />
darüber errichtet. Über Intervention des<br />
Präsidenten der Jüdischen Gemeinde<br />
Graz, Elie Rosen, wurden die sterblichen<br />
Überreste von Dora Kallmus am 24. Oktober<br />
2019 exhumiert, überführt und in einem<br />
Ehrengrab auf dem Jüdischen Friedhof<br />
Graz beigesetzt. 2020 wurden dann<br />
auch zwei Stolpersteine vor der ehemaligen<br />
Villa Doranna gesetzt und eine Gedenktafel<br />
errichtet. Eva<br />
„Ablehnung<br />
gegenüber<br />
einer Frau halte<br />
ich nicht aus,<br />
und deswegen<br />
habe ich begonnen,<br />
mehr<br />
darüber herauszufinden.“<br />
Eva Geber<br />
Geber, die zu diesem Anlass<br />
eine Rede über die<br />
beiden Schwestern hielt,<br />
trug Stellen aus den Tagebüchern<br />
vor, die sich<br />
auf die Verfolgung von<br />
Anna und Dora Kallmus<br />
bezogen. Die Zuneigung<br />
der Schwestern, ihre<br />
Ängste und Sorgen, eine<br />
um die andere in ihrer<br />
Ausweglosigkeit, trieb<br />
dem anwesenden Publikum,<br />
darunter steirischer<br />
Prominenz, Tränen<br />
in die Augen.<br />
© Archiv Setzer-Tschiedel / Imagno / picturedesk.com<br />
36 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 36 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:02
Ein schwarzes Schaf<br />
flippt aus<br />
In seinem aberwitzigen Roman kaddish.com erzählt der<br />
Amerikaner Nathan Englander vom Dilemma<br />
eines Sohnes in den Zeiten des Internets.<br />
Von Anita Pollak<br />
Nathan Englander:<br />
kaddish.com.<br />
Deutsch von Werner<br />
Löcher-Lawrence.<br />
btb,<br />
240 S., € 12,40<br />
Schon bei der Schiwa für seinen verstorbenen<br />
Vater fühlt sich Larry<br />
höchst unwohl. Wie es während der<br />
Trauerwoche üblich ist, gehen Nachbarn<br />
und Freunde ein und aus im orthodoxen<br />
Haus seiner Schwester Dina in Memphis,<br />
dreimal täglich wird dort das Kaddisch gebetet,<br />
an dem Larry mehr nolens als volens<br />
teilnimmt. Doch als Dina von ihm als<br />
einzigem Sohn verlangt, dieses Totengebet<br />
für den Vater auch noch die nächsten<br />
elf Monate zu sprechen, und zwar, wie es<br />
das jüdische Gesetz vorschreibt, „achtmal<br />
am Tag“ in einer Synagoge, da flippt das<br />
schwarze Schaf der Familie total aus.<br />
„Glaubt wirklich jemand, dass G-tt mit<br />
einer Punktekarte dahockt und jedes von<br />
Larrys Gebeten mit einem Häkchen versieht?“<br />
Als säkularer Jude in Brooklyn lebend,<br />
hat sich Larry „postreligiös“ längst von seinem<br />
Glauben entfernt. Doch hier geht es<br />
um nichts weniger als um das ewige Seelenheil<br />
seines Vaters in der „Kommenden<br />
Welt“, Sein oder Nichtsein im „Gan Eden“,<br />
im Paradies.<br />
„Im Notfall“ könnte er diese Sohnespflicht<br />
an einen Stellvertreter auslagern,<br />
eröffnet ihm ein Rabbi. Schlaflos im Kinderbett<br />
seines Neffen liegend, findet Larry<br />
auf seinem Laptop surfend nach einer Pornoseite<br />
schließlich auch auf die rettende<br />
Website kaddish.com und besiegelt mit<br />
seiner Kreditkarte blitzartig den Handel<br />
mit Chemi, einem Jeschiwa-Studenten in<br />
Jerusalem, von dem er sogar ein Foto sieht.<br />
Metamorphosen. Zwanzig Jahre danach<br />
ist aus dem einstigen Abtrünnigen ein<br />
reuiger Rückkehrer geworden, aus Larry<br />
Reb Shuli, Lehrer in eben der orthodoxen<br />
Brooklyner Jeschiwa, an der er selbst<br />
lernte, ein glücklicher Ehemann und Vater<br />
zweier Kinder. Eine durchaus koschere<br />
Idylle, bis Shuli<br />
durch einen Schüler,<br />
der das Kaddischgebet<br />
für seinen verstorbenen<br />
Vater verweigert,<br />
eine Art Retraumatisierung<br />
erfährt, die<br />
ihn vollends aus der<br />
Bahn wirft. Eine Obsession<br />
ergreift ihn,<br />
er will von Chemi<br />
quasi sein Kaddisch-<br />
Recht zurück, aber<br />
dieser scheint in den<br />
Weiten des Internets,<br />
das Shuli mit Hilfe eines<br />
computeraffinen<br />
Schülers durchsucht,<br />
„Glaubt<br />
wirklich<br />
jemand, dass<br />
G-tt mit einer<br />
Punktekarte<br />
dahockt und<br />
jedes von<br />
Larrys Gebeten<br />
mit einem<br />
Häkchen<br />
versieht?“<br />
spurlos verschwunden.<br />
Alle flehenden<br />
Mails bleiben über Monate unbeantwortet,<br />
bis sich der Verzweifelte selbst nach<br />
Jerusalem auf und dort nach vielen harten<br />
Wochen eine ernüchternde Entdeckung<br />
macht. Dass es in dieser beinahe<br />
pathologischen Fallgeschichte dennoch<br />
zu einer Art Happy End kommt, muss<br />
überraschen.<br />
Insiderwissen. Nathan Englander, selbst<br />
aus einer orthodoxen New Yorker Community<br />
stammend und säkular lebend,<br />
kennt beide Welten. Aus den Konflikten,<br />
die sich aus dieser Spannung ergeben,<br />
schöpft er seine kreative Kraft als Erzähler,<br />
zuallererst in seinem höchst erfolgreichen<br />
Kurzgeschichtendebüt Zur Linderung<br />
unerträglichen Verlangens.<br />
Satirisch, tragikomisch, selbstironisch,<br />
zum Teil bizarr überzogen, mit jüdischem<br />
Witz und Herz und mit viel Insider-Knowhow<br />
lässt er divergierende Welten aufeinander<br />
clashen, so auch die diversen Facetten<br />
des amerikanischen<br />
Judentums, nicht zuletzt in<br />
dessen Beziehung zu Israel,<br />
wo der Autor selbst viele Jahre<br />
gelebt und studiert hat. Seine<br />
Milieus sind stimmig, denn er<br />
kennt sie genau und betrachtet<br />
sie liebevoll distanziert.<br />
In den abgeschotteten Räumen<br />
der Talmud-Schüler und<br />
Gelehrten greift das an sich<br />
verbotene Internet Platz, in<br />
seiner allumfassenden allwissenden<br />
Präsenz horribile<br />
dictu G-tt gleich. Geist und<br />
Buchstaben der Gesetze driften<br />
auseinander, Auslegung<br />
stößt auf Auslegung, Fassaden<br />
können täuschen und das<br />
nicht nur in den engen Gassen<br />
frommer Jerusalemer Viertel. Von all dem<br />
erzählt Englander aberwitzig und kenntnisreich,<br />
wobei er sein jüdisches, auch talmudisches<br />
Wissen manchmal doch eine<br />
Spur zu plakativ ausstellt. Ohne das angefügte<br />
Glossar bliebe vieles letztlich unverständlich.<br />
Nicht ganz zu Unrecht wird Nathan Englander<br />
oft mit dem jungen Philip Roth verglichen.<br />
Da liegt die Latte zwar etwas hoch,<br />
doch in die große Tradition der jüdisch-satirischen<br />
Erzähler Amerikas darf er sich<br />
wohl einreihen.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
feb22.indb 37 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:02
Zahllose Narrative<br />
Wer immer noch nicht<br />
auf kulturelle Live-<br />
Erlebnisse zwischen<br />
den Pandemie-bedingten<br />
Pausen verzichten<br />
will, muss gute organisatorische<br />
Fähigkeiten aufweisen. Denn es<br />
geht nicht nur darum, die ständig wechselnden<br />
Aufführungstermine hin- und<br />
herzuschieben, sondern auch die erforderlichen<br />
PCR-Tests punktgenau einzuplanen.<br />
Das Zittern und Beten um den<br />
auch rechtzeitig eintreffenden Befund<br />
wird zuweilen nur durch die Vorfreude<br />
auf den Opern- oder Theaterbesuch etwas<br />
gemildert.<br />
Dieses Klagelied betrifft derzeit die unbeirrbar<br />
Nervenstarken, die nicht auf lebendigen<br />
Kulturgenuss verzichten können<br />
und wollen. Aber wie sieht es auf der<br />
anderen Seite aus? Seit zwei Jahren sind<br />
flexible Manager in den Abonnenten-,<br />
Karten-, und Besetzungsbüros nicht nur<br />
nachgefragt, sondern unbedingt erforderlich.<br />
Besonders schlimm ist es für Musiker,<br />
Darsteller und Künstlerinnen, die<br />
sich in bereits lang geplante Stücke einarbeiten,<br />
zu proben beginnen, plötzlich<br />
unterbrechen müssen und die Spannung,<br />
die diese Arbeit erfordert, verlieren und<br />
immer wieder neu aufbauen müssen.<br />
Sophie von Kessel und Philipp Hauß,<br />
beide Ensemblemitglieder des Wiener<br />
Burgtheaters, freuten sich daher umso<br />
mehr, dass sie in der ersten Produktion<br />
im neuen Jahr – nach zwei Verschiebungen<br />
– endlich spielen konnten. Sophie<br />
von Kessel verkörpert die Hauptrolle in<br />
Die Ärztin von Robert Icke, „sehr frei nach<br />
Professor Bernhard von Arthur Schnitzler“,<br />
wie es im Untertitel heißt. „Diese Rolle<br />
ist sehr anspruchsvoll, aber auch ein Geschenk“,<br />
schwärmt die 1968 in Mexico<br />
City als Tochter eines Diplomaten aus altem<br />
Adel geborene Schauspielerin. „Erstens,<br />
dass man als Frau eine Rolle in dieser<br />
Größenordnung spielen kann, denn<br />
für Frauen, und schon gar nicht in meinem<br />
Alter, sind solche Stoffe an einer<br />
Hand abzuzählen“, meint die 53-jährige<br />
zweifache Mutter. „Der besondere Reiz<br />
und die Herausforderung ist es, all diese<br />
Qualitäten wie Scharfsinnigkeit, hohe Intelligenz<br />
und Zielstrebigkeit konsequent<br />
durchzuziehen, weil es Eigenschaften<br />
Sophie von Kessel<br />
und Philipp Hauß<br />
freuen sich drauf,<br />
dass sie nun nach<br />
zwei Verschiebungen<br />
in der ersten Produktion<br />
im neuen Jahr<br />
auftreten können.<br />
Die Jugend mit Klassiker-<br />
Neudeutungen ins<br />
Theater bringen<br />
Arthur Schnitzlers Dauerbrenner Professor<br />
Bernhardi mutiert am Burgtheater zur „Ärztin“<br />
Ruth Wolff. Das Thema des Antisemitismus<br />
geht nicht verloren: Es wird mit heutigen<br />
Identitätsdiskursen angereichert.<br />
Von Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />
38 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 38 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:06
Vorurteilsbehaftete Stigmatisierung<br />
Simon Stone und Robert<br />
Icke zu sagen, ich schreibe<br />
es neu, will aber auch nicht<br />
so tun, als käme es ganz von<br />
mir. Ich signalisiere damit<br />
klar, ich beziehe mich auf<br />
die Vorlage.“ Bei der harschen<br />
Kritik an Klassikeradaptionen,<br />
meint Hauß,<br />
sollte man schon bedenken,<br />
dass es fast kein Werk<br />
der Weltliteratur gibt, das<br />
nicht in irgendeiner Form<br />
eine Überschreibung ist<br />
oder sich zumindest auf<br />
vorangegangene Texte besind,<br />
die vor allem Männern zugeschrieben<br />
werden“, lacht Kessel. „Ich will nicht<br />
sagen, dass ich die Eigenschaften nicht<br />
habe, aber ich musste schon in mir danach<br />
suchen: Jetzt habe ich keine Angst<br />
mehr, auf der Bühne einfach unsympathisch<br />
zu sein, denn die Ärztin ist jedenfalls<br />
eine faszinierende Person.“<br />
Philipp Hauß, der am Reinhardt Seminar<br />
Schauspiel und an der Universität<br />
Wien Philosophie und Kulturwissenschaft<br />
studierte, sekundiert der Kollegin:<br />
„Genauso ist es: Wenn ein Mann zielstrebig<br />
ist, dann nennt man ihn toll. Trifft das<br />
auf eine Frau zu, heißt es, sie sei ehrgeizig<br />
und verbissen.“ So funktioniere es auch<br />
bei den Antisemiten, meint der 1980 in<br />
Münster Geborene: „Wenn ein jüdischer<br />
Unternehmer sehr erfolgreich ist, wird er<br />
als geizig und berechnend bezeichnet. Ist<br />
er aber kein Jude, dann ist er geschickt<br />
und hat sich vorbildhaft hinaufgearbeitet.<br />
Bei Donald Trump war das so, und es<br />
gibt zahllose ähnliche Narrative.“<br />
Warum werden diese erfahrenen<br />
Schauspieler bei dieser Produktion so<br />
nachdenklich und tief schürfend? Weil<br />
sie den Schnitzler’schen Klassiker Professor<br />
Bernhardi, wo es um blanken Antisemitismus<br />
und dessen politische Instrumentalisierung<br />
