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wina Februar 2022

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<strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

Adar I 5782<br />

-#2. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

„Wir müssen laut sein,<br />

wir müssen unsere Rechte<br />

einfordern“ – Der deutsch-israelische<br />

Rapper und politische Aktivist<br />

Ben Salomo über Anti semitismus,<br />

Antizionismus und die deutsche<br />

Hip-Hop-Szene<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

02<br />

9 120001 135738<br />

Nachhaltiges Judentum<br />

Wie eine Sondersteuer in<br />

Israel Abhilfe gegen Plastikgeschirr<br />

& Co. schaffen soll<br />

Bilder des Triumphs – Das Lonka Project:<br />

400 Schoah-Überlebende, 300 internationale<br />

Top-Fotograf:innen und der Wunsch,<br />

Erinnerungen festzuhalten<br />

cover_0222.indd 1 01.02.<strong>2022</strong> 12:18:27


Sehen Sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />

DiePresse.com/Sonntagsabo<br />

Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />

cover_0222.indd 2 01.02.<strong>2022</strong> 12:18:28


Bundeskanzler Nehammer<br />

entschuldigte sich im Namen<br />

Österreichs bei Yair Lapid für die<br />

Ermordung seines Großvaters.<br />

(v.l.) Außenminister Alexander<br />

Schallenberg, Bundeskanzler<br />

Karl Nehammer und Israels<br />

Außenminister Yair Lapid in der<br />

KZ-Gedenkstätte Mauthausen.<br />

© ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com<br />

Editorial<br />

Selten sieht man erwachsene Männer weinen, noch seltener,<br />

wenn sie nicht nur erwachsen, sondern auch Staatsmänner<br />

sind. Umso beeindruckender muss der Anlass für<br />

solch ein öffentliches Bekenntnis zur inneren Gefühlswelt<br />

sein. Ein solcher Anlass war die Rede Yair Lapids, der als israelischer<br />

Außenminister an der Gedenkfeier im ehemaligen<br />

Konzentrationslager Mauthausen teilnahm und als Enkel von<br />

Béla Lampel eine Rede hielt. Die Rede eines Enkelsohns, dessen<br />

Großvater im Konzentrationslager Mauthausen ermordet<br />

wurde. Dieser Mann war nicht nur eine Nummer in der diabolischen<br />

Buchhaltung eines hasserfüllten Regimes. Er war<br />

vor allem ein Ehemann und Vater, der mit seinem Sohn zum<br />

Fußballspielen ging, sein Omelett gerne im Kaffeehaus aß<br />

und niemandem Unrecht tat. Und: „Er war einfach<br />

nur… Jude.“ Nur deshalb musste er im April<br />

1945 sterben, noch bevor das Reich des Hasses<br />

einige Wochen später zusammenbrach.<br />

Doch er war auch ein Mann, der auch nach<br />

seinem Tod weiterwirkte: „Großvater Béla, ein<br />

ruhiger Mann, der in der Familie ,Béla, der<br />

Weise‘ genannt wurde, sandte mich hierher,<br />

um in seinem Namen zu sagen, dass die Juden<br />

nicht aufgegeben haben. Sie haben einen starken,<br />

freien und stolzen Jüdischen Staat geschaffen,<br />

und sie haben seinen Enkelsohn entsendet,<br />

um sie hier heute zu repräsentieren. Die<br />

Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären und<br />

dass man Juden nur mehr im Museum finden<br />

würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die<br />

Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte.<br />

Ruhe in Frieden, Großvater, du hast gewonnen.“<br />

Großvater Béla wurde zum Opfer – eines von sechs Millionen<br />

Opfern des Hasses. Aber er hinterließ seinem Enkel eine<br />

Aufgabe. Sie alle hinterließen uns eine Aufgabe. Sechs Millionen<br />

Mal dieselbe Aufgabe: „Nie wieder!“ Nie wieder Unrecht<br />

dulden, Unterdrückung zulassen, Hass ignorieren, nie wieder<br />

die Zeichen an der Wand übersehen.<br />

Mein eigener Großvater überlebte das Grauen in Mauthausen<br />

mit knapp 20 Jahren, 28 Kilo, schneeweißen Haaren<br />

und schwerem Diabetes. Er starb an den Folgen seines Martyriums<br />

erst Jahrzehnte später. Bis dahin lebte er – und wie<br />

er das tat: Er liebte es zu essen, zu feiern, mit seiner geliebten<br />

Frau ins Theater und in die Oper zu gehen, er liebte es zu reisen,<br />

zu lesen, zu lachen, er liebte seine Tocher und seine Enkelkinder.<br />

Er liebte das Leben, wie es nur jemand kann, der<br />

dem qualvollen Tod ins Auge geblickt hat. Mein Großvater<br />

sprach nie darüber, was er im Lager sah. Doch oft wachte ich<br />

neben ihm auf in der Nacht, wenn er im Traum herzzerreißend<br />

wimmerte.<br />

Unrecht, Hass und Erniedrigung im Keim zu ersticken ist<br />

unsere Aufgabe als Nachgeborene. Das Leben zu lieben ist das<br />

Werkzeug, das die Erfüllung dieser Aufgabe möglich macht.<br />

Das ist das Erbe, das mir mein Großvater hinterlassen hat.<br />

Ihm gerecht zu werden ist nicht immer einfach, auch nicht,<br />

die Last dieses Erbes zu tragen.<br />

Doch für beides gilt ihm mein Dank!<br />

Julia Kaldori<br />

„Vergebung ist<br />

ein Geschenk,<br />

das man sich<br />

selbst schenkt,<br />

indem man einem<br />

anderen<br />

Menschen nicht<br />

erlaubt, dass er<br />

sich in Ihrem<br />

Körper und Geist<br />

breitmacht.“<br />

Edit Eva Eger,<br />

Psychotherapeutin<br />

und Überlebende<br />

der Schoah.<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

feb22.indb 1 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:48


S.48<br />

Die „MS Goldberg“ wird gerade zur<br />

schwimmenden Bühne umgebaut und<br />

soll in Kürze als Jüdisches Theaterschiff in<br />

Berlin-Spandau vor Anker gehen.<br />

INHALT<br />

„[…] neue Sterne glitzern<br />

lassen, an das Verlorene<br />

erinnern, das<br />

Gemeinsame<br />

feiern.“<br />

Peter Sauerbaum,<br />

Kulturmanager<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

20 Bilder des Triumphs<br />

Nachrichten aus Tel Aviv: Aufnahmen<br />

von Überlebenden der Schoah sollen<br />

deren Erinnerungen bewahren,<br />

Texte ihre Geschichten erzählen.<br />

08 Über den Heldenplatz<br />

Es ist Zeit, einen der wichtigsten<br />

Plätze der Stadt umzugestalten: ein<br />

Blick auf die Geschichte des Heldenplatzes<br />

und Fragen zu seiner Zukunft.<br />

12 „Kritisches Bewusstsein“<br />

Andreas Mailath­Pokorny im WINA-Interview<br />

über sein Engagement für bewusste<br />

Erinnerungskultur an der MUK<br />

– Musik und Kunst Privatuniversität<br />

der Stadt Wien.<br />

15 Frachtflugzeuge nach Maß<br />

IAI, Israel Aircraft Industries, profitiert<br />

von der Annäherung Israels an mehrere<br />

arabische Staaten und liefert<br />

Frachtflugzeuge in Einzelanfertigung.<br />

16 Keim der Hoffnung<br />

Eine Delegation des Jewish Diplomatic<br />

Corps des World Jewish Congress<br />

besuchte die Vereinigten Arabischen<br />

Emirate. IKG ­Generalsekretär Benjamin<br />

Nägele erzählt im WINA-Interview<br />

über seine Eindrücke.<br />

18 Plastik & Judentum<br />

Quer durch Israel türmen sich Plastikberge.<br />

Eine umstrittene Steuer auf<br />

Wegwerfgeschirr soll nun Abhilfe<br />

schaffen. Doch was sagen eigentlich<br />

die alten Schriften zum Naturschutz?<br />

S.27<br />

Kein Blupp Blupp<br />

Goldige News im grauen <strong>Februar</strong>: Israelische Verhaltensforscher<br />

haben Fischen das Fahren beigebracht.<br />

Eine WINA-Hommage auf die schillernden<br />

Fahranfänger!<br />

18 Natur & Tora im Einklang<br />

5782 ist im landwirtschaftlichen Zyklus<br />

in Israel gemäß der Tora ein Schmitta­<br />

Jahr, also ein Brachjahr. Nicht alle Bauern<br />

aber folgen dieser Mitzwa.<br />

24 „Kommen unter die Räder“<br />

Ben Salomo, Rapper und Aktivist gegen<br />

Antisemitismus, im WINA-Gespräch<br />

über politische Enttäuschungen,<br />

verfehlte Bildungspolitik und die<br />

Willkür der Mehrheitsgesellschaft.<br />

28 Jüdisches Mallorca<br />

Die Xuetas entdecken ihr jüdisches<br />

Selbstbewusstsein und die Geschichte<br />

ihrer Vorfahren. Eine moderne<br />

Emanzipationsgeschichte.<br />

„Das wäre so, als würde<br />

man Indianern Kolonialisierung<br />

vorwerfen, wenn<br />

sie im Bundesstaat Indiana<br />

ein Tipi aufbauen.<br />

Es ist eine Dekolonialisierung,<br />

dass es<br />

Israel gibt.“<br />

Ben Salomo<br />

S.24<br />

2 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 2 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:51


KULTUR<br />

34 Ein zeitloses Leben<br />

Die Lebensgeschichte von Dora und<br />

Anna Kallmus wird von Kulturpublizistin<br />

Eva Geber in Madame D’Ora –<br />

Tagebücher nacherzählt.<br />

37 Schwarzes Schaf flippt aus<br />

In seinem aberwitzigen Roman kaddish.com<br />

erzählt der Amerikaner<br />

Nathan Englander vom Dilemma eines<br />

Sohnes in Zeiten des Internets.<br />

38 Jugend ins Theater bringen<br />

Im Stück Die Ärz tin steckt viel von<br />

Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi.<br />

Autor und Regisseur Robert Icke hat<br />

es geschickt mit heuti gen Identitätsdiskursen<br />

angereichert.<br />

44 Was wäre wenn<br />

Ein Heldenmythos, eine Liebesgeschichte<br />

oder doch nur gescheiterte<br />

Träume: das facettenreiche Leben in<br />

Lizzie Dorons neuem Roman.<br />

42 Manfreds Geschichte<br />

Ein Sohn und jüdischer Geheimkommando<br />

­Offizier macht sich im<br />

Sommer 1945 auf die Su che nach<br />

seinen Eltern in Theresienstadt.<br />

44 Der Dichter und die Macht<br />

Vor 20 Jahren starb der deutsche<br />

Schriftsteller, Denker, DDR-Rückkehrer<br />

und Alterspräsident des Deutschen<br />

Bundestages Stefan Heym in Israel.<br />

48 Avantgardistin & Pädagogin<br />

Eine Ausstellung im Linzer Lentos Museum<br />

beleuchtet die vielen Facetten<br />

der nahezu vergessenen jüdischen<br />

Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis.<br />

50 Im Bauch des Lastkahns<br />

Die „MS Goldberg“ wird gerade in eine<br />

multifunktionale moderne Bühne verwandelt.<br />

Als Jüdisches Theaterschiff<br />

wird sie danach von Berlin aus auf<br />

große Fahrt gehen.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

Coverfoto: Ben Salomo © Daniel Shaked<br />

22 WINA_Kommentar<br />

Itamar Gross über die Segnungen<br />

des israelischen Hightech-Paradieses<br />

Silicon Wadi<br />

27 WINA_Lebensart<br />

Fische sind Navigationskünstler –<br />

und Teil unseres Lifestyles<br />

30 Matok & Maror<br />

Ein Besuch beim Imbiss „Chez Berl“<br />

in der Stadtgutgasse<br />

31 WINA_kocht<br />

Sind Gugelhupf und Kugel kulinarische<br />

verwandt und warum wir die<br />

Tassen im Schrank lassen sollen …<br />

47 Urban Legends<br />

Paul Divjak über das Virus, das nur<br />

kurz von den massiven ökologischen<br />

Problemen ablenken kann<br />

53 WINA_Werk-Städte<br />

Ein Besuch in der Spanischen<br />

Synagoge in Prag<br />

54 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den <strong>Februar</strong><br />

56 Das letzte Mal<br />

Geiger und Komponist Yury Revich<br />

über die Freiheit beim Musizieren<br />

und sein glamouröses Hobby<br />

„Nach unseren Unterlagen<br />

gab es hier keinen<br />

Bruch mit der NS-Geschichte,<br />

genauso<br />

wenig wie in<br />

ganz Österreich.“<br />

Andreas Mailath-Pokorny<br />

S.10<br />

Andreas Mailath-Pokorny<br />

erklärt, warum er sein Engagement<br />

für die Aufarbeitung<br />

der NS -Geschichte und die bewusste<br />

Erinnerungskultur auch<br />

als Rektor der MUK – Musik<br />

und Kunst Privatuniversität der<br />

Stadt Wien fortsetzt.<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

feb22.indb 3 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:54


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

BILDER DES<br />

TRIUMPHS<br />

Professionelle Aufnahmen von Überlebenden der Schoah<br />

sollen deren Erinnerungen bewahren, bevor es zu spät ist.<br />

is vor Kurzem hatten die sechzig Porträts<br />

noch mitten in Jerusalem gehangen, am Safra-Platz,<br />

neben der Stadtverwaltung. Die<br />

Bilder zeigen Überlebende in ihren heutigen<br />

Wohnzimmern, mit ihren Karrieren und<br />

Familien, am Küchentisch, vor Bücheregalen<br />

oder Glasschränken, mit ihren Haustieren. Keine Fotos<br />

aus dem Familienalbum, sondern Profiaufnahmen. Es<br />

war eine Ausstellung im Freien, an einem Ort, an dem<br />

noch nie Kunstwerke gezeigt worden waren. Begonnen<br />

hatte sie im vorigen April am israelischen Schoah-Gedenktag,<br />

und sie hätte nur ein paar Wochen dauern sollen.<br />

Dann aber wurde sie vier Mal verlängert. Das Interesse<br />

war groß. Zehntausende sind auf dem Weg ins<br />

Rathaus hier verharrt, haben sich die Fotos und ihre<br />

Geschichten angeschaut.<br />

Die meisten Aufnahmen sind in Farbe, aber es gibt<br />

auch Schwarzweißbilder. Manche sind bis zu zwei Meter<br />

groß. Sie alle könnten unterschiedlicher nicht sein.<br />

Zu jedem Foto gehört ein Text, der jeweils knapp die<br />

Biografie der oder des Porträtierten erzählt, auf Hebräisch,<br />

Englisch und Arabisch. Es sind Einblicke in Lebensläufe,<br />

geprägt von Flucht, Verlust, Schrecken und<br />

unsäglichem Leid, aber auch von Resilienz und Lebensenergie.<br />

Die so von internationalen Topfotografen Porträtierten<br />

sind Teil des Lonka-Projekts, das es sich zur<br />

Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung zu bewah-<br />

Von Gisela Dachs<br />

Einblicke in Lebensläufe, geprägt von Flucht,<br />

Verlust, Schrecken und unsäglichem Leid, aber<br />

auch von Resilienz und Lebensenergie.<br />

ren. Initiator ist ein Fotografenpaar: der Amerikaner<br />

Jim Hollender und die Israelin Rina Castelnuovo. Beide<br />

waren beruflich Jahrzehnte lang vor allem im Takt des<br />

Nahostkonflikts unterwegs. Sie arbeitete für die New<br />

York Times, er für große Nachrichtenagenturen. Sie wohnen<br />

nicht weit weg von Jerusalem und sind gerade zum<br />

zweiten Mal Großeltern geworden. 2018 saßen sie vor<br />

dem Fernseher und konnten einen Bericht über die Ignoranz<br />

französischer Jugendlicher in Hinblick auf die<br />

Schoah nicht fassen. Wie könne das sein, fragte sich<br />

Jim, in einem Land, das einst selbst unter Nazi-Besatzung<br />

war? Bilder, dachte Rina, könnten hier einen Weg<br />

zu den jüngeren Generationen bahnen.<br />

Rinas Mutter, Eleonore „Lonka“ Nass, die aus Krakau<br />

stammte und fünf Lager überlebt hatte, war wenige<br />

Monate zuvor gestorben. Ihr Vater war mit seinen<br />

Eltern in Polen versteckt gewesen, bevor er sich<br />

den Partisanen anschloss. Zuhause wurde nicht über<br />

die Vergangenheit geredet. Sie sei ihr ganzes Leben<br />

von diesen Erinnerungen davongelaufen, erzählt Rina,<br />

nach dem Tod ihrer Mutter aber fühlte sie, dass die Verantwortung<br />

für die Vergangenheit jetzt bei ihr und ihrer<br />

Schwester liege. Jims Vater kämpfte als amerikanischer<br />

Soldat im Zweiten Weltkrieg. Erst spät erfuhr der<br />

Sohn, dass er in Italien schwer verwundet worden war.<br />

Als Jim 1983 nach Israel kam, um mit der Kamera<br />

über den Libanonkrieg zu berichten, sah er auf den<br />

Straßen von Tel Aviv zum ersten Mal Menschen mit einer<br />

Nummer auf dem Arm. Er erinnert sich daran, wie<br />

sie dort im Café saßen und leise auf Polnisch plauderten.<br />

Die Idee, sich ihnen und ihren Geschichten zu widmen,<br />

hatte er schon vor dreißig Jahren. Doch es sollte<br />

dauern, bis er die Zeit dazu fand. „Ich wünschte, ich<br />

hätte das Projekt schon vor Jahren begonnen, um<br />

diese Menschen länger zu begleiten“, sagt er heute.<br />

4 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 4 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:54


© Lois Lammerhuber/The Lonka Project, 2020<br />

Liese Scheiderbauer wurde 1936 in Wien geboren.<br />

Als die Nationalsozialisten kamen, konvertierte ihre<br />

Mutter zum Judentum, um bei ihren Kindern und ihrem<br />

jüdischen Ehemann bleiben zu können. Er wurde<br />

1938 nach Buchenwald und später nach Auschwitz<br />

verschleppt und überlebte. Liese, ihre Mutter und ihre<br />

Schwester wurden 1945 aus dem KZ Theresienstadt<br />

befreit. Im Lager hätte sie immer getanzt, um ihre<br />

Ängste zu überwinden, erzählt sie später. Nachdem<br />

Liese ihr Studium an der Hochschule für Musik und<br />

darstellende Kunst abgeschlossen hatte, wurde sie<br />

Tänzerin im Ballett der Volksoper. „Ich hatte ein sehr<br />

gutes Leben ‚danach‘, muss ich sagen – mit Unterbrechungen,<br />

wie jede andere auch. Ich lebe mein Leben<br />

wie ein Geschenk.“<br />

Ágnes Keleti wurde 1921 in Budapest geboren. Im<br />

Alter von vier Jahren begann sie mit dem Kunstturnen<br />

und wurde schnell erfolgreich. 1940 sollte<br />

sie bei den Olympischen Spielen antreten, was sie<br />

aufgrund ihrer jüdischen Abstammung jedoch<br />

nicht mehr durfte. Sie überlebte die Schoah mit<br />

falschen Papieren auf dem Land. Ihr Vater wurde<br />

in Auschwitz ermordet, ihre Mutter und Schwester<br />

überlebten unter dem Schutz Raoul Wallenbergs<br />

in Budapest. Erst mit 31 Jahren nahm Ágnes 1952 an<br />

den Olympischen Spielen teil und gewann die erste<br />

ihrer olympischen Goldmedaillen; es sollten noch<br />

einige folgen. 2015 kehrte Àgnes Keleti wieder nach<br />

Budapest zurück, wo sie 2021 ihren<br />

100. Geburtstag feierte.<br />

© Bea Bar Kallos/The Lonka Project, 2020<br />

© Robert Gompert/The Lonka Project, 2020<br />

Paul Schwarzbart wurde 1933 in Wien geboren.<br />

Paul, sein Vater Fritz und seine Mutter Sidi flohen<br />

1938 nach Brüssel. Pauls Vater wurde 1940 verhaftet,<br />

deportiert und kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager<br />

ermordet. 1943 holte ein Mitarbeiter<br />

des belgischen Untergrunds den knapp Zehnjährigen<br />

ab; er bekam eine neue Identität, falsche Papier<br />

und wurde in den Zug nach Jamoigne gesetzt.<br />

Dort wurde er von einem Fremden abgeholt und<br />

in ein katholisches Internat gebracht, wo er den<br />

Krieg überlebte, ohne jemals seine wahre Identität<br />

preiszugeben. Nach Kriegsende kehrte Paul zu<br />

seiner Mutter nach Brüssel zurück. Drei Jahre später<br />

verließen sie Europa Richtung New York.<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

feb22.indb 5 02.02.<strong>2022</strong> 13:47:59


© Allan Tannenbaum/The Lonka Project,<br />

Rabbi Arthur Schneier wurde 1930 in Wien geboren.<br />

Sein Vater starb noch vor Kriegsbeginn. Im September<br />

1939 floh er mit der Mutter zu den Großeltern nach Ungarn.<br />

Sie wurden 1944 nach Auschwitz deportiert und<br />

ermordet. Arthur und seine Mutter überlebten in Budapest<br />

in einem der Schutzhäuser Raoul Wallenbergs. Er<br />

kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück und emigrierte<br />

1947 in die USA. Arthur Schneier ist seit über 50 Jahren<br />

Oberrabbiner der Park East Synagoge in New York und<br />

für seinen Einsatz für Religionsfreiheit, Menschenrechte<br />

und Toleranz international bekannt.<br />

Inge Ginsberg wurde 1922 als Ingeborg Neufeld in Wien geboren,<br />

wo sie wohlbehütet aufwuchs. 1938 wurde die Familie auseinandergerissen,<br />

der Vater in das KZ Dachau verschleppt. Die Mutter<br />

tauchte mit Inge und deren Bruder unter und floh bald darauf mit<br />

ihnen über die Alpen in die Schweiz, wo sie überlebten. Nach dem<br />

Krieg pendelte Inge zwischen der Schweiz, Amerika und Israel, heiratete<br />

dreimal und arbeitete als Musikjournalistin und Komponistin.<br />

Mit über 90 Jahren trat sie noch mit der Death-Metal-Band Inge<br />

& the TritoneKings auf und kam 2015 in die Schweizer Vorrunde<br />

des Eurovision Song Contest. Inge Ginsberg starb 2021 in Zürich<br />

nach einer überwundenen Covid-19-Infektion – nach Aussage von<br />

Freunden an Depression und Einsamkeit.<br />

© Ursula Markus/The Lonka Project, 2020<br />

Der Auftrag lautete, Aufnahmen zu machen,<br />

die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen<br />

und mehr als nur ihre Gesichter zeigen.<br />

Das Paar, gut vernetzt in internationalen Fotografenkreisen,<br />

wandte sich an ihre Kollegen und Kolleginnen<br />

in aller Welt und bat sie, einen Schoah-Überlebenden<br />

zu treffen und zu porträtieren. „Alle haben den<br />

gleichen Auftrag bekommen, aber ohne irgendeine genauere<br />

Anweisung, wie sie das tun sollten“, erzählt Jim.<br />

„Jede und jeder konnte vorgehen, wie er oder sie wollte.<br />

Sie konnten mit einer riesigen Kamera arbeiten oder<br />

nur mit dem Handy. Es sollten aber Aufnahmen sein,<br />

die den Lebensgeist der Überlebenden darstellen und<br />

mehr als nur das Gesicht zeigen. Und das ist, was die<br />

Ausstellung so faszinierend macht.“ Mitgemacht haben<br />

sofort alle. Es habe niemanden gegeben, der nicht gesagt<br />

hätte, „es ist mit eine Ehre.“<br />

Inzwischen umfasst das Lonka Project 400 Bilder, aufgenommen<br />

von 300 Fotograf:innen. Die Hälfte der Porträtierten<br />

sind Israelis, die anderen stammen aus aller<br />

Welt, darunter auch aus Österreich. Auf den vielen<br />

Bildern festgehalten sind etwa die 101-jährige Turnerin<br />

Àgnes Keleti, Anne Franks Stiefschwester Eva Schloss,<br />

einer der jüngsten Auschwitz-Überlebenden, Ryszard<br />

Horowitz, und Moshe Zion, der einst mit den „Teheran-<br />

Kindern“ nach Palästina gekommen war und sich zuletzt<br />

um Hilfe für kranke Kinder im Gazastreifen gekümmert<br />

hat, bis er sich vor Kurzem das Leben nahm.<br />

Er gehört zu den 25 Porträtierten, die seit Beginn des<br />

Projekts gestorben sind. In Jerusalem hat auch noch<br />

ein anderes Bild viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen<br />

– Leila Jabarin ist da mit einem muslimischen Kopftuch<br />

zu sehen. Sie wurde 1942 als Helen Brashatsky in<br />

Auschwitz geboren, wohin ihre schwangere Mutter aus<br />

Jugoslawien deportiert worden war. Das Baby überlebte<br />

mit seiner Familie durch den Schutz eines christlichen<br />

Arztes. In Israel heiratete sie später einen Araber<br />

und konvertierte zum Islam. Erst spät in ihrem Leben<br />

schrieb sie sich in ein Programm für Schoah-Überlebende<br />

ein und rang sich danach durch, ihren acht Kindern<br />

und dreißig Enkelkindern erstmals von ihrer Vergangenheit<br />

zu erzählten.<br />

Die Ausstellung ist mittlerweile in das Haus der<br />

Ghettokämpfer in Norden Israels weitergezogen. 48<br />

Bilder und ihre Geschichten sollen dort vor allem eine<br />

Brücke zu den jungen Israelis schlagen. Der Direktor,<br />

Yigal Cohen, spricht von Bildern des Triumphes, die<br />

von einer unglaublichen Lebenskraft zeugen. Vor einem<br />

Jahr hatte der damalige Präsident Rivlin seine Residenz<br />

in Jerusalem dafür geöffnet – und zuvor eine<br />

Zeitlang auch die UNO in New York. Rina weiß nicht,<br />

ob ihrer Mutter, einer der bescheidensten Menschen<br />

überhaupt, wie sie erzählt, das nach ihr benannte Projekt<br />

gefallen hätte. Aber aus ihrer Sicht ist es das, was<br />

sie tun kann.<br />

6 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 6 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:04


HIGHLIGHTS | 01<br />

„Nie wieder vergessen!“<br />

Yair Lapid erinnert sich in Mauthausen an<br />

seinen ermordeten Großvater und bittet<br />

die Welt, sich „daran zu erinnern, dass<br />

Béla Lampel keine Nummer war“.<br />

„Die Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären<br />

und dass man Juden nur mehr im Museum finden<br />

würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die<br />

Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte.<br />

Ruhe Min Frieden, Großvater, du hast gewonnen.“<br />

it diesen Worten schloss der israelische Außenminister<br />

Yair Lapid seine Rede in der<br />

Gedenkstätte Mauthausen am internationalen<br />

Holocaustgedenktag. Der Enkel von Béla Lampel,<br />

der im KZ Ebensee ermordet wurde, war<br />

der ranghöchste israelische Politiker, der seit<br />

dem Besuch des damaligen Staatspräsidenten<br />

Moshe Katzav im Jahr 2004 Österreich besucht<br />

hat. Sowohl in der Gedenkstätte in Mauthausen<br />

wie auch bei der Gedenkfeier an der Schoah-Namensmauer<br />

in Wien wurde er von Mitgliedern<br />

der österreichischen Regierung begleitet.<br />

„Ich entschuldige mich im Namen der Republik<br />

für die hier begangenen Verbrechen“, sagte<br />

Bundeskanzler Karl Nehammer in Mauthausen<br />

und versprach, „alles zur Bekämpfung des Antisemitismus<br />

zu tun“. Ein Versprechen, das auch<br />

Bundesministerin Karoline Edtstadler unterstrich,<br />

denn „wir sind es den Millionen von<br />

Jüdinnen und Juden, die verschleppt, entrechtet<br />

und ermordet wurden, schuldig,<br />

das zu tun“.<br />

In einer gemeinsamen Erklärung,<br />

die von der Israelitischen Gemeinde<br />

Wiens initiiert und sowohl von der Regierungsspitze<br />

wie auch vom Bundespräsidenten<br />

unterzeichnet wurde, heißt<br />

es dazu: „Wir alle sind gefordert, Zivilcourage<br />

zu zeigen, zu widersprechen, wenn antisemitische,<br />

romafeindliche oder fremdenfeindliche<br />

Worte fallen. [...]<br />

Es beginnt mit der Sprache und mit Symbolen<br />

– überall, auf der Straße, im öffentlichen Raum,<br />

im privaten Bereich, im Parlament. Wir alle sind<br />

aufgefordert, achtsam zu sein.“ Es dürfe null Toleranz<br />

gegenüber Antisemitismus, Ausgrenzung<br />

und Hass geben – so die Reaktion von Pamela<br />

Rendi-Wagner (SPÖ). Und auch Beate Meinl-Reisinger<br />

(NEOS) meinte dazu, dass „es unabdingbar<br />

sei, dass wir uns an den Holocaust nicht nur<br />

erinnern, sondern auch Zivilcourage zeigen und<br />

widersprechen, wenn antisemitische oder fremdenfeindliche<br />

Worte fallen“.<br />

2.200<br />

Veranstaltungen<br />

fanden im Festjahr 2021 JLID – 1.700<br />

Jahre jüdisches Leben in Deutschland<br />

statt. Dazu kamen unzählige Projektförderungen<br />

und internationale Veranstaltungen,<br />

wie etwa das große<br />

Konzert Generation zu Generation<br />

im Wiener Rathaus im vergangenen<br />

Herbst. Und da die Pandemie viele<br />

Veranstaltungen verhinderte, geht<br />

das Festjahr – mit Unterstützung der<br />

Bundesregierung Deutschlands –<br />

nun in die Verlängerung.<br />

Gerührt.Yair<br />

Lapid und Karl<br />

Nehammer sichtlich<br />

berührt in<br />

der Gedenkstätte<br />

Mauthausen.<br />

© ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com; © Ouriel Morgenstern; © March of the Living International<br />

Angriff auf<br />

die Geschichte<br />

Schoah-Überlebende wehren sich mit<br />

einer Kampagne gegen die gefährliche<br />

Verharmlosung des Holocaust.<br />

Laut einer internationalen Umfrage der<br />

Initiator:innen gab es in den letzten zwei<br />

Jahren fast 60 Millionen Beiträge und Kommentare<br />

in sozialen Medien, die die Pandemie<br />

und deren Folgen in irgendeiner Weise<br />

mit dem Holocaust in Verbindung bringen.<br />

Auf dieses besorgniserregende Phänomen<br />

möchten sie nun mit der Kampagne Angriff<br />

auf die Geschichte aufmerksam machen.<br />

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<strong>2022</strong><br />

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wına-magazin.at<br />

7<br />

© Xxx<br />

feb22.indb 7 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:05


Demonstrationsplatz<br />

Die Hofburg. Der Heldenplatz<br />

und die Neue Hofburg mit dem<br />

Erzherzog-Karl-Denkmal, um 1910.<br />

„Anschluss“ 1938. Die Menschenmenge<br />

jubelt dem Führer nach seinem<br />

Triumphzug über den Ring zu.<br />

Nachdenken über den Heldenplatz<br />

Wer wird eigentlich an diesem Ort im Zentrum Wiens geehrt? Wofür wird er sonst genutzt?<br />

Und ist es nicht Zeit, den Platz umzugestalten? Ein Blick in die Geschichte des<br />

Heldenplatzes und Fragen zu seiner Zukunft.<br />

Von Alexia Weiss<br />

ochenende für Wochenende<br />

sorgen die Demonstrationen der<br />

Corona-Maßnahmen- und Impfgegner<br />

für eine Bilderflut in Nachrichtensendungen,<br />

auf News-Portalen<br />

und in Social Media. Darauf zu sehen:<br />

Österreich-Fahnen in Massen und damit<br />

auch eine nationale Vereinnahmung der<br />

inzwischen massiv nach rechts abgedrifteten<br />

Proteste. Immer wieder im Bild: FPÖ-<br />

Chef Herbert Kickl, der hier ein ums andere<br />

Mal Brandreden gegen die Regierung<br />

hält und sich in einer „Diktatur“ sieht, aber<br />

auch der mehrmals wegen NS-Wiederbetätigung<br />

verurteilte Gottfried Küssel.<br />

Was außerdem auffällt: schräge Outfits<br />

von weißen Ganzkörperanzügen bis<br />

zu mit Alufolie umwickelten Hüten. Seit<br />

Monaten sind bereits immer wieder gelbe<br />

Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“<br />

bei diesen Protesten zu sehen – es handelt<br />

sich in der Anmutung um die von<br />

den Nazis einst Jüdinnen und Juden aufgezwungenen<br />

„Judensterne“. Sie irritieren<br />

ebenso wie so manches hochgehaltene<br />

Schild: Mitte <strong>Februar</strong> fand sich auf<br />

einem ein Foto Adolf Hitlers, darüber die<br />

Worte „Impfen macht frei“, darunter die<br />

Worte „I’ll be back“.<br />

Hitler-Schild wie Sterne transportieren<br />

verquere Botschaften: Rechte bis Rechtsextreme<br />

bemühen einen Opferstatus und<br />

stellen dabei immer wieder eine Verbindung<br />

zum Nationalsozialismus her. Das<br />

ist wiederum eine Verharmlosung des NS-<br />

Terrors und der Schoah, erstens, und zweitens<br />

möchte man den Demonstrierenden<br />

zurufen: Wärt ihr in einer Diktatur, könntet<br />

ihr auch nicht Woche für Woche die Wiener<br />

Innenstadt als Aufmarschplatz missbrauchen.<br />

Einer der zentralen Orte dieser Demonstrationen<br />

ist der Heldenplatz. Hier versammelt<br />

man sich, hier werden immer wieder<br />

Reden geschwungen, von hier gibt es Fotos<br />

um Fotos. Damit ergibt sich sofort eine<br />

gedankliche Brücke: an den Heldenplatz,<br />

auf dem die Massen einst Adolf Hitler zujubelten.<br />

Aber auch an den Heldenplatz, den<br />

Thomas Bernhard 1988 in seinem gleichnamigen<br />

Theaterstück – 50 Jahre nach<br />

Hitlers Auftritt dort – zeichnete und welcher<br />

der österreichischen Gesellschaft in<br />

den „Waldheim“-Jahren kein gutes Zeugnis<br />

ausstellte: Er legte Kontinuitäten in einem<br />

Ausmaß bloß, das weh tat und entsprechend<br />

auch für Debatten sorgte. Und<br />

schließlich an den Heldenplatz, an dem<br />

zwischen 1996 und 2012 deutschnationale<br />

schlagende Burschenschaften immer am<br />

8. Mai in der Krypta des Äußeren Burgtores,<br />

dem Österreichischen Heldendenkmal,<br />

einen Kranz niederlegten und damit<br />

für Provokation sorgten: Das Gedenken an<br />

die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten<br />

wirkte Jahr um Jahr wie eine öffentlich<br />

dargebotene Verherrlichung des Nationalsozialismus.<br />

Der Heldenplatz erzählt aber auch andere Geschichten.<br />

Hier fand 1993 das Lichtermeer<br />

statt, ein zivilgesellschaftliches Aufzeigen<br />

gegen Fremdenfeindlichkeit, ein Zeichen<br />

gegen rechts, gegen den Populismus und<br />

Rassismus des damaligen FPÖ-Chefs Jörg<br />

Haider, gegen dessen „Österreich zuerst“-<br />

Volksbegehren. 300.000 Menschen wurden<br />

Teil des Lichtermeers – es wurde damit<br />

die größte Demonstration der Zweiten<br />

Republik. Hier kam es seit 2002 am 8. Mai<br />

zu Gegendemonstrationen gegen das Heldengedenken<br />

der rechten Burschenschafter,<br />

hier findet seit 2013 am 8. Mai das „Fest<br />

der Freude“ statt und damit wurde der Tag<br />

positiv konnotiert: Gefeiert wird das Ende<br />

des NS-Terrorregimes, dabei erinnert man<br />

sich an die Opfer des Nationalsozialismus.<br />

© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com; Glückler, Herbert / OeNB-Bildarchiv / photonews.at / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />

8 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 8 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:13


Gedankliche Brücke<br />

Totengedenken des Korporationsring<br />

(WKR) am Jahrestag der Kapitulation Hitler-<br />

Deutschlands – unter großen Protesten.<br />

Demonstration der Gegner<br />

der Corona-Maßnahmen bei<br />

der Rede von Herbert Kickl.<br />

© Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com; Glückler, Herbert / OeNB-Bildarchiv / photonews.at / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />

„Ich glaube,<br />

man muss sich<br />

trauen, den<br />

Heldenplatz und<br />

die Neue Burg<br />

größer und neu<br />

zu denken.“<br />

Monika Sommer,<br />

Direktorin des Hauses<br />

der Geschichte<br />

Sie stehen auch im Mittelpunkt<br />

des zivilgesellschaftlichen<br />

Gedenkens<br />

am 27. Jänner, dem internationalen<br />

Holocaust-<br />

Gedenktag,<br />

Was sich heute außerdem<br />

am Heldenplatz befindet:<br />

das Haus der Geschichte,<br />

das sich unter der Leitung von<br />

Monika Sommer seit 2018 erfolgreich um<br />

eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung<br />

mit Zeitgeschichte und damit<br />

auch mit den Jahren des Nationalsozialismus<br />

sowie dessen Nachwirken in den<br />

darauffolgenden Jahrzehnten bemüht.<br />

Das Museum, das in einem Teil der Neuen<br />

Burg neben der Nationalbibliothek untergebracht<br />

ist, kämpft allerdings seit Beginn<br />

mit Platzproblemen. Die Ausstellungsfläche<br />

von 800 Quadratmetern ist doch sehr<br />

knapp bemessen, um Zeitgeschichte adäquat<br />

zu verhandeln.<br />

Immer wieder streckt das Haus daher<br />

seine Arme auch ins Freie, auf den Platz<br />

vor der Burg aus – zuletzt wurde hier eine<br />

Freiluftausstellung gezeigt, die „das Wiener<br />

Modell der Radikalisierung“ offenlegte.<br />

Aufgezeigt wurde darin, dass Österreich<br />

nicht nur nicht das<br />

erste Opfer NS-Deutschlands<br />

war, sondern sogar<br />

vieles, was an systematischer<br />

Verfolgung von Juden<br />

und Jüdinnen von den<br />

Nationalsozialisten implementiert<br />

wurde, zuvor in<br />

Wien erprobt worden war:<br />

vom Vermögensentzug bis hin zu den Massendeportationen<br />

in Konzentrationslager,<br />

Ghettos und Vernichtungsstätten im Osten.<br />

Doppelt absurd erscheint es dann, dass sich<br />

just an diesem Platz zeitgleich Demonstrierende<br />

gegen Coronamaßnahmen in eine<br />

Linie mit den Opfern von damals stellen.<br />

In provisorischen, auf Rasenflächen des<br />

Platzes errichteten Ausweichquartieren<br />

sind derzeit zudem Einrichtungen des Parlaments<br />

untergebracht. Das Haus am Ring<br />

brauchte eine Generalsanierung, wenige<br />

Gehminuten entfernt finden Plenarsitzungen<br />

von National- und Bundesrat in der<br />

Hofburg statt. Andere Räumlichkeiten wie<br />

etwa Büros fanden am Heldenplatz eine vorübergehende<br />

Heimat. Dass der Heldenplatz<br />

grundsätzlich Adresse für ein neues<br />

Gebäude – oder auch Denkmal – werden<br />

könnte, schien bis vor Kurzem nahezu ausgeschlossen.<br />

Verwaltet wird der Platz von<br />

der Burghauptmannschaft. Und diese ließ<br />

bisher eine zusätzliche Bebauung nicht zu.<br />

Für das Parlament wurde nun eine Ausnahme<br />

gemacht. Wodurch sich die Frage<br />

stellt: Wie lange werden die provisorischen<br />

Bauten noch stehen? Und was wird danach<br />

sein? Sollte man nicht über eine anderweitige<br />

mögliche Nutzung des Ortes diskutieren?<br />

Sollte man nicht überhaupt über<br />

eine Umgestaltung des Platzes sprechen?<br />

Warum etwa parken vor der ebenfalls in<br />

der Hofburg untergebrachten Organisation<br />

für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in Europa (OSZE) nach wie vor Autos? Die<br />

Innenstadt wird nach und nach zur Fußgängerzone<br />

umgestaltet – aber dieser Platz<br />

fungiert nach wie vor als Parkplatz?<br />

Ich habe zunächst bei der Parlamentsdirektion<br />

nachgefragt, wie lange die provisorischen<br />

Bauten noch am Heldenplatz<br />

stehen werden. Parlamentsdirektor Harald<br />

Dossi schrieb mir dazu: „Die temporäre<br />

Nutzungsbewilligung ist derzeit mit<br />

August 2023 befristet.“ Zum jetzigen Zeitpunkt<br />

sei die Wiederinbetriebnahme des<br />

Parlamentsgebäudes mit Herbst <strong>2022</strong> geplant.<br />

„Die Nutzung der Pavillons wird aber<br />

darüber hinaus noch geraume Zeit andau-<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

feb22.indb 9 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:23


Repräsentation der Republik<br />

Parlamentsaußenstelle:<br />

temporäre Büros im provisorischen<br />

Gebäude auf dem Rasen.<br />

1945 brachte auch hier eine Zäsur. Ab Ende<br />

der 1940er-Jahre gab es zunächst sonntägliche<br />

Messen in der Krypta, ab 1951 legern,<br />

da auch im sanierten Parlamentsgebäude<br />

nicht alle Organisationseinheiten<br />

Platz finden und wir deswegen weitere Flächen<br />

in unmittelbarer Parlamentsnähe für<br />

den parlamentarischen Betrieb langfristig<br />

organisieren müssen. Jedenfalls wird<br />

nach vollständiger Absiedlung der Abbau<br />

der Pavillons erfolgen.“<br />

Mit Herbst 2023 könnten die temporären<br />

Gebäude am Heldenplatz also wieder<br />

verschwunden sein – wenn das Parlament<br />

bis dahin anderswo Räumlichkeiten gefunden<br />

hat. Dossis Worte sind diesbezüglich<br />

zögerlich: Wird man bis dahin Büros<br />

in Parlamentsnähe bezogen haben? Wann<br />

auch immer sich das Parlament aber vom<br />

Heldenplatz zurückzieht: Könnte nicht<br />

über eine Weiternutzung der Pavillons<br />

nachgedacht werden? Oder über einen<br />

Neubau an der Stelle, an dem jetzt die Pavillons<br />

stehen?<br />

Meine nächste Ansprechpartnerin dazu<br />

ist Monika Sommer, die Direktorin des<br />

Hauses der Geschichte. Sie sieht am Heldenplatz<br />

einerseits eine starke Repräsentation<br />

der Republik, etwa durch die Kranzniederlegungen<br />

am Nationalfeiertag – die<br />

allerdings auch über die Jahrzehnte vom<br />

holprigen Umgang Österreichs mit seiner<br />

NS-Vergangenheit und mit den NS-Opfern<br />

erzählen (mehr dazu später). „Es ist aber<br />

auch ein Platz der Zivilgesellschaft, vor allem<br />

durch das Lichtermeer 1993.“<br />

Und obwohl der Platz gefühlt von der<br />

Monarchie besetzt zu sein scheint, stimmt<br />

dies nicht, wie Sommer zu bedenken gibt.<br />

Die Neue Burg wurde zwar Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts geplant, der letzte Trakt sei<br />

aber erst 1920 fertiggestellt worden. Und<br />

jener Bauteil, der später zum Gedenkort<br />

wurde, das Äußere Burgtor, wurde zwar<br />

nach der Zerstörung der napoleonischen<br />

Truppen 1809 von 1821 bis 1824 wiederaufgebaut.<br />

Die erste militärische Gedenkfunktion<br />

kam ihm aber erst zu einer Zeit<br />

zu, als Österreich bereits mit einem Fuß in<br />

der Republik stand. 1916 wurden für Helden<br />

des Ersten Weltkriegs 107 metallene<br />

Lorbeerkränze im Gebälk des Gebäudes<br />

angebracht.<br />

Heidemarie Uhl, Richard Hufschmied<br />

und Dieter A. Binder haben in dem 2021 im<br />

Böhlau Verlag erschienenen Band Gedächtnisort<br />

der Politik die Entwicklung des Gedenkens<br />

am Heldenplatz nachgezeichnet. Erst<br />

1934 wurde demnach im Äußeren Burgtor<br />

das Österreichische Heldendenkmal<br />

eingeweiht. Im linken Flügel befand sich<br />

ein Andachtsraum für nicht katholische<br />

Konfessionen und darin eine Gedenktafel<br />

für den 1934 bei einem nationalsozialistischen<br />

Putschversuch ermordeten Kanzler<br />

Engelbert Dollfuß, die nach dem „Anschluss“<br />

1938 entfernt wurde.<br />

Im rechten Teil des Burgtors wurde die<br />

Krypta errichtet. In ihr wurde das vom<br />

Bildhauer Wilhelm Frass errichtete Denkmal<br />

des „Toten Kriegers“ aufgestellt. Dass<br />

er bereits zu diesem Zeitpunkt Nationalsozialist<br />

war, machte er 1938 im Völkischen<br />

Beobachter publik: Er habe im Sockel des<br />

Denkmals eine NS-Huldigungsschrift verborgen.<br />

Überprüft wurde das erst 2012 unter<br />

dem damaligen SPÖ-Verteidigungsminister<br />

Norbert Darabos. Und tatsächlich<br />

fand sich in einer Metallhülse ein Schriftstück<br />

von Frass, aber überraschenderweise<br />

auch ein zweites: eine Gegenschrift seines<br />

Mitarbeiters Alfons Riedel.<br />

Doch zurück in die 1930er-Jahre. Von<br />

1934 bis 1938 war die Krypta „der Schauplatz<br />

der staatlichen und militärischen Gedenkkultur<br />

der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“,<br />

formuliert es die Historikerin Uhl,<br />

die ich ebenfalls zum Thema Heldenplatz<br />

kontaktierte. Am 15. März 1938 legte Adolf<br />

Hitler einen Kranz in der Krypta nieder,<br />

es war der Tag seiner „Anschluss“-Rede<br />

auf dem Balkon der Neuen Burg, der heute<br />

just in jenen Teil des Gebäudes fällt, in dem<br />

das Haus der Geschichte untergebracht ist.<br />

Jeden März kam es daraufhin bis 1945 hier<br />

zu Kranzniederlegungen am offiziellen nationalsozialistischen<br />

„Heldengedenktag“.<br />

ten der Verband der Unabhängigen (VdU),<br />

die Vorläuferpartei der FPÖ, und Kameradschaftsverbände<br />

Kränze vor dem Soldatendenkmal<br />

nieder. 1955 fand nach<br />

Abschluss des Staatsvertrags das erste Totengdenken<br />

für die Gefallenen des Ersten<br />

und Zweiten Weltkriegs unter Beteiligung<br />

von Vertretern der Regierung und des<br />

Bundesheeres statt. Organisiert wurde<br />

die Feier vom Österreichischen Kameradschaftsbund,<br />

erzählt Uhl.<br />

Bis 2011 sollte das Bundesheer nun jedes Jahr<br />

zu Allerseelen das militärische Totengedenken<br />

in der Krypta abhalten. 1959 wurden<br />

dazu auch die Jahreszahlen 1939 und 1945<br />

angebracht – „damit wurden die gefallenen<br />

Wehrmachtssoldaten offiziell in das<br />

staatlich-militärische Gedenken der Republik<br />

Österreich integriert“, merkt Uhl<br />

an. „Das stand im Widerspruch zur Opferthese.“<br />

1965 wurde ein Weiheraum mit einem Denkmal<br />

für den österreichischen Widerstand eingerichtet<br />

und dort am ersten Nationalfeiertag,<br />

dem 26. Oktober 1965, ein Kranz von<br />

der Regierung niedergelegt. Von 1966 bis<br />

2011 legten Bundespräsident und Bundesregierung<br />

am Nationalfeiertag jeweils<br />

Kränze sowohl in der Krypta als auch im<br />

Weiheraum nieder. 1996 begannen dann<br />

deutschnationale Burschenschaften am<br />

8. Mai einen Kranz in der Krypta niederzulegen<br />

und betrauerten dabei die Niederlage<br />

Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.<br />

Nach und nach entwickelte sich<br />

eine Gegenbewegung zu dieser Gedenkkultur<br />

– es formierte sich die Plattform<br />

Jetzt Zeichen setzen, der auch die Israelitische<br />

Kultusgemeinde angehört.<br />

2012 sollte vieles verändern: Am 27. April<br />

fand anlässlich des Jahrestags der Gründung<br />

der Zweiten Republik zum letzten<br />

Mal eine Kranzniederlegung der Regierung<br />

vor dem Kriegerdenkmal von Frass<br />

statt. Nachdem der grüne Abgeordnete<br />

Harald Walser darauf aufmerksam gemacht<br />

hatte, dass sich nicht nur einfache<br />

Soldaten, sondern mit Josef Vallaster<br />

auch ein Massenmörder in den Totenbüchern<br />

fand, wurden diese aus der Krypta<br />

entfernt und dem Staatsarchiv übergeben.<br />

Nun entschied man sich auch dazu<br />

nachzusehen, ob sich im Sockel des Kriegerdenkmals<br />

tatsächlich eine NS-Huldigungsschrift<br />

befand, was sich schließlich ja<br />

bewahrheiten sollte. Das Verteidigungsministerium<br />

untersagte daraufhin alle Kranz-<br />

© Stefan F¸rtbauer / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />

10 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 10 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:26


Platz der Zivilgesellschaft<br />

© Stefan F¸rtbauer / picturedesk.com; Starpix / picturedesk.com<br />

niederlegungen vor der Skulptur. „Das war<br />

schon ein starkes Zeichen“, sagt Uhl.<br />

Von 2012 bis 2015 wurden die Kranzniederlegungen<br />

am Nationalfeiertag und das militärische<br />

Totengedenken nicht mehr vor dem<br />

Denkmal des toten Kriegers, sondern vor<br />

der 2002 errichteten Gedenktafel für die<br />

Angehörigen des Bundesheeres der Zweiten<br />

Republik durchgeführt. Seit 2013 gibt<br />

es am 8. Mai Feierlichkeiten in Erinnerung<br />

an die Opfer des Nationalsozialismus<br />

und das Ende des NS-Terrorregimes,<br />

das Bundesheer hält dabei eine Mahnwache<br />

vor der Krypta ab, das Mauthausen<br />

Komitee Österreich veranstaltet das Fest<br />

der Freude. 2013 gab das Verteidigungsministerium<br />

auch den Startschuss für eine<br />

Neugestaltung des Heldendenkmals. In der<br />

Folge wurde die Krypta säkularisiert und<br />

zu einem Ausstellungsraum. 2015 widmete<br />

sich die erste Schau dem Kriegsende 1945,<br />

2016/17 die Ausstellung Letzte Orte vor der Deportation<br />

den Sammellagern in Wien und<br />

den Deportationen vom<br />

Wiener Aspangbahnhof<br />

aus. 2019 wurde in der<br />

Ehrenhalle ein neues Ehrenmal<br />

des Bundesheeres<br />

errichtet, seitdem findet<br />

das militärische Totengedenken<br />

dort statt. Nur der<br />

Weiheraum steht nun für<br />

Kranzniederlegungen am<br />

Nationalfeiertag zur Verfügung.<br />

Doch dieser Weiheraum<br />

wurde ja 1965 zur<br />

Ehrung des Widerstands<br />

eingerichtet – „er ist nur<br />

den politischen Widerstandskämpfern<br />

gewidmet, alle anderen<br />

Opfergruppen kommen nicht vor“, betont<br />

Uhl.<br />

Was in diesem Hin und Her auffällt: Die<br />

Republik hatte ihre Mühe, sich bezüglich<br />

der Mitverantwortung für die Gräuel des<br />

Nationalsozialismus zu positionieren. Und:<br />

Keines der Denkmale am Heldenplatz würdigt<br />

eben die Opfer des Nationalsozialismus.<br />

In Wien gibt es für die jüdischen Opfer<br />

das Holocaust-Mahnmal von Rachel Whiteread,<br />

wo inzwischen vom offiziellen Österreich<br />

am Holocaust-Gedenktag Kränze niedergelegt<br />

werden. Und dieses Jahr wurde<br />

die Schoah-Namensmauer eröffnet. Auch<br />

diese könnte Ort künftiger offizieller Zeremonien<br />

werden, meint Sommer. Dennoch<br />

mache sich am Heldenplatz eine Leerstelle<br />

bemerkbar. „Es braucht ein neues Gesamtkonzept,<br />

bei dem es eben auch ein Zeichen<br />

„Unser Staatssystem,<br />

unsere<br />

Regierungsform<br />

hat sich noch<br />

nicht eingeschrieben<br />

in<br />

diesen Platz.“<br />

Monika Sommer<br />

der Mitverantwortung für die NS-Zeit gibt“,<br />

meint die Direktorin des Hauses der Geschichte.<br />

Dies könnte ein neues Denkmal<br />

oder auch die Umgestaltung des Äußeren<br />

Burgtors sein.<br />

Es brauche nicht nur ein Denkmal für<br />

alle Opfer des Nationalsozialismus, sondern<br />

einen noch grundsätzlicheren Gedenkort,<br />

einen, der die Republik präsentiert.<br />

„Es braucht einen ehrenden Ort des<br />

Gedenkens“, sagt Sommer. „Für mich hat<br />

sich das auch nach dem Anschlag im November<br />

2020 gezeigt: Letztendlich hat man<br />

doch wieder den Stephansdom für eine<br />

Gedenkveranstaltung gewählt. Was spannend<br />

ist: dass man einen Ort, der eindeutig<br />

einer Konfession zugeordnet ist, für ein<br />

Gedenken wählt, dessen Rahmen überkonfessionell<br />

hätte sein müssen. Es gibt<br />

keinen säkularen Ort für Gedenken von<br />

bundesweiter Relevanz.“ In diese Kerbe<br />

schlägt auch Uhl. „Die momentane Situation<br />

ist unbefriedigend. Von einem Nationaldenkmal<br />

kann man beim Heldendenkmal<br />

nicht sprechen. Und<br />

es gibt nichts, was als nationales<br />

Symbol der Republik<br />

am Heldenplatz steht.“<br />

Wie aber ließe sich das<br />

auflösen? „Ich glaube,<br />

man muss sich trauen,<br />

den Heldenplatz und die<br />

Neue Burg größer und neu<br />

zu denken“, sagt Sommer.<br />

Ob sie hier auch an mehr<br />

Fläche für das Haus der<br />

Geschichte denkt? Nun,<br />

meint die Direktorin, einerseits<br />

sei der Heldenplatz<br />

der beste Platz zum<br />

Ausverhandeln von Zeitgeschichte, aber<br />

ja, mehr Ausstellungsräumlichkeiten wären<br />

natürlich fein. Eine Möglichkeit wäre<br />

ein Aufbau am Äußeren Burgtor, „so wie die<br />

Kuppel des Reichstags in Berlin, das ist ein<br />

starkes Zeichen“. Und was wäre eben mit jenen<br />

Flächen, auf denen nun die Ausweichquartiere<br />

des Parlaments errichtet wurden?<br />

„Diese Standorte sind prinzipiell toll<br />

und wären auch ein starkes symbolisches<br />

Zeichen einer selbstbewussten Zweiten Republik.“<br />

Vor allem aber gibt sie zu bedenken:<br />

„Unser Staatssystem, unsere Regierungsform<br />

hat sich noch nicht in diesen<br />

Platz eingeschrieben.“<br />

Ähnlich formuliert es auch Uhl: „Es gibt<br />

nichts, was als nationales Symbol der Republik<br />

am Heldenplatz steht.“ Ein Wettbewerb<br />

für ein neues Denkmal könne nur schiefgehen,<br />

befürchtet sie allerdings. „Wie auch<br />

Corona-Denkmal der Hoffnung<br />

von Emmerich Weissenberger<br />

und Nora Ruzsics.<br />

das Einheitsdenkmal in Berlin zeigt, kann<br />

moderne Kunst eine solche Denkmalaufgabe<br />

nicht gut lösen.“ Die Historikerin hat<br />

aber einen anderen Vorschlag: Es gibt bereits<br />

ein Republikdenkmal, das derzeit im<br />

Schweizergarten steht und das kaum jemand<br />

kenne. Nur einmal, 2015, fanden die<br />

staatlich-militärischen Republiksgründungsfeierlichkeiten<br />

im April bei diesem<br />

Denkmal statt. Dieses wurde zum Gedenken<br />

an die Errichtung der Ersten und Zweiten<br />

Republik errichtet. Damit hätte man<br />

nicht nur einen offiziellen Ort für Kranzniederlegungen.<br />

„Solche Denkmale sind<br />

auch Treffpunkte für Demonstrationen,<br />

für zivilgesellschaftliche Forderungen.“<br />

Die Pavillons für das Parlament haben<br />

hier jedenfalls einen neuen Debattenraum<br />

eröffnet. Auch wenn sie nur temporär geplant<br />

wurden, zeigen sie, dass sich der Heldenplatz<br />

durchaus umgestalten ließe, sofern<br />

die Burghauptmannschaft ihr Okay<br />

dazu gibt. Dort hüllt man sich allerdings<br />

in Schweigen, eine diesbezügliche Anfrage<br />

wurde nicht beantwortet. Am Ende<br />

wird es aber ohnehin eine Frage sein, die<br />

die politisch Verantwortlichen zu klären<br />

haben. Wird der Heldenplatz in seiner<br />

jetzigen Form seinem Namen gerecht?<br />

Und ja, dass der Bundespräsident dort Social-Media-wirksam<br />

immer wieder seinen<br />

Hund äußerln führt, ist charmant.<br />

Doch welcher andere ähnliche Platz in einer<br />

europäischen Metropole ist im Alltag<br />

abseits von Demonstrationen und Kranzniederlegungen<br />

vor allem eines: Hundezone?<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

feb22.indb 11 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:29


INTERVIEW MIT ANDREAS MAILATH-POKORNY<br />

„Mit Musik und Kunst kann man<br />

kritisches Bewusstsein schaffen“<br />

Andreas Mailath-Pokorny erklärt, warum er sein Engagement für<br />

die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die bewusste Erinnerungskultur<br />

auch an der Wiener Musik- und Kunstuniversität fortsetzt.<br />

Interview: Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />

WINA: Sie waren 17 Jahre SPÖ-Kulturstadtrat und sind seit<br />

September 2018 Rektor der Musik- und Kunst-Privatuniversität<br />

der Stadt Wien (MUK). Wie geht es dem Rektor<br />

einer Musik- und Kunstuniversität in Zeiten der Covid-<br />

Pandemie?<br />

Andreas Mailath-Pokorny: Wir haben den Betrieb<br />

aufrecht erhalten, hatten aber auch keine andere<br />

Wahl: Onlineunterricht in Kammermusik, bei Blasinstrumenten<br />

oder bei Chören kann man eine zeitlang<br />

machen, aber nicht auf Dauer. Wir konnten den<br />

Präsenzunterricht anbieten, weil wir sehr früh eine<br />

Covid-Taskgroup auf Uni-Ebene eingerichtet und<br />

das Regelwerk laufend für unsere Bedürfnisse adaptiert<br />

haben. Es gab viele Sonderregeln, die Spucke<br />

der Bläser musste zum Beispiel als Sonderabfall<br />

entsorgt werden. Aber wichtig ist, dass niemand ein<br />

Semester verloren hat.<br />

Andreas Mailath-<br />

Pokorny – als Politker<br />

wie auch als Rektor stets<br />

um einen bewussten<br />

Umgang mit der Vergangenheit<br />

bemüht.<br />

Wie viele Studierende gibt es an der MUK, und woher kommen<br />

sie?<br />

I Wir haben 850 Studierende. Diese kommen zu je<br />

einem Drittel aus Österreich, aus der EU und dem<br />

Rest der Welt, großteils aus Asien. Das Erfreuliche<br />

ist, dass wir kaum jemand während der Covid-Krise<br />

verloren haben. Es gibt pro Jahr etwa 1.500 Bewerbungen,<br />

leider können wir jährlich nur 200 Neuaufnahmen<br />

machen.<br />

Sie firmieren als Privatuniversität, wieso?<br />

I Anders, als es unser Name suggeriert, sind wir eine<br />

öffentliche Universität der Stadt Wien. Da laut Verfassung<br />

nur der Bund für Universitäten zuständig<br />

sein darf, mussten wir, wie auch andere Landeskonservatorien,<br />

einen strengen Akkreditierungsprozess<br />

für den Universitätsstatus durchlaufen. Wir sind daher<br />

formal privat, aber nicht materiell: 95 Prozent<br />

finanziert die Stadt Wien, es gibt keine Studiengebühren,<br />

mit Ausnahme Angehöriger weniger Drittstaaten.<br />

Das ist sehr großzügig?<br />

I Das ist richtig. Bis auf 300 Euro Anmeldegebühr<br />

ist das Studium kostenlos. Bei meinen Einführungs-<br />

„Nach unseren Unterlagen<br />

gab es hier keine Bruch<br />

mit der NS-Geschichte,<br />

genauso wenig wie in<br />

ganz Österreich.“<br />

Andreas Mailath-Pokorny<br />

12 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 12 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:30


Keine Zäsur nach 1945<br />

veranstaltungen sage ich immer dazu, dass ein Studienplatz<br />

jährlich 23.000 Euro kostet, die Differenz<br />

wird vom Steuerzahler, der Steuerzahlerin geleistet.<br />

Also eine gewisse Demut, Dankbarkeit ist schon<br />

angebracht.<br />

Sie haben an der MUK das fortlaufende Forschungsprojekt<br />

Hausgeschichte – Zeitgeschichte initiiert und betreiben<br />

es mit viel Engagement. Das Projekt fokussiert auf<br />

drei Schwerpunkte: 1. die Auseinandersetzung mit den ab<br />

1938 verfolgten und vertriebenen Lehrkräften und deren<br />

Studenten und Studentinnen sowie die Erforschung der<br />

politischen Nähe von Mitgliedern des Lehrkörpers zum Nationalsozialismus;<br />

2. die Frage nach Raub und Restitution<br />

von Musikinstrumenten, Büchern und Noten sowie 3. die<br />

Folgen der NS-Politik nach 1945 in Wien für die Musikausbildung.<br />

Was können Sie uns dazu erzählen?<br />

I Auch als Kulturstadtrat habe ich mich um einen bewussten<br />

Umgang mit der Vergangenheit, mit der Erinnerungskultur<br />

bemüht. Bei meinem ersten Rundgang<br />

in der Universität suchte ich nach einer Tafel<br />

zur Erinnerung an die Vertriebenen und Opfer des<br />

Nationalsozialismus. Lediglich eine kleine Tafel an<br />

der Außenmauer der Johannesgasse 4A, ehemals<br />

Standort der Radio Verkehrs AG (RAVAG), erinnert an<br />

die blutige Erstürmung des Gebäudes im Verlauf des<br />

NS-Putsches vom 25. Juli 1934. Das war alles. Meine<br />

Nachfragen und Recherchen ergaben dann, dass die<br />

Musikschule der Stadt Wien 1938 eine Gründung der<br />

Nazis war und daher keine Juden und Jüdinnen mehr<br />

zugelassen waren.<br />

Wie kam es zu dieser „Neugründung“?<br />

I Als ich den Auftrag zur Entstehungsgeschichte gegeben<br />

habe, stand das Projekt bereits in den Startlöchern:<br />

Unter der wissenschaftlichen Leitung von<br />

Universitätsprofessor Oliver Rathkolb und den Doktorinnen<br />

Susana Zapke und Julia Teresa Friehs war<br />

mit der Aufarbeitung schon begonnen worden. Dabei<br />

stellte sich heraus, dass die Nazis drei Vereine<br />

– das Neue Wiener Konservatorium, das Konservatorium<br />

für volkstümliche Musikpflege und das Wiener<br />

Volkskonservatorium – zwangsenteignet, die Vermögen<br />

konfisziert und berühmte jüdische Lehrende<br />

und Studierende vertrieben haben, unter anderen<br />

auch den Pianisten Paul Wittgenstein, der später in<br />

den USA berühmt wurde.<br />

Wie „nazifiziert“ man Musik?<br />

I Gute Frage. Diese neue Musikschule der Stadt Wien<br />

wurde in den Dienst der NS-Propaganda gestellt<br />

(siehe Infokasten), auf die politische Gefügigkeit des<br />

Lehrpersonals wurde akribisch geachtet. Nicht wenige<br />

gehörten zu den „verdienten“ Parteigenossen.<br />

Gab es eine Zäsur nach 1945?<br />

I Nach unseren Unterlagen gab es hier keine Bruch<br />

mit der NS-Geschichte, genauso wenig wie in ganz<br />

Österreich. Am Anfang begann man belastete Per-<br />

sonen auszuschließen. Nach kurzer Zeit klagte man<br />

hier, genau wie in der Justiz und auch anderswo,<br />

„dann hamma keine Beamte mehr“! Erst daraufhin<br />

wurde diese zynische Bezeichnung der „Minderbelasteten“<br />

erfunden. An der Musikschule wurde der<br />

Direktor ausgetauscht – und das war es.<br />

Zwei Drittel der Lehrenden sind weiter tätig gewesen.<br />

Man hat offensichtlich 1945 und danach keinen<br />

Anlass gesehen, eine Zäsur zu dokumentieren.<br />

Sie haben das 75-Jahr-Jubiläum 2020 zum Anlass genommen,<br />

die bisherige Forschungsarbeit, an der auch Experten<br />

und Expertinnen der MUK, des Kunsthistorischen und des<br />

Wien Museums beteiligt gewesen sind, zu dokumentieren.<br />

I Wir wollten das Buch Die Musikschule der Stadt Wien im<br />

Nationalsozialismus – Eine „ideologische Lehr- und Lerngemeinschaft“<br />

(Hollitzer Verlag) bereits 2020 präsentieren,<br />

aber die Pandemie verhinderte auch das.<br />

War eine Rückgabe von Vermögen aus den Vorläufer-Institutionen<br />

des MUK möglich?<br />

I Wir haben alles nachschauen lassen, aber bis jetzt<br />

stießen wir in der Bibliothek nur auf zwei kleine, völlig<br />

unauffällige Büchlein, die mit einer Widmung<br />

versehen waren, und das führte uns zu den Besitzern.<br />

Die Widmung des Autors Felix Weingartner an<br />

„Frl. Dr. Elsa Bienenfeld“ führte uns zu deren rechtmäßigen<br />

Erben. Bienenfeld, 1877 in Wien geboren,<br />

im Mai 1942 in Maly Trostinec ermordet, war eine<br />

bekannte Musikwissenschaftlerin. Unter anderem<br />

absolvierte sie eine private Ausbildung in Komposition<br />

und Musiktheorie bei Alexander von Zemlinsky<br />

und Arnold Schönberg. Sie promovierte 1903<br />

als erste österreichische Absolventin im Fach Musikwissenschaft.<br />

Wo haben Sie ihre Verwandten entdeckt?<br />

MUSIKBILDUNG FÜR DAS „BREITE VOLK“<br />

S. Zapke, O. Rathkolb,<br />

K. Raminger, J. T.<br />

Friehs, M. Wladika<br />

(Hg.): Die Musikschule<br />

der Stadt Wien im<br />

Nationalsozialismus.<br />

Hollitzer 2020,<br />

296 S., € 40<br />

Bereits am 2. Mai 1945 erfolgte die Eröffnung des Konservatoriums der Stadt Wien als Nachfolgerin<br />

der von den Nazis 1938 gegründeten „Hauptanstalt der Musikschulen der Stadt Wien“.<br />

Als dessen neuer Direktor wurde Dr. Wilhelm Fischer (1886–1962) als NS-Opfer vorgestellt, die<br />

Geschichte der Lehranstalt in der NS-Zeit und die Umstände ihrer Gründung und der Nachwirkungen<br />

blieben aber völlig im Dunkeln.<br />

Fischer war im April 1938 als Jude zwangsweise pensioniert worden und wurde bis 1945 in einer<br />

Metallfabrik als Zwangsarbeiter eingesetzt. Seine Schwester wurde in Auschwitz ermordet, seine<br />

85-jährige Mutter verstarb nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in einem Notquartier.<br />

Verschwiegen wurde nach 1945 auch, dass der temporäre NS-Gauleiter von Wien Odile Globocnik<br />

(1904–1945), der spätere „Schlächter von Lublin“, die Zwangsschließung der drei Musikinstitute<br />

bereits zwischen 1934 und 1938 veranlasste und ausschließlich NSDAP-Mitglieder als Lehrpersonal<br />

einsetzte. Schnell wurde klar, dass die neue Musikschule der Stadt Wien mit den „streng<br />

weltanschaulich gerichteten Musikschulen der Hitlerjugend und ‚Kraft durch Freude‘-Musikschulen“<br />

zusammenarbeiten sollte. Der politische Auftrag lautete: „Es geht nicht um die Ausbildung<br />

einiger besonders Begabter und die damit verbundenen Spitzenleistungen. Die Tonkunst soll nun<br />

wieder eine die weitesten Kreise des Volkes umfassende Kunstpflege werden.“<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

feb22.indb 13 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:31


DR. ANDREAS MAILATH-<br />

POKORNY<br />

(Jahrgang 1959) ist promovierter<br />

Jurist. Sein Diplom für International<br />

Relations erlangte er am Bologna<br />

Center der Johns Hopkins University.<br />

Die berufliche Karriere startete Mailath-Pokorny<br />

im diplomatischen Dienst<br />

des Außenamtes. Von 1988 bis 1996<br />

war er im Kabinett des österreichischen<br />

Bundeskanzlers Franz Vranitzky<br />

– zuletzt als Büroleiter – tätig. Danach<br />

leitete er bis 2001 die Kunstsektion im<br />

Bundeskanzleramt und wechselte in<br />

der Folge in die Wiener Stadtregierung<br />

als Stadtrat für Kultur und Wissenschaft.<br />

Ab 2015 kamen die Bereiche<br />

Sport, Information und Informationsund<br />

Kommunikationstechnik dazu.<br />

„Den Heldenplatz<br />

positiv<br />

besetzen und<br />

die Freude über<br />

die Befreiung<br />

1945 öffentlich<br />

zu manifestieren.“<br />

I Zuerst fanden wir den Verweis auf eine Familie<br />

Blauhorn, die in der Grinzinger Allee in Wien gewohnt<br />

hatte. Deren Nachfahren entdeckten wir in<br />

London: Susie Deyong ist die Erbin dieser „musikalischen<br />

Abhandlung“. Wir wollten Frau Deyong das<br />

Büchlein persönlich bei der verschobenen Jubiläumsfeier<br />

im MUK überreichen. Es hat sich mit ihr<br />

und ihrem Sohn eine nette Freundschaft entwickelt,<br />

und die ganze Familie wird bei nächster Gelegenheit<br />

nach Wien kommen. Inzwischen sind sie alle österreichische<br />

Staatsbürger nach dem neuen Gesetz, wofür<br />

wir in der Stadt so lange gekämpft haben.<br />

Das Online-Gedenkbuch zur Erinnerung an Lehrende und<br />

Studierende, die unter dem NS-Regime verfolgt wurden,<br />

wird in Kürze freigeschaltet?<br />

I Da wollen wir alle Namen auflisten, in der Hoffnung<br />

auf neue Eingaben und zahlreiche Ergänzungen.<br />

Bei der Forschung und Restitution sind wir ja<br />

zumeist auch auf Zufälligkeiten angewiesen, wir nutzen<br />

damit die Grundidee des World Wide Webs in<br />

der Hoffnung, dass Menschen in aller Welt noch fehlende<br />

Puzzles eingeben. Das funktioniert nach dem<br />

Wikipedia-Prinzip.<br />

Seit 2011 sind Sie auch Präsident des Bunds Sozialistischer<br />

AkademikerInnen (BSA). Als SPÖ-Finanzstadtrat Sepp Rieder<br />

und Innenminister Caspar Einem im Jahr 2002 die Rolle<br />

des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger<br />

Nationalsozialisten nach 1945 schonungslos aufarbeiten<br />

wollten, hatten sie noch mit starkem Widerstand in der<br />

SPÖ und im BSA zu kämpfen. Sie machen das jetzt mit dem<br />

MUK, wie wird das insgesamt aufgenommen?<br />

I Bei diesem Thema hat sich wahnsinnig viel verändert.<br />

Die Erinnerungskultur ist mittlerweile lückenlos<br />

positiv besetzt.<br />

Verstehen das die Studierenden aus aller Welt auch?<br />

I Von je weiter entfernt sie kommen, umso weniger<br />

ist es ein Thema. Ich habe auch eine kleine Vorlesung,<br />

bei der ich versuche, politische Kulturgeschichte<br />

zu thematisieren: Auch wenn Studierende<br />

nur vier Jahre in Österreich sind, müssen sie sich mit<br />

der Kultur des Landes auseinandersetzen, nicht nur<br />

mit dem Instrument oder dem Fach, das sie erlernen.<br />

Ich sehe das auch als einen wichtigen Bestandteil<br />

einer Integrationsarbeit, dass man jungen Menschen<br />

vermittelt: Wenn ihr hier Teil des Kulturlebens<br />

sein wollt, dann müsst ihr auch unsere Geschichte<br />

kennen, denn dieses dunkle Kapitel ist ein Teil unserer<br />

Identitäten.<br />

Rektor Andreas Mailath-Pokorny im<br />

Interview mit Autorin Marta S. Halpert.<br />

Sie haben als Wiener Stadtrat von 2001 bis 2018 die Erinnerungskultur<br />

in der Stadt vorangetrieben. Nur einige Beispiele:<br />

die Einführung eines Festes der Freude am 8. Mai,<br />

die Restitution von über 30.000 Kunstobjekten. Zahlreiche<br />

Denk- und Mahnmale gehen auf Ihre Initiative zurück, z. B.<br />

das Deserteursdenkmal, Spiegelgrund, Aspangbahnhof.<br />

Zusatztafeln bei Straßenschildern, die Umbenennung des<br />

Lueger-Rings und die Sanierung jüdischer Friedhöfe. Immer<br />

wieder heißt es, die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />

ist erstarrt, nur wenige Zeitzeugen der Schoah leben noch.<br />

Bedeutet das den Schlussstrich unter dieses Thema? Auch<br />

für Sie?<br />

I Das Fest der Freude ist mir heute fast das wichtigste<br />

Symbol, denn es bedeutet nicht nur, gegen einen<br />

faschistischen Trauermarsch zu demonstrieren,<br />

sondern etwas Aktives dagegen zu tun: den Heldenplatz<br />

positiv zu besetzen und die Freude über die Befreiung<br />

1945 öffentlich zu manifestieren. Insbesondere<br />

angesichts der aktuellen Tatsache, dass man<br />

von Menschen vereinnahmt wird, die behaupten,<br />

sie seien die Mehrheit, aber für die Stadt nichts Gutes<br />

wollen.<br />

Apropos Schlussstrich: Das Gedenken darf nicht<br />

in einem Ritus erstarren, deshalb müssen wir zu<br />

Menschen gelangen, die mit dem Thema wenig Berührung<br />

haben. Jedes Jahr entsteht eine neue Generation,<br />

und deshalb reicht es nicht, dass nur wir uns<br />

erinnern, unter uns bleiben. Es bringt nichts, wenn<br />

wir uns freuen, einander bei diesen Veranstaltungen<br />

wieder zu treffen. Natürlich fehlen uns die Zeitzeugen<br />

jetzt schon, sie sind das emotionalste Element<br />

bei der Erinnerung. Aber es geht ja um grundlegendere<br />

Fragen, nämlich was ist Aufklärung, was sind<br />

objektive Tatsachen, und was ist erfunden. All diese<br />

Dinge muss man permanent vermitteln, ohne besserwisserisch<br />

zu sein, aber schon auch mit einer gewissen<br />

Autorität.<br />

Was meinen Sie damit?<br />

I Sich von Gewalt und Aggressivität zurückdrängen<br />

zu lassen, finde ich nicht richtig. Staatliche Autorität<br />

ist schon dafür einzusetzen, wofür sie eigentlich<br />

da ist, und klar zu sagen, was Sache ist. Das ist eine<br />

Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen.<br />

Ich versuche den jungen Menschen laufend zu<br />

vermitteln, dass sie gerade als Künstler und Künstlerinnen<br />

nicht isoliert leben, sondern Teil einer Gesellschaft<br />

sind, und über der Musik und Kunst ist es besonders<br />

wichtig, kritisches Bewusstsein zu schaffen.<br />

14 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 14 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:35