geht, in einer kompletten<br />
Neufassung spielen. Der 35-jährige englische<br />
Regisseur und Autor Robert Icke ist<br />
bekannt für seine Überschreibungen und<br />
Inszenierungen klassischer Texte. Er hat<br />
mit seinen Adaptionen in London große<br />
Erfolge gefeiert und zahlreiche Preise<br />
eingeheimst. Inzwischen ist Icke mit seinen<br />
Inszenierungen in Stuttgart, Amsterdam<br />
und Basel gelandet – mit Die Ärztin<br />
folgte nun sein Wien-Debüt. Der britische<br />
Regisseur hat sein Konzept der Londoner<br />
Uraufführungsproduktion The Doctor aus<br />
dem Jahr 2019 nahezu unverändert für<br />
das Burgtheater übertragen.<br />
Um die Ärztin von Robert Icke zu verstehen,<br />
muss man Schnitzlers Original,<br />
das in Wien bis 1918 von der Zensur verboten<br />
war und 1912 in Berlin uraufgeführt<br />
wurde, nicht kennen. Denn der junge<br />
Brite erzählt eine Geschichte, die in sich<br />
schlüssig ist. Dennoch schreibt er dazu,<br />
dass sein Werk „sehr frei nach Schnitzlers<br />
Bernhardi“ entstanden ist. „Robert<br />
Icke ist überzeugt, dass das Theater aussterben<br />
wird, wenn es nicht gelingt, die<br />
Jugend mit Themen zusammenzubringen,<br />
die sie betreffen und interessieren“,<br />
erklärt Philipp Hauß. „Statt etwas<br />
nur nachzuahmen, wie es<br />
im deutschen Sprachraum<br />
auch schon geschah, finde<br />
ich es konsequenter, wie<br />
„Der besondere<br />
Reiz ist es,<br />
all diese Qualitäten<br />
konsequent<br />
durchzuziehen,<br />
weil es Eigenschaften<br />
sind,<br />
die vor allem<br />
Männern zugeschrieben<br />
werden.“<br />
Sophie von Kessel<br />
zieht, „das ist ein Wesensmerkmal literarischer<br />
Produktion überhaupt.“<br />
Schnitzlers Original handelt von einem<br />
introvertierten jüdischen Arzt, Leiter einer<br />
Privatklinik, auf dessen Abteilung<br />
ein junges Mädchen nach einer misslungenen<br />
illegalen Abtreibung im Sterben<br />
liegt. Als ein Priester eintrifft, um ihr<br />
die letzte Ölung zu geben, verweigert ihm<br />
der Arzt Bernhardi den Gang zum Mädchen:<br />
Er will ihr vor dem Tod die Illusion<br />
belassen, alles werde noch gut. Absichtlich<br />
missverstanden und als christliche<br />
Religionsstörung von antisemitischen,<br />
deutschnationalen Kräften umgedeutet,<br />
verliert Bernhardi die Leitung der Klinik<br />
und geht sogar ins Gefängnis – weil<br />
er sich als etwas naiv-unpolitischer Mediziner<br />
im Recht wähnt und keine faulen<br />
Kompromisse schließen will.<br />
Zeitgeistige Themen übertrumpfen den Antisemitismus.<br />
Als Politstück über den Antisemitismus<br />
in der Monarchie ist es zwar<br />
in seiner Zeit verankert, aber die Thematik<br />
des Stückes – vorurteilsbehaftete Stigmatisierung<br />
jüdischer Menschen – ist wenigstens<br />
hierzulande nie wirklich aus<br />
der Mode gekommen. Auch deshalb verlor<br />
das Drama nie an Aktualität und hielt<br />
sich auf den Theaterbühnen. Der Brite<br />
Icke hat eine an heutigen Identitätsdiskursen<br />
geschärfte Neufassung geschrieben,<br />
denn die politischen<br />
Narrative sind vielfältiger<br />
geworden. Offensichtlich<br />
lockt der ausschließlich<br />
antisemitische Aspekt<br />
die jungen Besucher nicht<br />
mehr ins Theater. Nicht<br />
nur Professor Bernhardi<br />
wird zur lesbischen Frau<br />
Professor Ruth Wolff: Ickes<br />
Inszenierung mischt die<br />
Politik der Zuschreibungen<br />
– Geschlecht, Ethnie,<br />
Religion, sexuelle Orientierung<br />
usw. – auf der darstellerischen<br />
Ebene quirlig<br />
durcheinander. Weiße<br />
Schauspieler werden angesprochen,<br />
als wären sie<br />
schwarz, schwarze sprechen<br />
von sich als weiße.<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
feb22.indb 39 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:09
Aktuelle Erhitzungsmaschinen<br />
Anregendes Gespräch. Die Ensemble-Mitglieder<br />
Sophie von Kessel und Philipp Hauß mit<br />
WINA-Autorin Marta S. Halpert in den Räumen<br />
des Burgtheaters.<br />
Daher wird der Protagonistin Ruth Wolff,<br />
die eine säkulare Jüdin ist, postwendend<br />
Rassismus unterstellt. Während bei Professor<br />
Bernhardi das Figurenpersonal<br />
– außer einer Krankenschwester – rein<br />
männlich ist, dreht sich hier ständig ein<br />
Gender-Karussell.<br />
Sophie von Kessel leitet im Stück eine<br />
renommierte Alzheimer-Klinik, forscht<br />
mit ihrem Team darüber<br />
und ist sogar für den<br />
Nobelpreis im Gespräch.<br />
Wie kommt ein 14-jähriges<br />
Kind nach einer verpfuschten<br />
Abtreibung<br />
auf ihre Klinik? „Das ist<br />
der erste Knackpunkt<br />
der Geschichte. Ich finde<br />
das ohnmächtige Mädchen<br />
bei der Notaufnahme<br />
und nehme sie<br />
aus Mitgefühl und Mitleid<br />
in mein Institut“,<br />
erklärt die vielbeschäftige<br />
Schauspielerin. „Genau<br />
diese ‚weiblichen‘ Eigenschaften<br />
werden mir<br />
von meinen Kollegen abgesprochen,<br />
weil ich die<br />
Klinik autoritär führe.“<br />
„Robert Icke<br />
ist überzeugt,<br />
dass das Theater<br />
aussterben<br />
wird, wenn es<br />
nicht gelingt,<br />
die Jugend<br />
mit Themen<br />
zusammenzubringen,<br />
die sie<br />
betreffen und<br />
interessieren.“<br />
Philipp Hauß<br />
Als sie, ganz wie bei Schnitzler, einen<br />
Priester daran hindert, das Zimmer des<br />
sterbenden Mädchens zu betreten, führt<br />
dieser Vorfall innerhalb kürzester Zeit zu<br />
einem gigantischen Shitstorm in den sozialen<br />
Medien. Die Ärztin wird das Opfer<br />
brutaler politischer Korrektheit, die ihre<br />
Gegner für sich selbst nutzen. Jede Nachbesetzung<br />
in der Klinik wird zur Quotenfrage,<br />
wenn Benachteiligung<br />
oder Unterdrückung einer<br />
Gruppe nur vermutet wird.<br />
So erweitert Icke das Original<br />
um die aberwitzige Cancel<br />
Culture, um die aktuelle<br />
Woke-Bewegung und vieles<br />
mehr.<br />
Ruth Wolff glaubt – ähnlich<br />
wie Bernhardi –, ihre<br />
Zuschreibung durch die Außenwelt<br />
selbst bestimmen zu<br />
können: Sie sieht sich nur als<br />
Ärztin und will sich keinesfalls<br />
als jüdisches Opfer antisemitischer<br />
Angriffe darstellen<br />
lassen. Da täuscht<br />
sie sich, denn auch sie unterliegt<br />
den identitätspolitischen<br />
Querelen und Machtspielen.<br />
„Dass die Ärztin<br />
gerade über Alzheimer forscht, passt<br />
sehr gut in die Diskussion, worum es im<br />
Stück geht“, befindet Sophie von Kessel.<br />
„Mit Alzheimer weiß man sehr bald nicht<br />
mehr, wer man ist. Also braucht man die<br />
Zuschreibung von außen. Und ich konstatiere<br />
vom menschlichen Standpunkt<br />
aus: Ich bin vor allem Ärztin, das ist das<br />
Wichtigste. Währenddessen heißt es in<br />
unserer Welt: Nein, Sie sind Frau, Sie sind<br />
Jüdin, sind intelligent, sind weiß und privilegiert.<br />
Also was bleibt vom Menschen<br />
übrig?“<br />
Philipp Hauß in der Figur des Priesters<br />
(und auch des Vaters der Todgeweihten)<br />
fasziniert die Auseinandersetzung Medizin<br />
versus Religion. „Robert Icke gelingt<br />
es gut, die Komplexität unserer Welt und<br />
ihre aktuellen Erhitzungsmaschinen abzubilden.<br />
Die Aktualität der Ärztin können<br />
wir leider auch an der Covid-Krise<br />
ablesen: Die trägt sowohl antisemitische<br />
Grundzüge wie auch antiaufklärerische,<br />
antifortschrittliche und antiwissenschaftliche“,<br />
erläutert Hauß. „Das<br />
bekommt auch die Ärztin alles vorgesetzt<br />
und muss damit umgehen. Es wäre so einfach<br />
für sie, aus ihrer Position sich zu entschuldigen<br />
oder zu relativieren, aber sie<br />
steht zu ihrem Credo.“<br />
Werden die eingeschworenen Schnitzler-Fans<br />
enttäuscht sein? „Das ist schwer<br />
zu sagen, ich würde mir wünschen, dass<br />
sie unseren Respekt gegenüber dem<br />
Schnitzler-Bernhardi spüren und trotzdem<br />
sehr viel aus der Icke-Fassung mitnehmen.<br />
Vielleicht auch Deprimierendes,<br />
denn wenn man heutige Hass-Mails<br />
liest, ist doch nicht so viel anders“, meint<br />
Philipp Hauß, der Hörspiele schreibt und<br />
in Kürze in zwei Spielfilmen zu sehen sein<br />
wird. „Sie kennen ja Wien gut, die Kontinuität<br />
des Antisemitismus und der Ausgrenzung<br />
ist gegenwärtig. Kaum ist etwas<br />
in Aufruhr, wie jetzt bei der Pandemie,<br />
greift man gleich in die Kiste und holt die<br />
Weltverschwörung raus.“<br />
40 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 40 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:12
„Wir hatten die falschen Träume“<br />
Es wäre vielleicht eine Heldengeschichte, wie sie in Israel<br />
immer noch gerne erzählt wird. Es wäre vielleicht eine<br />
Liebesgeschichte, wenn es anders gelaufen wäre. Und so steht<br />
Was wäre wenn ohne Beistrich und Fragezeichen als Titel auf<br />
Lizzies Dorons neuem Buch, das wieder einmal<br />
eher Autofiktion als Roman ist.<br />
Von Anita Pollak<br />
An verschiedenen Wegkreuzungen<br />
des Lebens muss man sich entscheiden,<br />
und dennoch mag „the<br />
road not taken“ im Rückblick als die verlockendere<br />
Möglichkeit erscheinen. Das beständige<br />
„was wäre, wenn“ überschattet<br />
das Leben von Lizzies Mutter, die als Überlebende<br />
des Holocausts eigentlich keine<br />
Wahl hatte. Wenn es den Krieg nicht gegeben<br />
hätte, sie nicht in Israel gelandet,<br />
ihr Mann nicht gestorben wäre. All diese<br />
müßigen Fragen nerven ihr einziges Kind,<br />
das sie in einem Viertel Tel Avivs, umgeben<br />
von Schicksalsgenossen aus den Lagern,<br />
alleine großzieht. Lizzie will weg von<br />
dort, von ihr, will das Land aufbauen, will<br />
es verteidigen, sogar dafür sterben will sie.<br />
„Wann begreift sie endlich, dass diese<br />
Masche – ‚Ich war im Holocaust und ich<br />
habe nur die eine Tochter‘ – in der Armee<br />
nicht zieht?“, schäumt die junge Soldatin<br />
angesichts der Wollsocken und langen<br />
Unterhosen, die ihr die Mutter peinlicher<br />
weise in die Ausbildungskaserne nachgetragen<br />
hat.<br />
Dieses zwiespältige Aufwachsen als Angehörige<br />
der „Second Generation“ einerseits<br />
und der „Ersten Generation der Erlösung“<br />
andererseits hat Lizzie Doron in<br />
mehreren Büchern beschrieben, für die<br />
sie in Israel vielfach ausgezeichnet wurde.<br />
Als sie sich dann offenbar auf Grund persönlicher<br />
Begegnungen auch literarisch<br />
nicht gerade wenig provokant eher auf die<br />
Seite der von Israel „unterdrückten“ Palästinenser<br />
schlug, fiel sie in ihrer Heimat<br />
zunehmend in Ungnade. Seither erscheinen<br />
ihre Bücher nur noch auf Deutsch und<br />
die inzwischen teilweise in Berlin lebende<br />
Autorin wird quasi unter dem Label der<br />
Lizzie Doron:<br />
Was wäre wenn Roman. Aus dem<br />
Hebräischen von Markus Lemke. dtv 2021,<br />
144 S., € 18,50<br />
„Nestbeschmutzerin“ im Israel-kritischen<br />
Echoraum erfolgreich vermarktet.<br />
Flashbacks. „Wir hatten die falschen<br />
Träume“, erklärte sie in einem Talk zu ihrem<br />
jüngsten Buch, in dem es gerade auch<br />
um das Scheitern dieser Träume geht. Als<br />
exemplarisches Sprachrohr dafür hat sich<br />
Lizzie Doron einen Jugendfreund ausgewählt,<br />
dessen Geschichte sie von seinem<br />
Ende her erzählt oder besser imaginiert,<br />
denn allzu viel weiß<br />
sie ja nicht von ihm.<br />
„Einem, der im<br />
Sterben liegt, schlägt<br />
man keine Bitte ab.“<br />
Und so eilt Lizzie ins<br />
Hospiz an das Totenbett<br />
von Yigal Ben<br />
Dror, der sich ausgerechnet sie als seinen<br />
letzten Besuch erbeten hat. Jahrzehnte hat<br />
sie ihn, der immer wieder an Stationen ihres<br />
Lebens aufgetaucht war, nicht mehr<br />
gesehen, obwohl er über verschiedene Foren<br />
den Kontakt zu ihr suchte.<br />
Nur angedeutet bleibt die zarte Liebesbeziehung<br />
der beiden, von der pubertären<br />
Schwärmerei bis hin zur späten nüchternen<br />
Einsicht: „Er und ich, das geht nicht.“<br />
Gemeinsam hatten sie einst zionistische<br />
Ideale und heroische Siegesträume,<br />
bis Yigal 1973 aus syrischer Kriegsgefangenschaft<br />
gefoltert und schwer traumatisiert<br />
heimkehrt. Seine Erschütterung als<br />
einziger Überlebender im „Friendly Fire“<br />
der eigenen Kameraden im Libanon und<br />
die aus all dem folgende posttraumatische<br />
Belastungsstörung machen aus dem „verrückten“<br />
Yigal auch eine klinische Fallgeschichte<br />
und einen fanatischen Anhänger<br />
der Protestbewegung gegen die Regierung.<br />
Getriggert von der letzten Begegnung<br />
an Yigals Sterbebett erlebt Lizzie ungewollt<br />
immer wieder Flashbacks in ihre<br />
Vergangenheit bis hin in die frühe, vom<br />
Leiden unter der überängstlichen Mutter<br />
geprägten Kindheit. In den über 60 Jahren,<br />
die sie dabei rückblickend Revue passieren<br />
lässt, spiegelt sich zeitgeschichtlich<br />
auch die Vergangenheit einer von kollektiven<br />
Traumata gezeichneten Gesellschaft<br />
„Einem, der im Sterben liegt,<br />
schlägt man keine Bitte ab.“<br />
und Generation, freilich durch die besondere<br />
Optik einer Autorin, deren Protagonist<br />
eine Facebook-Gruppe namens „Welcome<br />
to Israhell“ unterhält. Dass man sich<br />
mit solchen Helden daheim wenig Sympathien<br />
erwirbt, scheint Lizzie Doron von<br />
Deutschland aus nicht ungern in Kauf zu<br />
nehmen.<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
feb22.indb 41 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:12
Emotionale Suche<br />
Manfred Gans<br />
war Ende des Krieges bei der Spezialabteilung<br />
„Three Toop“, ehe er<br />
sich quer durch Europa begab, um<br />
seine Eltern zu suchen.<br />
Else Gans mit ihren drei Söhnen Karl, Theo und Manfred<br />
(von links) vor dem Haus der Familie in Borken, wo sie mit<br />
ihrem Mann die Firma M. & E. Gans – En Gros Export führte.<br />
Manfreds Geschichte<br />
Rückeroberung: Ein Sohn<br />
und jüdischer Geheimkommando-Offizier<br />
im<br />
Sommer 1945 auf der Suche<br />
nach seinen Eltern, die<br />
nach Theresienstadt deportiert<br />
wurden.<br />
Von Alexander Kluy<br />
Es war heiß am 12. Mai 1945, wenige<br />
Tage nach der Kapitulation<br />
Hitler-Deutschlands. An<br />
diesem vierten Tag des Friedens<br />
packte der englische Offizier<br />
Frederick Gray, 23, einige Sachen<br />
zusammen. Er befand sich in Goes, einer<br />
Kleinstadt weit im Westen der Niederlande.<br />
Der Ärmelkanal war zum Greifen<br />
nah. Er wollte aber nach Osten. Nach<br />
Deutschland, nach Nordböhmen. Um<br />
seine Eltern zu sehen. Nach sieben Jahren.<br />
Ein Brief einer Verwandten hatte ihn<br />
erreicht. Darin stand: Deine Eltern leben,<br />
sie sind in Theresienstadt. 1.000 Kilometer<br />
entfernt.<br />
Erste Station: der Niederrhein. Diese<br />
Gegend war Gray aus einem früheren Leben<br />
vertraut. Als er Manfred Gans hieß<br />
und Deutscher war, deutscher Jude. Kleve,<br />
Emmerich, Bocholt: „Ich erinnere mich<br />
an die schönen Tage, die Tage vor 1938.“<br />
Schließlich Borken, die Stadt, in der er aufwuchs.<br />
Sein Vater Moritz, der im Ersten<br />
Weltkrieg ein Bein und einen Lungenflügel<br />
eingebüßt hatte, hatte dort die Firma<br />
M. & E. Gans – En Gros Export gegründet<br />
und geleitet. Er war viel im In- und Ausland<br />
unterwegs ob florierender Geschäfte<br />
– in Borken bewohnte die bald fünfköpfige<br />
Familie eine große Villa –, war aber zu<br />
jedem Sabbat zurück. Die Familie war orthodox.<br />
Und modern, Else Gans war vollwertige<br />
Geschäftspartnerin. Und stadtgesellschaftlich<br />
engagiert. 1929 wurde Moritz<br />
Gans Gemeinderat und war in der jüdischen<br />
Gemeinde aktiv.<br />
Ab 1933 änderte sich das, in rasant infamierenderen<br />
Schritten. 1937 war Manfred<br />
einer von drei jüdischen Schülern, die<br />
das Gymnasium besuchten. Der Familie<br />
war die ökonomische Existenzgrundlage<br />
zuschanden gemacht worden. Vorausschauend<br />
hatte Moritz Gans 1934 im holländischen<br />
Utrecht ein Unternehmen gegründet.<br />
Über dieses sollte nun die Flucht<br />
von Freunden und Verwandten ermöglicht<br />
werden. Manfreds älterer Bruder Karl, damals<br />
16, entkam 1936 nach Tel Aviv. Noch<br />
während der Überfahrt änderte er seinen<br />
Namen zu Gershon Kaddar. Der nächste<br />
war Manfred im Juli 1938. Sein Ziel: Großbritannien.<br />
Englische Sprachkenntnisse?<br />
Kaum vorhanden. Anfang Jänner 1939<br />
folgte ihm der jüngere Bruder Theo.<br />
In der Elitetruppe. Manfred schlug sich<br />
16-, 17-jährig in Manchester als Hilfsarbeiter<br />
durch. Den Eltern gelang Ende August<br />
1939 die Ausreise in die Niederlande,<br />
nach Zandvoort. Wo mit Kriegsausbruch<br />
© privat; Hoffmann und Campe Verlag<br />
42 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 42 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:13
Reise durch ein zerstörtes Europa<br />
Daniel Huhn:<br />
Rückeroberung. Die<br />
Geschichte von Manfred Gans,<br />
der im Mai 1945 Deutschland<br />
durchquerte, um seine Eltern<br />
aus dem KZ zu befreien.<br />
Hoffmann und Campe <strong>2022</strong>,<br />
288 S.,€ 22,70<br />
© privat; Hoffmann und Campe Verlag<br />
„Die meisten<br />
von ihnen, mit<br />
Ausnahme der<br />
Deutschen,<br />
wollen in ihr<br />
jeweiliges Land<br />
zurückkehren.<br />
Der Rest hofft<br />
auf Palästina.“<br />
Manfred Gans<br />
ihre Visa für Großbritannien<br />
hinfällig wurden. 1940<br />
wurde Manfred als „enemy<br />
alien“ interniert, landete<br />
auf der Isle of Man, im Dezember<br />
wurde er Soldat im<br />
britischen Pioneer Corps.<br />
Dann kam er zu einer Spezialabteilung,<br />
der „Three<br />
Troop“. Und musste seinen<br />
Namen ändern in „Frederick<br />
Gray“. Auftrag dieses<br />
jüdisch-deutschsprachigen<br />
Elitekommandos: sich<br />
unbemerkt in feindliche<br />
Stützpunkte einschleichen<br />
und Informationen beschaffen.<br />
Währenddessen<br />
wurden seine Eltern verhaftet,<br />
im Sommer 1943 ins<br />
KZ Westerbork verschleppt,<br />
von dort weiter nach Theresienstadt.<br />
6. Juni 1944: Manfred machte den D-<br />
Day in der Normandie mit. Er kämpfte<br />
sich durch Frankreich und Holland.<br />
Führte Verhöre durch. Kurz nach Pessach<br />
1945 kam er ins befreite Borken. Das wie<br />
das restliche Deutschland in Trümmern<br />
lag. Gray lakonisch-grimmig: „Germany<br />
1945 Style.“ Dann Goes in Holland. Wo<br />
ihn nun die Information aus New York<br />
erreichte, seine Eltern seien in Theresienstadt,<br />
„in einem guten Zustand und bei<br />
gutem Verstand“.<br />
Er entschloss sich auf der Stelle zur<br />
Fahrt durch Deutschland in die russisch<br />
besetzte Tschechoslowakei. Borken. Kassel.<br />
Eisenach. Weimar. Huhn schildert<br />
Greys/Gans’ Stationen kleinteilig. Schließlich<br />
Theresienstadt: Im<br />
Lager, Stalins Roter Armee<br />
inzwischen obliegend,<br />
in der Typhus und<br />
Fleckfieber grassierten,<br />
waren noch rund 30.000<br />
Menschen. Gans notierte:<br />
„Die meisten von ihnen,<br />
mit Ausnahme der Deutschen,<br />
wollen in ihr jeweiliges<br />
Land zurückkehren.<br />
Der Rest hofft auf<br />
Palästina.“ Er fand die Eltern.<br />
Manfred Gans wurde<br />
bald in Deutschland stationiert,<br />
zufällig in seiner<br />
Heimatstadt. Und protokollierte<br />
das opportunistische<br />
Nachkriegslavieren,<br />
das Schuld- und<br />
Verantwortung-Abwälzen. In den folgenden<br />
Monaten war Gans im Ruhrgebiet in<br />
Neuorganisation der Verwaltung und Entnazifizierung<br />
involviert und wurde immer<br />
desillusionierter.<br />
Aus dem Armeedienst entlassen, wurde<br />
er 1947 britischer Staatsbürger, studierte<br />
Chemie in Manchester und am MIT bei<br />
Boston. 1948 heiratete er in New York seine<br />
Jugendliebe, mit der er acht Jahre nur<br />
korrespondiert hatte – sie war rechtzeitig<br />
mit ihrer Familie in die USA ausgewandert.<br />
Als Chemieingenieur und Berater<br />
der UNO bereiste er die Welt. Sein Bruder<br />
Theo ging 1952 nach Israel. Die Eltern<br />
Gans folgten Theo. Seit den 1980er-Jahren<br />
kehrte Manfred Gans immer wieder<br />
als Zeitzeuge nach Borken zurück, nahm<br />
1999 an einem Three-Troop-Gedenktreffen<br />
statt und starb 2010 bei New York.<br />
Auf der Fährte eines Lebens. Daniel Huhn,<br />
Hochschuldozent für Film und Video in<br />
Münster in Westfalen, hat Dokumentarfilme<br />
realisiert und Hörfunkfeatures geschrieben.<br />
Im Impressum findet sich der<br />
Hinweis auf eine mediale Verwertungskette.<br />
Zuerst entstanden ein Zeitungsartikel<br />
über Gans, dann ein Hörfunkfeature,<br />
ein Dokumentarfilm, ein Podcast.<br />
Er konnte zahlreiche Briefe und Aufzeichnungen<br />
in Augenschein nehmen. Nach der<br />
Daniel Huhn:<br />
Alles hat mit einem<br />
Zeitungsartikel<br />
des Jouralismus-Dozenten<br />
über Manfred<br />
Gans begonnen.<br />
ersten Begegnung mit Familienmitgliedern<br />
2016 führte er weitere Gespräche in<br />
Israel und in den USA. Am wichtigsten war<br />
Manfred Gans’ Rapport, den dieser gleich<br />
nach der Suchreise niederschrieb, heute<br />
im Holocaust Memorial Museum in Washington,<br />
D.C., deponiert. Huhn schreibt<br />
eingängig, so wie man es von einem routinierten<br />
Journalismus-Dozenten erwartet.<br />
Eine leicht zugängliche, hie und da<br />
sacht pathetische, instruktive, plastische<br />
Lebens-Fall-Geschichte.<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
feb22.indb 43 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:14
... wissen möchte, was ich nicht sagen darf ...<br />
Der Dichter<br />
und die Macht<br />
Vor 20 Jahren starb der deutsche Schriftsteller Stefan<br />
Heym. Er war jüdischer Emigrant in Amerika, US-Soldat<br />
in Westdeutschland, DDR-Übersiedler und unbequemer<br />
Autor, Alterspräsident des Deutschen Bundestages.<br />
Von Reinhard Engel<br />
König Salomon stieg vom Thron herab, trat auf<br />
mich zu, legte mir seine kurze, fette Hand auf<br />
die Schulter und fragte: „Nu?“<br />
Diese fein ironische Wendung steht<br />
auf den ersten Seiten des Romans<br />
Der König David Bericht von Stefan<br />
Heym. Freilich geht es nicht so harmlos<br />
weiter. Der Ich-Erzähler, der Historiker<br />
und Poet Ethan, soll im Auftrag des Königs<br />
in einer Kommission mitarbeiten,<br />
die das undurchsichtige Leben dessen<br />
Vorgängers, König Davids, dokumentieren<br />
soll. Und zwar in einer für das Regime<br />
freundlichen Weise.<br />
Ethan nimmt den Auftrag allerdings<br />
ernster als von den Mächtigen geplant.<br />
Er beginnt zu recherchieren, spricht mit<br />
Zeitzeugen, sammelt Schriftliches, wo es<br />
dies noch gibt. Und er findet heraus, dass<br />