Abraham-Abkommen<br />

Frachtflugzeuge<br />

für den Golf<br />

© IAI<br />

Vor wenigen Jahren wäre es noch undenkbar<br />

gewesen: IAI, Israel Aircraft<br />

Industries, hat einen prestigeträchtigen<br />

Auftrag von einem arabischen<br />

Kunden erhalten. Ab 2023 wird das Unternehmen<br />

zunächst vier Boeing-Großraumflugzeuge<br />

des Typs 777 zu Frachtfliegern<br />

umbauen. Das berichtet das Fachmagazin<br />

für Luft- und Raumfahrt<br />

Flug Revue in seiner<br />

jüngsten Ausgabe.<br />

Der Auftraggeber ist<br />

die Sky-Cargo-Tochter<br />

einer der weltweit<br />

größten Fluglinien,<br />

Emirates. Diese gehört<br />

dem Emirat Dubai.<br />

Der komplexe Umbau<br />

wird in einer Werft von<br />

Etihad in Abu Dhabi<br />

durchgeführt, mit israelischen<br />

und arabischen<br />

Technikern Seite<br />

an Seite.<br />

Der politische Hintergrund<br />

für derartige<br />

wirtschaftliche Möglichkeiten<br />

ist das so genannte Abraham-<br />

Abkommen. Mit diesem wurden im Herbst<br />

2020 volle diplomatische Beziehungen zunächst<br />

mit den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten aufgenommen, dann auch mit<br />

Bahrain, dem Sudan und Marokko.<br />

Was wird bei derartigen Umbauten<br />

konkret gemacht? Die Konversion vom<br />

Passagier- zum Frachtflugzeug beginnt<br />

damit, eine große seitliche Tür aus dem<br />

Rumpf herauszuschneiden, im Gegenzug<br />

erfolgen zusätzliche Verstärkungen der<br />

Struktur, auch ein neuer Ladeboden wird<br />

eingezogen. Die Fenster verschwinden,<br />

hinter den beiden Piloten gibt es dann<br />

noch einen Ruheraum mit Bett und WC<br />

sowie eine kleine Reisebox mit Sitzen für<br />

mitfliegende Lademeister oder Kuriere.<br />

Der Umbau erfordert neue Typisierungen<br />

IAI, Israel Aircraft Industries,<br />

ist eines der ersten Hightech-Unternehmen,<br />

das von<br />

der jüngsten Annäherung an<br />

mehrere arabische Staaten<br />

profitiert.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Der Prototyp des neuen BB777-300ER.<br />

Eine große seitliche Tür wird aus dem Rumpf<br />

geschnitten, ein neuer Ladeboden wird eingezogen<br />

und die Fenster verschwinden.<br />

Probleme bei<br />

internationalen<br />

Lieferketten führen<br />

dazu, dass wichtige<br />

Bauteile oder Komponenten<br />

in der Luft<br />

transportiert werden,<br />

wenn es Verzögerungen<br />

bei Containerschiffen<br />

gibt.<br />

bei den Luftfahrtbehörden vor Ort, aber<br />

auch in den USA und in Europa.<br />

Die Covid-19-Krise sollte dieses Geschäft<br />

weltweit kräftig anschieben: Trotz<br />

teils dramatischer Einbrüche am Reisemarkt<br />

hat die Nachfrage nach Frachtkapazitäten<br />

nicht nachgelassen, im Gegenteil.<br />

Probleme bei internationalen Lieferketten<br />

führen dazu, dass wichtige<br />

Bauteile oder Komponenten<br />

in der Luft transportiert<br />

werden, wenn es<br />

Verzögerungen bei Containerschiffen<br />

gibt.<br />

IAI hat auf diesem<br />

Spezialgebiet eine Erfahrung<br />

von vielen Jahren.<br />

Bisher wurden von dem<br />

Unternehmen mehr als<br />

250 solcher Umbauten<br />

durchgeführt, vor allem<br />

der gängigen Boeing-Typen<br />

737, 747 und 767. Die<br />

mächtige 777, mit 850 verkauften<br />

Exemplaren eines<br />

der erfolgreichsten Großraumflugzeuge,<br />

wurde<br />

erst seit Kurzem in dieses Programm aufgenommen.<br />

Bei den bisherigen Aufträgen<br />

spielte die Zusammenarbeit mit internationalen<br />

Flugzeug-Leasingunternehmen<br />

die tragende Rolle. Das ist vor allem die<br />

niederländische AerCap, seit der Verschmelzung<br />

mit GE Capital Aviation Services<br />

(GECAS) einer der weltweit größten<br />

Vermieter von Jets.<br />

Doch auch die vier fix vereinbarten<br />

Umbauten in Abu Dhabi sollen nicht die<br />

einzigen bleiben. Beide Partner – IAI wie<br />

der lokale Werftbetreiber Etihad – geben<br />

sich optimistisch, dass es großes Potenzial<br />

für Folgegeschäfte gebe. Darüber hinaus<br />

liefert Israel den Emiraten inzwischen bereits<br />

auch Militärtechnologie, etwa Drohnenabwehrsysteme.<br />

Das wurde bei der<br />

letzten Dubai Air Show bekannt.<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

feb22.indb 15 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:35


INTERVIEW MIT BENJAMIN NÄGELE<br />

Keim der Hoffnung<br />

Ende 2021 besuchte eine Delegation des Jewish<br />

Diplomatic Corps des World Jewish Congress die Vereinigten<br />

Arabischen Emirate. Mit der Normalisierung der Beziehungen<br />

zwischen Israel und den Emiraten wird auch der Umgang mit<br />

der jüdischen Welt neu gestaltet. Ein Gespräch mit<br />

IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele über<br />

seine Eindrücke dieser Reise.<br />

Interview: Von Alexia Weiss<br />

WINA: 2020 wurde zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten ein Friedensvertrag unterzeichnet. Nun<br />

bereiste das Jewish Diplomatic Corps, dem Sie angehören,<br />

Abu Dhabi und Dubai. Wie ist das politisch zu bewerten?<br />

Benjamin Nägele: Dieses Friedensabkommens war<br />

die Grundlage und der Beweggrund unserer Delegationsreise.<br />

Man betritt Neuland, indem man Beziehungen<br />

mit Ländern aus einer Region wiederaufleben<br />

lässt, in der es lange ein Spannungsfeld mit<br />

Israel und damit vermeintlich auch ein Spannungsfeld<br />

mit der jüdischen Welt insgesamt gab. Und nun<br />

wird ausgelotet, welche Auswirkungen die normalisierten<br />

Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten eben auch auf die Beziehungen<br />

zur jüdischen Welt bringen könnten.<br />

„Nun wird<br />

ausgelotet,<br />

welche Auswirkungen<br />

die<br />

normalisierten<br />

Beziehungen<br />

zwischen Israel<br />

und den<br />

Vereinigten<br />

Arabischen<br />

Emiraten eben<br />

auch auf die<br />

Beziehungen<br />

zur jüdischen<br />

Welt bringen<br />

könnten.“<br />

Benjamin Nägele<br />

Was hat Sie bei dieser Reise am meisten überrascht?<br />

I Es hat mich vieles positiv überrascht: zum einen,<br />

dass einige meiner Vorstellungen von dieser Region<br />

teilweise auf falschen Annahmen beruhten, wie eben<br />

dem Spannungsfeld mit Israel, aber auch den Erfahrungen<br />

mit islamistischem Terror, der aus Teilen<br />

der Region gefördert wird und der auch in Europa<br />

steigt, sowie dem alltäglichen Antisemitismus,<br />

dem Juden auch in Wien begegnen. Und andererseits<br />

dann zu sehen, wie sicher eine jüdische Gemeinde<br />

gerade in dieser Region leben kann, aber auch, wie<br />

warm und herzlich unsere Delegation empfangen<br />

wurde. Ich habe schon an vielen ähnlichen Delegationen<br />

teilgenommen, es aber noch nie erlebt, dass<br />

sich hier 40 Personen, die auch als jüdisch erkennbar<br />

sind, eine ganze Woche ohne jegliche Security<br />

bewegen können. Es war schön zu sehen, dass das<br />

ausgerechnet in einem arabischen Land und in dieser<br />

Region möglich ist, und eine traurige Erkenntnis,<br />

dass das in Europa und auch im eigenen Land<br />

nicht mehr möglich ist.<br />

Und wie sicher fühlt man sich, wenn man allein etwa in Dubai<br />

auf der Straße unterwegs ist und Kippa trägt?<br />

I Zu 100 Prozent sicher. Es gibt kaum einen anderen<br />

Ort, an dem ich mich mit Kippa so sicher gefühlt<br />

habe. Das hat mich persönlich selbst überrascht. Wir<br />

hatten auch eine Führung durch den Shuk, und immer<br />

wieder kamen Jugendliche, die offensichtlich<br />

Locals waren, die einfach nur gelächelt haben, gewunken<br />

und „Shalom“ gerufen. Die Sicherheit ist in<br />

den Emiraten grundsätzlich sehr hoch, aber auch,<br />

wenn man als jüdische Person wahrgenommen wird,<br />

wird man willkommen geheißen, in jedem Kontext,<br />

ob das nun bei Treffen mit Ministern, NGOs oder<br />

auch im privaten Rahmen ist. Es gab ausnahmslos<br />

positives Feedback.<br />

Was waren die wichtigsten Zusammenkünfte auf politischer<br />

und diplomatischer Ebene?<br />

I Für mich persönlich war es das Zusammentreffen<br />

mit der jüdischen Gemeinde, die sich gerade konstituiert<br />

und ihre Strukturen aufbaut. Darüber hinaus<br />

sehr beeindruckend und informativ waren auch<br />

die Termine mit ranghohen Politikern und Ministern,<br />

etwa dem Handelsminister Tani Al Zeyoudi. Wir haben<br />

aber auch ein Mitglied der Königsfamilie kennenlernen<br />

dürfen, Scheich Nahyan bin Mubarak Al Nahyan,<br />

der Minister für Toleranz und Koexistenz ist. Dass es<br />

für diesen Bereich einen Minister gibt, zeigt auch, welchen<br />

Stellenwert dieses Thema hat. Das Interesse am<br />

Gegenüber und der gezeigte Respekt gehen hier spürbar<br />

über die Förmlichkeit der diplomatischen Gastfreundschaft<br />

hinaus.<br />

16 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 16 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:36


Erfolgreiches Friedensabkommen<br />

Vor der Sheikh Zayed<br />

Grand Moschee in Abu<br />

Dhabi: Benjamin Nägele bei<br />

der Delegationsreise in den<br />

Emiraten.<br />

Sie haben auch die jüdische Gemeinde in Dubai besucht. Wie<br />

sehen die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten aus?<br />

I Grundsätzlich muss man sagen, dass die Toleranz<br />

gegenüber anderen Religionen und Kulturen groß<br />

ist. In Abu Dhabi wird derzeit das Abrahamic Family<br />

House errichtet, ein Gebäudekomplex, in dem eine<br />

Synagoge, eine Kirche und eine Moschee in selber<br />

Größe nebeneinander gebaut werden. Das empfand<br />

ich als stellvertretend für das, was dieses Land heute<br />

repräsentiert: Toleranz.<br />

Was die jüdische Gemeinde betrifft: Es haben<br />

auch vor Unterzeichnung des Friedensvertrags mit<br />

Israel schon einige Israelis dort gelebt, das waren<br />

aber nur Menschen mit einer Doppelstaatsbürgerschaft<br />

und das Praktizieren des Judentums war<br />

nur im Privaten möglich. Nun aber institutionalisiert<br />

sich da eine jüdische Gemeinde, die mittlerweile<br />

auch Teil des World Jewish Congress ist, einen<br />

Minjan hat und regelmäßig einen Schabbat-G-ttesdienst<br />

macht. Es gibt bereits ein koscheres Catering,<br />

und der Aufbau einer koscheren Infrastruktur wird<br />

auch staatlich gefördert. Es ist sehr bewegend zu sehen,<br />

wie da eine neue Gemeinde entsteht. Und ich<br />

hoffe, dass es in Zukunft auch zu einem engen Austausch<br />

mit der jüdischen Gemeinde Wien kommt.<br />

Neuland betreten: Delegationsreise<br />

der World Jewish Congress<br />

in Dubai und den Vereinigten<br />

Arabischen Emirate nach dem<br />

hististorischen Friedensabkommen<br />

2020: Besuch des Israel Pavillon<br />

auf der EXPO in Dubai (o. li.); die<br />

Königsfamilie und Scheich Nahayan<br />

Mabarak Al Nahayan, Minister<br />

für Toleranz, im Austausch mit der<br />

Delegation (o. re.); der Staatsminister<br />

für Außenhandel Thani bin<br />

Ahmed Al Zeyoudi im Gespräch (u.).<br />

Was lässt sich aus diesen nun intensivierten Beziehungen mit<br />

einem arabischen Staat für die Beziehungen mit anderen arabischen<br />

beziehungsweise muslimisch geprägten Ländern aus<br />

jüdischer Sicht lernen?<br />

I Einerseits, dass Frieden möglich ist, egal, in welchem<br />

Spannungsverhältnis die Länder in den Jahrzehnten<br />

zuvor waren. Es nährt aber auch die Hoffnung, dass<br />

das ein Gamechanger zum Positiven in der gesamten<br />

Region ist. Auch andere Länder in der Region finden<br />

wieder zu Beziehungen mit Israel, man besinnt sich zurück<br />

auf das Gros an Gemeinsamkeiten, die viel größer<br />

sind als die Kleinigkeiten, die zu Spannungen führen.<br />

Schön wäre, wenn dadurch das Judentum, das es<br />

in der Geschichte in der gesamten Region gab, wieder<br />

aufleben würde.<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

feb22.indb 17 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:36


Der Erschaffung unserer Welt gedenken<br />

Plastik & Judentum<br />

Die Recycling-Container der israelischen Städte sind überfüllt<br />

mit Plastik, aber auch an den Stränden und Spazierwegen<br />

im Land türmen sich die Plastikabfälle. Nun soll eine<br />

umstrittene Steuer auf Wegwerfgeschirr Abhilfe schaffen.<br />

Doch was sagen die alten jüdischen Schriften zum Thema<br />

Naturschutz?<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

gruppe für Wegwerfgeschirr bilden. Viele<br />

der kinderreiche Familien behelfen sich<br />

regelmäßig bei Feiertags– und Schabbatmahlzeiten<br />

mit Plastiktellern und -bechern,<br />

um sich so das Leben ein wenig zu<br />

erleichtern. Das Umweltbewusstsein ist<br />

dabei oft etwas getrübt, oder, wie Rabbiner<br />

Benayahu Tavila es in einem Beitrag<br />

mit dem Titel Was ist unsere Pflicht gegenüber<br />

der Umwelt beschreibt: „Die Thora-Studienhallen<br />

befassen sich nicht mit diesen<br />

Themen [...]. Der durch das Plastik entstandene<br />

Schaden an der Umwelt entzieht<br />

sich unserem Blickfeld, das oft nicht über<br />

den Mistwagen, der die Abfälle abholt, hinausgeht.“<br />

Haben also die religiösen Texte gar keinen<br />

Bezug oder Standpunkt zum Thema<br />

Umwelt – ist der Naturschutz denn kein<br />

Imperativ oder sogar eine religiöse<br />

Pflicht? „Die jüdischen Schriften, wie die<br />

Thora und die Halacha sprechen sehr<br />

wohl über dieses Thema“, meint der Lehrer<br />

und Umweltaktivist aus Jerusalem und<br />

verweist auf die Bibel, wo es schon in der<br />

Genesis heißt, wir Menschen seien ein Teil<br />

der Welt und dürfen sie nicht zerstören.<br />

„Die Lebensweise in den charedischen Gemeinden<br />

belastet die Umwelt eigentlich<br />

kaum, die Leute leben bescheiden, reisen<br />

wenig, konsumieren nicht viel, haben<br />

meist keine Autos. Aber was den Verbrauch<br />

von Plastikgeschirr betrifft, da<br />

zeichnen wir uns nicht aus. Es fehlt in unserer<br />

religiösen Gemeinde an Bewusstsein<br />

„Die Lebensweise<br />

in den charedischen<br />

Gemeinden belastet<br />

die Umwelt eigentlich<br />

kaum, die Leute<br />

leben bescheiden,<br />

reisen wenig, konsumieren<br />

nicht viel,<br />

haben meist keine<br />

Autos. Aber was den<br />

Verbrauch von<br />

Plastikgeschirr betrifft,<br />

da zeichnen<br />

wir uns nicht aus.“<br />

Rabbiner<br />

Benayahu Tavila<br />

Israel ist einer der westlichen<br />

Staaten mit den höchsten Abfallquoten.<br />

Mit der neuen Besteuerung<br />

von Plastikgeschirr will das<br />

Ministerium für Umweltschutz<br />

nun eine Umerziehung der Konsumenten<br />

und damit ein Einbremsen im<br />

Verbrauch dieser so umweltschädlichen<br />

Materialien bewirken. Naturgemäß rief<br />

diese Entscheidung bei Herstellern und<br />

Vertrieben Unmut hervor. Einige große<br />

Plastikhersteller bevorzugen andere Lösungen,<br />

wie zum Beispiel die vermehrte<br />

Wiederverwertung ihrer Produkte. Takeaway–Unternehmen<br />

sind ratlos und berufen<br />

sich auf die nötige Hygiene, die ihrer<br />

Meinung nach im heißen israelischen<br />

Klima und noch dazu in der Zeit von Corona<br />

mit herkömmlichen Gläsern nicht<br />

gewährleistet ist. Die Idee der Besteuerung<br />

sei vielleicht ein Schritt in die richtige<br />

Richtung, aber nicht genug durchdacht,<br />

lautet der allgemeine Konsens der<br />

betroffenen Branchen. Da bräuchte es<br />

noch zusätzliche Maßnahmen, wie etwa<br />

Erziehung und Recycling. Im Moment<br />

erschwere die Abgabe den weniger zahlungsstarken<br />

Konsumenten den Kauf von<br />

Wegwerfgeschirr, während die besser Betuchten<br />

weiterhin im Verbrauch von Plastiktellern<br />

schwelgen können.<br />

Ein empörter Aufschrei über die durch<br />

die Steuer entstandene Verteuerung kam<br />

auch von Konsumenten aus den religiösen<br />

Communitys, die eine wichtige Zielfür<br />

den Umweltschutz. Die Menschen,<br />

sind damit beschäftigt, durch den Tag zu<br />

kommen, und verlassen sich, was größere<br />

Themen wie die Natur betrifft, auf unseren<br />

Schöpfer – ‚der wird sich schon um die<br />

Welt kümmern.‘“<br />

„Die Reformbewegung in Israel hat sich<br />

schon immer mit diesem Thema auseinandergesetzt,<br />

zum Teil auch deswegen,<br />

weil sie sehr mit der Kibbuzbewegung verbunden<br />

ist“, erklärt hingegen Rabbiner<br />

Golan Ben-Chorin. Dabei würden auch<br />

die Texte mehr in ihrer wörtlichen Bedeutung<br />

verstanden, und da gäbe es sehr<br />

© 123RF; Flash 90/Yonatan Sindel<br />

18 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 18 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:37


Nachhaltig und religiös<br />

Wegwerfgesellschaft. Eine<br />

Sondersteuer soll gegen Plastikberge<br />

in Israel Abhilfe schaffen.<br />

© 123RF; Flash 90/Yonatan Sindel<br />

alle sieben Jahre ruhen und darf nicht bebaut<br />

werden. Was dann dennoch auf den<br />

Feldern wächst, wird den Armen überlassen.<br />

Mit dieser Auszeit soll eine Ausbeutung<br />

des Bodens verhindert und gleichzeitig<br />

ein soziales Anliegen erfüllt werden.<br />

Damit ist die Schmitta eine wichtige religiöse<br />

Vorschrift, um die Erde und ihre Ressourcen<br />

zu bewahren. „Im übertragenen<br />

Sinn stellt sich damit für jeden von uns<br />

auch die Frage, worauf er oder sie persönlich<br />

in seinem Leben verzichten kann, um<br />

in besserer Harmonie mit der Natur zu leben“,<br />

fügt Ben-Chorin noch als weitere Interpretation<br />

hinzu.<br />

Der Rabbiner, der sich auch als „spiritueller<br />

Entrepreneur“ bezeichnet, bewerviele<br />

Hinweise zur Bewahrung und Schätzung<br />

der Natur: „Da heißt es schon in Beresheet<br />

(Genesis), ‚Gedenkt der Erschaffung<br />

unserer Welt.‘ Und während diese Worte<br />

am Freitagabend beim Kiddusch gesprochen<br />

werden, sitzt dann oft eine Familie<br />

mit 13 Kindern vor mindestens 15 Sets von<br />

Plastiktellern.“<br />

Synagoge im Grünen. Natürlich müsse jeder<br />

seine persönlichen Entscheidungen<br />

zum Thema Konsum und Umweltschonung<br />

treffen, meint der Rabbiner. Er<br />

selbst fühlt sich der Natur verbunden und<br />

verpflichtet. Er hat noch vor über einem<br />

Jahrzehnt in Rosh Pina im Norden Israels<br />

eine „Synagoge im Grünen“ gegründet, einen<br />

ökologischen Garten, in dem die Betenden<br />

der Natur und auch den Naturphänomenen,<br />

die in den religiösen Texten<br />

beschrieben werden, näher sein können.<br />

Und weil wir seiner Meinung nach<br />

alle einfach Menschen sind – ohne Grenzen,<br />

hielt er dort auch oft G-ttesdienste gemeinsam<br />

mit christlichen oder muslimischen<br />

Gemeinden ab.<br />

Stolz verweist Ben-Chorin auch auf den<br />

Tu-Bishvat Seder, die Mahlzeit zum Neujahrsfest<br />

der Bäume, der in seiner Gemeinde<br />

dieses Jahr wieder ganz im Zeichen<br />

der Natur stand. Und er betont die<br />

Aktualität des Schmitta-Jahres, das gerade<br />

begonnen hat, und die Wichtigkeit<br />

dieser Einrichtung für die Umwelt. Dabei<br />

soll laut der religiösen Gesetze die Erde<br />

„Da heißt es schon<br />

in Beresheet (Genesis),<br />

‚Gedenkt der<br />

Erschaffung unserer<br />

Welt.‘ Und während<br />

diese Worte am Freitagabend<br />

beim Kiddusch<br />

gesprochen<br />

werden, sitzt dann<br />

oft eine Familie mit<br />

13 Kindern vor mindestens<br />

15 Sets von<br />

Plastiktellern.“<br />

Rabbiner<br />

Golan Ben-Chorin<br />

tet die Erziehung zum Umweltschutz und<br />

gegen unnötigen Konsum als sehr wichtig<br />

und hat auch bei seiner eigenen Familie<br />

immer grossen Wert darauf gelegt. So<br />

gäbe es bei ihm zuhause beispielsweise<br />

keinen Fernseher, „um nicht noch einen<br />

unnötigen Bildschirm zu kaufen“. Sein<br />

Sohn habe sich dann dennoch einen gewünscht,<br />

lebe aber seinen Bezug zur Umwelt<br />

auf andere Art: Er verwendet kein<br />

Plastik und schuf am Anfang der Corona-<br />

Epidemie mit recycelten Möbeln und Accessoires<br />

am Rande der Carmel-Wälder<br />

neben Haifa einen „gemütlichen Ort im<br />

Grünen“ für sich und seine Freunde, aber<br />

auch für jeden Vorbeikommenden, der<br />

dort verweilen wollte.<br />

Für die traditionelleren Gemeinden<br />

hingegen sieht der orthodoxe Rabbiner<br />

Benayahu Tavila den Zugang nicht so<br />

sehr in der Erziehung zum Naturschutz,<br />

sondern in einem verstärkten Umweltbezug<br />

über die religiösen Texte: „Bei vielen<br />

Charedim gibt es großes Misstrauen den<br />

Wissenschaften gegenüber, Wissenschaft<br />

und Glaube vertragen sich nicht immer.<br />

Deswegen ist der wissenschaftlich belegte<br />

Zugang zum Umweltschutz in unseren<br />

Gemeinden nicht so erfolgreich.“<br />

Er setzt darauf, dass sich bei seiner Gemeinde<br />

durch den religiösen Aspekt, also<br />

durch vermehrte Diskussionen der relevanten<br />

Stellen in der Thora, vielleicht etwas<br />

in Richtung Bewusstsein für unsere<br />

Welt bewegen lässt.<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

feb22.indb 19 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:42


Brachzeiten<br />

Folgt man den Vorgaben der Tora,<br />

sollte sich der Mensch „die Erde<br />

nicht untertan machen, wie die<br />

archaische Bibelübersetzung<br />

nahe legen würde, sie also nicht beherrschen<br />

und schon gar nicht ausbeuten“,<br />

betont der Rabbiner. Jedes siebente Jahr<br />

soll daher auf dem Gebiet des biblischen<br />

Israel nichts aktiv auf den Feldern angepflanzt<br />

werden – nur was von selbst<br />

wächst, darf, wenn es gereift ist, auch<br />

geerntet und konsumiert werden.<br />

Brachzeiten kannte man übrigens<br />

sowohl in der antiken wie auch in der<br />

mittelalterlichen Landwirtschaft. Sie<br />

wurden eingesetzt, um dem Boden die<br />

Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Im<br />

Mittelalter war in Europa dabei die Dreifelderwirtschaft<br />

sehr verbreitet: Ein Drittel<br />

des Feldes wurde mit Wintergetreide<br />

wie Roggen oder Emmer, ein zweites<br />

Drittel mit Sommergetreide wie Hafer,<br />

Gerste oder Hirse bestellt. Und der dritte<br />

Teil des Feldes blieb vom Menschen unbepflanzt<br />

und diente oft als Viehweide.<br />

Es gab in der Vergangenheit allerdings<br />

auch im Land Israel Situationen, in denen<br />

es Rabbiner für nötig befanden, die<br />

Felder nicht ein Jahr brach liegen zu lassen:<br />

dann nämlich, wenn es auf Grund<br />

schlechter Ernten, etwa nach Dürren<br />

oder Unwettern, eine Hungersnot gab.<br />

Das war etwa im 19. Jahrhundert mehrmals<br />

der Fall.<br />

Argumentiert wurde dann mit Pikuach<br />

Nefesh – also der Rettung von Leben. Heter<br />

Mechira nennt man das Modell, bei<br />

dem das Land zunächst an Nichtjuden<br />

verkauft wird, damit es dann von diesen<br />

bestellt werden kann. Damit bleibt das<br />

hier Erwirtschaftete auch weiter koscher.<br />

Nach dem Schmitta-Jahr wird das Land<br />

wieder zurückgekauft. Das Prinzip erinnert<br />

an den Chametz-Verkauf zu Pessach<br />

– ist aber doch etwas völlig anderes, wie<br />

Rabbiner Hofmeister erklärt. „Heter Me-<br />

IM EINKLANG MIT<br />

NATUR & TORA<br />

5782 ist im landwirtschaftlichen Zyklus im Land<br />

Israel gemäß der Tora ein Schmitta-Jahr, also<br />

ein Brachjahr. Nicht alle Bauern folgen dieser<br />

Mitzwa, aber es werden immer mehr, wie<br />

Wiens Gemeinderabbiner Schlomo<br />

Hofmeister im Gespräch mit WINA erzählt.<br />

Andere greifen immer noch auf den Heter Mechira,<br />

ein Umgehungskonstrukt zurück. Im israelischen<br />

Landwirtschaftsministerium setzt man<br />

inzwischen auf neue Technologien, um einen<br />

Anbau ohne Erde zu ermöglichen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

chira dient einzig und allein dazu, das<br />

Gebot des Schmitta-Jahres zu umgehen.“<br />

Bis heute wird allerdings in Israel von<br />

vielen weiterhin das Brachjahr durch Inanspruchnahme<br />

von Heter Mechira vermieden.<br />

Gerne beruft man sich dabei<br />

auf Rabbiner Avraham Kook, der 1930<br />

anlässlich einer neuerlichen Hungersnot<br />

zustimmte, das Brachjahr ausfallen<br />

zu lassen. Er formulierte dafür allerdings<br />

zwei Bedingungen: Heter Mechira dürfe<br />

praktiziert werden, weil Eretz Israel nicht<br />

von Juden regiert werde und weil die jüdische<br />

Bevölkerung eine Minderheit darstelle.<br />

Sollte sich eines von beiden ändern<br />

– was mit der Staatsgründung der Fall war<br />

– sollte seinem Verständnis nach Heter<br />

Mechira nicht mehr funktionieren, um<br />

den Toravorgaben zum landwirtschaftlichen<br />

Zyklus zu entgehen.<br />

Zuletzt gebe es allerdings immer mehr<br />

Stadtrabbinate, die wieder zum Modell<br />

des Brachjahres zurückkehren, erzählt<br />

Rabbiner Hofmeister. Alle sieben Jahre<br />

würden es mehr und mehr Bauern, die<br />

Landwirtschaft wieder nach den Regeln<br />

der Tora betreiben. Wie viele es tatsächlich<br />

sind, lässt sich allerdings schwer eruieren.<br />

Das israelische Landwirtschaftsministerium<br />

blieb der diesbezüglichen<br />

Anfrage von WINA leider über mehrere<br />

Wochen und bis zum Redaktionsschluss<br />

eine Antwort schuldig und verwies ledig-<br />

20 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 20 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:43


Jedes siebente Jahr<br />

an die Vorgaben der Tora halten möchten,<br />

sowie Bauern, die Landwirtschaft<br />

aus Umwelt- und Klimaschutzgründen<br />

möglichst ursprünglich betreiben<br />

möchten. So würden seit der Jahrtausendwende<br />

alle sieben Jahre eben immer<br />

mehr Farmer ein Brachjahr einlegen.<br />

Mit durchaus guten Erfahrungen, wie<br />

Rabbiner Hofmeister betont: „Einerlich<br />

auf die allgemeinen statistischen Daten<br />

zum Ackerbau im Land.<br />

Sammeln für das Schmitta-Jahr. Dafür unterstrich<br />

man im Ministerium Bemühungen,<br />

gerade im heurigen Brachjahr<br />

alternative Anbauweisen, die ohne Erde<br />

auskommen, zu fördern. Sieben Millionen<br />

Schekel (knapp zwei Millionen Euro)<br />

stehen zur Verfügung, um etwa erdlose<br />

Kulturverfahren in Gewächshäusern,<br />

die mit Nährlösungen arbeiten, zu unterstützen.<br />

Das helfe allerdings nach rabbinischer<br />

Meinung nichts, um den Toravorschriften<br />

von Schmitta zu entgehen,<br />

betont dazu Rabbiner Hofmeister<br />

Die traditionelle Unterstützung für<br />

Bauern, die sich an das Schmitta-Jahr<br />

halten, sieht ganz anders aus: Seit vielen<br />

Jahrhunderten wurde in der Diaspora<br />

für die Bauern in Eretz Israel Geld gesammelt.<br />

Seit dem 17. Jahrhundert seien<br />

solche Sammlungen bekannt, erzählt<br />

Rabbiner Hofmeister. Solche seien zum<br />

Beispiel aus der Zeit vor dem Holocaust<br />

auch aus burgenländischen Gemeinden<br />

überliefert. Spendenboxen wie früher<br />

gebe es heute zwar in Wien nicht mehr,<br />

„aber es gibt auch bei uns Spendenaufrufe<br />

zur Unterstützung der Schmitta“.<br />

Grundsätzlich kämen hier heute zwei<br />

Strömungen zusammen: jene von Teilen<br />

der Orthodoxie, die sich möglichst genau<br />

„Achtet darauf,<br />

meine Welt nicht zu<br />

beschädigen und<br />

zu zerstören, denn<br />

wenn ihr das tut,<br />

wird es niemanden<br />

geben, der sie<br />

reparieren wird!“<br />

Midrasch Kohelet Rabba 1<br />

seits gibt es eine große solidarische Unterstützung<br />

für diese Betriebe und Bauern.<br />

Es hat sich aber auch gezeigt, dass<br />

die Erträge in den darauffolgenden Jahren<br />

ausgiebiger waren.“ Das Schmitta-<br />

Jahr gilt übrigens nicht nur für Bauern,<br />

die vom Getreide- und Gemüseanbau leben.<br />

Auch wer privat in seinem Garten<br />

oder auch nur am Balkon Früchte, Gemüse,<br />

Blumen oder Grünpflanzen anbaut,<br />

muss sich an das Brachjahr halten<br />

– jedenfalls wenn er oder sie sich an die<br />

Tora hält.<br />

Viel wird dieser Tage über den Klimawandel<br />

und Naturkatastrophen berichtet.<br />

Rabbiner Hofmeister ist allerdings davon<br />

überzeugt, dass die Umwelt noch gerettet<br />

werden kann, wenn man die Dringlichkeit<br />

der Tora erkennt. „Achtet darauf,<br />

meine Welt nicht zu beschädigen und zu<br />

zerstören, denn wenn ihr das tut, wird<br />

es niemanden geben, der sie reparieren<br />

wird!“ (Midrasch Kohelet Rabba 1)<br />

© 123RF<br />

Hydroponischer Anbau: Erdlose Kulturverfahren<br />

in Gewächshäusern sind nach rabbinischer<br />

Meinung keine Lösung, um die Toravorschriften<br />

des Schmitta-Jahres zu umgehen.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

feb22.indb 21 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:44


WINA KOMMENTAR<br />

Hightech-Alltag in Israel<br />

Silicon Wadi* – Hightech-Karriereparadies mit Büros in Google-Manier, Gemeinschaftsgefühl<br />

und Feierabendbier am Strand von Tel Aviv.<br />

ls ich kurz vor Beginn der Corona-Pandemie<br />

nach Israel kam, schien mir der Weg in die begehrte<br />

Hightech-Branche ohne IT-Abschluss<br />

sehr schwierig. Aus eigener Erfahrung kann<br />

ich nun sagen, dass der Einstieg mit der genügenden<br />

Motivation zur Weiterentwicklung<br />

und Onlinekurse durch-<br />

Von Itamar Gross<br />

aus möglich ist. Vor allem, wenn<br />

man deutschsprachig ist. Denn in Abteilungen wie Sales,<br />

Marketing und Kundendienst sowie im technischen<br />

Projektmanagement wird händeringend nach deutschsprachigem<br />

Personal gesucht.<br />

Selbst als Berufs- oder Quereinsteiger stehen Jobs vor<br />

allem in Customer-Support- und Sales-Abteilungen offen.<br />

Ich habe mich für Sales entschieden und musste<br />

durch ganze sieben Interviewrunden durch, bis ich die<br />

finale Zusage meiner ersten Hightech-Position erhielt.<br />

Neben beruflichen Fähigkeiten werden dabei auch weitere<br />

Aspekte wie etwa „cultural fit“ geprüft.<br />

An meinem ersten Tag im neuen Office verstand ich<br />

sofort, wieso sich das Warten gelohnt hat: Neben den<br />

im Vergleich zum israelischen Arbeitsmarkt überdurchschnittlich<br />

hohen Gehältern bieten Unternehmen dieser<br />

Art auch moderne Büros mit den neusten Technologien<br />

an. Bezahlte Team-Events, Billard- und Tischtennistische<br />

im Büro, ein privates Fitnessstudio, private Krankenversicherung<br />

und vieles mehr gehören hier zum Standard.<br />

Auch für Verstärkung ist gesorgt. Neben einer prall gefüllten<br />

Küche mit allem, was das Herz begehrt (vorbereitetes<br />

Frühstück und Abendessen, Obst, Gemüse, Naschereien,<br />

Sandwiche und professioneller Kaffeemaschine), erhalten<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusätzlich monatliches<br />