der große König ein blutrünstiger Tyrann<br />
war, dass ein Gutteil seiner Biografie geschönt,<br />
wenn nicht gar erfunden war, dass<br />
er sein eigenes Wohl deutlich über jenes<br />
des Landes gestellt hatte.<br />
Nun beginnen die Probleme: Wie weit<br />
kann der Berichterstatter gehen mit der<br />
Wahrheit, ehe es ihn den Kopf kostet?<br />
Mein Denken ist ständig gespalten, indem ich<br />
eines weiß und ein anderes sage, oder zu sagen<br />
suche, oder sagen möchte, was ich nicht denken<br />
soll, oder wissen möchte, was ich nicht sagen darf<br />
… Bald erkennt er auch, dass diese Suche<br />
nach der Wahrheit in einem autoritären<br />
Staat mehr bedeutet als die Gedanken eines<br />
einzelnen Wissensbegierigen, sie enthält<br />
politischen Sprengstoff: Wie lange, bis<br />
selbst ein kühler Kopf in jeder zufälligen Ansammlung<br />
einer Gruppe, in jedem geflüsterten<br />
Wort eine Verschwörung sieht?<br />
Bald kommt es auch zur ersten direkten<br />
Bedrohung des Berichterstatters durch<br />
den brutalen Militär- oder Polizeichef<br />
Benaja, der einen umfangreichen Spitzelund<br />
Abhörapparat inklusive Folter- und<br />
Langzeitgefängnisse unterhält: Mach, dass<br />
du fortkommst. Erkennst du denn nicht, dass ihr<br />
Schriftgelehrten dem Volk ein Ärgernis seid und<br />
den Dienern des Königs eine Last?<br />
Schließlich soll der Historiker Ethan<br />
der Macht direkt und schmutzig dienen,<br />
als falscher Zeuge gegen einen unliebsamen<br />
Kritiker des Königs. Wieder Benaja:<br />
Wir brauchen Zeugen … Geständnisse haben<br />
wir in der letzten Zeit überreichlich. Wie diese<br />
Geständnisse zustande gekommen sind,<br />
braucht nicht extra ausgeführt werden.<br />
Wie endet die Geschichte? Ethan steht<br />
am Schluss des Buches wieder vor dem<br />
König, sicher, dass ihn dieser zum Tod verurteilen<br />
wird. Der oberste Scherbe Benaja<br />
hat schon sein Schwert gezogen,<br />
da entscheidet Salomon<br />
politisch schlau: Ein Todesurteil<br />
sei ungünstig für sein eigenes<br />
Image, es hieße dann, er<br />
unterdrücke Gedanken, Ähnliches<br />
gelte, wenn man Ethan<br />
in die Gruben oder Steinbrüche<br />
verbannte.<br />
Darum nun soll er zu Tode geschwiegen<br />
werden; keines seiner<br />
Worte soll das Ohr des Volkes erreichen,<br />
weder durch mündliche Übertragung<br />
noch auf Tontäfelchen, noch<br />
auf Leder; auf dass sein Name vergessen<br />
sei, so als wäre er nie geboren<br />
worden und hätte nie eine Zeile<br />
geschrieben.<br />
Dieser Urteilsspruch fiel im<br />
antiken Israel, aber es war klar,<br />
was damit auch gemeint war:<br />
die Deutsche Demokratische Republik,<br />
deren Bürger Heym war. Der König David<br />
Bericht erschien dort 1972, aber für mehrere<br />
andere Romane Heyms sollte dies<br />
nicht möglich sein, sie konnten nur im<br />
Ausland gedruckt werden.<br />
Das galt etwa für eines seiner bekanntesten<br />
Bücher, 5 Tage im Juni. Darin beschrieb<br />
er an Hand einer kleinen Gruppe<br />
von Romanfiguren die Ursachen und die<br />
letzten Entwicklungen vor dem Aufstand<br />
am 17. Juni 1953. Und auch hier ist der Ton<br />
der Macht jenem im altertümlichen Jerusalem<br />
ganz ähnlich: Entweder du hältst dich<br />
an die Parteibeschlüsse, Genosse Witte, oder du<br />
ziehst die Konsequenzen. So einfach ist das.<br />
Witte ist ein knorriger Gewerkschaftsfunktionär<br />
in einem Berliner Maschinenbaukombinat.<br />
Um ihn herum eskaliert<br />
die Unzufriedenheit mit schlechten<br />
Lebensbedingungen und wiederholt angehobenen<br />
Leistungsquoten, die dann zu<br />
spontanen Arbeitsniederlegungen<br />
und Demonstrationen<br />
führte.<br />
Witte, der davon als<br />
„Ich hab gewusst,<br />
es wird<br />
Trabble geben,<br />
weil ich erstens<br />
ein Jud<br />
bin, welcher<br />
längst hätte<br />
nichts mehr<br />
hätte sein sollen<br />
als ein verwehtes<br />
Rauchwölkchen<br />
über<br />
Auschwitz ...“<br />
solider Betriebsvertrauensmann<br />
ebenso<br />
überrascht wird wie die<br />
Parteikader sinniert:<br />
Da haben wir Schränke<br />
voller Kaderakten, und wie<br />
wenig wissen wir.<br />
Heym beschreibt ein<br />
buntes Panorama von<br />
Männern und Frauen,<br />
persönliche Beziehungen<br />
und konkrete ökonomische<br />
Interessen,<br />
taktierende Parteifunktionäre,<br />
die zwischen<br />
Durchgreifen<br />
und Nachgeben plan-<br />
© ullstein bild - Mehner / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
44 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 44 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:14
Dichter und Politiker<br />
Stefan Heym: „Er war<br />
knorrig und Widerspruch<br />
kaum duldend. Wer mit ihm<br />
stritt, der musste argumentativ<br />
gut gerüstet sein.“<br />
© ullstein bild - Mehner / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
los hin und her schwenken, schließlich<br />
die Russen, deren Panzer dem Aufbegehren<br />
schnell ein Ende setzen. Das Nachspiel<br />
des Romans endet resignativ-melancholisch.<br />
Witte soll als immer noch nicht<br />
ganz zuverlässig aus seiner Vertrauensstellung<br />
im Betrieb abgeschoben oder hinaufbefördert<br />
werden. Man schickt ihn<br />
auf eine Parteikaderschule. Er wehrt sich<br />
zunächst, gibt aber dann doch nach. Sein<br />
Funktionärsgegenüber: Ich freue mich wirklich,<br />
dass du Vernunft angenommen hast.<br />
Heym selbst dürfte Ähnliches wohl immer<br />
wieder gehört haben. Er war zunächst<br />
auch von den DDR-Spitzen wohlgelitten,<br />
fiel aber wegen kritischer Bücher und<br />
Aussagen zusehends in Ungnade. Erich<br />
Honecker selbst machte ihn öffentlich<br />
herunter, es gab Publikations- und Auftrittsverbote.<br />
Heym unterstützte zwar die<br />
Kritik an der Ausbürgerung des Dichters<br />
und Sängers Wolf Biermann, schwenkte<br />
aber nicht ganz in das Lager der Dissidenten.<br />
Er fühlte sich weiter als Kommunist,<br />
durfte auch ins westliche Ausland reisen,<br />
seine gut besuchten Lesungen hielt er in<br />
der DDR vor allem in Kirchen.<br />
Der evangelische Theologe und ehemalige<br />
Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer<br />
erinnerte sich an die „Motivation und<br />
Inspiration“, die von Schriftstellern wie<br />
Heym, Christa Wolf und anderen in Zeiten<br />
der unabhängigen kirchlichen Frie-<br />
densbewegung ausging: „Er war knorrig<br />
und Widerspruch kaum duldend. Wer<br />
mit ihm stritt, der musste argumentativ<br />
gut gerüstet sein. Und er durfte sich nicht<br />
einschüchtern lassen durch die Autorität,<br />
mit der Heym auftrat und die ihm in Respekt<br />
vor seinem ganzen Lebenslauf zugesprochen<br />
wurde. Stefan Heym war ganz<br />
und gar kein Querulant, sondern ein engagierter<br />
Ein-Redner, wo und wie etwas<br />
schief lief in dem von ihm gewählten und<br />
bejahten Staat DDR, den er gern emanzipatorisch-sozialistisch<br />
wissen wollte.“<br />
Wie war Heym überhaupt in die DDR gekommen?<br />
Eigentlich war er ja Ostdeutscher,<br />
geboren 1913 in Chemnitz, als Hermann<br />
Flieg und Kind einer jüdischen<br />
Kaufmannsfamilie. Schon als Gymnasiast<br />
war er literarisch und politisch interessiert,<br />
nahm sich kein Blatt vor den Mund,<br />
und das sollte sein Leben schnell aus der<br />
Bahn werfen.<br />
Wir exportieren!<br />
Wir exportieren!<br />
Wir machen Export in Offizieren!<br />
Wir machen Export!<br />
Wir machen Export!<br />
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!<br />
Die Herren exportieren deutsches Wesen<br />
zu den Chinesen!<br />
Zu den Chinesen!<br />
Gasinstrukteure,<br />
Flammengranaten,<br />
auf arme, kleine gelbe Soldaten –<br />
denn davon wird die Welt genesen.<br />
Hoffentlich<br />
lohnt es sich!<br />
Dieses Gedicht schreibt der 18-Jährige<br />
1931, und die örtlichen Nazis haben schon<br />
so viel Einfluss, dass er von der Schule<br />
fliegt. Er kann später in Berlin sein Abitur<br />
machen, geht aber nach Prag und<br />
von dort mit dem Stipendium einer jüdischen<br />
Studentenverbindung nach Amerika.<br />
In Chicago studiert er Literatur und<br />
schreibt seine Masterarbeit über Heinrich<br />
Heine. Und er arbeitet als politischer<br />
Journalist, für eine deutschsprachige Zeitung<br />
in New York, schickt aber auch Korrespondentenberichte<br />
nach Europa. Belege<br />
für seine scharfe Beobachtungsgabe,<br />
seine klaren politischen Analysen – von einer<br />
linken Position aus – finden sich etwa<br />
im Sammelband Wege und Umwege. Einmischung.<br />
Heym beginnt in den USA auch bereits<br />
mit literarischen Arbeiten. Sein erster<br />
Roman Hostages wird 1942 ein Erfolg.<br />
Seine Werke schreibt er übrigens viele<br />
Jahrzehnte weiter auf Englisch, lässt die<br />
Bücher erst von anderen übersetzen, später<br />
macht er das selbst.<br />
1943 wird Heym US-Staatsbürger und<br />
bekommt seine Ausbildung im bekann-<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
feb22.indb 45 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:16
Schriftsteller auf beiden Seiten<br />
1913 in Chemnitz geboren, geht Stefan Heym 1935 nach<br />
Amerika, wird US-Staatsbürger und kämpft als Ritchie Boy<br />
gegen die Nazis. Erst 1953 kehrt er in die DDR zurück.<br />
„For Heym“: mit Georg Gisy<br />
(PDS) bei einer Wahlveranstaltung<br />
in Berlin, 1994.<br />
ten Camp Richie als Spezialist für psychologische<br />
Kriegsführung. Schon unmittelbar<br />
nach der Landung der Alliierten in<br />
der Normandie wird er erst in Frankreich,<br />
dann in Deutschland eingesetzt. Nach<br />
Kriegsende arbeitet Heym für deutschsprachige<br />
Medien im Einflussbereich der<br />
US Army, erst in Essen bei der Ruhr Zeitung,<br />
später in München bei der Neuen Zeitung. Er<br />
gilt aber als prosowjetisch und wird daher<br />
in die USA zurückbeordert. Dort lebt er die<br />
nächsten Jahre als freier Schriftsteller, bis<br />
ihn die Hexenjagden von Senator Joseph<br />
McCarthy nach Europa zurückkehren lassen,<br />
erst nach Prag, 1953 in die DDR.<br />
Seine Probleme mit der Führung begannen<br />
bald. Schon 1956 wurde ihm verboten,<br />
seinen Roman über den Juni-Aufstand zu<br />
publizieren. Einige Jahre später folgte die<br />
scharfe Attacke Honeckers am Plenum der<br />
SED. Das Regime sperrte ihn zwar nicht ein,<br />
griff aber zu anderen hinterhältigen Methoden.<br />
Da er seine Bücher nur im Westen<br />
veröffentlichen konnte, hängte man<br />
ihm Devisenverfahren an. Dennoch blieb<br />
Heym Kommunist. Noch einmal Schorlemmer:<br />
Als einer, der in Mauerzeiten stets frei in<br />
den Westen reisen durfte, vertrat er dort seine<br />
kritischen Positionen zu Fehlentwicklungen in der<br />
DDR und deren Darstellung, da selbst ihm eine<br />
Veröffentlichung in der DDR verweigert wurde. Er<br />
ließ nie einen Zweifel daran, dass er als ein Sozialist<br />
redete – in Loyalität zu „seinem Staat“.<br />
Doch dieser Staat sollte verschwinden.<br />
Und Heym – als Schriftsteller auf beiden<br />
Seiten der Grenze anerkannt – durfte bei<br />
der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen<br />
„Mein Denken<br />
ist ständig gespalten,<br />
indem<br />
ich eines weiß<br />
und ein anderes<br />
sage oder zu<br />
sagen suche.“<br />
Bundestags als Parteiloser auf der Liste der<br />
PDS die Rede des Alterspräsidenten halten.<br />
Zuvor hatte es noch Versuche gegeben,<br />
ihn – der jahrzehntelang bespitzelt<br />
worden war – in die Nähe der Stasi zu rücken.<br />
Ich hab gewusst, es wird Trabble geben, weil<br />
ich erstens ein Jud bin, welcher längst hätte<br />
nichts mehr hätte sein sollen als ein verwehtes<br />
Rauchwölkchen über Auschwitz, und zweitens<br />
ein Linker, und drittens weil ich gekämpft habe<br />
als ein Soldat, ein amerikanischer, in dem großen<br />
Krieg gegen Hitler, und weil ich noch heute<br />
arbeite mit meinem verdrehten Kopf und überhaupt<br />
wegen meiner ganzen, wie man sagt, Biografie,<br />
was alles nicht passen will in den großen<br />
Bundestag, wo sie mit Demokratie machen.<br />
Der „Trouble“ war dann doch nicht ganz<br />
so groß, bloß verweigerte die CDU/CSU-<br />
Fraktion den üblichen Beifall, mit Ausnahme<br />
der später wiedergewählten Parlamentspräsidentin<br />
Rita Süßmuth.<br />
Heym blieb weiterhin eine wacher, kritischer<br />
Beobachter und kreativer Schriftsteller.<br />
Zu Juwelen seines Alterswerks zählen<br />
zwei schmale Bändchen, die aus kurzen<br />
Texten zusammengefasst wurden, die er<br />
seiner Frau zum Geburtstag<br />
geschrieben hatte: Immer<br />
sind die Männer schuld und<br />
Immer sind die Weiber weg. Darin<br />
versichert er sie seiner<br />
Liebe, auch wenn dies nicht<br />
immer ohne Querelen abgehe.<br />
Es sind teilweise groteskkomische<br />
autobiografische<br />
Erzählungen, schonungslos auch zu sich<br />
selbst. Etwa, wenn er in Altersweisheit von<br />
sich schreibt, der große Recycler steht schon um<br />
die Ecke und wartet nur darauf, mich recyceln zu<br />
lassen von den Würmern unten oder den Engeln<br />
oben, je nachdem. Wegen einer künstlichen<br />
Hüfte, einem ebensolchen Gebiss und einer<br />
einoperierten Linse nennt er sich selbst<br />
ein wandelndes Ersatzteillager und endet lächelnd-ironisch:<br />
Wenn ihr aber nach alldem<br />
noch wollt eine Altersweisheit von mir, so werd<br />
ich nur eine geben: Beißt in die Brötchen, so lang<br />
ihr noch könnt.<br />
Stefan Heym starb im Dezember 2001 in<br />
Israel und wurde dort begraben. Der Anlass<br />
für die Reise war ein Symposion über seinen<br />
geliebten Heinrich Heine gewesen.<br />
© ullstein bild - Teutopress / picturedesk.com ; ullstein bild - Vision Photos / picturedesk.com<br />
46 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 46 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:22
URBAN LEGENDS<br />
Gleichzeitigkeiten<br />
Wie auch immer und wann auch immer die Pandemie zur Endemie geworden sein<br />
mag, die nicht mehr verkennbaren ökologischen Probleme werden sich nicht durch<br />
aktuelle Ablenkungsmanöver und boomendes Greenwashing lösen lassen.<br />
© ullstein bild - Teutopress / picturedesk.com ; ullstein bild - Vision Photos / picturedesk.com<br />
ir stapfen durch das tiefverschneite<br />
Schweizer Gletschertal auf über<br />
2.400 Höhenmetern; die Sonne<br />
scheint, vereinzelt zwitschern Vögel.<br />
Entlang der Route finden sich<br />
Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers<br />
in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren:<br />
1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren<br />
Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die<br />
Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze<br />
aufmerksam, und kurz<br />
Von Paul Divjak<br />
darauf stehen wir auch schon vor der<br />
beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers.<br />
Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden<br />
Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu<br />
klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen<br />
hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird<br />
unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende<br />
Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern.<br />
Und abends dann verkünden die Nachrichten, dass ehemalige<br />
Politikerdarsteller sich nun zur Gänze dem libertären<br />
Denken und Handeln widmen werden, von dem ihre selbstherrliche<br />
Regierungsarbeit bereits geprägt war.<br />
Interessegeleitetes, unverantwortliches und kurzfristiges,<br />
rein imageorientiertes Agieren hat – gerade in Zeiten wie diesen<br />
– zur Aushöhlung demokratischer Werte, zu Polarisierung<br />
und Prägung von Ohnmachtsgefühlen beigetragen; der Mangel<br />
an sozialer, gemeinwohlunterstützender und klimaspezifischer<br />
politischer Verantwortung ist offensichtlich geworden.<br />
Wie auch immer und wann auch immer die Pandemie zur<br />
Endemie geworden sein mag, die nicht mehr verkennbaren<br />
ökologischen Probleme werden sich nicht durch aktuelle Ablenkungsmanöver<br />
und boomendes Greenwashing und so genannte<br />
„klimapositive“ Produkte lösen lassen. Die Legende<br />
vom grenzenlosen Wachstum ist in ihren Grundfesten erschüttert,<br />
die „Rhythmen des weltumspannenden Warenverkehrs“<br />
(Nancy) sind nicht zuletzt durch die Virulenz der Geschehnisse<br />
der letzten zwei Jahre ganz offensichtlich ins Taumeln geraten:<br />
die omnipräsente Spike-Protein-Bedrohung führt uns unser<br />
aller Endlichkeit und Ohnmacht überdeutlich vor Augen.<br />
Scheinbar vom Menschen Kontrollierbares ist völlig außer<br />
Kontrolle geraten, Ordnungssysteme sind erschüttert, krude,<br />
stigmatisierende und menschenverachtende Erklärungsmodelle<br />
füllen die Lücken des Nicht-mehr-Begreifbaren. Die<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die<br />
seit Langem schon die Wirren eines tiefgreifenden<br />
Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy<br />
Wahrnehmung der Welt ist auf den Kopf gestellt. Die Gleichzeitigkeit<br />
von rückschrittlichem wie avanciertem Agieren zeigt<br />
sich unter anderem in paradoxen politischen Entscheidungen:<br />
Während sich Deutschland von der Atomkraft verabschiedet,<br />
wird ein paar hundert Kilometer weiter östlich, in Polen,<br />
auf den Auf- und Ausbau ebendieser Energiegewinnung gesetzt.<br />
Die EU propagiert Erdgas wie Atomkraft als „grüne Energie“;<br />
nachhaltiger Backlash.<br />
Und bei aller Kritik hinsichtlich Datenmissbrauch, sozialer<br />
Ausbeutung, Destablisierung von fragilen politischen Gleichgewichten<br />
und Taktiken der Steuervermeidung findet weiterhin<br />
eine perfide Heroisierung von Tech-Monopolisten statt.<br />
Diejenigen, die am meisten von den multiplen Krisen profitieren,<br />
werden als Role-Models gefeiert. Alle Welt ist begeistert<br />
von den Spleens der kalifornischen Big-Data-Profiteure<br />
und Weltraum-als-Fluchtpunkt-Akteure und träumt von Silicon<br />
Valley als Start-up-Blaupause.<br />
Gegenwartserfahrung bedeutet mehr denn je die Bekanntschaft<br />
mit Angst und den Umgang mit ihr und dem Unbekannten<br />
sowie dem Nicht-Wissen. Gegenwärtig ist alles gleichzeitig<br />
präsent, und vieles wäre (noch) möglich, und doch liegen<br />
das Gros der mondialen Geschehnisse, die wechselseitigen<br />
Wirkungen und Abhängigkeiten außerhalb unseres Blickfeldes.<br />
Unterdessen prasseln die aktuellen News, die Bilder und<br />
Kommentare in der Wiederholung auf uns ein; und täglich<br />
grüßt das Murmeltier.<br />
Wir werden uns – soweit wir dies vorhersehen und planen<br />
können – auch im kommenden Winter wieder auf den<br />
Weg zum Morteratschgletscher machen. Und auch wenn wir<br />
es nicht wahrhaben wollen: Seine Zunge wird sich dann weiter<br />
zurückgezogen haben. Die Klimakatastrophe ist kein Zukunftsthema<br />
– sie ist längst Realität. Die Initiative Mort Alive,<br />
die Himalaya-Technologie nutzt, um die abfließende Gletschermilch<br />
in eisschützenden Schnee zu verwandeln, will das<br />
Abschmelzen des Gletschers um 40 Jahre (!) hinauszögern.<br />
Dieses ambitionierte Projekt wird von der Graubündner Kantonalbank<br />
unterstützt und sucht mit Gletscherkonzerten nach<br />
Spender:innen. – Viva!<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
feb22.indb 47 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:23
Bauhaus, Avantgarde, Pädagogik<br />
Vereinzelt tauchen Bilder von ihr<br />
auf, in Auktionen oder in Ausstellungen,<br />
meist wenn es um<br />
die Kunst von Frauen aus der<br />
Zwischenkriegszeit geht. In der Kunstgeschichte<br />
hat Friedl Dicker-Brandeis<br />
(1898–1944) allerdings den ihr gebührenden<br />
Platz noch nicht eingenommen. Das<br />
will nun eine Ausstellung ändern, die aus<br />
gutem Grund am Holocaust-Gedenktag in<br />
Linz eröffnet wurde.<br />
Warum gerade Linz? Beziehungen zum<br />
Werk oder zur Person der Künstlerin gibt<br />
es in dieser Stadt offenkundig nicht, aber<br />
„in der Nähe von Linz gab es das KZ Mauthausen<br />
und Gusen, und Linz war eine<br />
von Hitlers Führerstädten. Wir sehen es<br />
als unseren Auftrag an, dass wir auch immer<br />
wieder an diese historischen Ereignisse<br />
erinnern“, erklärt die Kuratorin der<br />
Schau, Brigitte Reutner-Doneus.<br />
Multitalent. Schon früh zeigt sich das kreative<br />
Talent der in Wien als<br />
Tochter eines ungarisch-jüdischen<br />
Kaufmanns geborenen<br />
Künstlerin. Vielseitig<br />
interessiert an Grafik,<br />
Fotografie, Kunstgewerbe<br />
und Malerei, lässt sie sich<br />
an den entsprechenden<br />
Institutionen in Wien ausbilden,<br />
fasziniert von der<br />
zeitgenössischen Musik be-<br />
Entwurf des<br />
Speise- und<br />
Musikzimmers für<br />
die Wohnung von<br />
Stella Reymers-<br />
Münz. Friedl Dicker-<br />
Brandeis und Franz<br />
Singer, 1930.<br />
Komposition<br />
mit Musikinstrumenten,<br />
um 1920.<br />
Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin,<br />
Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin<br />
Eine Ausstellung im Linzer Lentos Museum beleuchtet die vielen Facetten<br />
der nahezu vergessenen jüdischen Künstlerin.<br />
Von Anita Pollak<br />
© kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez; Archiv Georg Schrom, D. Singer Foto: Reinhard<br />
Haider; Johannes Beckmann; Kunsrsammlung der Universität für angewandte Kunst<br />
48 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 48 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:31
Kinderzeichnungen aus Theresienstadt<br />
© kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez; Archiv Georg Schrom, D. Singer Foto: Reinhard<br />
Haider; Johannes Beckmann; Kunsrsammlung der Universität für angewandte Kunst<br />
Friedl Dicker-<br />
Brandeis um<br />
1938. Die Bauhaus-Schülerin,<br />
Avantgarde-Malerin<br />
und Kunstpädagogin<br />
wurde 1944 in<br />
Auschwitz ermordet.<br />
„Die tragischen<br />
Lebensumstände<br />
der Künstlerin<br />
können in der<br />
Auseinandersetzung<br />
mit ihrem<br />
Schaffen nicht<br />
vollends ausgeblendet<br />
werden.“<br />
Brigitte Reutner-<br />
Doneus<br />
Das Verhör,<br />
1934.<br />
sucht sie aber auch einen Kurs bei Arnold<br />
Schönberg.<br />
Schon 1919 folgt sie ihrem Kunstlehrer<br />
Johannes Itten an das neu gegründete<br />
Bauhaus nach Weimar, wo sie bald<br />
eine der besten Schülerinnen wird. „Sie<br />
war herausragend und durfte sogar schon<br />
als Studentin unterrichten“, erläutert die<br />
Kuratorin. Vier Jahre lang studiert Friedl<br />
dort Weberei, Architektur, Innenarchitektur,<br />
Druck, Buchbinderei, Bühnenbild<br />
und Kostümbildnerei, Fertigkeiten, die<br />