Mittagessensgeld (200 bis 300 Euro).<br />

Doch es sind nicht nur die Büros im „Google-Stil“, die<br />

die Arbeit in einem Hightech-Büro so attraktiv machen.<br />

Selbst als Unternehmen mit mehreren hundert oder tausend<br />

Mitarbeitern versucht man jedem Individuum das<br />

Gefühl zu gegeben, Teil einer größeren Idee zu sein. Flache<br />

Hierarchien, Transparenz in Bezug auf anstehende<br />

Unternehmensentscheidungen, die Möglichkeit mitzuwirken<br />

und mit dem Unternehmensgründer auch mal<br />

am Mittagessentisch zu plaudern, helfen, eine offene<br />

und inkludierende Atmosphäre zu schaffen.<br />

Das alles gibt es nicht geschenkt! Zu den Kriterien für<br />

den Erfolg eines Unternehmens gehören die Leistung<br />

und Moral der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Von<br />

einem Mitarbeiter eines Hightech-Unternehmens wird<br />

Erfolgseifer, Identifikation mit dem Produkt und die damit<br />

verbundenen Extrameilen erwartet. Daher braucht<br />

es eine gewisse Immunität für Leistungs- und Erfolgsdruck,<br />

denn schließlich stehen Unternehmen dieser Art<br />

auch wegen ihrer Mitarbeiter da, wo sie heute sind.<br />

Wer die Karriere nach dem<br />

Motto „work hard, play hard“<br />

aufbauen möchte, sollte die<br />

Möglichkeiten am Silicon Wadi<br />

nicht unbeachtet lassen.<br />

© 123RF<br />

Im Vergleich zu früheren Arbeitsstellen in Europa bin<br />

ich sehr froh, in der florierenden Hightech-Szene in Tel<br />

Aviv angekommen zu sein. Vor allem schätze ich die Möglichkeit,<br />

täglich mit kreativen und klugen Köpfen zusammenzuarbeiten,<br />

und die für Israel bekannte offenchaotische<br />

Arbeitsatmosphäre.<br />

Ich kann jungen Uni-Absolventen, Young Professionals<br />

und Quereinsteigern wärmstens empfehlen, sich<br />

einmal mit dem israelischen Hightech-Arbeitsmarkt zu<br />

beschäftigen. Keine Hebräischkenntnisse zu haben, gilt<br />

hier nur als schwache Ausrede. In den internationalen<br />

Unternehmen wird meistens auf Englisch kommuniziert,<br />

weswegen Hebräischkenntnisse überhaupt nicht vorausgesetzt<br />

werden. Viel wichtiger sind gutes Englisch und<br />

weitere europäische Fremdsprachen, vor allem Deutsch<br />

und Französisch. Wer also seine Karriere nach dem Motto<br />

„work hard, play hard“ aufbauen möchte, sollte die Möglichkeiten<br />

des Silicon Wadi nicht unbeachtet lassen – nicht<br />

zuletzt wegen des Feierabendbiers bei Sonnenuntergang<br />

am Strand von Tel Aviv.<br />

* Als Silicon Wadi wird die an Hochtechnologieunternehmen dichte Küstenebene rund um Tel Aviv bezeichnet.<br />

22 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 22 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:44


HIGHLIGHTS | 02<br />

Ein bisserl Hohenems in Wien<br />

Seit 30 Jahren hat das Jüdische Museum<br />

Hohenems einen festen Platz<br />

in der österreichischen Museumslandschaft<br />

und setzt Akzente, die<br />

durch Kooperationen mit anderen<br />

Häusern über Vorarlberg hinauswirken.<br />

Ab sofort möchte das Museum<br />

noch regelmäßiger als bisher<br />

auch in Wien präsent sein. Einmal<br />

im Jahr soll daher von nun an eine<br />

Ausstellung aus Hohenems in der<br />

Bundeshauptstadt zu sehen sein.<br />

Den Anfang macht die Schau Die<br />

letzten Europäer. Jüdische Perspektiven<br />

auf die Krisen einer Idee, die seit<br />

21. Jänner im Volkskundemuseum<br />

in der Josefstadt zu sehen ist.<br />

Um so ein ehrgeiziges Projekt umzusetzen,<br />

ist jede Hilfe willkommen,<br />

und die haben das Vorarlberger Museum<br />

und sein Direktor Hanno Loewy<br />

bekommen: Ende 2021 konstituierten<br />

sich die Wiener Freunde des jüdischen<br />

Museums Hohenems. Ihnen gehören<br />

unter anderen Gertraud Auer B’orea<br />

d’Olmo, Generalsekretärin des Kreisky<br />

Forums, der frühere Wiener Kulturstadtrat<br />

Andreas Mailath-Pokorny, der Jurist<br />

Andreas Köb, Ulrike Kinz, Obfrau des<br />

Vereins Vorarlberger*innen in Wien, sowie<br />

die Kommunikationsexpertin Sonja<br />

Kato an. Die Gruppe hat sich vorgenommen,<br />

jedes Jahr 30.000 Euro an Spenden<br />

zu sammeln, um eine Schau aus Hohenems<br />

nach Wien zu bringen. Was man<br />

damit erreichen möchte? Für das Hohenemser<br />

Museum „ein Schaufenster in<br />

Wien“ schaffen, wie es Kato formuliert.<br />

Wofür Hanno Loewy sich über die<br />

Jahre einen Namen gemacht hat: mit seinen<br />

Ausstellungsprojekten aktuell gesellschaftspolitisch<br />

relevante Fragen zu<br />

stellen. Das ist ihm sowie den beiden Kuratorinnen<br />

Felicitas Heimann-Jelinek und<br />

Michaela Feurstein-Prasser auch mit der<br />

„Europäer“-Schau gelungen. Mehr als 75<br />

Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

stehe vieles, das nach 1945 erreicht<br />

wurde, wieder zur Disposition, kritisiert<br />

Loewy. Konfrontiert seien wir heute mit<br />

© Dietmar Walser, Hohenems<br />

Nationalismus und neuer Abschottung.<br />

Der europäische Imperativ des „Niemals<br />

wieder!“ werde von vielen in Frage gestellt,<br />

auch in Österreich. Das „christlichjüdische<br />

Abendland“ werde bemüht, um<br />

gegen Zuwanderung aufzutreten. Und<br />

die Corona-Pandemie habe die Länder<br />

Europas statt näher aneinander weiter<br />

auseinandergebracht. Nationale Interessen<br />

würden gegen europäische ausgespielt.<br />

Die Schau Die letzten Europäer stellt<br />

jüdische Pioniere der europäischen Idee<br />

vor, darunter Persönlichkeiten wie den Juristen<br />

Hersch Lauterpracht, später Richter<br />

am Internationalen Gerichtshof in Den<br />

Haag, der die Terminologie „Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit“ entwickelt<br />

hat, den Schriftsteller Stefan Zweig, aber<br />

auch den späteren SPÖ-Bundeskanzler<br />

Bruno Kreisky. „Die Auswahl der vorgestellten<br />

Europäer und Europäerinnen erfolgte<br />

nach deren Einsatz für die – in unseren<br />

Augen – brennendsten Fragen im<br />

Prozess des europäischen Friedensprojekts<br />

und der Bildung der Europäischen<br />

Union, wie beispielsweise für die Ratifizierung<br />

der Europäischen Menschenrechtskonvention,<br />

für die Benennung<br />

und Verurteilung von Genoziden oder<br />

gegen Kolonialismus“, erläuterte dazu<br />

Kuratorin Heimann-Jelinek gegenüber<br />

WINA. Anhand von Biografien<br />

werde – in austellungsgebotener<br />

Kürze – die Entwicklung von juristischen,<br />

demokratischen, egalitären<br />

und humanitären Prinzipien,<br />

ihre Verankerung im Regelwerk<br />

der europäischen Gemeinschaft<br />

dargestellt sowie die permanenten<br />

Anläufe, diese immer wieder zu<br />

konterkarieren. wea<br />

Frau<br />

oder Mann<br />

mit Krawatte.<br />

Ida Maly,<br />

1928/30.<br />

AUSSTELLUNG.TIPP<br />

Wie Prophezeiungen<br />

auf die Gräuel<br />

Die Künstlerin Ida Maly (1894–1941)<br />

lebte und arbeitete in Wien, München,<br />

Berlin und Paris. 1928 kam sie mit der<br />

Diagnose Schizophrenie in die Psychiatrieanstalt<br />

Feldhof in Graz und wurde im<br />

<strong>Februar</strong> 1941 im Rahmen der sogenannten<br />

„Aktion T4“ in die NS-Tötungsanstalt<br />

im Schloss Hartheim in der Nähe<br />

von Linz abtransportiert, wo sie ermordet<br />

wurde. Ihre in Graz entstandene<br />

Bilder wirken wie Prophezeiungen auf<br />

die Gräuel der „Euthanasie“, ihr Gesamtwerk<br />

dokumentiert den Weg einer<br />

Künstlerin aus den vermeintlich Goldenen<br />

Zwanzigern bis hin zur Ermordung<br />

durch die NS-Tötungsmaschinerie.<br />

www.lentos.at<br />

Rasch werde klar, dass die jüdische mit der<br />

europäischen Geschichte verflochten ist<br />

und es keinen Sinn mache zu versuchen, das<br />

eine vom anderen zu trennen.<br />

Die letzten<br />

Europäer.<br />

Jüdische Perspektiven<br />

auf die Krisen einer Idee.<br />

volkskundemuseum.at<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

feb22.indb 23 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:46


INTERVIEW MIT BEN SALOMO<br />

„Wir Juden geraten<br />

unter die Räder“<br />

Beim Interview-Termin mit WINA gibt sich Jonathan Kalmanovich, besser bekannt<br />

als Ben Salomo, kämpferisch. Es ist Zeit, sich zu wehren, meint der in Berlin lebende<br />

„Israeli mit Integrationshintergrund“, so seine Selbstbezeichnung.<br />

Als Rapper und Veranstalter wurde Ben Salomo bekannt, 2019 veröffentlichte der<br />

44-Jährige seine Autobiografie, in der er sich unter anderem mit dem Antisemitismus<br />

im Deutsch-Rap auseinandersetzt. Doch Antisemitismus ist ein Übel, das sich<br />

nicht nur im Deutsch-Rap in den vergangenen Jahren breit machte. Es ist ein gesamtgesellschaftliches<br />

Problem, dem sich Ben Salomo als Aktivist, zum Beispiel mit<br />

Vorträgen an Schulen, entgegenstellt. Ein Gespräch über politische Enttäuschungen,<br />

verfehlte Bildungspolitik und die Willkür der Mehrheitsgesellschaft.<br />

Interview: Thomas Kiebl, Fotos: Daniel Shaked<br />

24<br />

wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 24 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:47


Schwächendes Unwissen<br />

WINA: Im vergangenen Jahr ist die Anzahl antisemitischer<br />

Straftaten in Deutschland abermals angestiegen. Was läuft<br />

in Deutschland gegenwärtig falsch?<br />

Ben Salomo: Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale.<br />

Das gesellschaftliche Klima für Juden in Deutschland<br />

wird zusehends schwieriger. Die Corona-Krise<br />

hat ganz bestimmte Merkmale von Antisemitismus<br />

nach oben gespült – vor allem die verschwörungsideologischen<br />

Aspekte, bei denen Juden als die Drahtzieher<br />

hinter einer Pandemie ausgemacht werden. Es<br />

gab in den vergangenen Jahren unfassbare Tabubrüche,<br />

die im Zuge der Corona-Pandemie in breiten Teilen<br />

der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wurden.<br />

Dazu gehören Demos, bei denen Rechtsradikale gemeinsam<br />

mit Esoterikern, die sich Blumen in ihrer<br />

Haare flechten und meinen, sie seien für Frieden,<br />

marschieren. Das sind Leute, die gleichzeitig Plakate<br />

hochhalten, auf denen Bill Gates und die Rothschilds<br />

der Versklavung der Menschheit bezichtigt werden.<br />

Die Corona-Pandemie wird als absoluter Brandbeschleuniger,<br />

was den Antisemitismus anbelangt, in<br />

die Geschichte eingehen.<br />

Fühlen Sie sich von der Politik im Stich gelassen?<br />

I Nicht nur im Stich gelassen. Die Politik verstärkt in<br />

Teilen dieses Problem noch. Wie passt das zusammen,<br />

wenn deutsche Außenminister sagen, man müsse den<br />

Antisemitismus überall bekämpfen – egal, woher er<br />

kommt –, aber dann, wenn sie Europa verlassen, offen<br />

antisemitische Regime umschmeicheln und mit<br />

denen kuscheln? Man kann nicht gleichzeitig meinen,<br />

man sei ein Freund der Juden, möchte Antisemitismus<br />

bekämpfen und Israels Sicherheit sei einen<br />

wichtig, wenn man hinter den Kulissen mit Antisemiten<br />

zusammenarbeitet. Zudem ist Deutschland bei<br />

den Vereinten Nationen immer mit von der Partie,<br />

wenn es um das einseitige Israel-Bashing geht. Das<br />

schürt natürlich den israelbezogenen Antisemitismus<br />

in der Gesellschaft. Bei solchen Freunden frag<br />

ich mich, braucht man da noch Feinde? Ich glaube,<br />

dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit vielen<br />

dieser Vorgänge nicht einverstanden ist. Aber es gibt<br />

zu wenig Widerstand dem gegenüber.<br />

Bei ihrem letzten Israel-Besuch bezeichnete Ex-Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel die Sicherheit Israels als Teil der deutschen<br />

Staatsräson.<br />

I Das ist mehr als heuchlerisch, wenn man bedenkt,<br />

dass Deutschland durch sehr intransparente Kanäle<br />

Organisationen in der Region um Israel und in den palästinensischen<br />

Gebieten finanziert; Organisationen,<br />

die Israels Sicherheit mehr untergraben als stabilisieren.<br />

Das Thema betrifft gerade auch das linke politische<br />

Spektrum. In Teilen der Linken gibt es eine sehr<br />

seltsame Vorstellung dessen, was Israel ist. Israel etwa<br />

als Kolonialstaat zu bezeichnen, ist komplett hirnrissig.<br />

Schließlich stammen Juden aus dem Nahen Osten,<br />

das Gebiet hieß eben einmal Judäa. Das wäre so,<br />

als würde man Indianern Kolonialisierung vorwerfen,<br />

wenn sie im Bundesstaat Indiana ein Tipi aufbauen.<br />

Es ist eine Dekolonialisierung, dass es Israel gibt.<br />

In der SPD ist die Haltung zu Israel im Nahostkonflikt ein kontrovers<br />

diskutiertes Thema.<br />

I Ich könnte die SPD anhand ihrer Entwicklungen<br />

in den vergangenen Jahren niemals wählen. Ich erinnere<br />

an die ehemalige Parteivorsitzende Andrea<br />

Nahles, die 2012 sagte, dass die SPD und die Fatah gemeinsame<br />

politische Werte und strategische Ziele verbinden.<br />

Also Demokratie kann dieser politische Wert<br />

schon einmal nicht sein, und was die strategischen<br />

Ziele anbelangt – auf dem Logo der Fatah wird Israel<br />

eliminiert. Die JuSos haben Nahles Aussage vor Kurzem<br />

sogar wiederholt und die Fatah zur Schwesterorganisation<br />

erklärt. Der ehemalige Vizekanzler Sigmar<br />

Gabriel hat einst in Hebron Israel als Apartheidsregime<br />

bezeichnet – und dabei nicht erwähnt, dass 97<br />

Prozent von Hebron Juden nicht betreten dürfen. Das<br />

sind Halbwahrheiten, die herausposaunt werden.<br />

Und dann gibt es Außenminister Heiko Maas, der behauptet,<br />

dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen<br />

sei – gleichzeitig aber kein bisschen abrückt vom<br />

Israel-Bashing in den Vereinten Nationen. Dass es einen<br />

Shift der jüdischen Bevölkerung weg von den Sozialdemokratien<br />

und was links davon ist hin zu den Liberalen<br />

oder sogar zur CDU gibt, kann ich daher gut<br />

nachvollziehen.<br />

Hat der Kampf gegen Antisemitismus die modernen Mechanismen<br />

verschlafen?<br />

Unsere eigenen Organisationen haben verschlafen,<br />

den Nachwuchs politisch zu schulen und aufzuklären.<br />

Alles, was ich über diese Region weiß, musste<br />

ich mir selbst erarbeiten. Ich habe in keinem jüdischen<br />

Jugendzentrum die Geschichte Israels oder die<br />

jüdische Geschichte ausreichend gelernt – also dass<br />

wir im Ursprung eine orientalische Kultur sind, die<br />

durch Vertreibung und Verschleppung in der Diaspora<br />

landete. Dieses Unwissen schwächt uns nach<br />

innen. Deswegen haben wir so viele antizionistische<br />

Juden, die mit Selbsthass herumlaufen, weil sie gar<br />

nicht ihre eigene Geschichte kennen. Gleichzeitig<br />

ist es in Deutschland ein wunderbares Geschäftsmodell,<br />

„israelkritisch“ zu sein. Wir Juden sind weltweit<br />

gesehen als Bevölkerung so wenige, wenn wir<br />

es nicht schaffen, Verbündete an unsere Seite zu<br />

holen, die diesem Geschichtsrevisionismus widersprechen,<br />

dann haben wir einen ganz, ganz schweren<br />

Stand. Aber wie sollen sie das tun, wenn wir in<br />

unseren eigenen Kreisen diesen Geschichtsrevisionismus<br />

zugelassen haben? Wir müssen jetzt eine<br />

Generation aufbauen von jüdischen Leuten, die die<br />

Historie kennt, die begreift, dass Zionismus unser<br />

Selbstbestimmungsrecht ist – und dass wir Zionisten<br />

es sind, die diesen Begriff definieren. Genau wie<br />

Frauen Feminismus definieren und eben nicht Antifeministen.<br />

So gehört der Begriff wieder zurück in<br />

unsere Hand.<br />

„Das wäre so,<br />

als würde man<br />

Indianern Kolonialisierung<br />

vorwerfen,<br />

wenn sie<br />

im Bundesstaat<br />

Indiana ein Tipi<br />

aufbauen. Es ist<br />

eine Dekolonialisierung,<br />

dass es<br />

Israel gibt.“<br />

Ben Salomo<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

feb22.indb 25 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:48


Fehlt der deutschen Gesellschaft eine Null-Toleranz-<br />

Politik, was Antisemitismus anbelangt?<br />

I Es reicht in Deutschland heutzutage aus,<br />

Juden mit Zionisten auszutauschen und sich<br />

dann zu entschuldigen. Die, die nicht davon<br />

betroffen sind, sind damit zufrieden und arbeiten<br />

mit diesen Leute problemlos weiter.<br />

Dem Islamismus und dem muslimischen<br />

Antisemitismus wird größtmögliche Toleranz<br />

entgegengebracht. Angenommen, irgendein<br />

TV-Moderator wäre bei den Corona-Leugnern<br />

mitgelaufen, hätte ihm das jemand verziehen?<br />

Das glaube ich nicht. Aber etwa bei<br />

den Al-Kuds-Demos mitzulaufen, wo teilweise<br />

Schals von Terrororganisationen getragen<br />

oder Fahnen von Terrororganisationen geschwungen<br />

werden, ist kein großes Problem.<br />

Bei den Corona-Demos oder Demos von Rechten<br />

würde man niemals diese Toleranz zeigen.<br />

Vollkommen zu Recht. Wenn es um diese Form<br />

des Antisemitismus geht, passiert es. Aber was<br />

erwarten wir denn? Wir sehen es von unseren<br />

Politikern genauso. Es gibt keine wirkliche Abgrenzung<br />

vom Antisemitismus. Wir Juden geraten<br />

unter die Räder.<br />

Wie kann man sich als Community dagegen wehren?<br />

I Die Mentalität der Juden in der Diaspora<br />

zeigt sich in der russischen Aussage „Jude<br />

schweig, und du wirst weiterleben“. Die Mentalität,<br />

die uns jahrhundertelang in der Diaspora<br />

das Überleben gebracht hat, ist heute<br />

eine Mentalität, die uns wieder zum Verlust<br />

der Selbstbestimmung bringt. Wir müssen<br />

heute genau das Gegenteil tun. Wir müssen<br />

laut sein, wir müssen unsere Rechte einfordern.<br />

Auch wenn wir wenige sind. Wobei ich<br />

glaube, dass wir viele Verbündete haben,<br />

aber wir müssen diese Verbündete empowern.<br />

Das bedeutet, wir müssen selbst empowern,<br />

wir müssen cool werden. Unsere Selbstbestimmung,<br />

die wir zu verteidigen haben,<br />

muss als etwas Cooles, etwas Gutes verstanden<br />

werden.<br />

Sie halten Vorträge an Schulen zu Antisemitismus.<br />

Wenn Sie mit Schüler:innen arbeiten: Haben Sie das<br />

Gefühl, dass Ihre Inhalte ankommen?<br />

I Ich würde sagen: ja. Sicherlich nicht bei<br />

allen. Es gibt immer wieder Leute, die von<br />

zuhause aus eine sehr starke antisemitische<br />

Prägung haben. Aber bei den meisten<br />

glaube ich schon, dass es wirkt. Die Frage<br />

ist, wie nachhaltig das ist. Wenn ich da war,<br />

ist es vielleicht zwei Wochen im Kopf. Danach<br />

passiert aber in Israel irgendetwas, irgendwelche<br />

Bilder kursieren in den sozialen<br />

Netzwerken, irgendwelche Fakes, und dann<br />

ist das wieder vergessen. Gleichzeitig gibt es<br />

BEN SALOMO,<br />

geboren als Jonathan Kalmanovich 1977<br />

in Rechovot, Israel, gehört zu den außergewöhnlichsten<br />

Vertretern des Deutsch-<br />

Rap: er verarbeitet seine jüdische<br />

Identität offensiv in seinen Texten und ist<br />

damit eine Ausnahme in der deutschen<br />

Hip-Hop-Szene, die immer wieder durch<br />

rassistische, homophobe und frauenverachtende<br />

Aussagen auffällt. Mit<br />

seinem klaren Bekenntnis zum Judentum<br />

und Israel tritt Ben Salomo nicht nur<br />

antisemitischen Tendenzen im Deutsch-<br />

„Wir müssen<br />

laut sein, wir<br />

müssen unsere<br />

Rechte einfordern.<br />

Auch<br />

wenn wir<br />

wenige sind.“<br />

Rap entgegen, sondern macht auch auf<br />

den wachsenden Antisemitismus in der<br />

Gesellschaft aufmerksam. Ein Skandal<br />

um antisemitische Texte von Rapper-<br />

Kollegen bei der Echo-Preis-Verleihung<br />

2018 bewegte ihn zum Ausstieg aus der<br />

Hip-Hop-Szene: „Hier gehöre ich nicht<br />

mehr hin. Deutsch-Rap ist<br />

genauso antisemitisch wie Rechtsrock“,<br />

wie er seinen Ausstieg damals begründete.<br />

2019 erschien seine Autobiografie<br />

Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens.<br />

Für seinen Einsatz für den Frieden und<br />

gegen Rassismus erhielt Salomo unter<br />

anderem 2019 das Robert-Goldmann-<br />

Stipendium und 2020 den ersten Internationalen<br />

Pforzheimer Friedenspreis.<br />

Salomo rappte im Herbst 2021 beim<br />

prominent besetzten Großkonzert Von<br />

Generation zu Generation im Arkadenhof<br />

des Wiener Rathauses.<br />

sehr erfolgreiche und reichweitenstarke Propagandakanäle<br />

wie Islam-Fakten, Generation Islam oder TRT<br />

Deutsch, die auf die Jugendlichen einwirken.<br />

Braucht es an Schulen ein Fach wie Medienkompetenz, damit<br />

Jugendliche solche Propagandakanäle einordnen können?<br />

I Sicherlich. Es gibt so viele erwachsene Personen, die<br />

vor drei Jahren noch vernünftig waren, aber seit der<br />

Corona-Pandemie sehr skurrile Theorien verbreiten,<br />

die durch Social Media genährt wurden. Was erwarten<br />

wir dann von Schüler:innen? In Deutschland ist<br />

es auch verabsäumt worden, die Verstrickung von Nationalsozialismus<br />

mit der arabischen Welt aufzuarbeiten.<br />

Und ich zeige das denen bei meinen Vorträgen.<br />

Das erfahren die Jugendlichen zum ersten Mal – und<br />

teilweise die Lehrer auch. Die Geschichtsvermittlung<br />

in Deutschland, die Leute, die hier Ministerien aufgebaut<br />

haben, Bildungsministerium, Außenministerium<br />

und so weiter, das waren ja keine lupenreine<br />

Demokraten. Dementsprechend haben sich da bestimmte<br />

Traditionen oder unliebsame Wahrheiten,<br />

die man lieber unter dem Teppich kehrt, erhalten.<br />

Deswegen sage ich immer, wenn behauptet wird, der<br />

Antisemitismus in Europa sei ein importierter: nein.<br />

Es ist ein recycelter Antisemitismus! Es ist schön,<br />

wenn man Dinge wie Dosen oder Papier recycelt. Aber<br />

Antisemitismus sollte nicht recycelt werden.<br />

Man könnte auch sagen, dass die deutsche Bildungspolitik<br />

versagt hat, wenn vier von zehn Schüler:innen ab 14 nichts<br />

mit dem Begriff „Auschwitz“ anfangen können.<br />

I Auschwitz sowieso, aber was den Schüler:innen<br />

auch nicht vermittelt wird, ist der Mechanismus, der<br />

zum Holocaust führte. Theodor Adorno sagte schon<br />

in den Fünfzigerjahren, Antisemitismus ist das Gerücht<br />

über die Juden. Dass die Juden alle reich sind,<br />

ist ein Gerücht. Dass die Juden Brunnen vergiftet<br />

haben, ist ein Gerücht. Das kann man nicht belegen,<br />

beweisen, da gibt es keine Fakten. Das sind Gerüchte.<br />

Wenn den Leute nicht beigebracht wird, dass es mit<br />

Gerüchten beginnt, dann hat man das Fundament<br />

nie gelernt.<br />

Wenn wir diese Macht der Gerüchte als Ausgang nehmen:<br />

Wie fällt Ihr Ausblick für die Zukunft aus?<br />

I Sehr, sehr düster. Aber das Schlimme ist, dass man<br />

uns in Israel auch nicht in Ruhe lässt. Ein Freund von<br />

mir, der Alija gemacht hat, sagte: In Deutschland sind<br />

wir wie kleine Mäuschen, die Angst haben müssen,<br />

dass uns ein Geier oder eine Katze den Kopf abreißt.<br />

In Israel sind wir freilaufende Löwen, die aufpassen<br />

müssen, dass nicht manchmal ein Wilderer kommt<br />

und uns abknallt, aber in Israel sind wir wenigstens<br />

frei. Oder, wie meine Tante über Israel gesagt hat:<br />

„Wir leben hier auf einem Vulkan, aber es ist unsere<br />

Sache, ob wir gute Seismografen haben, die uns<br />

davor warnen, wann er ausbricht und wie wir uns<br />

davor schützen.“ Hier sind wir auf die Mehrheitsgesellschaft<br />

angewiesen, und das bedeutet auch, der<br />

Willkür ausgeliefert zu sein – auch heute wieder.<br />

26 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 26 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:49


LEBENS ART<br />

KEIN BLUPP BLUPP<br />

Goldige News im grauen <strong>Februar</strong>: Israelische Verhaltensforscher<br />

haben Fischen das Fahren beigebracht. Eine kleine<br />

WINA-Hommage auf die schillernden Fahranfänger!<br />

SCHWIMMSCHULE<br />

Wie steht es um die Navigationsfähigkeiten<br />

von Tieren? Dieser<br />

Frage wollten israelische Verhaltensforscher<br />

von der Ben-Gurion University<br />

of the Negev in Be’er Scheva mit<br />

einem skurrilen Versuchsaufbau am<br />

Beispiel eines Goldfisches beantworten.<br />

Dafür konstruierten die Forscher<br />

ein „Fish Operated Vehicle (FOV)“, bei<br />

dem ein kleines Aquarium auf einem<br />

fahrbaren Untersatz montiert war. Die<br />

Hochstapler<br />

Weil man von Zeit zu Zeit nicht nur was<br />

Knackiges zwischen die Kiemen braucht,<br />

sondern eben auch im besten Fall bis zu drei<br />

Liter Flüssigkeit am Tag trinken soll, gibt es<br />

dieses stapelbare Gläserset von Doiy.<br />

u.a. über connox.at<br />

Schwarm-Wissen<br />

Wer sich beim Duschen des Öfteren<br />

langweilt, kann ja die vielen kleinen Goldfische<br />

auf diesem Vorhang zählen. Wer ein<br />

längeres Vollbad vorzieht: Es gibt auch passende<br />

Handtücher dazu!<br />

u.a. über juniqe.de<br />

Brit-Fish<br />

Entworfen wurde der „Gluggle Jug“ in den 1870er-<br />

Jahren in Staffordshire. Beliebt ist die Wasserkaraffe<br />

aber nicht nur für ihr Äußeres: Beim Ausschenken<br />

gluckert es dunkel aus der Tiefe des Fischbauchs.<br />

u.a. über gluckigluck.com<br />

IN FAHRT. Wissenschafter der Ben-<br />

Gurion-Uni haben in einem Experiment<br />

Goldfischen Beine gemacht.<br />

elektronische Steuerung lenkte das<br />

Elektromobil immer genau in die Richtung,<br />

in die sich der Fisch ausrichtete.<br />

So konnte sich der Goldfisch auch „an<br />

Land“ fortbewegen. Mehrere Tage<br />

lang trainierten die Forschenden den<br />

Fisch und brachten ihm bei, wie er<br />

das Fahrzeug steuern konnte. Dafür<br />

konditionierten sie den Fisch auf ein<br />

Zielobjekt außerhalb des Aquariums.<br />

Wenn der Fisch das Fahrzeug zu diesem<br />

Objekt lenkte, wurde er mit Futter<br />

belohnt. Nach und nach lernte der<br />

Fisch die Steuerung des Fahrzeugs so<br />

gut, dass er sogar kleine Hindernisse<br />

umfahren konnte, um das Zielobjekt<br />

zu erreichen. Wir klatschen begeistert<br />

in die Flossen!<br />

Wand-Aquarium<br />

Auf dieser Vliestapete schillern zauberhaft Fische<br />

in einer traumhaften Landschaft aus Unterwasserpflanzen<br />

und Ranken. „Nautilus“, so<br />

der passende Name des Designs, gibt es<br />

übrigens auch in anderen Farbkombis.<br />

cole-and-son.com<br />

GoodLack<br />

Das knallige „Orange mit Goldfisch“ lässt Schuppen<br />

von den Augen fallen! Gibt es aus biobasierten<br />

Rohstoffen für die Wand und als (Möbel-)Lack<br />

mit schimmernder oder matter Optik.<br />

misspompadour.de<br />

Italo-Hit<br />

Da Goldfische Süßwasser bevorzugen, werden<br />

sie sardische Strände eher vom Hörensagen<br />

kennen. Für alle, die auch nie im weißen Sand<br />

der Insel sitzen, gibt es jetzt zumindest den<br />

orangen Samtsessel „Porto Pino“.<br />

kare.at<br />

Fotos: picturedesk.com/Ronen Zvulun; Hersteller; 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

feb22.indb 27 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:54


Von der Inquisition bis heute<br />

Aus dem Schatten in die Sonne:<br />

Die Xuetas auf Mallorca<br />

Als Xuetas werden die Nachfahren jener Juden auf Mallorca bezeichnet,<br />

die während der Inquisition zur Konversion gezwungen wurden. Heute<br />

entdecken sie ihr jüdisches Selbstbewusstsein und die Geschichte ihrer<br />

Vorfahren neu. Eine moderne Emanzipationsgeschichte.<br />

Von Silke Fries<br />

Toni Piña ist ein bekannter Koch auf<br />

Mallorca, mit eigener Radioshow, er<br />

lebt in Sóller, im Nordosten der Insel.<br />

Bis vor wenigen Jahren wusste er nicht<br />

allzu viel über die Geschichte seiner Familie,<br />

was er wusste: Sie waren Xuetas, Nachfahren<br />

von Juden, die im Mittelalter zur<br />

Konversion gezwungen wurden. Die Xuetas<br />

wurden bespitzelt, unterdrückt und<br />

verfolgt. Auch Toni Piñas Familie ging es<br />

so: „Es gibt Berichte aus dem Jahr 1691,<br />

danach wurden einige Piñas durch die<br />

Inquisition beschuldigt, heimlich das Judentum<br />

zu pflegen.“ Sie mussten sich vor<br />

dem Inquisitionsgericht in Palma de Mallorca<br />

verantworten und wurden zu jahrelangem<br />

Galeerendienst verurteilt, danach<br />

war die Familie ruiniert. Allein der<br />

Verdacht, Kryptojude zu sein, reichte<br />

aus. Und der Name Piña wurde für viele<br />

Jahrhunderte zum Stigma. „Meine Mutter<br />

hat in den Fünfzigerjahren geheiratet,<br />

sie musste es um sechs Uhr morgens tun.<br />

Denn die Leute wollten nicht, dass sie mit<br />

einem Xueta die Ehe einging.“ Auch Toni<br />

Piña hat in seiner Jugend Ähnliches erfahren:<br />

„Wenn man als Teenager zum ersten<br />

Mal ein Mädchen traf, dann sagten viele<br />

Eltern: ‚Mit diesem Jungen gehst du nicht<br />

aus, das ist ein Xueta.‘“<br />

Den Begriff Xueta gibt es nur auf Mallorca.<br />

Umstritten ist, ob er hergeleitet<br />

wurde von der katalanischen Bezeichnung<br />

für Jude oder von dem katalanischen<br />

Wort für Speck oder Schweinefleisch. Das<br />

sagt Laura Miró Bonnin. Auch sie stammt<br />

von einer Familie ab, die im Mittelalter<br />

gezwungen wurde, zum Katholizismus zu<br />

konvertieren. Die Historikerin hat zu dem<br />

Thema geforscht, dabei stellte sie fest, dass<br />

sich die Schicksale vieler Familien ähnelten.<br />

Allein der Verdacht, heimlich weiter<br />

nach jüdischen Gesetzen zu leben, reichte<br />

im Mittelalter aus, um verurteilt<br />

zu werden.<br />

Vor rund 330 Jahren brannte<br />

mitten in Palma de Mallorca der<br />

letzte Scheiterhaufen, darauf<br />

starben die Geschwister Caterina<br />

und Rafael Tarongí, auch<br />

der Rabbiner Rafel Valls wurde<br />

lebend verbrannt. Sie hatten<br />

sich geweigert, ihrem Glauben<br />

abzuschwören und sich zu Jesus<br />

Christus zu bekennen. Überlieferungen<br />

zufolge sollen 30.000<br />

Menschen zugesehen haben.<br />

Danach galt jüdisches Leben<br />

auf Mallorca als ausgelöscht.<br />

Viele Xuetas lebten besonders<br />

demonstrativ ihren katholischen<br />

Glauben, einige wurden<br />

Priester oder Nonnen. Tatsächlich<br />

aber ging die Diskriminierung weiter.<br />

Denn jeder auf Mallorca konnte schon anhand<br />

der Nachnamen erkennen, welche<br />

Familien jüdischen Ursprungs sind. Namen<br />

wie Miró, Bonnin, Aguiló, Forteza,<br />

Cortés und Piña waren Anlass genug, ausgegrenzt<br />

zu werden. „Xuetas wurden stigmatisiert,<br />

und es gab jede Menge Vorurteile.<br />

Etwa, dass sie schmutzig seien, geizig<br />

und verschlagen und nur auf ihren wirtschaftlichen<br />

Vorteil bedacht“, sagt Laura<br />

Miró Bonnin. Und noch in den 70er- und<br />

80er-Jahren sei es vor allem im Viertel von<br />

Palma de Mallorca zu Übergriffen gekommen,<br />

in dem viele Nachfahren von Juden<br />

lebten. „Das war vor allem, als zeitgleich<br />

im spanischen Fernsehen eine Serie über<br />

den Holocaust gezeigt wurde. Es wurden<br />

Wände beschmiert, auch mit Hakenkreuzen.<br />

Das ist gerade mal rund 40 Jahre her.“<br />

Miquel Segura Aguiló hat Bücher über<br />

die jüdische Geschichte auf Mallorca geschrieben,<br />

vieles kennt er aus eigener An-<br />

„Wir glauben,<br />

dass es notwendig<br />

ist, die<br />

unbekannte<br />

jüdische Geschichte<br />

Mallorcas<br />

und den<br />

inspirierenden<br />

Widerstand<br />

der mallorquinischen<br />

Juden<br />

in traumatischen<br />

Zeiten<br />

zu erzählen.“<br />

Dani Rotstein<br />

schauung. Xuetas hätten<br />

nicht jede Schule<br />

besuchen dürfen, Karrieren<br />

in der Justiz oder<br />

beim Militär seien lange<br />

unmöglich gewesen.<br />

Über das Thema „Xuetas“<br />

habe man während<br />

der Franco-Diktatur offiziell<br />

nicht sprechen<br />

dürfen auf Mallorca,<br />

es sei unter die Pressezensur<br />

gefallen. Dennoch<br />

habe man ihn als<br />

jungen Mann noch diskriminiert:<br />

„Wenn man<br />

abends aus dem Kino<br />

kam, haben sie an den<br />

Ecken gestanden und<br />

haben dir ‚Xueta‘ oder<br />

‚Schwein‘ hinterhergerufen. Das war eigentlich<br />

verboten.“ Und obwohl es offiziell<br />

keine Trennung gab zwischen Alt- und<br />

Neu-Christen, habe man die gesellschaftliche<br />

Spaltung überall gespürt, auch in<br />

der Kathedrale von Palma: „In der Osterwoche<br />

predigte der Priester von der Kanzel<br />

gegen die Juden, die immer noch unter<br />

uns lebten und die Jesus getötet hätten.<br />

Bis zum zweiten vatikanischen Konzil war<br />

das normal.“<br />

Heute ist das Thema Xuetas kein großes<br />

mehr auf der Ferieninsel. Wenn man Mallorquiner<br />

auf der Straße nach der Bedeutung<br />

des Begriffes fragt, können vor allem<br />

junge Leute kaum etwas damit anfangen.<br />

Ältere wissen häufig, welche Nachnamen<br />

Xueta-Namen sind, über die jüdische Geschichte<br />

der Insel weiß aber kaum jemand<br />

Bescheid.<br />

Dani Rotstein möchte das ändern. Der<br />

junge Jude aus New York bietet Touren an<br />

28 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 28 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:54