sie danach in einer Ateliergemeinschaft<br />
mit ihrem Partner Franz Singer<br />
in Wien beruflich umsetzt.<br />
Die beiden richten Häuser<br />
und Wohnungen ein und entwerfen<br />
im reduzierten, funktionsgerechten<br />
Stil mit leisen Anklängen<br />
an Adolf Loos und die Wiener Werkstätte<br />
Möbel und Textilien. Im Gemeindebau<br />
„Goethehof“ gestaltet sie einen pädagogisch<br />
vorbildlichen Montessori-Kindergarten,<br />
den der spätere Maler Georg Eisler<br />
als Kind besuchte. Spuren ihrer diesbezüglichen<br />
Tätigkeiten finden sich leider<br />
nur noch in Fotos und Skizzen.<br />
In vieler Hinsicht war Friedl Dicker-<br />
Brandeis ein Kind ihrer Zeit und der<br />
stark politisierten künstlerischen Szenen<br />
in Wien und Berlin. Als Kommunistin<br />
gestaltet sie Propagandaplakate von erstaunlicher<br />
Expressivität und Heutigkeit,<br />
fälscht in ihrer Wohnung Pässe für den<br />
Untergrund und wird 1931 verhört und<br />
verhaftet. Ihre autobiografische Gemäldeserie<br />
Das Verhör fängt die düstere Szene<br />
realistisch ein. Als Malerin ist in ihrer Jugend<br />
für zeitgenössische Einflüsse offen,<br />
wie Exponate aus verschiedenen Schaffensphasen<br />
zeigen, und findet erst spät<br />
zu ihrem eigenen Stil.<br />
„Dass sie so spät überhaupt zum Malen<br />
gekommen ist, hängt mit ihrer Familiengeschichte<br />
zusammen, sie war keine<br />
Tochter aus reichem Haus und musste immer<br />
wieder für ihre eigene Existenz sorgen.<br />
Erst als sie verheiratet war, also 1936<br />
in Prag, konnte sie sich dem Malen widmen,<br />
aber da war es auf Grund der politischen<br />
Ereignisse schon fast zu spät. Sie<br />
wollte dann nur mehr die Landschaft malen<br />
und zwar ‚weder modern noch unmodern‘,<br />
das waren ihre Worte. Diese Bilder<br />
sind sehr berührend, weil sie mit großer<br />
Leidenschaft gemalt sind und im Hintergrund<br />
immer die Bauhaus-Inspiration<br />
spürbar ist. Sie ist dann wirklich gegenständlicher<br />
geworden, und ich habe mir<br />
überlegt, wie das weitergegangen wäre,<br />
wenn sie den Krieg überlebt hätte. Ich<br />
glaube, sie wäre gegenständlich geblieben,<br />
auch von ihrer politischen Ausrichtung<br />
wäre ihr das näher gewesen“, meint<br />
Brigitte Reutner-Doneus.<br />
Theresienstadt. Obwohl sie ein Ausreisevisum<br />
für Palästina erhält, bleibt Friedl<br />
bei ihrem Mann Pavel Brandeis in Prag,<br />
sie müssen immer wieder umziehen und<br />
werden schließlich Ende 1942 nach Theresienstadt<br />
deportiert. Dort nimmt sich<br />
Friedl als sensible Kunsterzieherin hingebungsvoll<br />
der Kinder an, ermutigt sie<br />
zu eigenständiger Kreativität und zur Verarbeitung<br />
ihrer Traumata. Ihre ganz modernen<br />
kunstpädagogischen Ziele lassen<br />
sich in ihrem Text Kinderzeichnen nachlesen.<br />
Als sie ihrem Mann im Oktober 1944<br />
nach Auschwitz folgt, gelingt es ihr noch,<br />
tausende dieser letztlich erschütternden<br />
Kinderzeichnungen aus Theresienstadt in<br />
Sicherheit zu bringen. Sie gelangen nach<br />
dem Krieg in das Jüdische Museum Prag,<br />
einige davon sind nun in einem eigenen<br />
Raum ausgestellt.<br />
Friedl Dicker-Brandeis wird gleich<br />
nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast,<br />
ihr Mann überlebt den Krieg und kann einige<br />
Werke seiner Frau retten.<br />
„Die tragischen Lebensumstände von<br />
Friedl Dicker-Brandeis können in der Auseinandersetzung<br />
mit ihrem Schaffen nicht<br />
vollends ausgeblendet werden. In vielerlei<br />
Hinsicht wurde die Künstlerin daran<br />
gehindert, sich frei zu entfalten und ihre<br />
Kreativität voll auszuleben. Dennoch entstand<br />
ein bedeutendes Œuvre, das heute<br />
größten Respekt und Bewunderung verdient.<br />
Trotz Verfolgung und Terror schrieb<br />
sich die kluge, unerschrockene und enorm<br />
talentierte Künstlerin mit ihrem qualitätsvollen,<br />
genreübergreifenden Werk tief in<br />
die Kunst- und Kulturgeschichte ein“, hält<br />
die Kuratorin im Katalog zur Ausstellung<br />
fest, der auch den Wissensstand der Forschung<br />
und die Rezeptionsgeschichte der<br />
Künstlerin spiegelt. Ihr Platz in der Kunstgeschichte<br />
als erstaunliches künstlerisches<br />
Multitalent scheint Friedl Dicker-Brandeis<br />
mit dieser umfassenden Personale jedenfalls<br />
gesichert.<br />
wına-magazin.at<br />
49<br />
feb22.indb 49 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:34
Jüdisches Kulturschiff<br />
Kultur im Bauch<br />
des Lastkahns<br />
In Berlin-Spandau wird bald das Jüdische Theaterschiff<br />
vor Anker liegen. Noch wird in einer Werft an der Elbe geschweißt,<br />
gehämmert und genietet. Denn hier verwandelt<br />
sich ein ehemaliger Lastkahn, die „MS Goldberg“, in<br />
vielen Arbeitsschritten in eine Bühne der besonderen Art.<br />
Die Eröffnung ist für Mitte Mai <strong>2022</strong> geplant.<br />
Von Uli Jürgens<br />
Begonnen hat alles im Jahr 2015,<br />
als der Kulturmanager Peter Sauerbaum<br />
– er arbeitete unter anderem<br />
an der Staatsoper Unter<br />
den Linden, beim Berliner Ensemble, am<br />
Deutschen Theater und ist seit 2018 künstlerischer<br />
Leiter des Choriner Musiksommers<br />
– gemeinsam mit seiner Frau Noa Lerner-Sauerbaum<br />
beschloss, in Berlin etwas<br />
gegen den schwelenden Antisemitismus,<br />
gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
zu unternehmen. Ein Jüdisches Theater<br />
für alle Sinne schwebte den beiden vor.<br />
Ein Ort, an dem sich jüdische und nicht<br />
jüdische Künstlerinnen und Künstler zusammenfinden,<br />
gemeinsam musizieren<br />
könnten. Rasch wurde eine Projektgruppe<br />
gegründet, zahlreiche Räumlichkeiten<br />
wurden besichtigt, das Richtige war aber<br />
nicht dabei. Doch warum eigentlich ein<br />
stationäres Theater, fragte sich Noa Lerner-<br />
Sauerbaum eines Tages. Warum nicht die<br />
Idee des Thespiskarrens aufgreifen, also<br />
eine Wanderbühne?<br />
Berlin ist von Wasserstraßen durchzogen<br />
– im Zoom-Interview kurz vor Weihnachten<br />
meint Intendant Peter Sauerbaum augenzwinkernd,<br />
Berlin habe ja sogar mehr<br />
Brücken als Venedig, auch wenn diese natürlich<br />
nicht so schön seien wie jene der<br />
Lagunenstadt. Was liegt da näher als eine<br />
schwimmende Wanderbühne, also ein<br />
Theaterschiff? Und so wurden ab 2017 eben<br />
Schiffe besichtigt. Wunderschöne, die allerdings<br />
dem Zweck nicht entsprachen,<br />
aber auch richtige Schrottkisten, erzählt<br />
Peter Sauerbaum. Durch Zufall entdeckte<br />
das Team schließlich die „MS Goldberg“,<br />
einen 1964 in Boizenburg an der Elbe in<br />
der ehemaligen DDR gebauten Lastkahn,<br />
64 Meter lang, etwas mehr als acht Meter<br />
breit, benannt nach der kleinen Stadt Goldberg<br />
in Mecklenburg-Vorpommern. Es war<br />
wohl Liebe auf den ersten Blick.<br />
Danach hätte alles eigentlich viel schneller<br />
gehen sollen, die Eröffnung des Theaterschiffes<br />
war für das Frühjahr 2021 geplant<br />
– doch Bürokratie und Covid-19<br />
sorgten für Verzögerungen. Außerdem<br />
musste das Team im Sommer einen schweren<br />
Verlust verkraften: Noa Lerner-Sauerbaum<br />
starb nach schwerer Krankheit. Mit<br />
ihr verlor das Projekt eine treibende Kraft,<br />
sie war eine Kennerin der jüdischen Szene<br />
Berlins, hätte die Gastgeberin auf dem Theaterschiff<br />
werden sollen.<br />
Ans Aufgeben dachte aber niemand,<br />
und so steht die „MS Goldberg“ seit 4. Oktober<br />
tatsächlich in der Werft in Neuderben<br />
an der Elbe. Die Verwandlung zum<br />
Theaterschiff hat begonnen. In großen<br />
Mengen wird Stahl verbaut, eine Stahlfirma<br />
hat dafür 50 Tonnen gespendet. Es<br />
entsteht ein neues Oberdeck, die Seitenwände<br />
müssen erhöht werden, dann werden<br />
die Bühne und die Nebenräume für<br />
Künstlerinnen, Künstler und Technik eingebaut,<br />
dazu kommen ein Foyer und ein<br />
Bistro mit Sonnenterrasse. 190 Zuschauerinnen<br />
und Zuschauer werden im Innenraum<br />
Platz finden. Noch ist das alles kaum<br />
vorstellbar. Immer wieder besuchen Peter<br />
Sauerbaum und sein technischer Leiter<br />
Klaus Wichmann die Werft und verfolgen<br />
staunend die neuesten Entwicklungen.<br />
Auf der Website und der Facebook-Seite des<br />
Jüdischen Theaterschiffs dokumentiert das<br />
Team die Umbauarbeiten mit vielen Fotos<br />
und Videos.<br />
Die jüdische Gemeinde in Berlin ist<br />
heute mit rund 12.000 Mitgliedern zwar die<br />
größte Deutschlands, vom einst blühenden<br />
jüdischen Leben ist in Berlins Straßen –<br />
ähnlich wie in Wien – nicht mehr allzu viel<br />
entdecken. Die Gemeinde selbst bemüht<br />
sich um eine Auseinandersetzung mit der<br />
Vergangenheit, das Jüdische Museum und<br />
das Centrum Judaicum beschäftigen sich<br />
intensiv mit der Geschichte der Berliner<br />
Jüdinnen und Juden. Die mit rund 3.000<br />
Sitzplätzen ehemals größte Synagoge Europas<br />
in der Oranienburger Straße wurde<br />
aufwendig renoviert. Stadtspaziergänge<br />
führen durch den ältesten jüdisch geprägten<br />
Bezirk, die ehemalige Spandauer<br />
Vorstadt mit dem sogenannten Scheunenviertel.<br />
Und unübersehbar ist freilich das<br />
Holocaustdenkmal mit seinen 2.711 Be-<br />
© Gregor Zielke; Klaus Wichmann; Jüdisches Theaterschiff<br />
50 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 50 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:36
Das Gemeinsame feiern<br />
Geigerin Liv<br />
Migdal in der noch<br />
unausgebauten „MS<br />
Goldberg“.<br />
Mit einem jüdischen<br />
Theater für alle Sinne<br />
will das Team rund<br />
um Peter Sauerbaum<br />
und seine verstorbene<br />
Frau Noa etwas gegen<br />
den schwelenden Antisemitismus<br />
und Rassimus<br />
in Berlin unternehmen.<br />
© Gregor Zielke; Klaus Wichmann; Jüdisches Theaterschiff<br />
tonstelen in Berlin-Mitte. Außerdem gibt<br />
es in den letzten Jahren ein interessantes<br />
Phänomen zu beobachten: Junge Israelis<br />
lassen sich gerne in Berlin nieder, die Stadt<br />
sei cool, biete vor allem Künstlerinnen und<br />
Künstlern viele Möglichkeiten.<br />
Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten<br />
lebten in Berlin rund 160.000<br />
Jüdinnen und Juden, prägten das kulturelle<br />
und wirtschaftliche Leben. 55.000<br />
von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet,<br />
nur wenige überlebten in Verstecken.<br />
Der Großteil der Jüdinnen und Juden<br />
musste fliehen oder wurde vertrieben.<br />
Einer dieser Menschen steht bald im<br />
Mittelpunkt des Jüdischen Theaterschiffes.<br />
Denn am 23. Mai soll die „MS Goldberg“<br />
mit der Uraufführung des Bühnenstücks<br />
nach dem Roman Der Sänger<br />
des Schweizer Schriftstellers Lukas Hartmann<br />
eröffnet werden. Regie führt Armin<br />
Petras vom Staatstheater Cottbus,<br />
„Wenn wir nun mit<br />
unserem jüdischen<br />
Theaterschiff ,MS<br />
Goldberg‘ in See<br />
stechen, wollen wir<br />
bekannte und vergessene,<br />
aber auch<br />
neue Sterne glitzern<br />
lassen, an das Verlorene<br />
erinnern, das<br />
Gemeinsame<br />
feiern und dem Neuen<br />
eine Heimat geben.“<br />
Peter Sauerbaum<br />
wo derzeit auch die Proben stattfinden.<br />
Es geht um den 1904 im österreichischen<br />
Kronland Buko<strong>wina</strong> geborenen Tenor Joseph<br />