Mallorcas jüdische Geschichte<br />

auf den Spuren jüdischen Lebens<br />

in Palma de Mallorca. Dabei erfährt<br />

man, dass bereits im zweiten<br />

Jahrhundert Juden auf den<br />

Balearen lebten. Es gab Zeiten, in<br />

denen das Königshaus von Mallorca<br />

den Juden Schutz bot – es<br />

waren Kaufleute darunter, Kartografen,<br />

Ärzte, Seefahrer. Vor allem<br />

im späten Mittelalter jedoch<br />

gab es nur drei Optionen: Flucht,<br />

Tod oder Taufe. Das sagt auch Miquel<br />

Segura Aguiló, der seinen Stammbaum<br />

bis ins Mittelalter zurückverfolgen<br />

kann: „Bei der Kathedrale von Palma wurden<br />

sie mit einem Eimer Wasser getauft.<br />

Von diesem Moment an gab es offiziell<br />

keine Juden mehr auf Mallorca. Es gab die<br />

Konvertiten, und es wurde unterschieden<br />

zwischen Alt-Christen und Neu-Christen.“<br />

Die katholische Kirche auf Mallorca tat<br />

ein Übriges, um die jüdische Geschichte<br />

vergessen zu machen. Dani Rotstein hat<br />

bei seiner Führung durch die Altstadt von<br />

Palma die Igelesia de Montesión erreicht –<br />

ein mächtiger heller Kirchenbau, von Jesuiten<br />

genau dort errichtet, wo zuvor die<br />

Synagoge von Palma stand. Rotstein führt<br />

die Besucher auch an der Kathedrale von<br />

Palma vorbei. Nicht weit davon ist das Gebäude,<br />

in dem im Mittelalter die Inquisition<br />

über Kryptojuden richtete. Teilnehmer<br />

der Gruppe um Dani Rotstein tragen<br />

ebenfalls Xueta-Nachnamen. Kaum einer<br />

aber ist sich der jüdischen Wurzeln ihrer<br />

Familien bewusst. „Viele der rund 20.000<br />

Xuetas auf Mallorca sind heute sehr gläubige<br />

Katholiken und haben nicht das geringste<br />

Interesse, zum Judentum zurückzukehren“,<br />

erklärt Rotstein, „es berührt<br />

sie nicht. Sie sind katholisch aufgewachsen<br />

und wollen es auch bleiben.“<br />

Für umso bemerkenswerter findet er,<br />

dass sich einige wenige heute zum Glauben<br />

ihrer Vorfahren bekennen. Toni Piña<br />

und Miquel Segura Aguiló zählen dazu. Sie<br />

waren mit die ersten Xuetas, die sich vom<br />

Katholizismus ab- und zum Judentum<br />

hingewandt haben. „Das ist etwas Besonderes“,<br />

erzählt Rotstein, „vielleicht fühlten<br />

sie sich von ihren Vorfahren gerufen.“<br />

Der Kreis schließt sich. Für Xuetas auf Mallorca<br />

gilt eine Sonderregel: Wenn sie nachweisen<br />

können, dass die Mütter in ihrem<br />

Stammbaum jüdisch waren, dann müssen<br />

sie nicht konvertieren, sie kehren<br />

ohne rabbinische Prüfung zurück zum<br />

Judentum. Für Toni Piña hat sich damit<br />

ein Kreis geschlossen: Seit Generationen<br />

Jüdische Identität neu entdecken (v. o.<br />

n. u.): Der Koch Toni Piña (li.) beim Challe-Backen.<br />

Dani Rotstein bei seiner Stadtführung<br />

durch Palma und das Ehepaar Aguiló bei<br />

einer Limmud-Veranstaltung.<br />

Unbekannte jüdische Geschichte.<br />

Eine Plakette am Boden beim ehemaligen<br />

jüdischen Viertel erinnert an die einstige<br />

– oft grausame – jüdische Geschichte der<br />

Stadt Palma.<br />

gab es in der Familie Gewohnheiten,<br />

die er sich nicht erklären<br />

konnte: Bei einem Todesfall<br />

etwa wurden die Spiegel im Haus<br />

verhängt, auch wurde bereits an<br />

Freitagen geputzt und nicht, wie<br />

bei den Nachbarn üblich, erst am Samstag.<br />

Auch habe er von seiner Großmutter<br />

ein Messer geerbt, von dem er heute weiß,<br />

dass es ein Schächtmesser ist. Der Koch hat<br />

sich dem Glauben auch über die Küche<br />

und die Tora genähert: „Hier findet man,<br />

was man essen und wie man es zubereiten<br />

soll. Und während ich die Tora las und<br />

mir die Schwierigkeiten meiner Vorfahren<br />

auf Mallorca vorstellte, wurde in mir eine<br />

Spiritualität geweckt, die ich vorher nicht<br />

gekannt hatte.“ Auch seine Frau hat den<br />

Glauben ihrer Vorfahren angenommen,<br />

sie haben ihr Eheversprechen vor einem<br />

Rabbiner in Israel wiederholt. Piña ist sicher:<br />

Heute handelt und denkt er anders<br />

als früher, ist auf andere Weise glücklich,<br />

der Blick auf das Leben habe sich geändert.<br />

Dass seine Kinder und Enkel katholisch<br />

geblieben sind, ist für ihn kein Problem.<br />

Ähnlich wie Miquel Segura Aguiló zählt er<br />

heute zu den festen Mitgliedern der jüdischen<br />

Gemeinde auf Mallorca.<br />

Seit sich nach der Franco-Diktatur in<br />

den 1970er-Jahren die Insel für den Tourismus<br />

immer mehr geöffnet hat, ist die<br />

Gruppe gläubiger Juden auf den Balearen<br />

angewachsen. In der Nähe des Jachthafens<br />

von Palma de Mallorca, in der Carrer<br />

de Monsenyor Palmer, liegt hinter einem<br />

unauffälligen schmiedeeisernen Tor mit<br />

zwei Davidsternen die Inselsynagoge. Es<br />

ist ein großer Raum im Erdgeschoß eines<br />

unscheinbaren Mehrfamilienhauses,<br />

und man muss schon wissen, dass zwischen<br />

Cafés und hinter einem Parkplatz<br />

der Gebetsraum zu finden ist. Miquel Segura<br />

Aguiló ist im Vorstand der Synagoge,<br />

mit seiner Frau feiert er dort regelmäßig<br />

Schabbat und die hohen jüdischen Feiertage.<br />

Ihr Leben habe sich geändert, und<br />

ihre katholischen Kinder wüssten das:<br />

„Weihnachten gibt es für meine Frau<br />

und mich nicht mehr, und meinen Enkeln<br />

sage ich: Das sind keine Weihnachtsgeschenke,<br />

sondern Geschenke zu Chanukka.<br />

Und ihnen“, sagt er lachend, „ihnen<br />

ist das egal.“<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

feb22.indb 29 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:56


MATOK & MAROR<br />

Die französische Präposition „chez“<br />

ist hier äußerst irreführend. Denn<br />

beim Imbiss Chez Berl handelt es<br />

sich doch um Speisen, die sowohl aus der<br />

osteuropäischen wie auch israelisch-mediterranen<br />

Küche stammen. Das sieht man<br />

schon an der Klientel, die sich vom späten<br />

Vormittag an bis nach 15 Uhr um die Budel<br />

scharrt. Zwei Jeschiwa-Burschen mit ihren<br />

Rollern holen sich gebratene Hühnerkeulen,<br />

Pommes und Salzgurken, um diese in<br />

der nahegelegenen Lernstube noch warm<br />

zu verspeisen. Eine junge Mutter kauft<br />

gleichzeitig frische Hotdogs für ihre unruhigen<br />

Zwillinge im Kinderwagen.<br />

Nichts deutet hier auf französische Eleganz<br />

hin, ganz im Gegenteil, hier fühlt<br />

man sich heimisch-nostalgisch und denkt<br />

an die Jugendzeit im koscheren Elternhaus<br />

zurück. Dieses Gefühl vermitteln auch die<br />

Besitzer des Imbisses und der koscheren<br />

Fleischerei. Das Ehepaar Jaffa (Scheindl)<br />

und Bernat (Berl) Ainhorn lebt seit 1976 in<br />

Wien. Die jeweiligen Familien stammen<br />

ursprünglich aus Munkács und Szöllös (aus<br />

einst ungarischem, später ukrainisch-russischem<br />

Gebiet) und kannten einander bereits<br />

aus der alten Heimat, als sie 1971 nach<br />

Israel auswanderten. Denn alle blieben ihren<br />

erlernten Berufen treu: Der Vater von<br />

Jaffa Ainhorn, geborene Friedmann, war<br />

Schächter, der Vater von Berl Ainhorn war<br />

Mohel*. In den naheliegenden Orten half<br />

man einander mit dem religiösen Personal<br />

ständig aus.<br />

In der ersten koscheren Fleischerei in<br />

Wien nach 1945 in der Großen Pfarrgasse,<br />

bei Resetritsch, begann Ainhorn seine Tätigkeit<br />

als Maschgiach (Koscher-Aufseher),<br />

bevor er seine eigene Fleischerei vor über<br />

35 Jahren eröffnete. Schwiegersohn Jitzchak<br />

Hager entwickelte die Idee des Imbisses:<br />

„So frisches Fleisch wie bei uns<br />

wird kaum wo angeboten und verarbeitet“,<br />

lacht Jaffa Ainhorn. „Zweimal in der<br />

Woche gibt es frisches Hühnerfleisch und<br />

einmal Kalbfleisch.“<br />

Imbiss Chez Berl:<br />

Schwärmen vom koscherknusprigen<br />

Schawarma<br />

Vor allem heimisch-vertraute Speisen gibt es in der Fleischerei<br />

Bernat Ainhorn in der Stadtgutgasse auf der„Mazzesinsel“.<br />

„So frisches Fleisch<br />

wie bei uns wird kaum<br />

wo angeboten und<br />

verarbeitet“, freut<br />

sich Jaffa Ainhorn im<br />

WINA-Gespräch.<br />

WINA- TIPP<br />

IMBISS CHEZ BERL<br />

Koscher-Fleisch Bernat Ainhorn<br />

Große Stadtgutgasse 7, 1020 Wien<br />

+43/(0)1/214 56 21<br />

Di.– Do., 8– 18.30 Uhr; Fr., 8– 12 Uhr;<br />

Imbiss: Di.– Do., 12– 16 Uhr<br />

Der Imbiss ist nur von Dienstag bis Donnerstag<br />

von 12 bis 16 Uhr geöffnet und bietet<br />

wunderbare heimische Gerichte an:<br />

Kalbsrippen (klein und groß zwischen 18<br />

und 20 €); Kalbsschnitzel mit Erdäpfel-Mayonnaise-Salat<br />

oder Pommes (22 €); Leberkäsescheibe<br />

oder Hühnerkeule um jeweils<br />

7,50 €; und koschere Würstel gibt es schon<br />

um 3,50 €. Weiters auf der Karte: saftige<br />

Hamburger (5 €), Wurstgulasch mit Beilage<br />

(12 €) oder reguläres Rindsgulasch mit<br />

Beilage (15 €); Gefülltes Kraut um wohlfeile<br />

7,50 €. Herrliches Pastrami holt man sich<br />

von der gekühlten Fleischvitrine und lässt<br />

es sich mit diversen Beilagen in eine Pita<br />

füllen. Als Beilagen kann man frische Salate<br />

wählen, wie zum Beispiel Coleslaw, israelischen<br />

Salat oder frischen Krautsalat.<br />

Was man in der osteuropäischen Küche<br />

des Stetls freilich nicht kannte, war<br />

Schawarma, das geschnetzelte Fleisch<br />

vom Großspieß. Bei Chez Berl ist das eine<br />

wahre Köstlichkeit: Hier werden mehrere<br />

Fleischsorten aneinander gereiht, das ergibt<br />

Knusprig-Würziges von allem. <br />

Paprikasch<br />

<br />

Heimisch bis<br />

nostalgisch:<br />

Die Fleischerei<br />

Ainhorn mit<br />

ihrem angegliederten<br />

Imbiss.<br />

* Ein Mohel ist ein Fachmann, der die Brit Mila, die männliche<br />

Beschneidung nach jüdischer Sitte, vollzieht.<br />

© Reinhard Engel<br />

30 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 30 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58


WINAKOCHT<br />

Sind Gugelhupf und Kugel<br />

eigentlich kulinarische Verwandte, …<br />

… und was hat es mit den fehlenden Tassen im Schrank auf sich? Die Wiener Küche steckt<br />

voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Koch-<br />

Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion!<br />

zwei Süßspeisenherzen schlagen in meiner Brust: das<br />

eine für den Wiener Gugelhupf, das andere für süße<br />

Kugel-Varianten. Auch wenn die Zubereitung divergiert,<br />

die Bezeichnungen Gugel und Kugel klingen ja<br />

durchaus ähnlich. Besteht vielleicht eine kulinarische<br />

Verwandtschaft? <br />

Julia S. aus Wien<br />

Gerne haben wir für Sie „Stammbaumforschung“<br />

betrieben. Dabei sind wir auf<br />

mehrere Quellen gestoßen, die die beiden von<br />

Ihnen erwähnten Süßspeisen tatsächlich einer<br />

kulinarischen Familie zuordnen. So schreibt<br />

zum Beispiel das Kuratorium kulinarisches<br />

Erbe Österreichs: „Eng verwandt mit dem Gugelhupf<br />

ist die/der Kugel, eine Speise der jüdischen<br />

Küche.“<br />

Der Kugel und der Gugelhupf sind also<br />

so betrachtet zwei Äpfel vom selben Stamm,<br />

auch wenn sie aufgrund ihrer unterschiedlichen<br />

Zubereitung und Zutaten kaum noch<br />

als solche wahrgenommen werden. Eine pikante<br />

Kugelvariante und ein Gugelhupf muten<br />

dann schon eher wie Apfel und Birne an,<br />

die man bekanntlich nicht miteinander vergleichen<br />

kann. Und bereiten Köchin oder<br />

Koch den Kugel aus dem Schabbat-Rezeptbuch<br />

seinen Namen ignorierend dann auch<br />

noch in einer flachen, eckigen Auflaufform zu,<br />

ist die Verwandtschaft zum Gugelhupf auch<br />

optisch nicht mehr zu erahnen. Es gibt jedoch<br />

noch Haushalte, in denen man die familiäre<br />

Verbindung der beiden Speisen in der Küche<br />

ehrt. Dort wird der Kugel, wie dereinst, rund<br />

oder eben als Guglhupf (!) serviert.<br />

Bei der kulinarischen Ahnenforschung haben<br />

wir übrigens festgestellt, dass der Stammbaum<br />

über die Jahrhunderte ganz schön viele<br />

regionale Äste ausgetrieben hat. So findet man<br />

in Zeiten, da weltweit mehr gegooglet als gegugelhupft<br />

wird, viele nahe und auch weit entfernte Verwandte<br />

von Gugelhupf und Kugel, die sich zum Beispiel Kärntner Reindling,<br />

deutscher Napf- oder Setzkuchen, französischer Savarin<br />

oder auch besoffener Kapuziner, Kuglof in Ungarn, Tulband in<br />

den Niederlanden oder Bábovka in Tschechien nennen. Es gibt<br />

NUDEL-KUGEL MIT<br />

ZIMT UND ROSINEN<br />

ZUTATEN<br />

für 8 bis 10 Portionen:<br />

500 g Bandnudeln<br />

250 g Rosinen<br />

2 EL Zimt<br />

2 EL Zucker<br />

1 EL Kartoffelmehl<br />

4 EL neutrales Pflanzenöl<br />

1 Prise Salz<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Backrohr auf 180°C vorheizen. Die<br />

Nudeln weichkochen, 1 EL Zimt ins<br />

Kochwasser geben. Nudeln abgießen<br />

und 200 ml des Kochwassers<br />

für später aufheben. Nudeln mit<br />

Rosinen, Zucker, einem 1 EL Zimt<br />

und der Prise Salz in einer großen<br />

Schüssel vermischen. In einer zweiten<br />

Schüssel Kartoffelmehl mit<br />

dem Kochwasser und Öl mit einem<br />

Handrührgerät verquirlen. Die Mischung<br />

in die Schüssel mit den Nudeln<br />

geben und alles gut durchmischen.<br />

Nudelmasse in eine runde,<br />

eingeölter 23-cm-Kuchenform geben<br />

und festdrücken. Im Rohr ca.<br />

30 Minuten backen, bis die Oberfläche<br />

des Auflaufs braun und knusprig<br />

ist. Vor dem Servieren ab- oder<br />

auch ganz auskühlen lassen.<br />

sogar einen Kugel-Onkel in Amerika: Jüdische<br />

Familien, die auswanderten, nahmen<br />

die Kugel-Spezialität mit, wo sie seitdem als<br />

Bundt Cake (von der Bundform) bekannt ist.<br />

Der aus einer jüdischen Familie stammende<br />

Dichter Heinrich Heine hat den Kugel übrigens<br />

sehr geschätzt und ihn einmal in einem<br />

Brief als „heiliges Nationalgericht“ der<br />

Juden bezeichnet. Welche Zubereitungsart er<br />

bevorzugte, ist leider nicht überliefert. Unser<br />

Rezept – natürlich in einer von Ihnen präferierten<br />

süßen Variante – hätte ihm aber sicher<br />

gemundet.<br />

Servus und Schalom,<br />

ich hoffe, ihr glaubt nicht, ich hätte nicht mehr alle<br />

Tassen im Schrank. Aber ich würde gerne wissen,<br />

woher dieser Spruch kommt. Und weil ihr ja KüchenexpertInnen<br />

seid, dachte ich, meine „Geschirrfrage“<br />

wäre bei euch vielleicht gut aufgehoben …<br />

<br />

Daniel W., Klosterneuburg<br />

Mit Geschirr hat die Redewendung zwar<br />

nichts zu tun, wir helfen Ihnen aber<br />

dennoch gerne weiter. Die „Tassen“, um die es<br />

hier geht, wirken nur auf den ersten Blick wie<br />

urdeutsche Gefäße für Heißgetränke – die sich<br />

im Übrigen vom arabischen „tas“ für „Schälchen“<br />

ableiten. Hinter den „Tassen“ in Ihrem<br />

Spruch verbirgt sich hingegen ein jiddisches<br />

Wort, dem man seine Herkunft nicht mehr<br />

ansieht, wurde es doch umgangssprachlich<br />

eingeschliffen. Ursprünglich leitet es sich von<br />

„toshia“ ab, was so viel bedeutet wie Klugheit<br />

oder (Geistes-)Witz. Wenn also jemand „toshia“<br />

fehlt in seinem Oberstübchen-Schrank,<br />

dann tickt er nicht mehr ganz richtig oder es<br />

fehlt ihm zumindest an Verstand. Folglich hilft<br />

jemandem mit „Sprung in der Tasse“ auch<br />

kein Porzellankleber, und eine „trübe Tasse“<br />

wird auch mit Klarspüler zu keiner auf- und anregenden Persönlichkeit.<br />

Es kann aber durchaus etwas bringen, mal wieder den Geschirrspüler<br />

auszuräumen, wenn man feststellt, dass nicht mehr<br />

alle Tassen im Schrank sind.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

feb22.indb 31 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58


HIGHLIGHTS | 03<br />

Genau verzaubert<br />

Premonition: Miguel Rothschilds<br />

Fotoband über Vorahnung und<br />

anderes<br />

Überraschung. Und Überraschendes.<br />

Optische Surprisen en gros findet man<br />

im fotografischen Werk des 1963 in Argentinien<br />

geborenen, dort aufgewachsenen und<br />

seit Jahren in Berlin ansässigen Fotografen<br />

Miguel Rothschild. Überraschendes, das wie<br />

delirierende Träume ist.<br />

In seinem neuen Bildband Premonition<br />

mit Texten der Kunstwissenschaftlerin Helen<br />

Adkins führen die 50 Farbabbildungen<br />

Verschobenheitsanmutungen ebenso<br />

vor wie Ängste im Pocketformat, Westentaschenapokalypsen,<br />

Vorahnungen. Und<br />

eben so, als Vorahnung, lässt sich der Titel<br />

auch ins Deutsche übersetzen.<br />

Rothschild bot im Herbst 2011 im Jüdischen<br />

Museum Berlin einen Ein- und Ausblick<br />

auf zwei konzeptuelle Serien,<br />

auf Der Sturm und Nightmare. Damals<br />

hieß es im Begleitkatalog aufschlussreich:<br />

„Die Bilder Nightmare<br />

und Der Sturm scheinen wie aus<br />

der Zeit gefallen und erinnern an<br />

Bilder der Spätromantiker, die eine<br />

idealisierende Sicht der Natur mit<br />

genauer Beobachtung ihrer Phänomene<br />

verbanden.“ Das macht die<br />

suggestive Kraft des Bild-Finders<br />

Miguel Rothschild aus. A.K.<br />

PREMONITION.<br />

Herausgegeben von<br />

Miguel Rothschild.<br />

Kerber, 128 S.<br />

WAGNER & KLEZMER<br />

Der neue jüdische Sound<br />

in Deutschland<br />

Der bekannte Dj und Musiker Yuriy<br />

Gurzhy ist seit seiner Emigration von<br />

der Ukraine nach Berlin auf der Suche<br />

nach DEM aktuellen jüdischen<br />

Sound Deutschlands. In seinem ersten<br />

Buch Richard Wagner und die Klezmerband<br />

mischt er statt Sound spannende<br />

Geschichten zu einer Reise von<br />

den verrauchten Berliner Clubs bis in<br />

die Frankfurter Festhalle.<br />

ariella-verlag.de<br />

MUSIKTIPPS<br />

THE PEOPLE’S PICTURES:<br />

Lee Friedlander.<br />

Eakins Press Foundation, 168 S.<br />

Exakt gefunden<br />

Lee Friedlander: ein Lebensbuch-<br />

Querschnitt in 147 Duoton-Fotografien<br />

Seit mehr als sechzig Jahren ist das visuelle<br />

Amerika kaum vorstellbar ohne<br />

Lee Friedlander. Er, inzwischen 87, ist ein<br />

an Neugier nicht nachlassender Fotograf.<br />

Das bewiesen seine großen Bildserien Self<br />

Portraits, American Monuments und American<br />

Musicians. Die Monografie Lee Friedlander<br />

– The People’s Pictures, die 147 in edlem<br />

Duoton gedruckte Aufnahmen enthält,<br />

zeigt das, was in seinem weitgespannten<br />

Opus am zugänglichsten ist und am demokratischsten<br />

– Menschen. Stolze Menschen.<br />

Ihre Rechte einfordernde Menschen. Menschen<br />

mit ihren Vorbildern. 1968 war das<br />

zum Beispiel Martin Luther King. Menschen,<br />

die ganz unverstellt und ungestellt<br />

auf der Straße aufgenommen wurden.<br />

Menschenkonstellationen. Es<br />

sind die „entscheidenden Momente“<br />

(Cartier-Bresson).<br />

Zur gleichen Zeit stellt Friedlander<br />

auch reflexive Ironie unter<br />

Beweis. So das Frontispiz-<br />

Bild, das eine Meute entfesselt<br />

knipsender Pressefotografen<br />

zeigt. Oder weiter hinten im<br />

Buch, wenn eine Giraffe neugierig<br />

in dieselbe Richtung linst<br />

wie eine Fotografierende. A.K.<br />

AVNI<br />

1998, mit 71 Jahren, erhielt Tzvi Avni<br />

den Preis des Israelischen Premierministers<br />

für sein Lebenswerk. Hierzulande<br />

ist er immer noch zu unbekannt. Das<br />

lässt sich ändern. Mit seinem Klavierkonzert,<br />

das die Pianistin Heidrun Hoffmann, die sich<br />

seit Jahren Avni widmet, und die Deutsche Radio<br />

Philharmonie aus Avnis Geburtsstadt Saarbrücken<br />

für das Label Hänssler eindrücklich eingespielt<br />

hat. Das Plus dieser CD: die Herbstlichen<br />

Zwischenspiele, From There and Then und das intensiv<br />

kurze Andante meditativo.<br />

BERNSTEIN<br />

Ja, der Garten, ach, mehr denn je<br />

Rückzugsort. Das meinte als Satire<br />

Voltaire schon 1759 in Candide. Aus<br />

dem grandios bissigen Roman machte Leonard<br />

Bernstein 1956 ein schwungvolles Musical, das<br />

er 1974 überarbeitete. Marin Alsop erarbeitete<br />

2018 eine eigene Fassung, die in London bejubelt<br />

wurde. Mit Recht! Auch wegen der Besetzung mit<br />

Anne Sofie von Otter, Leonardo Capalbo, Thomas<br />

Allen und dem prächtig aufgelegten, von<br />

Alsop angeleiteten London Symphony Orchestra.<br />

Hinreißende Tanz-im-Garten-Musik!<br />

WEINBERG<br />

Dmitri Schostakowitsch verehrte, ja<br />

vergötterte die zweiaktige Oper Die<br />

Passagierin, , op. 97 von Mieczyslaw<br />

Weinberg (1919–1996). 1996). Und doch ist das kom-<br />

plexe Werk über die Schoah noch immer eher<br />

ein Bühnenstiefkind. Nun präsentiert Capriccio<br />

den Mitschnitt der hochgelungenen Grazer Inszenierung<br />

im Oktober 2021 mit Roland Klut-<br />

tig, den Grazer Philharmonikern und den sehr<br />

guten Solisten Dshamilja Kaiser, Nadja Stefanoff<br />

und Markus Butter (Capriccio). So bewe-<br />

gend wie musikalisch farbig. Hörenswert. A.K.<br />

32 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 32 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58


Jetzt geht es<br />

alle an<br />

In ihrem Jugendroman Dazwischen: Ich ließ Julya<br />

Rabinowich 2016 ihre Heldin Madina erzählen, wie es ist,<br />

flüchten zu müssen und dann zu merken: Auch im vermeintlich<br />

sicheren Land ist nicht alles eitel Wonne. Eine Asylunterkunft hat<br />

wenig gemeinsam mit einer Ferienanlage. Nun legte die Autorin<br />

mit Dazwischen: Wir eine Fortsetzung vor.<br />

Von Alexia Weiss<br />

© Hanser Verlag<br />

Madina hat sich verändert. Der<br />

Kampf ums Hier-bleiben-Dürfen<br />

ist gewonnen, mit ihrer Familie<br />

wohnt sie nun bei ihrer Freundin<br />

Laura. Stück für Stück versucht sie zu leben,<br />

wie eine Jugendliche hier zu Lande<br />

lebt, bemüht sich dabei aber auch, niemanden<br />

vor den Kopf zu stoßen. Noch<br />

sucht sie ihren Platz irgendwo zwischen<br />

den Usancen im Herkunfts- und jenen im<br />

Zufluchtsland.<br />

Dem Grenzen-Ausloten kommt die innerliche<br />

vorauseilende Fürsorge vor allem<br />

für die Mutter in die Quere. Madina ist für<br />

eine Jugendliche sehr erwachsen geworden,<br />

vielleicht auch, weil ihr nun sehr viel<br />

Verantwortung zukommt: Die Mutter leidet<br />

an Depressionen, für den kleinen Bruder<br />

ist sie daher mehr Mutter als Schwester.<br />

Und der Vater ist nicht mehr hier. Ihn<br />

vermisst sie, immer wieder kreisen ihre<br />

Gedanken um ihn. Die Beziehung mit<br />

Markus ist neues Terrain. Und dann ergeben<br />

sich auch noch in der Freundschaft<br />

mit Laura Bruchstellen.<br />

Nein, obwohl Madina nun vermeintlich<br />

in Sicherheit ist, im Paradies ist sie<br />

nicht angelangt, im Kleinen nicht und im<br />

Großen auch nicht. Vor Krieg und Hass<br />

ist sie geflohen, um sich nun einem ausländerfeindlichen<br />

Mob gegenüber zu sehen.<br />

Mit rassistischen Schmierereien<br />

fängt es an – „Asylanten – weg mit dem<br />

Dreck“ –, dann kommen die „Ausländer<br />

raus!“-Rufe. Zuerst auf dem Hauptplatz,<br />

später vor der Türe. Wenn eine grölende<br />

Menge vor dem Haus steht, mit Fackeln in<br />

Julya Rabinowich:<br />

Dazwischen: Wir.<br />

Roman, Hanser <strong>2022</strong><br />

256 S., € 17,94<br />

der Hand, dann ist das schon ein ziemlich<br />

bedrohliches Szenario.<br />

Der Titel „Dazwischen: Wir“ ist allerdings<br />

Programm: längst geht es nicht mehr<br />

nur um die Geschichte Madinas. Julya<br />

Rabinowich schreibt hier unser aller<br />

Geschichte: Wie reagieren wir, wenn<br />

Menschen in unserer Mitte von anderen<br />

Menschen ausgegrenzt und angefeindet<br />

werden? Wie entwickelt sich ein Mob, wie<br />

wird er stärker, und wie können sich ihm<br />

andere entgegenstellen? Zivilcourage ist<br />

hier gefragt. Angesichts dessen, was wir<br />

derzeit auf den Straßen Wiens im Rahmen<br />

der Proteste von Coronamaßnahmengegnern<br />

nahezu jeden Samstag erleben,<br />

sind das Fragen, die aktueller nicht<br />

sein könnten.<br />

Gleichzeitig entwickelt Rabinowich vor<br />

allem die Erzählerin Madina geschickt<br />

Julya Rabinowich schreibt hier unser aller Geschichte:<br />

Wie reagieren wir, wenn Menschen<br />

in unserer Mitte von anderen Menschen ausgegrenzt<br />

und angefeindet werden?<br />

weiter, fügt sanft statt plakativ ein Puzzle<br />

der Zerrissenheit zusammen. Auch wenn<br />

hier große gesellschaftliche Fragen mitverhandelt<br />

werden, ist es dennoch eine<br />

Coming-of-age-Geschichte, die die Autorin<br />

feinfühlig erzählt. Und ja, da merkt<br />

man, dass sie weiß, wovon sie spricht.<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

feb22.indb 33 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58


Bilder für die Ewigkeit<br />

Dora und Anna<br />

Ein zeitloses Leben<br />

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Dora und<br />

Anna Kallmus wird von der Kulturpublizistin Eva Geber<br />

anhand der Tagebücher und Aufzeichnungen von Dora,<br />

die als die Fotografin Madame D’Ora berühmt wurde, im<br />

Buch Madame D’Ora – Tagebücher nacherzählt.<br />

Von Viola Heilman<br />

„Auf ihr, da<br />

krabbelt eine<br />

Mücke zu Rad,<br />

die andere geht<br />

zu Fuß.“<br />

Dora Kallmus<br />

lenciaga, durch seine Kontakte doch noch<br />

ein Visum zur Ausreise zu bekommen. Als<br />

dann im März 1943 tatsächlich zwei Visa<br />

für beide Schwestern nach Spanien ausgestellt<br />

werden, kommt die Die Rettung für<br />

Anna zu spät. „Und der Schmerz um Anna<br />

entzündet die Wunde“, schreibt Dora.<br />

Als die deutschen Truppen 1942 in Mâcon<br />

einrückten, flüchtete Dora weiter südlich<br />

nach Lalouvesc. Sie wohnte dort bei<br />

einer Familie, die ihr Unterkunft gab. Aus<br />

Dankbarkeit und vielleicht auch aus Langeweile<br />

flickte sie deren Wäsche. In Lalouvesc<br />

lebte Dora bis Ende 1946 unter ständiger<br />

Gefahr, verhaftet zu werden und in<br />

ein Lager zu kommen.<br />

Die Lebensgeschichte der beiden Frauen,<br />

Dora und Anna Kallmus, hat jetzt Eva Geber<br />

anhand der Tagebücher und Aufzeichnungen<br />

von Dora im Buch Madame D’Ora<br />

– Tagebücher aus dem Exil herausgegeben.<br />

Schon 1992 hat Eva Geber<br />

über Dora Kallmus in<br />

Die Frauen Wiens geschrieben.<br />

Damals lernte sie Monika<br />

Faber vom Wiener Photoinstitut<br />

Bonartes kennen,<br />

die bereits einen umfangreichen<br />

Bildband über Madame<br />

D’Ora herausgegeben<br />

hatte.Aber den Entschluss,<br />

das nun erschienene Buch<br />

zu schreiben, hat Eva Geber 2018 nach<br />

dem Besuch einer großen Ausstellung im<br />

Leopold Museum über das Werk von Madame<br />

D’Ora gefasst. Bei dieser Ausstellung<br />

gab es auf Tafeln verschiedene Zitate von<br />

Dora, die als Quellenangabe auf die Ta-<br />

Mâcon und Lalouvesc sind<br />

zwei bezaubernde französische<br />

Kleinstädte etwa vierhundert<br />

Kilometer südlich<br />

von Paris entfernt. Diese Entfernung<br />

zu Paris war für die berühmte Fotografin<br />

Dora Kallmus, bekannt unter ihrem<br />

Künstlernamen Madame D’Ora, lebensrettend,<br />

als 1940 die Nationalsozialisten<br />

in Paris einmarschierten und den Norden<br />

Frankreichs besetzten. Sie verkaufte augenblicklich<br />

ihr Atelier an die Enkel des<br />

Dramatikers Tristan Bernard, arbeitete allerdings<br />

noch dort bis zur großen Razzia<br />

im Juli 1942. Danach flüchtet sie, damals<br />

61 Jahre alt, mit einer jüdischen Mitarbeiterin<br />

aus ihrem Atelier vor den deutschen<br />

Besatzern in die Zone Libre. Mâcon<br />

hat eine imposante Brücke über die Saône,<br />

den Pont Saint-Laurent, dessen Steinbögen<br />

sich im Fluss malerisch spiegeln. Dora<br />

beschreibt die Stadt und<br />

die Brücke in ihrem Tagebuch<br />

und vermerkt an einer<br />

Stelle humorvoll: „Auf<br />

ihr, da krabbelt eine Mücke<br />

zu Rad, die andere geht<br />

zu Fuß.“ Sie schreibt aber<br />

auch, dass sie sich schämt,<br />

an einem so schönen Ort<br />

zu sein, an dem es ihr gut<br />

geht, während gleichzeitig<br />

ihrer Schwester Anna<br />

in Wien die Deportierung<br />

droht. Dora bemühte sich von Paris aus,<br />

ein Visum für die geliebte Schwester zu<br />

bekommen. Wie auch schon in Wien,<br />

kannte Dora in Paris sehr einflussreiche<br />

Menschen. Sie wandte sich an ihren<br />

Freund und Modeschöpfer Cristobal Bagebücher<br />

und Aufzeichnungen hinwiesen.<br />

Vermerkt war auch, dass Dora diese<br />

Texte veröffentlichen wollte, aber abgelehnt<br />

wurde. „Ablehnung gegenüber einer<br />

Frau halte ich nicht aus, und deswegen<br />

habe ich begonnen, mehr darüber<br />

herauszufinden.“<br />

Anfänglich wusste Eva Geber nicht, dass<br />

Dora eine Schwester hatte, mit der sie sehr<br />

eng verbunden war. Anna war vier Jahre<br />

älter als Dora und lebte ein zurückgezogenes<br />

Leben in Frohnleiten bei Graz. Warum<br />

Anna ein Haus in Frohnleiten kaufte, um<br />

dort zu leben, ist bis heute nicht geklärt.<br />

Vielleicht war es die Haushälterin von Arthur<br />

Schnitzler, die mit Anna befreundet<br />

war und ihr diesen Hauskauf empfahl. Für<br />

beide Schwestern war die „Villa Doranna“<br />

in Frohnleiten ein Rückzugsort und eine<br />

Möglichkeit für Dora, sich von ihrer intensiven<br />

Arbeit zu erholen.<br />

Die Schwestern wuchsen Ende des 19.<br />

Jahrhunderts als Töchter eines bekannten<br />

Rechtsanwalts in wohlhabenden Verhältnissen<br />

in Wien auf und wurden nach dem<br />

Tod der Mutter von englischen und französischen<br />

Gouvernanten erzogen. Dora<br />

wollte Fotografin werden und ging 1907<br />

nach Berlin, um Fotografie bei Nikolaus<br />

Perscheid zu lernen. Für Dora war diese<br />

Ausbildung prägend, so schreibt sie, „Perscheid,<br />

das war für die Ewigkeit.“<br />

Zurück in Wien eröffnete Dora ihr erstes<br />

Atelier und kam bei der Wiener Gesellschaft<br />

als Fotografin sehr schnell in Mode.<br />

Doch bald wird Dora Wien zu eng und sie<br />

übersiedelt 1925 nach Paris, wo sie ebenso<br />

erfolgreich in ihrem Atelier bekannte Persönlichkeiten<br />

fotografiert.<br />

34 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 34 02.02.<strong>2022</strong> 13:48:58


Madame D’Ora und ihre<br />

Schwester Anna mit ihren<br />

Hunden vor dem Haus in Frohnleiten,<br />

Steiermark. Foto von<br />

Franz Xaver Setzer, um 1935.<br />

Dora und Anna hatten ein besonders<br />

enges Verhältnis. Aus dem Briefwechsel<br />

zwischen den Schwestern liest man,<br />

wie unglücklich Dora war, wenn sie ein<br />

paar Tage nichts von Anna hörte. Der<br />

rege Briefwechsel zwischen den Schwestern<br />

wurde besonders intensiv, als Anna<br />

das Haus in Frohnleiten durch Arisierung<br />

verloren hatte und aufgrund der Ausweisung<br />

aller Juden aus der Steiermark nach<br />

Wien in ihre Wohnung im 5. Bezirk mit einem<br />

Geschwisterpaar zog. Dieses Zusammenleben<br />

war für die an Einsamkeit ge-<br />

wöhnte Anna nicht leicht zu ertragen. Sie<br />

hoffte mit dem Erlös des Hauses aus Österreich<br />

fliehen zu können, aber da das Geld<br />

von den Nationalsozialisten nie überwiesen<br />

wurde, war Anna gezwungen, in Österreich<br />

zu bleiben und wurde 1941 nach<br />

Łódź in Polen deportiert und im Ghetto<br />

ermordet.<br />

Schon im Moment der Flucht aus Paris<br />

und mit der zunehmenden Angst um<br />

die Schwester ändert Dora die Themen<br />

in ihrer Kunst und ihre Lebenseinstellung.<br />

Der frühere Wunsch nach Luxus<br />

Eva Geber (Hg.):<br />

Madame D’Ora.<br />

Tagebücher aus<br />

dem Exil.<br />

Mandelbaum <strong>2022</strong>,<br />

254 S., € 24<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

feb22.indb 35 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:00


Frauengeschichte(n)<br />

EVA GEBER<br />

ist Grafikerin, Autorin, Kulturpublizistin<br />

35 Jahre AUF-Redaktion, Mitglied der Grazer AutorInnenversammlung,<br />

2009 Wiener Frauenpreis, 2013 Anerkennung<br />

Bruno Kreisky Preis für das politische Buch Der Typus der kämpfenden<br />

Frau, 2018 Goldenes Verdienstzeichen des Landes<br />

Wien, 2021 Theodor Kramer Preis.<br />

und Verschwendung weicht extremer<br />

Bescheidenheit. Nachdem sie in ein kleines<br />

Dachzimmer in einem Hotel in Mâcon<br />

gezogen ist, schreibt sie in ihr Tagebuch:<br />

„Ich will nie mehr in etwas Größerem leben,<br />

alles was drüber ist, ist nur für den<br />

Neid des Nachbarn.“ Der Satz fängt allerdings<br />

an mit den Worten: „Früher wollte<br />

ich 10 Zimmer.“ Sie schreibt weiter, dass<br />

die neue Einstellung ihrer Schwester Anna<br />

gefallen hätte, „sie hätte mich nicht wiedererkannt.“<br />

Scheinbar hatte Anna immer<br />

wieder kritisiert, was sie im Leben von<br />

Dora nicht richtig fand. Auch nach dem<br />

Krieg, zurück in Paris, hatte Dora auch nur<br />

mehr eine Dunkelkammer mit acht Quadratmetern<br />

und wohnte bei einer Dame als<br />

Untermieterin.<br />

Die Arbeiten von Dora gehen ab 1946<br />

in eine völlig andere Richtung. Sie fotografiert<br />

„Displaced Persons“ in den<br />

Flüchtlingslagern der UNRRA und in den<br />

Schlachthäusern von Paris das industrielle<br />

Töten. Die Ähnlichkeit zu Bildern aus<br />

dem Holocaust ist unübersehbar. Haare,<br />

Zähne, Tierteile sind die Sujets. Seltsamerweise<br />

spricht Dora mit niemandem<br />

über diese Arbeit. Aus Angst fragt sie offenbar<br />

auch niemand, warum sie diese<br />

Bilder macht. 1958 hat Dora in Paris eine<br />

große Retrospektive über ihr Lebenswerk,<br />

die Jean Cocteau eröffnet. Auch hier wird<br />

die Thematik der Bilder nicht hinterfragt.<br />

Fotografien bekannter Persönlichkeiten in<br />

einem luxuriösen Ambiente werden neben<br />

Tierkadavern in den Pariser Schlachthöfen<br />

gezeigt.<br />

Ab 1946 kämpfte Dora von Paris aus,<br />

um das Haus in Frohnleiten wieder in<br />

ihr Eigentum zu bekommen. Dabei halfen<br />

ihr ein Rechtsanwalt und ein Sammler<br />

in Deutschland, der zu einem engen<br />

Freund geworden war. Es gelang 1948, das<br />

Haus wieder an Dora zu restituieren, allerdings<br />

blieben die bisherigen Bewohner<br />

im Haus, und Dora bekam nur eine kleine<br />

Kammer zu ihrer Benützung.<br />

Die Recherche zu dem jetzt erschienenen<br />

Buch stellten Eva Geber vor große Probleme<br />

„Ich habe zuerst alle Stellen orten<br />

müssen, wo ich Material finde. Da war zuerst<br />

das Archiv im Preus-Museum für Fotografie<br />

in Horten, Norwegen, dann der Briefwechsel,<br />

der in Hamburg im Museum für<br />

Kunst und Gewerbe war. Reisen war wegen<br />

der Pandemie unmöglich. Vorher geplante<br />

Reisen wurden kurzfristig storniert. Aber<br />

zum Glück hatte das Team im Photoinstitut<br />

Bonartes fast das gesamte Material in<br />

ihrem Archiv“, das Eva Geber<br />

zugeschickt bekam. Problematisch<br />

war auch die Qualität<br />

der Unterlagen. Nur schwer<br />

zu entziffern waren die Aufzeichnungen<br />

von Dora durch<br />

ihre wechselnden Schriftbilder,<br />

die durch unterschiedliche<br />

Stimmungen entstanden.<br />

Die intensive Arbeit mit<br />

dem schriftlichen Nachlass<br />

hat Eva Geber den Charakter<br />

und die Lebenseinstellung<br />

von Dora Kallmus nachvollziehen<br />

lassen. Sie beschreibt<br />

sie als Misanthropin, die ihre<br />

Probleme mit den Menschen<br />

Madame D’Ora,<br />

hier auf einem<br />

Selbstbildnis aus<br />

dem Jahr 1929, zählte<br />

zu den bekanntesten<br />

Fotograf:innen ihrer<br />

Zeit.<br />

hatte, die sie umgaben. Sie beschrieb oft<br />

in komischer Weise diesen Zustand. Ein<br />

treffender Satz dazu ist: „Ich habe lieber<br />

Kontakt zu schlechten Menschen mit guten<br />

Manieren als zu guten Menschen mit<br />

schlechten Manieren.“<br />

Infolge eines Autounfalls 1959 litt Mme<br />

D’Ora an zunehmender Beeinträchtigung<br />

ihres Gedächtnisses. Sie verbrachte ihre<br />

letzten Lebensjahre bei einer Freundin ihrer<br />

ermordeten Schwester Anna in Frohnleiten.<br />

1963 verstarb Dora 82-jährig und<br />

wurde zunächst auf dem Friedhof Frohnleiten<br />

begraben. Allerdings wurde dieses<br />

Grab aufgelöst, wobei der Leichnam im<br />

Grab verblieb, und ein neues Grab wurde<br />

darüber errichtet. Über Intervention des<br />

Präsidenten der Jüdischen Gemeinde<br />

Graz, Elie Rosen, wurden die sterblichen<br />

Überreste von Dora Kallmus am 24. Oktober<br />

2019 exhumiert, überführt und in einem<br />

Ehrengrab auf dem Jüdischen Friedhof<br />

Graz beigesetzt. 2020 wurden dann<br />

auch zwei Stolpersteine vor der ehemaligen<br />

Villa Doranna gesetzt und eine Gedenktafel<br />

errichtet. Eva<br />

„Ablehnung<br />

gegenüber<br />

einer Frau halte<br />

ich nicht aus,<br />

und deswegen<br />

habe ich begonnen,<br />

mehr<br />

darüber herauszufinden.“<br />

Eva Geber<br />

Geber, die zu diesem Anlass<br />

eine Rede über die<br />

beiden Schwestern hielt,<br />

trug Stellen aus den Tagebüchern<br />

vor, die sich<br />

auf die Verfolgung von<br />

Anna und Dora Kallmus<br />

bezogen. Die Zuneigung<br />

der Schwestern, ihre<br />

Ängste und Sorgen, eine<br />

um die andere in ihrer<br />

Ausweglosigkeit, trieb<br />

dem anwesenden Publikum,<br />

darunter steirischer<br />

Prominenz, Tränen<br />

in die Augen.<br />

© Archiv Setzer-Tschiedel / Imagno / picturedesk.com<br />

36 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 36 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:02


Ein schwarzes Schaf<br />

flippt aus<br />

In seinem aberwitzigen Roman kaddish.com erzählt der<br />

Amerikaner Nathan Englander vom Dilemma<br />

eines Sohnes in den Zeiten des Internets.<br />

Von Anita Pollak<br />

Nathan Englander:<br />

kaddish.com.<br />

Deutsch von Werner<br />

Löcher-Lawrence.<br />

btb,<br />

240 S., € 12,40<br />

Schon bei der Schiwa für seinen verstorbenen<br />

Vater fühlt sich Larry<br />

höchst unwohl. Wie es während der<br />

Trauerwoche üblich ist, gehen Nachbarn<br />

und Freunde ein und aus im orthodoxen<br />

Haus seiner Schwester Dina in Memphis,<br />

dreimal täglich wird dort das Kaddisch gebetet,<br />

an dem Larry mehr nolens als volens<br />

teilnimmt. Doch als Dina von ihm als<br />

einzigem Sohn verlangt, dieses Totengebet<br />

für den Vater auch noch die nächsten<br />

elf Monate zu sprechen, und zwar, wie es<br />

das jüdische Gesetz vorschreibt, „achtmal<br />

am Tag“ in einer Synagoge, da flippt das<br />

schwarze Schaf der Familie total aus.<br />

„Glaubt wirklich jemand, dass G-tt mit<br />

einer Punktekarte dahockt und jedes von<br />

Larrys Gebeten mit einem Häkchen versieht?“<br />

Als säkularer Jude in Brooklyn lebend,<br />

hat sich Larry „postreligiös“ längst von seinem<br />

Glauben entfernt. Doch hier geht es<br />

um nichts weniger als um das ewige Seelenheil<br />

seines Vaters in der „Kommenden<br />

Welt“, Sein oder Nichtsein im „Gan Eden“,<br />

im Paradies.<br />

„Im Notfall“ könnte er diese Sohnespflicht<br />

an einen Stellvertreter auslagern,<br />

eröffnet ihm ein Rabbi. Schlaflos im Kinderbett<br />

seines Neffen liegend, findet Larry<br />

auf seinem Laptop surfend nach einer Pornoseite<br />

schließlich auch auf die rettende<br />

Website kaddish.com und besiegelt mit<br />

seiner Kreditkarte blitzartig den Handel<br />

mit Chemi, einem Jeschiwa-Studenten in<br />

Jerusalem, von dem er sogar ein Foto sieht.<br />

Metamorphosen. Zwanzig Jahre danach<br />

ist aus dem einstigen Abtrünnigen ein<br />

reuiger Rückkehrer geworden, aus Larry<br />

Reb Shuli, Lehrer in eben der orthodoxen<br />

Brooklyner Jeschiwa, an der er selbst<br />

lernte, ein glücklicher Ehemann und Vater<br />

zweier Kinder. Eine durchaus koschere<br />

Idylle, bis Shuli<br />

durch einen Schüler,<br />

der das Kaddischgebet<br />

für seinen verstorbenen<br />

Vater verweigert,<br />

eine Art Retraumatisierung<br />

erfährt, die<br />

ihn vollends aus der<br />

Bahn wirft. Eine Obsession<br />

ergreift ihn,<br />

er will von Chemi<br />

quasi sein Kaddisch-<br />

Recht zurück, aber<br />

dieser scheint in den<br />

Weiten des Internets,<br />

das Shuli mit Hilfe eines<br />

computeraffinen<br />

Schülers durchsucht,<br />

„Glaubt<br />

wirklich<br />

jemand, dass<br />

G-tt mit einer<br />

Punktekarte<br />

dahockt und<br />

jedes von<br />

Larrys Gebeten<br />

mit einem<br />

Häkchen<br />

versieht?“<br />

spurlos verschwunden.<br />

Alle flehenden<br />

Mails bleiben über Monate unbeantwortet,<br />

bis sich der Verzweifelte selbst nach<br />

Jerusalem auf und dort nach vielen harten<br />

Wochen eine ernüchternde Entdeckung<br />

macht. Dass es in dieser beinahe<br />

pathologischen Fallgeschichte dennoch<br />

zu einer Art Happy End kommt, muss<br />

überraschen.<br />

Insiderwissen. Nathan Englander, selbst<br />

aus einer orthodoxen New Yorker Community<br />

stammend und säkular lebend,<br />

kennt beide Welten. Aus den Konflikten,<br />

die sich aus dieser Spannung ergeben,<br />

schöpft er seine kreative Kraft als Erzähler,<br />

zuallererst in seinem höchst erfolgreichen<br />

Kurzgeschichtendebüt Zur Linderung<br />

unerträglichen Verlangens.<br />

Satirisch, tragikomisch, selbstironisch,<br />

zum Teil bizarr überzogen, mit jüdischem<br />

Witz und Herz und mit viel Insider-Knowhow<br />

lässt er divergierende Welten aufeinander<br />

clashen, so auch die diversen Facetten<br />

des amerikanischen<br />

Judentums, nicht zuletzt in<br />

dessen Beziehung zu Israel,<br />

wo der Autor selbst viele Jahre<br />

gelebt und studiert hat. Seine<br />

Milieus sind stimmig, denn er<br />

kennt sie genau und betrachtet<br />

sie liebevoll distanziert.<br />

In den abgeschotteten Räumen<br />

der Talmud-Schüler und<br />

Gelehrten greift das an sich<br />

verbotene Internet Platz, in<br />

seiner allumfassenden allwissenden<br />

Präsenz horribile<br />

dictu G-tt gleich. Geist und<br />

Buchstaben der Gesetze driften<br />

auseinander, Auslegung<br />

stößt auf Auslegung, Fassaden<br />

können täuschen und das<br />

nicht nur in den engen Gassen<br />

frommer Jerusalemer Viertel. Von all dem<br />

erzählt Englander aberwitzig und kenntnisreich,<br />

wobei er sein jüdisches, auch talmudisches<br />

Wissen manchmal doch eine<br />

Spur zu plakativ ausstellt. Ohne das angefügte<br />

Glossar bliebe vieles letztlich unverständlich.<br />

Nicht ganz zu Unrecht wird Nathan Englander<br />

oft mit dem jungen Philip Roth verglichen.<br />

Da liegt die Latte zwar etwas hoch,<br />

doch in die große Tradition der jüdisch-satirischen<br />

Erzähler Amerikas darf er sich<br />

wohl einreihen.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

feb22.indb 37 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:02


Zahllose Narrative<br />

Wer immer noch nicht<br />

auf kulturelle Live-<br />

Erlebnisse zwischen<br />

den Pandemie-bedingten<br />

Pausen verzichten<br />

will, muss gute organisatorische<br />

Fähigkeiten aufweisen. Denn es<br />

geht nicht nur darum, die ständig wechselnden<br />

Aufführungstermine hin- und<br />

herzuschieben, sondern auch die erforderlichen<br />

PCR-Tests punktgenau einzuplanen.<br />

Das Zittern und Beten um den<br />

auch rechtzeitig eintreffenden Befund<br />

wird zuweilen nur durch die Vorfreude<br />

auf den Opern- oder Theaterbesuch etwas<br />

gemildert.<br />

Dieses Klagelied betrifft derzeit die unbeirrbar<br />

Nervenstarken, die nicht auf lebendigen<br />

Kulturgenuss verzichten können<br />

und wollen. Aber wie sieht es auf der<br />

anderen Seite aus? Seit zwei Jahren sind<br />

flexible Manager in den Abonnenten-,<br />

Karten-, und Besetzungsbüros nicht nur<br />

nachgefragt, sondern unbedingt erforderlich.<br />

Besonders schlimm ist es für Musiker,<br />

Darsteller und Künstlerinnen, die<br />

sich in bereits lang geplante Stücke einarbeiten,<br />

zu proben beginnen, plötzlich<br />

unterbrechen müssen und die Spannung,<br />

die diese Arbeit erfordert, verlieren und<br />

immer wieder neu aufbauen müssen.<br />

Sophie von Kessel und Philipp Hauß,<br />

beide Ensemblemitglieder des Wiener<br />

Burgtheaters, freuten sich daher umso<br />

mehr, dass sie in der ersten Produktion<br />

im neuen Jahr – nach zwei Verschiebungen<br />

– endlich spielen konnten. Sophie<br />

von Kessel verkörpert die Hauptrolle in<br />

Die Ärztin von Robert Icke, „sehr frei nach<br />

Professor Bernhard von Arthur Schnitzler“,<br />

wie es im Untertitel heißt. „Diese Rolle<br />

ist sehr anspruchsvoll, aber auch ein Geschenk“,<br />

schwärmt die 1968 in Mexico<br />

City als Tochter eines Diplomaten aus altem<br />

Adel geborene Schauspielerin. „Erstens,<br />

dass man als Frau eine Rolle in dieser<br />

Größenordnung spielen kann, denn<br />

für Frauen, und schon gar nicht in meinem<br />

Alter, sind solche Stoffe an einer<br />

Hand abzuzählen“, meint die 53-jährige<br />

zweifache Mutter. „Der besondere Reiz<br />

und die Herausforderung ist es, all diese<br />

Qualitäten wie Scharfsinnigkeit, hohe Intelligenz<br />

und Zielstrebigkeit konsequent<br />

durchzuziehen, weil es Eigenschaften<br />

Sophie von Kessel<br />

und Philipp Hauß<br />

freuen sich drauf,<br />

dass sie nun nach<br />

zwei Verschiebungen<br />

in der ersten Produktion<br />

im neuen Jahr<br />

auftreten können.<br />

Die Jugend mit Klassiker-<br />

Neudeutungen ins<br />

Theater bringen<br />

Arthur Schnitzlers Dauerbrenner Professor<br />

Bernhardi mutiert am Burgtheater zur „Ärztin“<br />

Ruth Wolff. Das Thema des Antisemitismus<br />

geht nicht verloren: Es wird mit heutigen<br />

Identitätsdiskursen angereichert.<br />

Von Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />

38 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 38 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:06


Vorurteilsbehaftete Stigmatisierung<br />

Simon Stone und Robert<br />

Icke zu sagen, ich schreibe<br />

es neu, will aber auch nicht<br />

so tun, als käme es ganz von<br />

mir. Ich signalisiere damit<br />

klar, ich beziehe mich auf<br />

die Vorlage.“ Bei der harschen<br />

Kritik an Klassikeradaptionen,<br />

meint Hauß,<br />

sollte man schon bedenken,<br />

dass es fast kein Werk<br />

der Weltliteratur gibt, das<br />

nicht in irgendeiner Form<br />

eine Überschreibung ist<br />

oder sich zumindest auf<br />

vorangegangene Texte besind,<br />

die vor allem Männern zugeschrieben<br />

werden“, lacht Kessel. „Ich will nicht<br />

sagen, dass ich die Eigenschaften nicht<br />

habe, aber ich musste schon in mir danach<br />

suchen: Jetzt habe ich keine Angst<br />

mehr, auf der Bühne einfach unsympathisch<br />

zu sein, denn die Ärztin ist jedenfalls<br />

eine faszinierende Person.“<br />

Philipp Hauß, der am Reinhardt Seminar<br />

Schauspiel und an der Universität<br />

Wien Philosophie und Kulturwissenschaft<br />

studierte, sekundiert der Kollegin:<br />

„Genauso ist es: Wenn ein Mann zielstrebig<br />

ist, dann nennt man ihn toll. Trifft das<br />

auf eine Frau zu, heißt es, sie sei ehrgeizig<br />

und verbissen.“ So funktioniere es auch<br />

bei den Antisemiten, meint der 1980 in<br />

Münster Geborene: „Wenn ein jüdischer<br />

Unternehmer sehr erfolgreich ist, wird er<br />

als geizig und berechnend bezeichnet. Ist<br />

er aber kein Jude, dann ist er geschickt<br />

und hat sich vorbildhaft hinaufgearbeitet.<br />

Bei Donald Trump war das so, und es<br />

gibt zahllose ähnliche Narrative.“<br />

Warum werden diese erfahrenen<br />

Schauspieler bei dieser Produktion so<br />

nachdenklich und tief schürfend? Weil<br />

sie den Schnitzler’schen Klassiker Professor<br />

Bernhardi, wo es um blanken Antisemitismus<br />

und dessen politische Instrumentalisierung<br />

geht, in einer kompletten<br />

Neufassung spielen. Der 35-jährige englische<br />

Regisseur und Autor Robert Icke ist<br />

bekannt für seine Überschreibungen und<br />

Inszenierungen klassischer Texte. Er hat<br />

mit seinen Adaptionen in London große<br />

Erfolge gefeiert und zahlreiche Preise<br />

eingeheimst. Inzwischen ist Icke mit seinen<br />

Inszenierungen in Stuttgart, Amsterdam<br />

und Basel gelandet – mit Die Ärztin<br />

folgte nun sein Wien-Debüt. Der britische<br />

Regisseur hat sein Konzept der Londoner<br />

Uraufführungsproduktion The Doctor aus<br />

dem Jahr 2019 nahezu unverändert für<br />

das Burgtheater übertragen.<br />

Um die Ärztin von Robert Icke zu verstehen,<br />

muss man Schnitzlers Original,<br />

das in Wien bis 1918 von der Zensur verboten<br />

war und 1912 in Berlin uraufgeführt<br />

wurde, nicht kennen. Denn der junge<br />

Brite erzählt eine Geschichte, die in sich<br />

schlüssig ist. Dennoch schreibt er dazu,<br />

dass sein Werk „sehr frei nach Schnitzlers<br />

Bernhardi“ entstanden ist. „Robert<br />

Icke ist überzeugt, dass das Theater aussterben<br />

wird, wenn es nicht gelingt, die<br />

Jugend mit Themen zusammenzubringen,<br />

die sie betreffen und interessieren“,<br />

erklärt Philipp Hauß. „Statt etwas<br />

nur nachzuahmen, wie es<br />

im deutschen Sprachraum<br />

auch schon geschah, finde<br />

ich es konsequenter, wie<br />

„Der besondere<br />

Reiz ist es,<br />

all diese Qualitäten<br />

konsequent<br />

durchzuziehen,<br />

weil es Eigenschaften<br />

sind,<br />

die vor allem<br />

Männern zugeschrieben<br />

werden.“<br />

Sophie von Kessel<br />

zieht, „das ist ein Wesensmerkmal literarischer<br />

Produktion überhaupt.“<br />

Schnitzlers Original handelt von einem<br />

introvertierten jüdischen Arzt, Leiter einer<br />

Privatklinik, auf dessen Abteilung<br />

ein junges Mädchen nach einer misslungenen<br />

illegalen Abtreibung im Sterben<br />

liegt. Als ein Priester eintrifft, um ihr<br />

die letzte Ölung zu geben, verweigert ihm<br />

der Arzt Bernhardi den Gang zum Mädchen:<br />

Er will ihr vor dem Tod die Illusion<br />

belassen, alles werde noch gut. Absichtlich<br />

missverstanden und als christliche<br />

Religionsstörung von antisemitischen,<br />

deutschnationalen Kräften umgedeutet,<br />

verliert Bernhardi die Leitung der Klinik<br />

und geht sogar ins Gefängnis – weil<br />

er sich als etwas naiv-unpolitischer Mediziner<br />

im Recht wähnt und keine faulen<br />

Kompromisse schließen will.<br />

Zeitgeistige Themen übertrumpfen den Antisemitismus.<br />

Als Politstück über den Antisemitismus<br />

in der Monarchie ist es zwar<br />

in seiner Zeit verankert, aber die Thematik<br />

des Stückes – vorurteilsbehaftete Stigmatisierung<br />

jüdischer Menschen – ist wenigstens<br />

hierzulande nie wirklich aus<br />

der Mode gekommen. Auch deshalb verlor<br />

das Drama nie an Aktualität und hielt<br />

sich auf den Theaterbühnen. Der Brite<br />

Icke hat eine an heutigen Identitätsdiskursen<br />

geschärfte Neufassung geschrieben,<br />

denn die politischen<br />

Narrative sind vielfältiger<br />

geworden. Offensichtlich<br />

lockt der ausschließlich<br />

antisemitische Aspekt<br />

die jungen Besucher nicht<br />

mehr ins Theater. Nicht<br />

nur Professor Bernhardi<br />

wird zur lesbischen Frau<br />

Professor Ruth Wolff: Ickes<br />

Inszenierung mischt die<br />

Politik der Zuschreibungen<br />

– Geschlecht, Ethnie,<br />

Religion, sexuelle Orientierung<br />

usw. – auf der darstellerischen<br />

Ebene quirlig<br />

durcheinander. Weiße<br />

Schauspieler werden angesprochen,<br />

als wären sie<br />

schwarz, schwarze sprechen<br />

von sich als weiße.<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

feb22.indb 39 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:09


Aktuelle Erhitzungsmaschinen<br />

Anregendes Gespräch. Die Ensemble-Mitglieder<br />

Sophie von Kessel und Philipp Hauß mit<br />

WINA-Autorin Marta S. Halpert in den Räumen<br />

des Burgtheaters.<br />

Daher wird der Protagonistin Ruth Wolff,<br />

die eine säkulare Jüdin ist, postwendend<br />

Rassismus unterstellt. Während bei Professor<br />

Bernhardi das Figurenpersonal<br />

– außer einer Krankenschwester – rein<br />

männlich ist, dreht sich hier ständig ein<br />

Gender-Karussell.<br />

Sophie von Kessel leitet im Stück eine<br />

renommierte Alzheimer-Klinik, forscht<br />

mit ihrem Team darüber<br />

und ist sogar für den<br />

Nobelpreis im Gespräch.<br />

Wie kommt ein 14-jähriges<br />

Kind nach einer verpfuschten<br />

Abtreibung<br />

auf ihre Klinik? „Das ist<br />

der erste Knackpunkt<br />

der Geschichte. Ich finde<br />

das ohnmächtige Mädchen<br />

bei der Notaufnahme<br />

und nehme sie<br />

aus Mitgefühl und Mitleid<br />

in mein Institut“,<br />

erklärt die vielbeschäftige<br />

Schauspielerin. „Genau<br />

diese ‚weiblichen‘ Eigenschaften<br />

werden mir<br />

von meinen Kollegen abgesprochen,<br />

weil ich die<br />

Klinik autoritär führe.“<br />

„Robert Icke<br />

ist überzeugt,<br />

dass das Theater<br />

aussterben<br />

wird, wenn es<br />

nicht gelingt,<br />

die Jugend<br />

mit Themen<br />

zusammenzubringen,<br />

die sie<br />

betreffen und<br />

interessieren.“<br />

Philipp Hauß<br />

Als sie, ganz wie bei Schnitzler, einen<br />

Priester daran hindert, das Zimmer des<br />

sterbenden Mädchens zu betreten, führt<br />

dieser Vorfall innerhalb kürzester Zeit zu<br />

einem gigantischen Shitstorm in den sozialen<br />

Medien. Die Ärztin wird das Opfer<br />

brutaler politischer Korrektheit, die ihre<br />

Gegner für sich selbst nutzen. Jede Nachbesetzung<br />

in der Klinik wird zur Quotenfrage,<br />

wenn Benachteiligung<br />

oder Unterdrückung einer<br />

Gruppe nur vermutet wird.<br />

So erweitert Icke das Original<br />

um die aberwitzige Cancel<br />

Culture, um die aktuelle<br />

Woke-Bewegung und vieles<br />

mehr.<br />

Ruth Wolff glaubt – ähnlich<br />

wie Bernhardi –, ihre<br />

Zuschreibung durch die Außenwelt<br />

selbst bestimmen zu<br />

können: Sie sieht sich nur als<br />

Ärztin und will sich keinesfalls<br />

als jüdisches Opfer antisemitischer<br />

Angriffe darstellen<br />

lassen. Da täuscht<br />

sie sich, denn auch sie unterliegt<br />

den identitätspolitischen<br />

Querelen und Machtspielen.<br />

„Dass die Ärztin<br />

gerade über Alzheimer forscht, passt<br />

sehr gut in die Diskussion, worum es im<br />

Stück geht“, befindet Sophie von Kessel.<br />

„Mit Alzheimer weiß man sehr bald nicht<br />

mehr, wer man ist. Also braucht man die<br />

Zuschreibung von außen. Und ich konstatiere<br />

vom menschlichen Standpunkt<br />

aus: Ich bin vor allem Ärztin, das ist das<br />

Wichtigste. Währenddessen heißt es in<br />

unserer Welt: Nein, Sie sind Frau, Sie sind<br />

Jüdin, sind intelligent, sind weiß und privilegiert.<br />

Also was bleibt vom Menschen<br />

übrig?“<br />

Philipp Hauß in der Figur des Priesters<br />

(und auch des Vaters der Todgeweihten)<br />

fasziniert die Auseinandersetzung Medizin<br />

versus Religion. „Robert Icke gelingt<br />

es gut, die Komplexität unserer Welt und<br />

ihre aktuellen Erhitzungsmaschinen abzubilden.<br />

Die Aktualität der Ärztin können<br />

wir leider auch an der Covid-Krise<br />

ablesen: Die trägt sowohl antisemitische<br />

Grundzüge wie auch antiaufklärerische,<br />

antifortschrittliche und antiwissenschaftliche“,<br />

erläutert Hauß. „Das<br />

bekommt auch die Ärztin alles vorgesetzt<br />

und muss damit umgehen. Es wäre so einfach<br />

für sie, aus ihrer Position sich zu entschuldigen<br />

oder zu relativieren, aber sie<br />

steht zu ihrem Credo.“<br />

Werden die eingeschworenen Schnitzler-Fans<br />

enttäuscht sein? „Das ist schwer<br />

zu sagen, ich würde mir wünschen, dass<br />

sie unseren Respekt gegenüber dem<br />

Schnitzler-Bernhardi spüren und trotzdem<br />

sehr viel aus der Icke-Fassung mitnehmen.<br />

Vielleicht auch Deprimierendes,<br />

denn wenn man heutige Hass-Mails<br />

liest, ist doch nicht so viel anders“, meint<br />

Philipp Hauß, der Hörspiele schreibt und<br />

in Kürze in zwei Spielfilmen zu sehen sein<br />

wird. „Sie kennen ja Wien gut, die Kontinuität<br />

des Antisemitismus und der Ausgrenzung<br />

ist gegenwärtig. Kaum ist etwas<br />

in Aufruhr, wie jetzt bei der Pandemie,<br />

greift man gleich in die Kiste und holt die<br />

Weltverschwörung raus.“<br />

40 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 40 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:12


„Wir hatten die falschen Träume“<br />

Es wäre vielleicht eine Heldengeschichte, wie sie in Israel<br />

immer noch gerne erzählt wird. Es wäre vielleicht eine<br />

Liebesgeschichte, wenn es anders gelaufen wäre. Und so steht<br />

Was wäre wenn ohne Beistrich und Fragezeichen als Titel auf<br />

Lizzies Dorons neuem Buch, das wieder einmal<br />

eher Autofiktion als Roman ist.<br />

Von Anita Pollak<br />

An verschiedenen Wegkreuzungen<br />

des Lebens muss man sich entscheiden,<br />

und dennoch mag „the<br />

road not taken“ im Rückblick als die verlockendere<br />

Möglichkeit erscheinen. Das beständige<br />

„was wäre, wenn“ überschattet<br />

das Leben von Lizzies Mutter, die als Überlebende<br />

des Holocausts eigentlich keine<br />

Wahl hatte. Wenn es den Krieg nicht gegeben<br />

hätte, sie nicht in Israel gelandet,<br />

ihr Mann nicht gestorben wäre. All diese<br />

müßigen Fragen nerven ihr einziges Kind,<br />

das sie in einem Viertel Tel Avivs, umgeben<br />

von Schicksalsgenossen aus den Lagern,<br />

alleine großzieht. Lizzie will weg von<br />

dort, von ihr, will das Land aufbauen, will<br />

es verteidigen, sogar dafür sterben will sie.<br />

„Wann begreift sie endlich, dass diese<br />

Masche – ‚Ich war im Holocaust und ich<br />

habe nur die eine Tochter‘ – in der Armee<br />

nicht zieht?“, schäumt die junge Soldatin<br />

angesichts der Wollsocken und langen<br />

Unterhosen, die ihr die Mutter peinlicher<br />

weise in die Ausbildungskaserne nachgetragen<br />

hat.<br />

Dieses zwiespältige Aufwachsen als Angehörige<br />

der „Second Generation“ einerseits<br />

und der „Ersten Generation der Erlösung“<br />

andererseits hat Lizzie Doron in<br />

mehreren Büchern beschrieben, für die<br />

sie in Israel vielfach ausgezeichnet wurde.<br />

Als sie sich dann offenbar auf Grund persönlicher<br />

Begegnungen auch literarisch<br />

nicht gerade wenig provokant eher auf die<br />

Seite der von Israel „unterdrückten“ Palästinenser<br />

schlug, fiel sie in ihrer Heimat<br />

zunehmend in Ungnade. Seither erscheinen<br />

ihre Bücher nur noch auf Deutsch und<br />

die inzwischen teilweise in Berlin lebende<br />

Autorin wird quasi unter dem Label der<br />

Lizzie Doron:<br />

Was wäre wenn Roman. Aus dem<br />

Hebräischen von Markus Lemke. dtv 2021,<br />

144 S., € 18,50<br />

„Nestbeschmutzerin“ im Israel-kritischen<br />

Echoraum erfolgreich vermarktet.<br />

Flashbacks. „Wir hatten die falschen<br />

Träume“, erklärte sie in einem Talk zu ihrem<br />

jüngsten Buch, in dem es gerade auch<br />

um das Scheitern dieser Träume geht. Als<br />

exemplarisches Sprachrohr dafür hat sich<br />

Lizzie Doron einen Jugendfreund ausgewählt,<br />

dessen Geschichte sie von seinem<br />

Ende her erzählt oder besser imaginiert,<br />

denn allzu viel weiß<br />

sie ja nicht von ihm.<br />

„Einem, der im<br />

Sterben liegt, schlägt<br />

man keine Bitte ab.“<br />

Und so eilt Lizzie ins<br />

Hospiz an das Totenbett<br />

von Yigal Ben<br />

Dror, der sich ausgerechnet sie als seinen<br />

letzten Besuch erbeten hat. Jahrzehnte hat<br />

sie ihn, der immer wieder an Stationen ihres<br />

Lebens aufgetaucht war, nicht mehr<br />

gesehen, obwohl er über verschiedene Foren<br />

den Kontakt zu ihr suchte.<br />

Nur angedeutet bleibt die zarte Liebesbeziehung<br />

der beiden, von der pubertären<br />

Schwärmerei bis hin zur späten nüchternen<br />

Einsicht: „Er und ich, das geht nicht.“<br />

Gemeinsam hatten sie einst zionistische<br />

Ideale und heroische Siegesträume,<br />

bis Yigal 1973 aus syrischer Kriegsgefangenschaft<br />

gefoltert und schwer traumatisiert<br />

heimkehrt. Seine Erschütterung als<br />

einziger Überlebender im „Friendly Fire“<br />

der eigenen Kameraden im Libanon und<br />

die aus all dem folgende posttraumatische<br />

Belastungsstörung machen aus dem „verrückten“<br />

Yigal auch eine klinische Fallgeschichte<br />

und einen fanatischen Anhänger<br />

der Protestbewegung gegen die Regierung.<br />

Getriggert von der letzten Begegnung<br />

an Yigals Sterbebett erlebt Lizzie ungewollt<br />

immer wieder Flashbacks in ihre<br />

Vergangenheit bis hin in die frühe, vom<br />

Leiden unter der überängstlichen Mutter<br />

geprägten Kindheit. In den über 60 Jahren,<br />

die sie dabei rückblickend Revue passieren<br />

lässt, spiegelt sich zeitgeschichtlich<br />

auch die Vergangenheit einer von kollektiven<br />

Traumata gezeichneten Gesellschaft<br />

„Einem, der im Sterben liegt,<br />

schlägt man keine Bitte ab.“<br />

und Generation, freilich durch die besondere<br />

Optik einer Autorin, deren Protagonist<br />

eine Facebook-Gruppe namens „Welcome<br />

to Israhell“ unterhält. Dass man sich<br />

mit solchen Helden daheim wenig Sympathien<br />

erwirbt, scheint Lizzie Doron von<br />

Deutschland aus nicht ungern in Kauf zu<br />

nehmen.<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

feb22.indb 41 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:12


Emotionale Suche<br />

Manfred Gans<br />

war Ende des Krieges bei der Spezialabteilung<br />

„Three Toop“, ehe er<br />

sich quer durch Europa begab, um<br />

seine Eltern zu suchen.<br />

Else Gans mit ihren drei Söhnen Karl, Theo und Manfred<br />

(von links) vor dem Haus der Familie in Borken, wo sie mit<br />

ihrem Mann die Firma M. & E. Gans – En Gros Export führte.<br />

Manfreds Geschichte<br />

Rückeroberung: Ein Sohn<br />

und jüdischer Geheimkommando-Offizier<br />

im<br />

Sommer 1945 auf der Suche<br />

nach seinen Eltern, die<br />

nach Theresienstadt deportiert<br />

wurden.<br />

Von Alexander Kluy<br />

Es war heiß am 12. Mai 1945, wenige<br />

Tage nach der Kapitulation<br />

Hitler-Deutschlands. An<br />

diesem vierten Tag des Friedens<br />

packte der englische Offizier<br />

Frederick Gray, 23, einige Sachen<br />

zusammen. Er befand sich in Goes, einer<br />

Kleinstadt weit im Westen der Niederlande.<br />

Der Ärmelkanal war zum Greifen<br />

nah. Er wollte aber nach Osten. Nach<br />

Deutschland, nach Nordböhmen. Um<br />

seine Eltern zu sehen. Nach sieben Jahren.<br />

Ein Brief einer Verwandten hatte ihn<br />

erreicht. Darin stand: Deine Eltern leben,<br />

sie sind in Theresienstadt. 1.000 Kilometer<br />

entfernt.<br />

Erste Station: der Niederrhein. Diese<br />

Gegend war Gray aus einem früheren Leben<br />

vertraut. Als er Manfred Gans hieß<br />

und Deutscher war, deutscher Jude. Kleve,<br />

Emmerich, Bocholt: „Ich erinnere mich<br />

an die schönen Tage, die Tage vor 1938.“<br />

Schließlich Borken, die Stadt, in der er aufwuchs.<br />

Sein Vater Moritz, der im Ersten<br />

Weltkrieg ein Bein und einen Lungenflügel<br />

eingebüßt hatte, hatte dort die Firma<br />

M. & E. Gans – En Gros Export gegründet<br />

und geleitet. Er war viel im In- und Ausland<br />

unterwegs ob florierender Geschäfte<br />

– in Borken bewohnte die bald fünfköpfige<br />

Familie eine große Villa –, war aber zu<br />

jedem Sabbat zurück. Die Familie war orthodox.<br />

Und modern, Else Gans war vollwertige<br />

Geschäftspartnerin. Und stadtgesellschaftlich<br />

engagiert. 1929 wurde Moritz<br />

Gans Gemeinderat und war in der jüdischen<br />

Gemeinde aktiv.<br />

Ab 1933 änderte sich das, in rasant infamierenderen<br />

Schritten. 1937 war Manfred<br />

einer von drei jüdischen Schülern, die<br />

das Gymnasium besuchten. Der Familie<br />

war die ökonomische Existenzgrundlage<br />

zuschanden gemacht worden. Vorausschauend<br />

hatte Moritz Gans 1934 im holländischen<br />

Utrecht ein Unternehmen gegründet.<br />

Über dieses sollte nun die Flucht<br />

von Freunden und Verwandten ermöglicht<br />

werden. Manfreds älterer Bruder Karl, damals<br />

16, entkam 1936 nach Tel Aviv. Noch<br />

während der Überfahrt änderte er seinen<br />

Namen zu Gershon Kaddar. Der nächste<br />

war Manfred im Juli 1938. Sein Ziel: Großbritannien.<br />

Englische Sprachkenntnisse?<br />

Kaum vorhanden. Anfang Jänner 1939<br />

folgte ihm der jüngere Bruder Theo.<br />

In der Elitetruppe. Manfred schlug sich<br />

16-, 17-jährig in Manchester als Hilfsarbeiter<br />

durch. Den Eltern gelang Ende August<br />

1939 die Ausreise in die Niederlande,<br />

nach Zandvoort. Wo mit Kriegsausbruch<br />

© privat; Hoffmann und Campe Verlag<br />

42 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 42 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:13