Schmidt, dem aufgrund seiner geringen<br />
Körpergröße von 1,54 Meter zwar<br />
eine Karriere an den großen Opernhäusern<br />
verwehrt blieb, dessen zahlreiche<br />
Konzerte und Schallplattenaufnahmen<br />
ihn – der von seinen Fans liebevoll Josele<br />
genannt wurde – aber um 1930 zu einem<br />
der beliebtesten Sänger in Österreich<br />
und Deutschland machten. 1933 begann<br />
Schmidts jahrelange Flucht vor den Nationalsozialisten,<br />
sie endete in der Schweiz,<br />
wo der Sänger interniert wurde, erkrankte<br />
und schließlich im Jahr 1942 starb. Einen<br />
Tag nach seinem Tod hätte er eine Arbeitserlaubnis<br />
bekommen und wäre frei<br />
gewesen. Joseph Schmidts Lebens- und<br />
Fluchtgeschichte sei exemplarisch für das<br />
Schicksal der Juden in Deutschland und<br />
Europa, meint Peter Sauerbaum.<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
feb22.indb 51 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:38
Vielfältiges Programm<br />
Kulturmanager Peter Sauerbaum auf der „MS Goldberg“. Mit seiner<br />
verstorbenen Frau Noa erträumte er einen gemeinsamen Schaffensort für<br />
jüdische und nicht jüdische Künstlerinnen und Künstler.<br />
An das Verlorene erinnern und dem Neuen<br />
eine Heimat geben. Theaterstücke werden<br />
jedenfalls en suite gespielt, und es werden<br />
immer Gastspiele sein, denn ein fixes Ensemble<br />
kann sich das Theaterschiff nicht<br />
leisten. Geplant ist etwa George Taboris<br />
Version von Gotthold Ephraim Lessings Komödie<br />
Die Juden oder die musikalisch-szenische<br />
Revue Wilde Bühne – reloaded über<br />
Trude Hesterbergs legendäres Berliner Kabarett.<br />
Zudem soll genügend Freiraum für<br />
andere Kunstformen bleiben. Neben Theaterproduktionen<br />
werden Filme gezeigt, es<br />
wird Konzerte und Lesungen geben. Bald<br />
nach der Eröffnung ist, verrät die Website<br />
der „MS Goldberg“, ein literarischer<br />
Abend dem Themenbereich Schifffahrt gewidmet,<br />
es werden Ausschnitte aus Werken<br />
von Heinrich Heine, Vicky Baum, Stefan<br />
Zweig oder Kurt Tucholsky zu hören<br />
sein. Geplant ist auch der sogenannte Goldberg-Salon,<br />
ein Diskussionsforum zu Themen<br />
wie Antisemitismus, Geschichte des<br />
jüdischen Theaters in Berlin, Architektur<br />
und Digitalisierung. Das Publikum sei eingeladen,<br />
sich daran zu beteiligen – denn<br />
der Salon lebe von Austausch und Ergänzung,<br />
sagt Peter Sauerbaum. Musikalisch<br />
fokussiert man sich wegen der räumlichen<br />
Gegebenheiten auf eher kleinere Ensembles<br />
und Kammerorchester. Von Klassik<br />
über Jazz und Weltmusik bis zu Pop und<br />
Rap reicht die Bandbreite.<br />
Auch ein Programm für Kinder und Jugendliche<br />
soll es bald geben. Angedacht<br />
sind etwa die Kinderoper Brundibár des<br />
tschechischen Komponisten<br />
Hans Krása, in der es um die<br />
Kinder aus Theresienstadt<br />
geht, oder eine Zusammenarbeit<br />
mit dem jüdischen Puppentheater<br />
Bubales, bei der<br />
die Welt der jüdischen Feiertage,<br />
Traditionen und Witze<br />
nicht nur für jüdische Kinder<br />
erlebbar wird.<br />
Hinter dem Projekt Jüdisches<br />
Theaterschiff steht der<br />
gemeinnützige Verein Discover<br />
Jewish Europe. Denn allein<br />
durch Einnahmen aus<br />
dem Ticketverkauf ist die Bespielung<br />
und Erhaltung des<br />
Theaterschiffes nicht gewährleistet. Der<br />
Verein ist auf private Spenden und Sponsoring<br />
angewiesen. Die ehemalige deutsche<br />
Bundesregierung unterstützte das<br />
Projekt mit einer Förderung im vergangenen<br />
sowie für das heurige Jahr. Mit der<br />
neuen Bundesregierung sei man bereits<br />
im Gespräch, um den weiteren Betrieb zu<br />
garantieren, sagt Peter Sauerbaum. Der<br />
Umbau des Lastkahns wird – neben Sachspenden<br />
wie dem oben erwähnten Stahl –<br />
durch eine Geldspende von einer Million<br />
Euro der Stiftung Deutsche Klassenlotterie<br />
finanziert.<br />
Gespielt wird übrigens nur vor Anker<br />
liegend, so sind die Bestimmungen – handelt<br />
es sich bei der „MS Goldberg“ doch<br />
um ein Gütermotorschiff und kein Fahrgastschiff.<br />
Das habe aber auch seine Vor-<br />
Und da der<br />
Lastkahn auch<br />
im Theatermodus<br />
voll funktionstüchtig<br />
bleibt, wird er<br />
auch mal für<br />
Veranstaltungen<br />
quer durch<br />
Berlin über die<br />
Spree nach<br />
Köpenick oder<br />
nach Süden<br />
über die Havel<br />
auf den Wannsee<br />
schippern.<br />
teile, erzählt Peter Sauerbaum, weil man<br />
Bestandteil der Berufsschifffahrt sei und<br />
überall dort anlegen könne, wo derartige<br />
Schiffe eben anlegen dürfen. Und da der<br />
Lastkahn auch im Theatermodus<br />
voll funktionstüchtig<br />
bleibt, wird er<br />
auch mal für Veranstaltungen<br />
quer durch Berlin<br />
über die Spree nach<br />
Köpenick oder nach Süden<br />
über die Havel auf<br />
den Wannsee schippern.<br />
Ein Glück, dass der frühere<br />
Schiffseigner Dieter<br />
Birmuske und sein<br />
Bootsmann Artur Tuszynski,<br />
die jede Niete des<br />
Schiffes kennen, weiterhin<br />
mit an Bord sind.<br />
Denn es könne zwar jeder<br />
ein Schiff kaufen,<br />
aber nicht jeder könne es<br />
fahren, weiß Peter Sauerbaum.<br />
Kapitän Birmuske<br />
erwarb 1975 sein Schiffspatent,<br />
war als selbstständiger<br />
Binnenschiffer<br />
zwischen Deutschland,<br />
Holland, Belgien und Polen unterwegs,<br />
erst auf dem Schleppkahn „Willi“, dann<br />
auf dem Gütermotorschiff „Vulkan“ und<br />
seit 1995 eben auf der „MS Goldberg“.<br />
Sobald die handwerklichen Arbeiten in<br />
der Werft abgeschlossen sind, wird die „MS<br />
Goldberg“ ihren Heimathafen am rechten<br />
Havelufer in Spandau ansteuern. Ihr Ankerplatz<br />
liegt an der idyllischen grünen<br />
Uferpromenade unterhalb der Dischinger<br />
Brücke. Und dann übernimmt im Bauch<br />
des ehemaligen Lastkahns die Kultur das<br />
Kommando.<br />
Uli Jürgens<br />
lebt und arbeitet in Wien. Sie beschäftigt sich in ihren<br />
Artikeln, Radiobeiträgen, Büchern und Fernsehdokumentationen<br />
vor allem mit den Themen Flucht und<br />
Exil in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.<br />
© Gregor Zielke; Jordana Schramm<br />
52 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 52 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:43
WINA WERK-STÄDTE<br />
Die Spanische<br />
Synagoge befindet sich<br />
im Stadtteil Josefstadt an<br />
der Adresse V zenská 1.<br />
© Gregor Zielke; Jordana Schramm<br />
Prag<br />
In der tschechischen Hauptstadt<br />
sind einige Synagogengebäude bis heute<br />
erhalten, unter anderen die<br />
Spanische Synagoge, deren Name<br />
für Verwirrung sorgt.<br />
Von Esther Graf<br />
zenská 1 ist eine traditionsreiche<br />
Adresse für Synagogenbauten<br />
in Prag. Hier<br />
befand sich einst die älteste<br />
Synagoge, die Altschul, bis<br />
sie 1389 während eines Pogroms<br />
zerstört wurde. Trotz eines kaiserlichen<br />
Schließungsbefehls und mehrerer<br />
Brände wurde sie immer wieder<br />
aufgebaut. 1837 war sie die erste reformierte<br />
Synagoge in Prag und wich 1867<br />
einem Neubau, der den Ansprüchen<br />
der Reformgemeinde besser genügte.<br />
1868 wurde dieser eingeweiht und Spanische<br />
Synagoge genannt. Der Name<br />
spielt jedoch nicht auf die vermeintlich<br />
sephardischen Gemeindemitglieder an<br />
– Synagogenbesucher:innen und Ritus<br />
waren durchweg aschkenasisch –, sondern<br />
auf die architektonische Ausgestaltung<br />
des Sakralbaus. Als Vorbild diente<br />
der Wiener Leopoldstädter Tempel. Hinter<br />
der mit Hufeisenbögen und Zierblenden<br />
gegliederten Fassade befindet sich<br />
ein Zentralbau, der von einer Kuppel<br />
überwölbt und im Innenraum von drei<br />
Emporen eingefasst wird. Wände und<br />
Decken sind vollflächig dekoriert mit<br />
bunten Stuckarabesken sowie geometrischen<br />
und floralen Ornamenten. Der<br />
Reformgedanke spiegelt sich in der Orgel<br />
auf der rechten Empore und in der an<br />
den Toraschrein herangerückten Bima<br />
(Pult für die Toralesung) wider.<br />
Bis 1941 fanden in der Spanischen Synagoge<br />
G-ttesdienste statt, um anschließend<br />
von den Nazis als Lagerstätte für<br />
enteignete Gegenstände zweckentfremdet<br />
zu werden. 1955 übernahm das Jüdische<br />
Museum die Verwaltung, bis die<br />
Synagoge 1994 in den Besitz der konservativen<br />
Bejt-Praha-Gemeinde überging.<br />
Auf den Emporen ist eine Dauerausstellung<br />
zu jüdischem Leben in Böhmen und<br />
Mähren zu sehen.<br />
PRAG<br />
Nachweisbar sind Juden seit 1091 in Prag ansässig. Im 13. Jahrhundert kam es zur<br />
Einrichtung der abgeschlossenen Judenstadt, in der sich eine anerkannte Selbstverwaltung<br />
etablierte. Ab dem 16. Jahrhundert war hier das europäische Zentrum<br />
jüdischer Gelehrsamkeit und später auch der jüdischen Aufklärung. Von den ab 1941<br />
durchgeführten Deportationen überlebten von den knapp 50.000 Juden nur 7.500.<br />
Die meisten wanderten nach Israel und in die USA aus. Heute leben noch etwa 1.500<br />
in der 1,3 Millionen-Hauptstadt Tschechiens.<br />
© Thomas Ledl, 2016, Commons Wikimedia<br />
wına-magazin.at<br />
53<br />
feb22.indb 53 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:44
FEBRUAR KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
BUCH<br />
WIENER KINOS<br />
Von Juliane Batthyány<br />
Wien: Phoibos 2021<br />
332 S., ca. 200 Abb., € 29<br />
Wien war einst nicht nur eine „Theaterstadt“,<br />
sondern auch eine „Kinostadt“. Hunderte<br />
Kinos, kurz- und längerlebige, sind in<br />
der 125-jährigen Geschichte der Wiener Kinos<br />
zu verzeichnen. Nur noch eine Handvoll<br />
historischer Kinos sind heute in Betrieb.<br />
Und es werden immer weniger. Von den allerwenigsten<br />
Kinos gibt es heute noch Bilder,<br />
geschweige denn umfangreiche Fotodokumentationen.<br />
Umso wichtiger sind Arbeiten<br />
wie jene von Juliane Batthyány, die seit<br />
mehr als einer Dekade noch erhaltene Wiener<br />
Kinos fotografisch dokumentiert – und<br />
dieses Unterfangen einem jener Zufälle verdankt,<br />
die so oft unser Leben verändern: Im<br />
Sommer 2006 spazierte die junge Fotografin<br />
durch die Wiener Innenstadt und entdeckte<br />
dabei die Überreste des gerade geschlossenen<br />
und ausgehöhlten Imperial-Kinos. Teile<br />
der Bestuhlung und des historischen Inventars<br />
lagen unbeachtet auf dem Gehsteig<br />
nahe der Rotenturmstraße und warteten auf<br />
ihre „Entsorgung“. Es war der Impuls, die Gegenwart<br />
der wenigen noch erhaltenen Kinos<br />
festzuhalten, deren „Alltag und Überleben“,<br />
schreibt Batthyány, und damit auch<br />
einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Erinnern<br />
zu leisten, denn allein seit der Erstauflage des<br />
Bandes 2010 sind weitere fünf Kinos für immer<br />
geschlossen worden. Wiener Kinos ist<br />
ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an diese<br />
einstige Kinostadt, zu deren großer Bedeutung<br />
zahlreiche Jüdinnen und Juden einen<br />
wesentlichen Beitrag leisteten.<br />
annefrank.digital<br />
PODCAST<br />
ANNE FRANK<br />
Die Zahlen sind alarmierend: 81 Prozent der<br />
Schüler:innen aus Österreich konnten bei<br />
einer Befragung entweder gar keine oder<br />
nur eine falsche Definition des Begriffs „Antisemitismus“<br />