Reise durch ein zerstörtes Europa<br />

Daniel Huhn:<br />

Rückeroberung. Die<br />

Geschichte von Manfred Gans,<br />

der im Mai 1945 Deutschland<br />

durchquerte, um seine Eltern<br />

aus dem KZ zu befreien.<br />

Hoffmann und Campe <strong>2022</strong>,<br />

288 S.,€ 22,70<br />

© privat; Hoffmann und Campe Verlag<br />

„Die meisten<br />

von ihnen, mit<br />

Ausnahme der<br />

Deutschen,<br />

wollen in ihr<br />

jeweiliges Land<br />

zurückkehren.<br />

Der Rest hofft<br />

auf Palästina.“<br />

Manfred Gans<br />

ihre Visa für Großbritannien<br />

hinfällig wurden. 1940<br />

wurde Manfred als „enemy<br />

alien“ interniert, landete<br />

auf der Isle of Man, im Dezember<br />

wurde er Soldat im<br />

britischen Pioneer Corps.<br />

Dann kam er zu einer Spezialabteilung,<br />

der „Three<br />

Troop“. Und musste seinen<br />

Namen ändern in „Frederick<br />

Gray“. Auftrag dieses<br />

jüdisch-deutschsprachigen<br />

Elitekommandos: sich<br />

unbemerkt in feindliche<br />

Stützpunkte einschleichen<br />

und Informationen beschaffen.<br />

Währenddessen<br />

wurden seine Eltern verhaftet,<br />

im Sommer 1943 ins<br />

KZ Westerbork verschleppt,<br />

von dort weiter nach Theresienstadt.<br />

6. Juni 1944: Manfred machte den D-<br />

Day in der Normandie mit. Er kämpfte<br />

sich durch Frankreich und Holland.<br />

Führte Verhöre durch. Kurz nach Pessach<br />

1945 kam er ins befreite Borken. Das wie<br />

das restliche Deutschland in Trümmern<br />

lag. Gray lakonisch-grimmig: „Germany<br />

1945 Style.“ Dann Goes in Holland. Wo<br />

ihn nun die Information aus New York<br />

erreichte, seine Eltern seien in Theresienstadt,<br />

„in einem guten Zustand und bei<br />

gutem Verstand“.<br />

Er entschloss sich auf der Stelle zur<br />

Fahrt durch Deutschland in die russisch<br />

besetzte Tschechoslowakei. Borken. Kassel.<br />

Eisenach. Weimar. Huhn schildert<br />

Greys/Gans’ Stationen kleinteilig. Schließlich<br />

Theresienstadt: Im<br />

Lager, Stalins Roter Armee<br />

inzwischen obliegend,<br />

in der Typhus und<br />

Fleckfieber grassierten,<br />

waren noch rund 30.000<br />

Menschen. Gans notierte:<br />

„Die meisten von ihnen,<br />

mit Ausnahme der Deutschen,<br />

wollen in ihr jeweiliges<br />

Land zurückkehren.<br />

Der Rest hofft auf<br />

Palästina.“ Er fand die Eltern.<br />

Manfred Gans wurde<br />

bald in Deutschland stationiert,<br />

zufällig in seiner<br />

Heimatstadt. Und protokollierte<br />

das opportunistische<br />

Nachkriegslavieren,<br />

das Schuld- und<br />

Verantwortung-Abwälzen. In den folgenden<br />

Monaten war Gans im Ruhrgebiet in<br />

Neuorganisation der Verwaltung und Entnazifizierung<br />

involviert und wurde immer<br />

desillusionierter.<br />

Aus dem Armeedienst entlassen, wurde<br />

er 1947 britischer Staatsbürger, studierte<br />

Chemie in Manchester und am MIT bei<br />

Boston. 1948 heiratete er in New York seine<br />

Jugendliebe, mit der er acht Jahre nur<br />

korrespondiert hatte – sie war rechtzeitig<br />

mit ihrer Familie in die USA ausgewandert.<br />

Als Chemieingenieur und Berater<br />

der UNO bereiste er die Welt. Sein Bruder<br />

Theo ging 1952 nach Israel. Die Eltern<br />

Gans folgten Theo. Seit den 1980er-Jahren<br />

kehrte Manfred Gans immer wieder<br />

als Zeitzeuge nach Borken zurück, nahm<br />

1999 an einem Three-Troop-Gedenktreffen<br />

statt und starb 2010 bei New York.<br />

Auf der Fährte eines Lebens. Daniel Huhn,<br />

Hochschuldozent für Film und Video in<br />

Münster in Westfalen, hat Dokumentarfilme<br />

realisiert und Hörfunkfeatures geschrieben.<br />

Im Impressum findet sich der<br />

Hinweis auf eine mediale Verwertungskette.<br />

Zuerst entstanden ein Zeitungsartikel<br />

über Gans, dann ein Hörfunkfeature,<br />

ein Dokumentarfilm, ein Podcast.<br />

Er konnte zahlreiche Briefe und Aufzeichnungen<br />

in Augenschein nehmen. Nach der<br />

Daniel Huhn:<br />

Alles hat mit einem<br />

Zeitungsartikel<br />

des Jouralismus-Dozenten<br />

über Manfred<br />

Gans begonnen.<br />

ersten Begegnung mit Familienmitgliedern<br />

2016 führte er weitere Gespräche in<br />

Israel und in den USA. Am wichtigsten war<br />

Manfred Gans’ Rapport, den dieser gleich<br />

nach der Suchreise niederschrieb, heute<br />

im Holocaust Memorial Museum in Washington,<br />

D.C., deponiert. Huhn schreibt<br />

eingängig, so wie man es von einem routinierten<br />

Journalismus-Dozenten erwartet.<br />

Eine leicht zugängliche, hie und da<br />

sacht pathetische, instruktive, plastische<br />

Lebens-Fall-Geschichte.<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

feb22.indb 43 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:14


... wissen möchte, was ich nicht sagen darf ...<br />

Der Dichter<br />

und die Macht<br />

Vor 20 Jahren starb der deutsche Schriftsteller Stefan<br />

Heym. Er war jüdischer Emigrant in Amerika, US-Soldat<br />

in Westdeutschland, DDR-Übersiedler und unbequemer<br />

Autor, Alterspräsident des Deutschen Bundestages.<br />

Von Reinhard Engel<br />

König Salomon stieg vom Thron herab, trat auf<br />

mich zu, legte mir seine kurze, fette Hand auf<br />

die Schulter und fragte: „Nu?“<br />

Diese fein ironische Wendung steht<br />

auf den ersten Seiten des Romans<br />

Der König David Bericht von Stefan<br />

Heym. Freilich geht es nicht so harmlos<br />

weiter. Der Ich-Erzähler, der Historiker<br />

und Poet Ethan, soll im Auftrag des Königs<br />

in einer Kommission mitarbeiten,<br />

die das undurchsichtige Leben dessen<br />

Vorgängers, König Davids, dokumentieren<br />

soll. Und zwar in einer für das Regime<br />

freundlichen Weise.<br />

Ethan nimmt den Auftrag allerdings<br />

ernster als von den Mächtigen geplant.<br />

Er beginnt zu recherchieren, spricht mit<br />

Zeitzeugen, sammelt Schriftliches, wo es<br />

dies noch gibt. Und er findet heraus, dass<br />

der große König ein blutrünstiger Tyrann<br />

war, dass ein Gutteil seiner Biografie geschönt,<br />

wenn nicht gar erfunden war, dass<br />

er sein eigenes Wohl deutlich über jenes<br />

des Landes gestellt hatte.<br />

Nun beginnen die Probleme: Wie weit<br />

kann der Berichterstatter gehen mit der<br />

Wahrheit, ehe es ihn den Kopf kostet?<br />

Mein Denken ist ständig gespalten, indem ich<br />

eines weiß und ein anderes sage, oder zu sagen<br />

suche, oder sagen möchte, was ich nicht denken<br />

soll, oder wissen möchte, was ich nicht sagen darf<br />

… Bald erkennt er auch, dass diese Suche<br />

nach der Wahrheit in einem autoritären<br />

Staat mehr bedeutet als die Gedanken eines<br />

einzelnen Wissensbegierigen, sie enthält<br />

politischen Sprengstoff: Wie lange, bis<br />

selbst ein kühler Kopf in jeder zufälligen Ansammlung<br />

einer Gruppe, in jedem geflüsterten<br />

Wort eine Verschwörung sieht?<br />

Bald kommt es auch zur ersten direkten<br />

Bedrohung des Berichterstatters durch<br />

den brutalen Militär- oder Polizeichef<br />

Benaja, der einen umfangreichen Spitzelund<br />

Abhörapparat inklusive Folter- und<br />

Langzeitgefängnisse unterhält: Mach, dass<br />

du fortkommst. Erkennst du denn nicht, dass ihr<br />

Schriftgelehrten dem Volk ein Ärgernis seid und<br />

den Dienern des Königs eine Last?<br />

Schließlich soll der Historiker Ethan<br />

der Macht direkt und schmutzig dienen,<br />

als falscher Zeuge gegen einen unliebsamen<br />

Kritiker des Königs. Wieder Benaja:<br />

Wir brauchen Zeugen … Geständnisse haben<br />

wir in der letzten Zeit überreichlich. Wie diese<br />

Geständnisse zustande gekommen sind,<br />

braucht nicht extra ausgeführt werden.<br />

Wie endet die Geschichte? Ethan steht<br />

am Schluss des Buches wieder vor dem<br />

König, sicher, dass ihn dieser zum Tod verurteilen<br />

wird. Der oberste Scherbe Benaja<br />

hat schon sein Schwert gezogen,<br />

da entscheidet Salomon<br />

politisch schlau: Ein Todesurteil<br />

sei ungünstig für sein eigenes<br />

Image, es hieße dann, er<br />

unterdrücke Gedanken, Ähnliches<br />

gelte, wenn man Ethan<br />

in die Gruben oder Steinbrüche<br />

verbannte.<br />

Darum nun soll er zu Tode geschwiegen<br />

werden; keines seiner<br />

Worte soll das Ohr des Volkes erreichen,<br />

weder durch mündliche Übertragung<br />

noch auf Tontäfelchen, noch<br />

auf Leder; auf dass sein Name vergessen<br />

sei, so als wäre er nie geboren<br />

worden und hätte nie eine Zeile<br />

geschrieben.<br />

Dieser Urteilsspruch fiel im<br />

antiken Israel, aber es war klar,<br />

was damit auch gemeint war:<br />

die Deutsche Demokratische Republik,<br />

deren Bürger Heym war. Der König David<br />

Bericht erschien dort 1972, aber für mehrere<br />

andere Romane Heyms sollte dies<br />

nicht möglich sein, sie konnten nur im<br />

Ausland gedruckt werden.<br />

Das galt etwa für eines seiner bekanntesten<br />

Bücher, 5 Tage im Juni. Darin beschrieb<br />

er an Hand einer kleinen Gruppe<br />

von Romanfiguren die Ursachen und die<br />

letzten Entwicklungen vor dem Aufstand<br />

am 17. Juni 1953. Und auch hier ist der Ton<br />

der Macht jenem im altertümlichen Jerusalem<br />

ganz ähnlich: Entweder du hältst dich<br />

an die Parteibeschlüsse, Genosse Witte, oder du<br />

ziehst die Konsequenzen. So einfach ist das.<br />

Witte ist ein knorriger Gewerkschaftsfunktionär<br />

in einem Berliner Maschinenbaukombinat.<br />

Um ihn herum eskaliert<br />

die Unzufriedenheit mit schlechten<br />

Lebensbedingungen und wiederholt angehobenen<br />

Leistungsquoten, die dann zu<br />

spontanen Arbeitsniederlegungen<br />

und Demonstrationen<br />

führte.<br />

Witte, der davon als<br />

„Ich hab gewusst,<br />

es wird<br />

Trabble geben,<br />

weil ich erstens<br />

ein Jud<br />

bin, welcher<br />

längst hätte<br />

nichts mehr<br />

hätte sein sollen<br />

als ein verwehtes<br />

Rauchwölkchen<br />

über<br />

Auschwitz ...“<br />

solider Betriebsvertrauensmann<br />

ebenso<br />

überrascht wird wie die<br />

Parteikader sinniert:<br />

Da haben wir Schränke<br />

voller Kaderakten, und wie<br />

wenig wissen wir.<br />

Heym beschreibt ein<br />

buntes Panorama von<br />

Männern und Frauen,<br />

persönliche Beziehungen<br />

und konkrete ökonomische<br />

Interessen,<br />

taktierende Parteifunktionäre,<br />

die zwischen<br />

Durchgreifen<br />

und Nachgeben plan-<br />

© ullstein bild - Mehner / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

44 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 44 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:14


Dichter und Politiker<br />

Stefan Heym: „Er war<br />

knorrig und Widerspruch<br />

kaum duldend. Wer mit ihm<br />

stritt, der musste argumentativ<br />

gut gerüstet sein.“<br />

© ullstein bild - Mehner / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

los hin und her schwenken, schließlich<br />

die Russen, deren Panzer dem Aufbegehren<br />

schnell ein Ende setzen. Das Nachspiel<br />

des Romans endet resignativ-melancholisch.<br />

Witte soll als immer noch nicht<br />

ganz zuverlässig aus seiner Vertrauensstellung<br />

im Betrieb abgeschoben oder hinaufbefördert<br />

werden. Man schickt ihn<br />

auf eine Parteikaderschule. Er wehrt sich<br />

zunächst, gibt aber dann doch nach. Sein<br />

Funktionärsgegenüber: Ich freue mich wirklich,<br />

dass du Vernunft angenommen hast.<br />

Heym selbst dürfte Ähnliches wohl immer<br />

wieder gehört haben. Er war zunächst<br />

auch von den DDR-Spitzen wohlgelitten,<br />

fiel aber wegen kritischer Bücher und<br />

Aussagen zusehends in Ungnade. Erich<br />

Honecker selbst machte ihn öffentlich<br />

herunter, es gab Publikations- und Auftrittsverbote.<br />

Heym unterstützte zwar die<br />

Kritik an der Ausbürgerung des Dichters<br />

und Sängers Wolf Biermann, schwenkte<br />

aber nicht ganz in das Lager der Dissidenten.<br />

Er fühlte sich weiter als Kommunist,<br />

durfte auch ins westliche Ausland reisen,<br />

seine gut besuchten Lesungen hielt er in<br />

der DDR vor allem in Kirchen.<br />

Der evangelische Theologe und ehemalige<br />

Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer<br />

erinnerte sich an die „Motivation und<br />

Inspiration“, die von Schriftstellern wie<br />

Heym, Christa Wolf und anderen in Zeiten<br />

der unabhängigen kirchlichen Frie-<br />

densbewegung ausging: „Er war knorrig<br />

und Widerspruch kaum duldend. Wer<br />

mit ihm stritt, der musste argumentativ<br />

gut gerüstet sein. Und er durfte sich nicht<br />

einschüchtern lassen durch die Autorität,<br />

mit der Heym auftrat und die ihm in Respekt<br />

vor seinem ganzen Lebenslauf zugesprochen<br />

wurde. Stefan Heym war ganz<br />

und gar kein Querulant, sondern ein engagierter<br />

Ein-Redner, wo und wie etwas<br />

schief lief in dem von ihm gewählten und<br />

bejahten Staat DDR, den er gern emanzipatorisch-sozialistisch<br />

wissen wollte.“<br />

Wie war Heym überhaupt in die DDR gekommen?<br />

Eigentlich war er ja Ostdeutscher,<br />

geboren 1913 in Chemnitz, als Hermann<br />

Flieg und Kind einer jüdischen<br />

Kaufmannsfamilie. Schon als Gymnasiast<br />

war er literarisch und politisch interessiert,<br />

nahm sich kein Blatt vor den Mund,<br />

und das sollte sein Leben schnell aus der<br />

Bahn werfen.<br />

Wir exportieren!<br />

Wir exportieren!<br />

Wir machen Export in Offizieren!<br />

Wir machen Export!<br />

Wir machen Export!<br />

Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!<br />

Die Herren exportieren deutsches Wesen<br />

zu den Chinesen!<br />

Zu den Chinesen!<br />

Gasinstrukteure,<br />

Flammengranaten,<br />

auf arme, kleine gelbe Soldaten –<br />

denn davon wird die Welt genesen.<br />

Hoffentlich<br />

lohnt es sich!<br />

Dieses Gedicht schreibt der 18-Jährige<br />

1931, und die örtlichen Nazis haben schon<br />

so viel Einfluss, dass er von der Schule<br />

fliegt. Er kann später in Berlin sein Abitur<br />

machen, geht aber nach Prag und<br />

von dort mit dem Stipendium einer jüdischen<br />

Studentenverbindung nach Amerika.<br />

In Chicago studiert er Literatur und<br />

schreibt seine Masterarbeit über Heinrich<br />

Heine. Und er arbeitet als politischer<br />

Journalist, für eine deutschsprachige Zeitung<br />

in New York, schickt aber auch Korrespondentenberichte<br />

nach Europa. Belege<br />

für seine scharfe Beobachtungsgabe,<br />

seine klaren politischen Analysen – von einer<br />

linken Position aus – finden sich etwa<br />

im Sammelband Wege und Umwege. Einmischung.<br />

Heym beginnt in den USA auch bereits<br />

mit literarischen Arbeiten. Sein erster<br />

Roman Hostages wird 1942 ein Erfolg.<br />

Seine Werke schreibt er übrigens viele<br />

Jahrzehnte weiter auf Englisch, lässt die<br />

Bücher erst von anderen übersetzen, später<br />

macht er das selbst.<br />

1943 wird Heym US-Staatsbürger und<br />

bekommt seine Ausbildung im bekann-<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

feb22.indb 45 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:16


Schriftsteller auf beiden Seiten<br />

1913 in Chemnitz geboren, geht Stefan Heym 1935 nach<br />

Amerika, wird US-Staatsbürger und kämpft als Ritchie Boy<br />

gegen die Nazis. Erst 1953 kehrt er in die DDR zurück.<br />

„For Heym“: mit Georg Gisy<br />

(PDS) bei einer Wahlveranstaltung<br />

in Berlin, 1994.<br />

ten Camp Richie als Spezialist für psychologische<br />

Kriegsführung. Schon unmittelbar<br />

nach der Landung der Alliierten in<br />

der Normandie wird er erst in Frankreich,<br />

dann in Deutschland eingesetzt. Nach<br />

Kriegsende arbeitet Heym für deutschsprachige<br />

Medien im Einflussbereich der<br />

US Army, erst in Essen bei der Ruhr Zeitung,<br />

später in München bei der Neuen Zeitung. Er<br />

gilt aber als prosowjetisch und wird daher<br />

in die USA zurückbeordert. Dort lebt er die<br />

nächsten Jahre als freier Schriftsteller, bis<br />

ihn die Hexenjagden von Senator Joseph<br />

McCarthy nach Europa zurückkehren lassen,<br />

erst nach Prag, 1953 in die DDR.<br />

Seine Probleme mit der Führung begannen<br />

bald. Schon 1956 wurde ihm verboten,<br />

seinen Roman über den Juni-Aufstand zu<br />

publizieren. Einige Jahre später folgte die<br />

scharfe Attacke Honeckers am Plenum der<br />

SED. Das Regime sperrte ihn zwar nicht ein,<br />

griff aber zu anderen hinterhältigen Methoden.<br />

Da er seine Bücher nur im Westen<br />

veröffentlichen konnte, hängte man<br />

ihm Devisenverfahren an. Dennoch blieb<br />

Heym Kommunist. Noch einmal Schorlemmer:<br />

Als einer, der in Mauerzeiten stets frei in<br />

den Westen reisen durfte, vertrat er dort seine<br />

kritischen Positionen zu Fehlentwicklungen in der<br />

DDR und deren Darstellung, da selbst ihm eine<br />

Veröffentlichung in der DDR verweigert wurde. Er<br />

ließ nie einen Zweifel daran, dass er als ein Sozialist<br />

redete – in Loyalität zu „seinem Staat“.<br />

Doch dieser Staat sollte verschwinden.<br />

Und Heym – als Schriftsteller auf beiden<br />

Seiten der Grenze anerkannt – durfte bei<br />

der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen<br />

„Mein Denken<br />

ist ständig gespalten,<br />

indem<br />

ich eines weiß<br />

und ein anderes<br />

sage oder zu<br />

sagen suche.“<br />

Bundestags als Parteiloser auf der Liste der<br />

PDS die Rede des Alterspräsidenten halten.<br />

Zuvor hatte es noch Versuche gegeben,<br />

ihn – der jahrzehntelang bespitzelt<br />

worden war – in die Nähe der Stasi zu rücken.<br />

Ich hab gewusst, es wird Trabble geben, weil<br />

ich erstens ein Jud bin, welcher längst hätte<br />

nichts mehr hätte sein sollen als ein verwehtes<br />

Rauchwölkchen über Auschwitz, und zweitens<br />

ein Linker, und drittens weil ich gekämpft habe<br />

als ein Soldat, ein amerikanischer, in dem großen<br />

Krieg gegen Hitler, und weil ich noch heute<br />

arbeite mit meinem verdrehten Kopf und überhaupt<br />

wegen meiner ganzen, wie man sagt, Biografie,<br />

was alles nicht passen will in den großen<br />

Bundestag, wo sie mit Demokratie machen.<br />

Der „Trouble“ war dann doch nicht ganz<br />

so groß, bloß verweigerte die CDU/CSU-<br />

Fraktion den üblichen Beifall, mit Ausnahme<br />

der später wiedergewählten Parlamentspräsidentin<br />

Rita Süßmuth.<br />

Heym blieb weiterhin eine wacher, kritischer<br />

Beobachter und kreativer Schriftsteller.<br />

Zu Juwelen seines Alterswerks zählen<br />

zwei schmale Bändchen, die aus kurzen<br />

Texten zusammengefasst wurden, die er<br />

seiner Frau zum Geburtstag<br />

geschrieben hatte: Immer<br />

sind die Männer schuld und<br />

Immer sind die Weiber weg. Darin<br />

versichert er sie seiner<br />

Liebe, auch wenn dies nicht<br />

immer ohne Querelen abgehe.<br />

Es sind teilweise groteskkomische<br />

autobiografische<br />

Erzählungen, schonungslos auch zu sich<br />

selbst. Etwa, wenn er in Altersweisheit von<br />

sich schreibt, der große Recycler steht schon um<br />

die Ecke und wartet nur darauf, mich recyceln zu<br />

lassen von den Würmern unten oder den Engeln<br />

oben, je nachdem. Wegen einer künstlichen<br />

Hüfte, einem ebensolchen Gebiss und einer<br />

einoperierten Linse nennt er sich selbst<br />

ein wandelndes Ersatzteillager und endet lächelnd-ironisch:<br />

Wenn ihr aber nach alldem<br />

noch wollt eine Altersweisheit von mir, so werd<br />

ich nur eine geben: Beißt in die Brötchen, so lang<br />

ihr noch könnt.<br />

Stefan Heym starb im Dezember 2001 in<br />

Israel und wurde dort begraben. Der Anlass<br />

für die Reise war ein Symposion über seinen<br />

geliebten Heinrich Heine gewesen.<br />

© ullstein bild - Teutopress / picturedesk.com ; ullstein bild - Vision Photos / picturedesk.com<br />

46 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 46 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:22


URBAN LEGENDS<br />

Gleichzeitigkeiten<br />

Wie auch immer und wann auch immer die Pandemie zur Endemie geworden sein<br />

mag, die nicht mehr verkennbaren ökologischen Probleme werden sich nicht durch<br />

aktuelle Ablenkungsmanöver und boomendes Greenwashing lösen lassen.<br />

© ullstein bild - Teutopress / picturedesk.com ; ullstein bild - Vision Photos / picturedesk.com<br />

ir stapfen durch das tiefverschneite<br />

Schweizer Gletschertal auf über<br />

2.400 Höhenmetern; die Sonne<br />

scheint, vereinzelt zwitschern Vögel.<br />

Entlang der Route finden sich<br />

Wegmarken, die den Rückgang des größten Alpengletschers<br />

in der Berninergruppe im Kanton Graubünden dokumentieren:<br />

1920, 1950, 1970, 1980, und dann in immer kürzeren<br />

Abständen bis zum Jahr 2015. Warnhinweise machen auf die<br />

Gefahr von zunehmendem Steinschlag aufgrund der Gletscherschmelze<br />

aufmerksam, und kurz<br />

Von Paul Divjak<br />

darauf stehen wir auch schon vor der<br />

beeindruckenden Gletscherzunge des Morteratschgletschers.<br />

Wie ein verwundetes Wesen liegen die mächtigen blauschimmernden<br />

Eisschichten vor uns. Der Gletscher scheint weh zu<br />

klagen; deutlich ist ein auf- und abschwellendes leises Rauschen<br />

hörbar. Die gigantische Dimension der Bedrohung wird<br />

unmittelbar spürbar – so ganz anders als durch die abstrahierende<br />

Betrachtung via vergleichender Fotografien und Satellitenbildern.<br />

Und abends dann verkünden die Nachrichten, dass ehemalige<br />

Politikerdarsteller sich nun zur Gänze dem libertären<br />

Denken und Handeln widmen werden, von dem ihre selbstherrliche<br />

Regierungsarbeit bereits geprägt war.<br />

Interessegeleitetes, unverantwortliches und kurzfristiges,<br />

rein imageorientiertes Agieren hat – gerade in Zeiten wie diesen<br />

– zur Aushöhlung demokratischer Werte, zu Polarisierung<br />

und Prägung von Ohnmachtsgefühlen beigetragen; der Mangel<br />

an sozialer, gemeinwohlunterstützender und klimaspezifischer<br />

politischer Verantwortung ist offensichtlich geworden.<br />

Wie auch immer und wann auch immer die Pandemie zur<br />

Endemie geworden sein mag, die nicht mehr verkennbaren<br />

ökologischen Probleme werden sich nicht durch aktuelle Ablenkungsmanöver<br />

und boomendes Greenwashing und so genannte<br />

„klimapositive“ Produkte lösen lassen. Die Legende<br />

vom grenzenlosen Wachstum ist in ihren Grundfesten erschüttert,<br />

die „Rhythmen des weltumspannenden Warenverkehrs“<br />

(Nancy) sind nicht zuletzt durch die Virulenz der Geschehnisse<br />

der letzten zwei Jahre ganz offensichtlich ins Taumeln geraten:<br />

die omnipräsente Spike-Protein-Bedrohung führt uns unser<br />

aller Endlichkeit und Ohnmacht überdeutlich vor Augen.<br />

Scheinbar vom Menschen Kontrollierbares ist völlig außer<br />

Kontrolle geraten, Ordnungssysteme sind erschüttert, krude,<br />

stigmatisierende und menschenverachtende Erklärungsmodelle<br />

füllen die Lücken des Nicht-mehr-Begreifbaren. Die<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

„Das Virus an sich offenbart eine Welt, die<br />

seit Langem schon die Wirren eines tiefgreifenden<br />

Wandels verspürt.“ Jean-Luc Nancy<br />

Wahrnehmung der Welt ist auf den Kopf gestellt. Die Gleichzeitigkeit<br />

von rückschrittlichem wie avanciertem Agieren zeigt<br />

sich unter anderem in paradoxen politischen Entscheidungen:<br />

Während sich Deutschland von der Atomkraft verabschiedet,<br />

wird ein paar hundert Kilometer weiter östlich, in Polen,<br />

auf den Auf- und Ausbau ebendieser Energiegewinnung gesetzt.<br />

Die EU propagiert Erdgas wie Atomkraft als „grüne Energie“;<br />

nachhaltiger Backlash.<br />

Und bei aller Kritik hinsichtlich Datenmissbrauch, sozialer<br />

Ausbeutung, Destablisierung von fragilen politischen Gleichgewichten<br />

und Taktiken der Steuervermeidung findet weiterhin<br />

eine perfide Heroisierung von Tech-Monopolisten statt.<br />

Diejenigen, die am meisten von den multiplen Krisen profitieren,<br />

werden als Role-Models gefeiert. Alle Welt ist begeistert<br />

von den Spleens der kalifornischen Big-Data-Profiteure<br />

und Weltraum-als-Fluchtpunkt-Akteure und träumt von Silicon<br />

Valley als Start-up-Blaupause.<br />

Gegenwartserfahrung bedeutet mehr denn je die Bekanntschaft<br />

mit Angst und den Umgang mit ihr und dem Unbekannten<br />

sowie dem Nicht-Wissen. Gegenwärtig ist alles gleichzeitig<br />

präsent, und vieles wäre (noch) möglich, und doch liegen<br />

das Gros der mondialen Geschehnisse, die wechselseitigen<br />

Wirkungen und Abhängigkeiten außerhalb unseres Blickfeldes.<br />

Unterdessen prasseln die aktuellen News, die Bilder und<br />

Kommentare in der Wiederholung auf uns ein; und täglich<br />

grüßt das Murmeltier.<br />

Wir werden uns – soweit wir dies vorhersehen und planen<br />

können – auch im kommenden Winter wieder auf den<br />

Weg zum Morteratschgletscher machen. Und auch wenn wir<br />

es nicht wahrhaben wollen: Seine Zunge wird sich dann weiter<br />

zurückgezogen haben. Die Klimakatastrophe ist kein Zukunftsthema<br />

– sie ist längst Realität. Die Initiative Mort Alive,<br />

die Himalaya-Technologie nutzt, um die abfließende Gletschermilch<br />

in eisschützenden Schnee zu verwandeln, will das<br />

Abschmelzen des Gletschers um 40 Jahre (!) hinauszögern.<br />

Dieses ambitionierte Projekt wird von der Graubündner Kantonalbank<br />

unterstützt und sucht mit Gletscherkonzerten nach<br />

Spender:innen. – Viva!<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

feb22.indb 47 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:23


Bauhaus, Avantgarde, Pädagogik<br />

Vereinzelt tauchen Bilder von ihr<br />

auf, in Auktionen oder in Ausstellungen,<br />

meist wenn es um<br />

die Kunst von Frauen aus der<br />

Zwischenkriegszeit geht. In der Kunstgeschichte<br />

hat Friedl Dicker-Brandeis<br />

(1898–1944) allerdings den ihr gebührenden<br />

Platz noch nicht eingenommen. Das<br />

will nun eine Ausstellung ändern, die aus<br />

gutem Grund am Holocaust-Gedenktag in<br />

Linz eröffnet wurde.<br />

Warum gerade Linz? Beziehungen zum<br />

Werk oder zur Person der Künstlerin gibt<br />

es in dieser Stadt offenkundig nicht, aber<br />

„in der Nähe von Linz gab es das KZ Mauthausen<br />

und Gusen, und Linz war eine<br />

von Hitlers Führerstädten. Wir sehen es<br />

als unseren Auftrag an, dass wir auch immer<br />

wieder an diese historischen Ereignisse<br />

erinnern“, erklärt die Kuratorin der<br />

Schau, Brigitte Reutner-Doneus.<br />

Multitalent. Schon früh zeigt sich das kreative<br />

Talent der in Wien als<br />

Tochter eines ungarisch-jüdischen<br />

Kaufmanns geborenen<br />

Künstlerin. Vielseitig<br />

interessiert an Grafik,<br />

Fotografie, Kunstgewerbe<br />

und Malerei, lässt sie sich<br />

an den entsprechenden<br />

Institutionen in Wien ausbilden,<br />

fasziniert von der<br />

zeitgenössischen Musik be-<br />

Entwurf des<br />

Speise- und<br />

Musikzimmers für<br />

die Wohnung von<br />

Stella Reymers-<br />

Münz. Friedl Dicker-<br />

Brandeis und Franz<br />

Singer, 1930.<br />

Komposition<br />

mit Musikinstrumenten,<br />

um 1920.<br />

Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin,<br />

Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin<br />

Eine Ausstellung im Linzer Lentos Museum beleuchtet die vielen Facetten<br />

der nahezu vergessenen jüdischen Künstlerin.<br />

Von Anita Pollak<br />

© kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez; Archiv Georg Schrom, D. Singer Foto: Reinhard<br />

Haider; Johannes Beckmann; Kunsrsammlung der Universität für angewandte Kunst<br />

48 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 48 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:31


Kinderzeichnungen aus Theresienstadt<br />

© kunst-dokumentation.com, Manuel Carreon Lopez; Archiv Georg Schrom, D. Singer Foto: Reinhard<br />

Haider; Johannes Beckmann; Kunsrsammlung der Universität für angewandte Kunst<br />