anführen, und nur 59 Prozent<br />
der Schüler:innen in Deutschland ab 14 Jahren<br />
ist bekannt, dass Auschwitz-Birkenau<br />
ein NS-Konzentrationslager war. Mit ihrem<br />
seit 27. Jänner kostenlos zugänglichen Podcast<br />
Anne Frank auf www.annefrank.digital<br />
will das Wiener buero butter nun einen<br />
Beitrag leisten, um Jugendlichen von heute<br />
die Erinnerung an die Verbrechen des NS-<br />
Regimes auf eine ihnen zugängliche und lebensnahe<br />
Art zu vermitteln. Max Schnürer<br />
und Ina Lins, die für das Projekt verantwortlich<br />
zeichnen. zu ihrer Idee: „Mit digitalen<br />
Medien wollen wir junge Menschen an die<br />
Verantwortung, die aus unserer gemeinsamen<br />
Geschichte führt, heranführen. Der<br />
Podcast der Anne Frank soll das möglich<br />
machen.“ Gewonnen werden konnten an<br />
die 50 bekannte Persönlichkeiten, die für<br />
dieses audiovisuelle Vermittlungsprojekt<br />
eines der prägendsten und berührendsten<br />
Zeitdokumente des 20. Jahrhunderts<br />
eingelesen haben, darunter Bundespräsident<br />
Alexander van der Bellen, Josef Hader,<br />
Armin Wolf, Yasmo, Gregor Gysi, Dirk<br />
Stermann, Manuel Rubey und viele andere<br />
Prominente aus Politik, Kunst, Kultur und<br />
Medien.<br />
LIEDERABEND<br />
20 Uhr<br />
Theater Nestroyhof Hamakom,<br />
Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />
hamakom.at<br />
15. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />
ACH, SCHÖN IST DIE WELT<br />
Der Titel des Abends stammt aus Hermann<br />
Leopoldis 1946 entstandenem Lied Die Novaks<br />
aus Prag, in dem der einstige Star des musikalischen<br />
Kabaretts und spätere Emigrant die<br />
Flucht einer jüdischen Prager Familie aus Europa<br />
in seiner unverkennbaren, tragikomischen<br />
Art nachzeichnete. Der Text stammte von einem<br />
langjährigen Wegbegleiter des Komponisten,<br />
Kurt Robitschek, der bereits 1933 auf<br />
wilden Wegen in die USA floh, wo er als Ken<br />
Robey weiterarbeitete. Robitschek starb 1948 in<br />
der Emigration, Leopoldi kehrte, als einer von<br />
wenigen zur Rückkehr „eingeladenen“ einst populären<br />
Künstler der Zwischenkriegszeit, 1947<br />
nach Wien zurück. Es sind nur zwei von zahllosen<br />
Schicksalen österreichischer Künstler:innen<br />
aus Kabarett, Kleinkunst und „Hochkultur“, denen<br />
bis 1938 die Herzen der Österreicher:innen<br />
zuflogen, ehe sie von einen Tag auf den anderen<br />
als „minderwertig“ und verfolgungswürdig<br />
deklariert wurde. Viele von ihnen wurden ermordet.<br />
Die österreichische Journalistin Sibylle<br />
Fritsch widmet sich in ihrem neuen Theaterprojekt<br />
anhand ausgewählter Lieder jüdischer<br />
Künstler:innen der Zwischenkriegszeit dem<br />
Schicksal ihrer Schöpfer und Interpret:innen<br />
und zeichnet, begleitet von der Sängerin Natascha<br />
Petrinsky, Gabriele Schuchter und Thomas<br />
Kamper (Schauspiel und Gesang) und Vasilis<br />
Tsiatsianis am Klavier, anhand von Texten<br />
und Tagebucheintragungen ein berührendes<br />
Porträt der österreichischen Kabarettkultur<br />
vor, während und nach der Nazizeit.<br />
© Theater Hamakom; Privatbesitz Ronald Leopoldi; Juliane Batthyany; Anne Frank, 1942; Anne Frank Fonds, Basel<br />
54 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 54 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:49
KULTURFRÜHSTÜCK<br />
11 Uhr<br />
Porgy&Bess,<br />
Riemergasse 11, 1010 Wien<br />
kupferblum.com<br />
FILM<br />
20 Uhr<br />
Metro Kinokulturhaus,<br />
Johannesgasse 4, 1010 Wien<br />
juedischer-filmclub.at<br />
17. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />
ORLACS HÄNDE<br />
Der von Frank Stern und Klaus Davidowicz ins<br />
Leben gerufene Jüdische Filmclub Wien präsentiert<br />
seit einigen Jahren mit großem Erfolg<br />
prägende Filme von einst und heute, die sich<br />
mit Geschichte und Gegenwart des Judentums<br />
beschäftigen. Im <strong>Februar</strong> wird nun einer<br />
der bedeutendsten Vertreter des frühen Horrorgenres<br />
wiedergezeigt: Robert Wienes 1925<br />
entstandene expressionistische Studie eines<br />
Mörders „wider Willen“: Nachdem der Klaviervirtuose<br />
Paul Orlac seine Hände verliert, experimentiert<br />
ein Chirurg an ihm herum und transplantiert<br />
ihm die Hände eines hingerichteten<br />
Raubmörders. Nicht ohne Folgen, denn während<br />
der Künstler Orlac kaum mit der unerträglichen<br />
Situation zurande kommt, beginnen sich<br />
seine neuen Hände selbstständig zu machen,<br />
um den von ihnen ausgehenden Schrecken –<br />
herausragend in ein düsteres Licht-und-Schatten-Spiel<br />
getaucht – weiter auszubreiten.<br />
Neben Wiene mussten nach dem „Anschluss“<br />
auch einige der Darsteller des Films emigrieren,<br />
darunter Conrad Veidt, der sich als einer von<br />
wenigen Künstlern seiner Bekanntheit deutlich<br />
gegen das NS-Regime stellte, oder Fritz Kortner,<br />
nach dem Krieg einer der bedeutendsten Regisseure<br />
seiner Zeit, der hier als Trickbetrüger<br />
Nera zu sehen ist. Ihr Kollege Fritz Straßny, der<br />
im Film Orlacs Vaters gab, wurde mit 73 Jahren<br />
im KZ Theresienstadt ermordet. Gezeigt wird<br />
eine restaurierte Fassung mit Live-Musikbegleitung<br />
von Gerhard Gruber.<br />
20. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />
WILD BUT HEART<br />
In seiner sehr erfolgreichen, immer<br />
wieder überraschende Einblicke in<br />
aktuelle Themenwelten bietenden<br />
performativen Frühstücksreihe Wild<br />
but heart lädt Ausnahmekünstler<br />
Markus Kupferblum dieses Mal die<br />
Journalistin Christa Zöchling, Innenpolitikexpertin<br />
und profil-Mitarbeiterin,<br />
zu sich ein. Themen des Vormittags<br />
sind unter anderem der wachsende<br />
Rechtspopulismus und die damit eng<br />
verbundene, nennen wir es einmal<br />
„komplexe“ Verfasstheit der österreichischen<br />
Gesellschaft. Geliefert wird,<br />
so der zwischen Wien und New York<br />
und allen Genres pendelnde Künstler,<br />
„Aktuelles und Vergessenes, Zukünftiges<br />
und Utopisches“; serviert werden<br />
„Kaffee, Tee, Nahrung, Literatur, Gedanken<br />
und Musik“. Und wer gerne zu<br />
Hause frühstückt, sieht und hört: Das<br />
Gespräch gibt es auch als Live-Stream<br />
auf porgy.at/live!<br />
DISKUSSION<br />
19 Uhr<br />
Theater Nestroyhof Hamakom,<br />
Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />
hamakom.at<br />
13. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />
TRAUMATISIERUNG<br />
UND RADIKALISIERUNG<br />
Die Grenzen dessen, was in großen Teilen<br />
der Gesellschaft als akzeptiert gilt, verschieben<br />
sich. Das können wir alle täglich<br />
und seit Beginn der Covid-19-Pandemie<br />
auch in unserem engsten, ganz alltäglichen<br />
Umfeld beobachten. Doch „alltäglich“<br />
sind diese Verschiebungen Richtung<br />
Radikalisierung, und wie eng sind sie mit<br />
Traumata unterschiedlicher Provenienz<br />
verbunden? Moderiert von Rainer Rosenberg<br />
(ORF), diskutieren Psychotraumatologin<br />
Brigitte Lueger-Schuster, Philosophin<br />
und Künstlerin Marina Gržinić,<br />
Psychologin und Traumatherapeutin<br />
Nina Hermann und Schriftsteller und Historiker<br />
Doron Rabinovici über den Zusammenhang<br />
von traumatischen Erfahrungen<br />
und Radikalisierungstendenzen.<br />
Die Expert:innen aus verschiedenen<br />
Fachbereichen sprechen dabei über Manifestationen<br />
in unterschiedlichen Bereichen,<br />
wie häusliche Gewalt und Zunahme<br />
von Femiziden, Hetze gegen<br />
Ärzt:innen, aber auch über die zu beobachtende<br />
Steigerung von verharmlosenden<br />
Vergleichen der aktuellen Situation<br />
mit der NS-Zeit und die erschreckende<br />
Zunahme radikalisierter<br />
antisemitischer Parolen. Wie dem allen<br />
begegnen?<br />
hamakom.at/trauma<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
55<br />
feb22.indb 55 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:50
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass mich Musik tief berührt hat, war …<br />
Vor ein paar Tagen habe ich mein neues<br />
Stück Nocturne fertig komponiert. Am<br />
Ende des Stücks, das eine sehr einfache<br />
Melodie sein sollte, habe ich dann spontan<br />
beschlossen, eine zweite Schicht zu improvisieren.<br />
In dem Moment dachte ich, wie gesegnet<br />
ich bin, meine eigene Musik machen<br />
zu können: Musik zu hören, Musikinstrumente<br />
zu spielen und meine volle künstlerische<br />
Freiheit zu haben. Diese Freiheit<br />
hat man nicht, wenn man als klassischer<br />
Solist Musik von Komponisten spielt, die seit<br />
über 100 Jahren tot sind. Ihre Musik wurde<br />
bereits von Millionen anderer Menschen<br />
gespielt, die sogenannte „Traditionen"<br />
geschaffen haben.<br />
Das letzte Mal, dass ich eine neue Saite,<br />
äh, Seite an mir entdeckt habe, war …<br />
Vor drei Jahren entdeckte ich meine Leidenschaft<br />
für Design und begann mit einer<br />
neuen Freizeitbeschäftigung: www.eyejewellery.art.<br />
Es bleibt ein Hobby von mir,<br />
deshalb war ich positiv überrascht, dass<br />
meine Arbeit in der berühmten Jewellery-by-<br />
Artists-Sammlung von Diane Venet landete.<br />
Das letzte Mal, dass jemand unbedingt<br />
einmal meine Stradivari berühren wollte,<br />
war ...<br />
... im Dezember. Ein lokaler Theaterschauspieler<br />
wollte sie nach meinem Konzert in<br />
Montenegro unbedingt einmal halten. Er<br />
ließ sie fallen und lief dann mit den Teilen<br />
davon. Just kidding.<br />
Das letzte Mal, dass ich so richtig etwas<br />
vergeigt habe, war …<br />
Ein großer Fail geschah, als ich 12 Jahre alt<br />
war und plötzlich die Musik auf der Bühne<br />
vergaß. Ich habe etwa drei Sekunden angehalten<br />
und dann weitergespielt. Drei-Fail-<br />
Sekunden auf der Bühne fühlen sich allerdings<br />
an wie eine Ewigkeit. Seitdem ist mir<br />
das nicht mehr passiert. Bis jetzt zumindest.<br />
Oder vielleicht habe ich gelernt, wie man<br />
kleine Fehler verbirgt und es so aussehen<br />
lässt, als ob es so sein soll. Hah!<br />
Das letzte Mal, dass ich unter der<br />
Dusche gesungen habe, war …<br />
... gestern! Den Earth Song von Michael<br />
Jackson.<br />
NEUE SAITEN<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem<br />
Monat erzählt uns der Geiger und Komponist Yury Revich über<br />
die Freiheit beim Musizieren und sein glamouröses Hobby.<br />
Yury Revich, 1991 in Moskau geboren, stammt aus<br />
einer Musikerfamilie und begann mit fünf Jahren Geige<br />
zu spielen. 2009 debütierte er in der Carnegie Hall, 2013<br />
in der Mailänder Scala. Revich hat zahlreiche Aufnahmen<br />
eingespielt, wurde für seine Arbeit unter anderem<br />
mit dem Echo Klassik ausgezeichnet und ist UNICEF-<br />
Österreich-Ehrenbeauftragter. Yury Revich lebt in Wien<br />
und spielt eine Stradivari aus dem Jahr 1709 und eine<br />
Guarneri del Gesu.<br />
Dreamland with Yury Revich im Rahmen<br />
des Vienna Nova Classical Music Festival:<br />
27. <strong>Februar</strong>, 19.30 Uhr, Wiener Konzerthaus. Der<br />
Kartenerlös geht zugunsten wohltätiger Projekte<br />
an UNICEF Österreich.<br />
yuryrevich.com<br />
© Martin Hauser<br />
56 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />
feb22.indb 56 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:53
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