Friedl Dicker-<br />

Brandeis um<br />

1938. Die Bauhaus-Schülerin,<br />

Avantgarde-Malerin<br />

und Kunstpädagogin<br />

wurde 1944 in<br />

Auschwitz ermordet.<br />

„Die tragischen<br />

Lebensumstände<br />

der Künstlerin<br />

können in der<br />

Auseinandersetzung<br />

mit ihrem<br />

Schaffen nicht<br />

vollends ausgeblendet<br />

werden.“<br />

Brigitte Reutner-<br />

Doneus<br />

Das Verhör,<br />

1934.<br />

sucht sie aber auch einen Kurs bei Arnold<br />

Schönberg.<br />

Schon 1919 folgt sie ihrem Kunstlehrer<br />

Johannes Itten an das neu gegründete<br />

Bauhaus nach Weimar, wo sie bald<br />

eine der besten Schülerinnen wird. „Sie<br />

war herausragend und durfte sogar schon<br />

als Studentin unterrichten“, erläutert die<br />

Kuratorin. Vier Jahre lang studiert Friedl<br />

dort Weberei, Architektur, Innenarchitektur,<br />

Druck, Buchbinderei, Bühnenbild<br />

und Kostümbildnerei, Fertigkeiten, die<br />

sie danach in einer Ateliergemeinschaft<br />

mit ihrem Partner Franz Singer<br />

in Wien beruflich umsetzt.<br />

Die beiden richten Häuser<br />

und Wohnungen ein und entwerfen<br />

im reduzierten, funktionsgerechten<br />

Stil mit leisen Anklängen<br />

an Adolf Loos und die Wiener Werkstätte<br />

Möbel und Textilien. Im Gemeindebau<br />

„Goethehof“ gestaltet sie einen pädagogisch<br />

vorbildlichen Montessori-Kindergarten,<br />

den der spätere Maler Georg Eisler<br />

als Kind besuchte. Spuren ihrer diesbezüglichen<br />

Tätigkeiten finden sich leider<br />

nur noch in Fotos und Skizzen.<br />

In vieler Hinsicht war Friedl Dicker-<br />

Brandeis ein Kind ihrer Zeit und der<br />

stark politisierten künstlerischen Szenen<br />

in Wien und Berlin. Als Kommunistin<br />

gestaltet sie Propagandaplakate von erstaunlicher<br />

Expressivität und Heutigkeit,<br />

fälscht in ihrer Wohnung Pässe für den<br />

Untergrund und wird 1931 verhört und<br />

verhaftet. Ihre autobiografische Gemäldeserie<br />

Das Verhör fängt die düstere Szene<br />

realistisch ein. Als Malerin ist in ihrer Jugend<br />

für zeitgenössische Einflüsse offen,<br />

wie Exponate aus verschiedenen Schaffensphasen<br />

zeigen, und findet erst spät<br />

zu ihrem eigenen Stil.<br />

„Dass sie so spät überhaupt zum Malen<br />

gekommen ist, hängt mit ihrer Familiengeschichte<br />

zusammen, sie war keine<br />

Tochter aus reichem Haus und musste immer<br />

wieder für ihre eigene Existenz sorgen.<br />

Erst als sie verheiratet war, also 1936<br />

in Prag, konnte sie sich dem Malen widmen,<br />

aber da war es auf Grund der politischen<br />

Ereignisse schon fast zu spät. Sie<br />

wollte dann nur mehr die Landschaft malen<br />

und zwar ‚weder modern noch unmodern‘,<br />

das waren ihre Worte. Diese Bilder<br />

sind sehr berührend, weil sie mit großer<br />

Leidenschaft gemalt sind und im Hintergrund<br />

immer die Bauhaus-Inspiration<br />

spürbar ist. Sie ist dann wirklich gegenständlicher<br />

geworden, und ich habe mir<br />

überlegt, wie das weitergegangen wäre,<br />

wenn sie den Krieg überlebt hätte. Ich<br />

glaube, sie wäre gegenständlich geblieben,<br />

auch von ihrer politischen Ausrichtung<br />

wäre ihr das näher gewesen“, meint<br />

Brigitte Reutner-Doneus.<br />

Theresienstadt. Obwohl sie ein Ausreisevisum<br />

für Palästina erhält, bleibt Friedl<br />

bei ihrem Mann Pavel Brandeis in Prag,<br />

sie müssen immer wieder umziehen und<br />

werden schließlich Ende 1942 nach Theresienstadt<br />

deportiert. Dort nimmt sich<br />

Friedl als sensible Kunsterzieherin hingebungsvoll<br />

der Kinder an, ermutigt sie<br />

zu eigenständiger Kreativität und zur Verarbeitung<br />

ihrer Traumata. Ihre ganz modernen<br />

kunstpädagogischen Ziele lassen<br />

sich in ihrem Text Kinderzeichnen nachlesen.<br />

Als sie ihrem Mann im Oktober 1944<br />

nach Auschwitz folgt, gelingt es ihr noch,<br />

tausende dieser letztlich erschütternden<br />

Kinderzeichnungen aus Theresienstadt in<br />

Sicherheit zu bringen. Sie gelangen nach<br />

dem Krieg in das Jüdische Museum Prag,<br />

einige davon sind nun in einem eigenen<br />

Raum ausgestellt.<br />

Friedl Dicker-Brandeis wird gleich<br />

nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast,<br />

ihr Mann überlebt den Krieg und kann einige<br />

Werke seiner Frau retten.<br />

„Die tragischen Lebensumstände von<br />

Friedl Dicker-Brandeis können in der Auseinandersetzung<br />

mit ihrem Schaffen nicht<br />

vollends ausgeblendet werden. In vielerlei<br />

Hinsicht wurde die Künstlerin daran<br />

gehindert, sich frei zu entfalten und ihre<br />

Kreativität voll auszuleben. Dennoch entstand<br />

ein bedeutendes Œuvre, das heute<br />

größten Respekt und Bewunderung verdient.<br />

Trotz Verfolgung und Terror schrieb<br />

sich die kluge, unerschrockene und enorm<br />

talentierte Künstlerin mit ihrem qualitätsvollen,<br />

genreübergreifenden Werk tief in<br />

die Kunst- und Kulturgeschichte ein“, hält<br />

die Kuratorin im Katalog zur Ausstellung<br />

fest, der auch den Wissensstand der Forschung<br />

und die Rezeptionsgeschichte der<br />

Künstlerin spiegelt. Ihr Platz in der Kunstgeschichte<br />

als erstaunliches künstlerisches<br />

Multitalent scheint Friedl Dicker-Brandeis<br />

mit dieser umfassenden Personale jedenfalls<br />

gesichert.<br />

wına-magazin.at<br />

49<br />

feb22.indb 49 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:34


Jüdisches Kulturschiff<br />

Kultur im Bauch<br />

des Lastkahns<br />

In Berlin-Spandau wird bald das Jüdische Theaterschiff<br />

vor Anker liegen. Noch wird in einer Werft an der Elbe geschweißt,<br />

gehämmert und genietet. Denn hier verwandelt<br />

sich ein ehemaliger Lastkahn, die „MS Goldberg“, in<br />

vielen Arbeitsschritten in eine Bühne der besonderen Art.<br />

Die Eröffnung ist für Mitte Mai <strong>2022</strong> geplant.<br />

Von Uli Jürgens<br />

Begonnen hat alles im Jahr 2015,<br />

als der Kulturmanager Peter Sauerbaum<br />

– er arbeitete unter anderem<br />

an der Staatsoper Unter<br />

den Linden, beim Berliner Ensemble, am<br />

Deutschen Theater und ist seit 2018 künstlerischer<br />

Leiter des Choriner Musiksommers<br />

– gemeinsam mit seiner Frau Noa Lerner-Sauerbaum<br />

beschloss, in Berlin etwas<br />

gegen den schwelenden Antisemitismus,<br />

gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

zu unternehmen. Ein Jüdisches Theater<br />

für alle Sinne schwebte den beiden vor.<br />

Ein Ort, an dem sich jüdische und nicht<br />

jüdische Künstlerinnen und Künstler zusammenfinden,<br />

gemeinsam musizieren<br />

könnten. Rasch wurde eine Projektgruppe<br />

gegründet, zahlreiche Räumlichkeiten<br />

wurden besichtigt, das Richtige war aber<br />

nicht dabei. Doch warum eigentlich ein<br />

stationäres Theater, fragte sich Noa Lerner-<br />

Sauerbaum eines Tages. Warum nicht die<br />

Idee des Thespiskarrens aufgreifen, also<br />

eine Wanderbühne?<br />

Berlin ist von Wasserstraßen durchzogen<br />

– im Zoom-Interview kurz vor Weihnachten<br />

meint Intendant Peter Sauerbaum augenzwinkernd,<br />

Berlin habe ja sogar mehr<br />

Brücken als Venedig, auch wenn diese natürlich<br />

nicht so schön seien wie jene der<br />

Lagunenstadt. Was liegt da näher als eine<br />

schwimmende Wanderbühne, also ein<br />

Theaterschiff? Und so wurden ab 2017 eben<br />

Schiffe besichtigt. Wunderschöne, die allerdings<br />

dem Zweck nicht entsprachen,<br />

aber auch richtige Schrottkisten, erzählt<br />

Peter Sauerbaum. Durch Zufall entdeckte<br />

das Team schließlich die „MS Goldberg“,<br />

einen 1964 in Boizenburg an der Elbe in<br />

der ehemaligen DDR gebauten Lastkahn,<br />

64 Meter lang, etwas mehr als acht Meter<br />

breit, benannt nach der kleinen Stadt Goldberg<br />

in Mecklenburg-Vorpommern. Es war<br />

wohl Liebe auf den ersten Blick.<br />

Danach hätte alles eigentlich viel schneller<br />

gehen sollen, die Eröffnung des Theaterschiffes<br />

war für das Frühjahr 2021 geplant<br />

– doch Bürokratie und Covid-19<br />

sorgten für Verzögerungen. Außerdem<br />

musste das Team im Sommer einen schweren<br />

Verlust verkraften: Noa Lerner-Sauerbaum<br />

starb nach schwerer Krankheit. Mit<br />

ihr verlor das Projekt eine treibende Kraft,<br />

sie war eine Kennerin der jüdischen Szene<br />

Berlins, hätte die Gastgeberin auf dem Theaterschiff<br />

werden sollen.<br />

Ans Aufgeben dachte aber niemand,<br />

und so steht die „MS Goldberg“ seit 4. Oktober<br />

tatsächlich in der Werft in Neuderben<br />

an der Elbe. Die Verwandlung zum<br />

Theaterschiff hat begonnen. In großen<br />

Mengen wird Stahl verbaut, eine Stahlfirma<br />

hat dafür 50 Tonnen gespendet. Es<br />

entsteht ein neues Oberdeck, die Seitenwände<br />

müssen erhöht werden, dann werden<br />

die Bühne und die Nebenräume für<br />

Künstlerinnen, Künstler und Technik eingebaut,<br />

dazu kommen ein Foyer und ein<br />

Bistro mit Sonnenterrasse. 190 Zuschauerinnen<br />

und Zuschauer werden im Innenraum<br />

Platz finden. Noch ist das alles kaum<br />

vorstellbar. Immer wieder besuchen Peter<br />

Sauerbaum und sein technischer Leiter<br />

Klaus Wichmann die Werft und verfolgen<br />

staunend die neuesten Entwicklungen.<br />

Auf der Website und der Facebook-Seite des<br />

Jüdischen Theaterschiffs dokumentiert das<br />

Team die Umbauarbeiten mit vielen Fotos<br />

und Videos.<br />

Die jüdische Gemeinde in Berlin ist<br />

heute mit rund 12.000 Mitgliedern zwar die<br />

größte Deutschlands, vom einst blühenden<br />

jüdischen Leben ist in Berlins Straßen –<br />

ähnlich wie in Wien – nicht mehr allzu viel<br />

entdecken. Die Gemeinde selbst bemüht<br />

sich um eine Auseinandersetzung mit der<br />

Vergangenheit, das Jüdische Museum und<br />

das Centrum Judaicum beschäftigen sich<br />

intensiv mit der Geschichte der Berliner<br />

Jüdinnen und Juden. Die mit rund 3.000<br />

Sitzplätzen ehemals größte Synagoge Europas<br />

in der Oranienburger Straße wurde<br />

aufwendig renoviert. Stadtspaziergänge<br />

führen durch den ältesten jüdisch geprägten<br />

Bezirk, die ehemalige Spandauer<br />

Vorstadt mit dem sogenannten Scheunenviertel.<br />

Und unübersehbar ist freilich das<br />

Holocaustdenkmal mit seinen 2.711 Be-<br />

© Gregor Zielke; Klaus Wichmann; Jüdisches Theaterschiff<br />

50 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 50 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:36


Das Gemeinsame feiern<br />

Geigerin Liv<br />

Migdal in der noch<br />

unausgebauten „MS<br />

Goldberg“.<br />

Mit einem jüdischen<br />

Theater für alle Sinne<br />

will das Team rund<br />

um Peter Sauerbaum<br />

und seine verstorbene<br />

Frau Noa etwas gegen<br />

den schwelenden Antisemitismus<br />

und Rassimus<br />

in Berlin unternehmen.<br />

© Gregor Zielke; Klaus Wichmann; Jüdisches Theaterschiff<br />

tonstelen in Berlin-Mitte. Außerdem gibt<br />

es in den letzten Jahren ein interessantes<br />

Phänomen zu beobachten: Junge Israelis<br />

lassen sich gerne in Berlin nieder, die Stadt<br />

sei cool, biete vor allem Künstlerinnen und<br />

Künstlern viele Möglichkeiten.<br />

Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten<br />

lebten in Berlin rund 160.000<br />

Jüdinnen und Juden, prägten das kulturelle<br />

und wirtschaftliche Leben. 55.000<br />

von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet,<br />

nur wenige überlebten in Verstecken.<br />

Der Großteil der Jüdinnen und Juden<br />

musste fliehen oder wurde vertrieben.<br />

Einer dieser Menschen steht bald im<br />

Mittelpunkt des Jüdischen Theaterschiffes.<br />

Denn am 23. Mai soll die „MS Goldberg“<br />

mit der Uraufführung des Bühnenstücks<br />

nach dem Roman Der Sänger<br />

des Schweizer Schriftstellers Lukas Hartmann<br />

eröffnet werden. Regie führt Armin<br />

Petras vom Staatstheater Cottbus,<br />

„Wenn wir nun mit<br />

unserem jüdischen<br />

Theaterschiff ,MS<br />

Goldberg‘ in See<br />

stechen, wollen wir<br />

bekannte und vergessene,<br />

aber auch<br />

neue Sterne glitzern<br />

lassen, an das Verlorene<br />

erinnern, das<br />

Gemeinsame<br />

feiern und dem Neuen<br />

eine Heimat geben.“<br />

Peter Sauerbaum<br />

wo derzeit auch die Proben stattfinden.<br />

Es geht um den 1904 im österreichischen<br />

Kronland Buko<strong>wina</strong> geborenen Tenor Joseph<br />

Schmidt, dem aufgrund seiner geringen<br />

Körpergröße von 1,54 Meter zwar<br />

eine Karriere an den großen Opernhäusern<br />

verwehrt blieb, dessen zahlreiche<br />

Konzerte und Schallplattenaufnahmen<br />

ihn – der von seinen Fans liebevoll Josele<br />

genannt wurde – aber um 1930 zu einem<br />

der beliebtesten Sänger in Österreich<br />

und Deutschland machten. 1933 begann<br />

Schmidts jahrelange Flucht vor den Nationalsozialisten,<br />

sie endete in der Schweiz,<br />

wo der Sänger interniert wurde, erkrankte<br />

und schließlich im Jahr 1942 starb. Einen<br />

Tag nach seinem Tod hätte er eine Arbeitserlaubnis<br />

bekommen und wäre frei<br />

gewesen. Joseph Schmidts Lebens- und<br />

Fluchtgeschichte sei exemplarisch für das<br />

Schicksal der Juden in Deutschland und<br />

Europa, meint Peter Sauerbaum.<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

feb22.indb 51 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:38


Vielfältiges Programm<br />

Kulturmanager Peter Sauerbaum auf der „MS Goldberg“. Mit seiner<br />

verstorbenen Frau Noa erträumte er einen gemeinsamen Schaffensort für<br />

jüdische und nicht jüdische Künstlerinnen und Künstler.<br />

An das Verlorene erinnern und dem Neuen<br />

eine Heimat geben. Theaterstücke werden<br />

jedenfalls en suite gespielt, und es werden<br />

immer Gastspiele sein, denn ein fixes Ensemble<br />

kann sich das Theaterschiff nicht<br />

leisten. Geplant ist etwa George Taboris<br />

Version von Gotthold Ephraim Lessings Komödie<br />

Die Juden oder die musikalisch-szenische<br />

Revue Wilde Bühne – reloaded über<br />

Trude Hesterbergs legendäres Berliner Kabarett.<br />

Zudem soll genügend Freiraum für<br />

andere Kunstformen bleiben. Neben Theaterproduktionen<br />

werden Filme gezeigt, es<br />

wird Konzerte und Lesungen geben. Bald<br />

nach der Eröffnung ist, verrät die Website<br />

der „MS Goldberg“, ein literarischer<br />

Abend dem Themenbereich Schifffahrt gewidmet,<br />

es werden Ausschnitte aus Werken<br />

von Heinrich Heine, Vicky Baum, Stefan<br />

Zweig oder Kurt Tucholsky zu hören<br />

sein. Geplant ist auch der sogenannte Goldberg-Salon,<br />

ein Diskussionsforum zu Themen<br />

wie Antisemitismus, Geschichte des<br />

jüdischen Theaters in Berlin, Architektur<br />

und Digitalisierung. Das Publikum sei eingeladen,<br />

sich daran zu beteiligen – denn<br />

der Salon lebe von Austausch und Ergänzung,<br />

sagt Peter Sauerbaum. Musikalisch<br />

fokussiert man sich wegen der räumlichen<br />

Gegebenheiten auf eher kleinere Ensembles<br />

und Kammerorchester. Von Klassik<br />

über Jazz und Weltmusik bis zu Pop und<br />

Rap reicht die Bandbreite.<br />

Auch ein Programm für Kinder und Jugendliche<br />

soll es bald geben. Angedacht<br />

sind etwa die Kinderoper Brundibár des<br />

tschechischen Komponisten<br />

Hans Krása, in der es um die<br />

Kinder aus Theresienstadt<br />

geht, oder eine Zusammenarbeit<br />

mit dem jüdischen Puppentheater<br />

Bubales, bei der<br />

die Welt der jüdischen Feiertage,<br />

Traditionen und Witze<br />

nicht nur für jüdische Kinder<br />

erlebbar wird.<br />

Hinter dem Projekt Jüdisches<br />

Theaterschiff steht der<br />

gemeinnützige Verein Discover<br />

Jewish Europe. Denn allein<br />

durch Einnahmen aus<br />

dem Ticketverkauf ist die Bespielung<br />

und Erhaltung des<br />

Theaterschiffes nicht gewährleistet. Der<br />

Verein ist auf private Spenden und Sponsoring<br />

angewiesen. Die ehemalige deutsche<br />

Bundesregierung unterstützte das<br />

Projekt mit einer Förderung im vergangenen<br />

sowie für das heurige Jahr. Mit der<br />

neuen Bundesregierung sei man bereits<br />

im Gespräch, um den weiteren Betrieb zu<br />

garantieren, sagt Peter Sauerbaum. Der<br />

Umbau des Lastkahns wird – neben Sachspenden<br />

wie dem oben erwähnten Stahl –<br />

durch eine Geldspende von einer Million<br />

Euro der Stiftung Deutsche Klassenlotterie<br />

finanziert.<br />

Gespielt wird übrigens nur vor Anker<br />

liegend, so sind die Bestimmungen – handelt<br />

es sich bei der „MS Goldberg“ doch<br />

um ein Gütermotorschiff und kein Fahrgastschiff.<br />

Das habe aber auch seine Vor-<br />

Und da der<br />

Lastkahn auch<br />

im Theatermodus<br />

voll funktionstüchtig<br />

bleibt, wird er<br />

auch mal für<br />

Veranstaltungen<br />

quer durch<br />

Berlin über die<br />

Spree nach<br />

Köpenick oder<br />

nach Süden<br />

über die Havel<br />

auf den Wannsee<br />

schippern.<br />

teile, erzählt Peter Sauerbaum, weil man<br />

Bestandteil der Berufsschifffahrt sei und<br />

überall dort anlegen könne, wo derartige<br />

Schiffe eben anlegen dürfen. Und da der<br />

Lastkahn auch im Theatermodus<br />

voll funktionstüchtig<br />

bleibt, wird er<br />

auch mal für Veranstaltungen<br />

quer durch Berlin<br />

über die Spree nach<br />

Köpenick oder nach Süden<br />

über die Havel auf<br />

den Wannsee schippern.<br />

Ein Glück, dass der frühere<br />

Schiffseigner Dieter<br />

Birmuske und sein<br />

Bootsmann Artur Tuszynski,<br />

die jede Niete des<br />

Schiffes kennen, weiterhin<br />

mit an Bord sind.<br />

Denn es könne zwar jeder<br />

ein Schiff kaufen,<br />

aber nicht jeder könne es<br />

fahren, weiß Peter Sauerbaum.<br />

Kapitän Birmuske<br />

erwarb 1975 sein Schiffspatent,<br />

war als selbstständiger<br />

Binnenschiffer<br />

zwischen Deutschland,<br />

Holland, Belgien und Polen unterwegs,<br />

erst auf dem Schleppkahn „Willi“, dann<br />

auf dem Gütermotorschiff „Vulkan“ und<br />

seit 1995 eben auf der „MS Goldberg“.<br />

Sobald die handwerklichen Arbeiten in<br />

der Werft abgeschlossen sind, wird die „MS<br />

Goldberg“ ihren Heimathafen am rechten<br />

Havelufer in Spandau ansteuern. Ihr Ankerplatz<br />

liegt an der idyllischen grünen<br />

Uferpromenade unterhalb der Dischinger<br />

Brücke. Und dann übernimmt im Bauch<br />

des ehemaligen Lastkahns die Kultur das<br />

Kommando.<br />

Uli Jürgens<br />

lebt und arbeitet in Wien. Sie beschäftigt sich in ihren<br />

Artikeln, Radiobeiträgen, Büchern und Fernsehdokumentationen<br />

vor allem mit den Themen Flucht und<br />

Exil in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.<br />

© Gregor Zielke; Jordana Schramm<br />

52 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 52 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:43


WINA WERK-STÄDTE<br />

Die Spanische<br />

Synagoge befindet sich<br />

im Stadtteil Josefstadt an<br />

der Adresse V zenská 1.<br />

© Gregor Zielke; Jordana Schramm<br />

Prag<br />

In der tschechischen Hauptstadt<br />

sind einige Synagogengebäude bis heute<br />

erhalten, unter anderen die<br />

Spanische Synagoge, deren Name<br />

für Verwirrung sorgt.<br />

Von Esther Graf<br />

zenská 1 ist eine traditionsreiche<br />

Adresse für Synagogenbauten<br />

in Prag. Hier<br />

befand sich einst die älteste<br />

Synagoge, die Altschul, bis<br />

sie 1389 während eines Pogroms<br />

zerstört wurde. Trotz eines kaiserlichen<br />

Schließungsbefehls und mehrerer<br />

Brände wurde sie immer wieder<br />

aufgebaut. 1837 war sie die erste reformierte<br />

Synagoge in Prag und wich 1867<br />

einem Neubau, der den Ansprüchen<br />

der Reformgemeinde besser genügte.<br />

1868 wurde dieser eingeweiht und Spanische<br />

Synagoge genannt. Der Name<br />

spielt jedoch nicht auf die vermeintlich<br />

sephardischen Gemeindemitglieder an<br />

– Synagogenbesucher:innen und Ritus<br />

waren durchweg aschkenasisch –, sondern<br />

auf die architektonische Ausgestaltung<br />

des Sakralbaus. Als Vorbild diente<br />

der Wiener Leopoldstädter Tempel. Hinter<br />

der mit Hufeisenbögen und Zierblenden<br />

gegliederten Fassade befindet sich<br />

ein Zentralbau, der von einer Kuppel<br />

überwölbt und im Innenraum von drei<br />

Emporen eingefasst wird. Wände und<br />

Decken sind vollflächig dekoriert mit<br />

bunten Stuckarabesken sowie geometrischen<br />

und floralen Ornamenten. Der<br />

Reformgedanke spiegelt sich in der Orgel<br />

auf der rechten Empore und in der an<br />

den Toraschrein herangerückten Bima<br />

(Pult für die Toralesung) wider.<br />

Bis 1941 fanden in der Spanischen Synagoge<br />

G-ttesdienste statt, um anschließend<br />

von den Nazis als Lagerstätte für<br />

enteignete Gegenstände zweckentfremdet<br />

zu werden. 1955 übernahm das Jüdische<br />

Museum die Verwaltung, bis die<br />

Synagoge 1994 in den Besitz der konservativen<br />

Bejt-Praha-Gemeinde überging.<br />

Auf den Emporen ist eine Dauerausstellung<br />

zu jüdischem Leben in Böhmen und<br />

Mähren zu sehen.<br />

PRAG<br />

Nachweisbar sind Juden seit 1091 in Prag ansässig. Im 13. Jahrhundert kam es zur<br />

Einrichtung der abgeschlossenen Judenstadt, in der sich eine anerkannte Selbstverwaltung<br />

etablierte. Ab dem 16. Jahrhundert war hier das europäische Zentrum<br />

jüdischer Gelehrsamkeit und später auch der jüdischen Aufklärung. Von den ab 1941<br />

durchgeführten Deportationen überlebten von den knapp 50.000 Juden nur 7.500.<br />

Die meisten wanderten nach Israel und in die USA aus. Heute leben noch etwa 1.500<br />

in der 1,3 Millionen-Hauptstadt Tschechiens.<br />

© Thomas Ledl, 2016, Commons Wikimedia<br />

wına-magazin.at<br />

53<br />

feb22.indb 53 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:44


FEBRUAR KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

BUCH<br />

WIENER KINOS<br />

Von Juliane Batthyány<br />

Wien: Phoibos 2021<br />

332 S., ca. 200 Abb., € 29<br />

Wien war einst nicht nur eine „Theaterstadt“,<br />

sondern auch eine „Kinostadt“. Hunderte<br />

Kinos, kurz- und längerlebige, sind in<br />

der 125-jährigen Geschichte der Wiener Kinos<br />

zu verzeichnen. Nur noch eine Handvoll<br />

historischer Kinos sind heute in Betrieb.<br />

Und es werden immer weniger. Von den allerwenigsten<br />

Kinos gibt es heute noch Bilder,<br />

geschweige denn umfangreiche Fotodokumentationen.<br />

Umso wichtiger sind Arbeiten<br />

wie jene von Juliane Batthyány, die seit<br />

mehr als einer Dekade noch erhaltene Wiener<br />

Kinos fotografisch dokumentiert – und<br />

dieses Unterfangen einem jener Zufälle verdankt,<br />

die so oft unser Leben verändern: Im<br />

Sommer 2006 spazierte die junge Fotografin<br />

durch die Wiener Innenstadt und entdeckte<br />

dabei die Überreste des gerade geschlossenen<br />

und ausgehöhlten Imperial-Kinos. Teile<br />

der Bestuhlung und des historischen Inventars<br />

lagen unbeachtet auf dem Gehsteig<br />

nahe der Rotenturmstraße und warteten auf<br />

ihre „Entsorgung“. Es war der Impuls, die Gegenwart<br />

der wenigen noch erhaltenen Kinos<br />

festzuhalten, deren „Alltag und Überleben“,<br />

schreibt Batthyány, und damit auch<br />

einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Erinnern<br />

zu leisten, denn allein seit der Erstauflage des<br />

Bandes 2010 sind weitere fünf Kinos für immer<br />

geschlossen worden. Wiener Kinos ist<br />

ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an diese<br />

einstige Kinostadt, zu deren großer Bedeutung<br />

zahlreiche Jüdinnen und Juden einen<br />

wesentlichen Beitrag leisteten.<br />

annefrank.digital<br />

PODCAST<br />

ANNE FRANK<br />

Die Zahlen sind alarmierend: 81 Prozent der<br />

Schüler:innen aus Österreich konnten bei<br />

einer Befragung entweder gar keine oder<br />

nur eine falsche Definition des Begriffs „Antisemitismus“<br />

anführen, und nur 59 Prozent<br />

der Schüler:innen in Deutschland ab 14 Jahren<br />

ist bekannt, dass Auschwitz-Birkenau<br />

ein NS-Konzentrationslager war. Mit ihrem<br />

seit 27. Jänner kostenlos zugänglichen Podcast<br />

Anne Frank auf www.annefrank.digital<br />

will das Wiener buero butter nun einen<br />

Beitrag leisten, um Jugendlichen von heute<br />

die Erinnerung an die Verbrechen des NS-<br />

Regimes auf eine ihnen zugängliche und lebensnahe<br />

Art zu vermitteln. Max Schnürer<br />

und Ina Lins, die für das Projekt verantwortlich<br />

zeichnen. zu ihrer Idee: „Mit digitalen<br />

Medien wollen wir junge Menschen an die<br />

Verantwortung, die aus unserer gemeinsamen<br />

Geschichte führt, heranführen. Der<br />

Podcast der Anne Frank soll das möglich<br />

machen.“ Gewonnen werden konnten an<br />

die 50 bekannte Persönlichkeiten, die für<br />

dieses audiovisuelle Vermittlungsprojekt<br />

eines der prägendsten und berührendsten<br />

Zeitdokumente des 20. Jahrhunderts<br />

eingelesen haben, darunter Bundespräsident<br />

Alexander van der Bellen, Josef Hader,<br />

Armin Wolf, Yasmo, Gregor Gysi, Dirk<br />

Stermann, Manuel Rubey und viele andere<br />

Prominente aus Politik, Kunst, Kultur und<br />

Medien.<br />

LIEDERABEND<br />

20 Uhr<br />

Theater Nestroyhof Hamakom,<br />

Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />

hamakom.at<br />

15. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

ACH, SCHÖN IST DIE WELT<br />

Der Titel des Abends stammt aus Hermann<br />

Leopoldis 1946 entstandenem Lied Die Novaks<br />

aus Prag, in dem der einstige Star des musikalischen<br />

Kabaretts und spätere Emigrant die<br />

Flucht einer jüdischen Prager Familie aus Europa<br />

in seiner unverkennbaren, tragikomischen<br />

Art nachzeichnete. Der Text stammte von einem<br />

langjährigen Wegbegleiter des Komponisten,<br />

Kurt Robitschek, der bereits 1933 auf<br />

wilden Wegen in die USA floh, wo er als Ken<br />

Robey weiterarbeitete. Robitschek starb 1948 in<br />

der Emigration, Leopoldi kehrte, als einer von<br />

wenigen zur Rückkehr „eingeladenen“ einst populären<br />

Künstler der Zwischenkriegszeit, 1947<br />

nach Wien zurück. Es sind nur zwei von zahllosen<br />

Schicksalen österreichischer Künstler:innen<br />

aus Kabarett, Kleinkunst und „Hochkultur“, denen<br />

bis 1938 die Herzen der Österreicher:innen<br />

zuflogen, ehe sie von einen Tag auf den anderen<br />

als „minderwertig“ und verfolgungswürdig<br />

deklariert wurde. Viele von ihnen wurden ermordet.<br />

Die österreichische Journalistin Sibylle<br />

Fritsch widmet sich in ihrem neuen Theaterprojekt<br />

anhand ausgewählter Lieder jüdischer<br />

Künstler:innen der Zwischenkriegszeit dem<br />

Schicksal ihrer Schöpfer und Interpret:innen<br />

und zeichnet, begleitet von der Sängerin Natascha<br />

Petrinsky, Gabriele Schuchter und Thomas<br />

Kamper (Schauspiel und Gesang) und Vasilis<br />

Tsiatsianis am Klavier, anhand von Texten<br />

und Tagebucheintragungen ein berührendes<br />

Porträt der österreichischen Kabarettkultur<br />

vor, während und nach der Nazizeit.<br />

© Theater Hamakom; Privatbesitz Ronald Leopoldi; Juliane Batthyany; Anne Frank, 1942; Anne Frank Fonds, Basel<br />

54 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 54 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:49


KULTURFRÜHSTÜCK<br />

11 Uhr<br />

Porgy&Bess,<br />

Riemergasse 11, 1010 Wien<br />

kupferblum.com<br />

FILM<br />

20 Uhr<br />

Metro Kinokulturhaus,<br />

Johannesgasse 4, 1010 Wien<br />

juedischer-filmclub.at<br />

17. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

ORLACS HÄNDE<br />

Der von Frank Stern und Klaus Davidowicz ins<br />

Leben gerufene Jüdische Filmclub Wien präsentiert<br />

seit einigen Jahren mit großem Erfolg<br />

prägende Filme von einst und heute, die sich<br />

mit Geschichte und Gegenwart des Judentums<br />

beschäftigen. Im <strong>Februar</strong> wird nun einer<br />

der bedeutendsten Vertreter des frühen Horrorgenres<br />

wiedergezeigt: Robert Wienes 1925<br />

entstandene expressionistische Studie eines<br />

Mörders „wider Willen“: Nachdem der Klaviervirtuose<br />

Paul Orlac seine Hände verliert, experimentiert<br />

ein Chirurg an ihm herum und transplantiert<br />

ihm die Hände eines hingerichteten<br />

Raubmörders. Nicht ohne Folgen, denn während<br />

der Künstler Orlac kaum mit der unerträglichen<br />

Situation zurande kommt, beginnen sich<br />

seine neuen Hände selbstständig zu machen,<br />

um den von ihnen ausgehenden Schrecken –<br />

herausragend in ein düsteres Licht-und-Schatten-Spiel<br />

getaucht – weiter auszubreiten.<br />

Neben Wiene mussten nach dem „Anschluss“<br />

auch einige der Darsteller des Films emigrieren,<br />

darunter Conrad Veidt, der sich als einer von<br />

wenigen Künstlern seiner Bekanntheit deutlich<br />

gegen das NS-Regime stellte, oder Fritz Kortner,<br />

nach dem Krieg einer der bedeutendsten Regisseure<br />

seiner Zeit, der hier als Trickbetrüger<br />

Nera zu sehen ist. Ihr Kollege Fritz Straßny, der<br />

im Film Orlacs Vaters gab, wurde mit 73 Jahren<br />

im KZ Theresienstadt ermordet. Gezeigt wird<br />

eine restaurierte Fassung mit Live-Musikbegleitung<br />

von Gerhard Gruber.<br />

20. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

WILD BUT HEART<br />

In seiner sehr erfolgreichen, immer<br />

wieder überraschende Einblicke in<br />

aktuelle Themenwelten bietenden<br />

performativen Frühstücksreihe Wild<br />

but heart lädt Ausnahmekünstler<br />

Markus Kupferblum dieses Mal die<br />

Journalistin Christa Zöchling, Innenpolitikexpertin<br />

und profil-Mitarbeiterin,<br />

zu sich ein. Themen des Vormittags<br />

sind unter anderem der wachsende<br />

Rechtspopulismus und die damit eng<br />

verbundene, nennen wir es einmal<br />

„komplexe“ Verfasstheit der österreichischen<br />

Gesellschaft. Geliefert wird,<br />

so der zwischen Wien und New York<br />

und allen Genres pendelnde Künstler,<br />

„Aktuelles und Vergessenes, Zukünftiges<br />

und Utopisches“; serviert werden<br />

„Kaffee, Tee, Nahrung, Literatur, Gedanken<br />

und Musik“. Und wer gerne zu<br />

Hause frühstückt, sieht und hört: Das<br />

Gespräch gibt es auch als Live-Stream<br />

auf porgy.at/live!<br />

DISKUSSION<br />

19 Uhr<br />

Theater Nestroyhof Hamakom,<br />

Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />

hamakom.at<br />

13. FEBRUAR <strong>2022</strong><br />

TRAUMATISIERUNG<br />

UND RADIKALISIERUNG<br />

Die Grenzen dessen, was in großen Teilen<br />

der Gesellschaft als akzeptiert gilt, verschieben<br />

sich. Das können wir alle täglich<br />

und seit Beginn der Covid-19-Pandemie<br />

auch in unserem engsten, ganz alltäglichen<br />

Umfeld beobachten. Doch „alltäglich“<br />

sind diese Verschiebungen Richtung<br />

Radikalisierung, und wie eng sind sie mit<br />

Traumata unterschiedlicher Provenienz<br />

verbunden? Moderiert von Rainer Rosenberg<br />

(ORF), diskutieren Psychotraumatologin<br />

Brigitte Lueger-Schuster, Philosophin<br />

und Künstlerin Marina Gržinić,<br />

Psychologin und Traumatherapeutin<br />

Nina Hermann und Schriftsteller und Historiker<br />

Doron Rabinovici über den Zusammenhang<br />

von traumatischen Erfahrungen<br />

und Radikalisierungstendenzen.<br />

Die Expert:innen aus verschiedenen<br />

Fachbereichen sprechen dabei über Manifestationen<br />

in unterschiedlichen Bereichen,<br />

wie häusliche Gewalt und Zunahme<br />

von Femiziden, Hetze gegen<br />

Ärzt:innen, aber auch über die zu beobachtende<br />

Steigerung von verharmlosenden<br />

Vergleichen der aktuellen Situation<br />

mit der NS-Zeit und die erschreckende<br />

Zunahme radikalisierter<br />

antisemitischer Parolen. Wie dem allen<br />

begegnen?<br />

hamakom.at/trauma<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

55<br />

feb22.indb 55 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:50


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass mich Musik tief berührt hat, war …<br />

Vor ein paar Tagen habe ich mein neues<br />

Stück Nocturne fertig komponiert. Am<br />

Ende des Stücks, das eine sehr einfache<br />

Melodie sein sollte, habe ich dann spontan<br />

beschlossen, eine zweite Schicht zu improvisieren.<br />

In dem Moment dachte ich, wie gesegnet<br />

ich bin, meine eigene Musik machen<br />

zu können: Musik zu hören, Musikinstrumente<br />

zu spielen und meine volle künstlerische<br />

Freiheit zu haben. Diese Freiheit<br />

hat man nicht, wenn man als klassischer<br />

Solist Musik von Komponisten spielt, die seit<br />

über 100 Jahren tot sind. Ihre Musik wurde<br />

bereits von Millionen anderer Menschen<br />

gespielt, die sogenannte „Traditionen"<br />

geschaffen haben.<br />

Das letzte Mal, dass ich eine neue Saite,<br />

äh, Seite an mir entdeckt habe, war …<br />

Vor drei Jahren entdeckte ich meine Leidenschaft<br />

für Design und begann mit einer<br />

neuen Freizeitbeschäftigung: www.eyejewellery.art.<br />

Es bleibt ein Hobby von mir,<br />

deshalb war ich positiv überrascht, dass<br />

meine Arbeit in der berühmten Jewellery-by-<br />

Artists-Sammlung von Diane Venet landete.<br />

Das letzte Mal, dass jemand unbedingt<br />

einmal meine Stradivari berühren wollte,<br />

war ...<br />

... im Dezember. Ein lokaler Theaterschauspieler<br />

wollte sie nach meinem Konzert in<br />

Montenegro unbedingt einmal halten. Er<br />

ließ sie fallen und lief dann mit den Teilen<br />

davon. Just kidding.<br />

Das letzte Mal, dass ich so richtig etwas<br />

vergeigt habe, war …<br />

Ein großer Fail geschah, als ich 12 Jahre alt<br />

war und plötzlich die Musik auf der Bühne<br />

vergaß. Ich habe etwa drei Sekunden angehalten<br />

und dann weitergespielt. Drei-Fail-<br />

Sekunden auf der Bühne fühlen sich allerdings<br />

an wie eine Ewigkeit. Seitdem ist mir<br />

das nicht mehr passiert. Bis jetzt zumindest.<br />

Oder vielleicht habe ich gelernt, wie man<br />

kleine Fehler verbirgt und es so aussehen<br />

lässt, als ob es so sein soll. Hah!<br />

Das letzte Mal, dass ich unter der<br />

Dusche gesungen habe, war …<br />

... gestern! Den Earth Song von Michael<br />

Jackson.<br />

NEUE SAITEN<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem<br />

Monat erzählt uns der Geiger und Komponist Yury Revich über<br />

die Freiheit beim Musizieren und sein glamouröses Hobby.<br />

Yury Revich, 1991 in Moskau geboren, stammt aus<br />

einer Musikerfamilie und begann mit fünf Jahren Geige<br />

zu spielen. 2009 debütierte er in der Carnegie Hall, 2013<br />

in der Mailänder Scala. Revich hat zahlreiche Aufnahmen<br />

eingespielt, wurde für seine Arbeit unter anderem<br />

mit dem Echo Klassik ausgezeichnet und ist UNICEF-<br />

Österreich-Ehrenbeauftragter. Yury Revich lebt in Wien<br />

und spielt eine Stradivari aus dem Jahr 1709 und eine<br />

Guarneri del Gesu.<br />

Dreamland with Yury Revich im Rahmen<br />

des Vienna Nova Classical Music Festival:<br />

27. <strong>Februar</strong>, 19.30 Uhr, Wiener Konzerthaus. Der<br />

Kartenerlös geht zugunsten wohltätiger Projekte<br />

an UNICEF Österreich.<br />

yuryrevich.com<br />

© Martin Hauser<br />

56 wına | <strong>Februar</strong> <strong>2022</strong><br />

feb22.indb 56 02.02.<strong>2022</strong> 13:49:53


cover_0222.indd AZ_Inserat_Reissner_<strong>2022</strong>0201_cec.indd 3 1 01.02.<strong>2022</strong> 10:43:39<br />

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