Leseprobe: Beck/Kley/Rohner/Vernazza: Corona-Elefant
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Aus der Website zum Buch<br />
www.corona-elefant.ch<br />
werden laufend die neuesten<br />
Erkenntnisse und Informationen<br />
zum Thema publiziert.<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten<br />
sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />
Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt<br />
insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
© 2022 Versus Verlag AG, Zürich<br />
Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter<br />
www.versus.ch<br />
Umschlagbild: https://unsplash.com/photos/HTIduwcMMfQ<br />
Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich<br />
Druck: CPI print GmbH · Leck<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-909066-25-4
5<br />
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Inhaltsverzeichnis<br />
Über das Buch 7<br />
Marcel Tanner Vorwort – Gedanken zum Geleit 11<br />
Einstieg<br />
Ludwig Hasler Die Macht der «Hintergedanken» 15<br />
Recht & Politik<br />
Andreas <strong>Kley</strong> Demokratie im <strong>Corona</strong>zeitalter 26<br />
Felix Uhlmann Das Recht und die Krise 35<br />
Werner Vontobel Die Medien kannten die Antworten, bevor sie<br />
die Fragen gestellt haben 41<br />
Daniel Kübler Demokratien im Stresstest 50<br />
Andreas <strong>Kley</strong><br />
Die Covid-19-Rechtsetzung des Bundesrates<br />
als Krisen- und Angstkommunikation 58<br />
<strong>Corona</strong>virus: Die Stunde der benevolenten Diktatoren 70<br />
Bruno S. Frey<br />
Margit Osterloh<br />
Betriebswirtschaft & Management<br />
Werner Widmer Sechs Lehren für die Spitäler im Hinblick<br />
auf eine nächste Pandemie 76<br />
Peter <strong>Rohner</strong> Leadership in der Krise 82<br />
Stefan Holenstein Für ein besseres und professionelleres<br />
Krisenmanagement des Bundes 108
6 Inhaltsverzeichnis<br />
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Gesundheit & Prävention<br />
Roger Staub<br />
… und bald noch eine Welle mit vielen Toten<br />
– and nobody cares? 124<br />
Pietro <strong>Vernazza</strong> Medizinische Grundlagen zum Umgang mit Covid 134<br />
Andreas Radbruch Immunität gegen SARS-CoV-2 148<br />
Pietro <strong>Vernazza</strong> SARS-CoV-2: Ein neuer Erreger und<br />
unsere Präventionsstrategien 156<br />
Reiner Eichenberger<br />
David Stadelmann<br />
Volkswirtschaft & Statistik<br />
Krisen besser bewältigen 179<br />
Konstantin <strong>Beck</strong> Eigenverantwortung in Zeiten von <strong>Corona</strong> 189<br />
Konstantin <strong>Beck</strong> Ist die Impfung ein kategorischer Imperativ? 201<br />
Konstantin <strong>Beck</strong> Sind die Covid-19-Massnahmen verhältnismässig? 221<br />
Wirtschaftshilfen 232<br />
Severin Hohler<br />
und Mathias Ott<br />
Philosophie & Ethik<br />
Michael Esfeld <strong>Corona</strong>-Politik: Die real existierende Postmoderne 245<br />
Ruth Baumann-Hölzle<br />
Daniel Gregorowius<br />
Moralische Spuren und Eskalationsstufen<br />
in der <strong>Corona</strong>-Krise 263<br />
Heinz Schott Mentale Ansteckung, geistige Epidemie 278<br />
Ausklang<br />
Thomas Schweizer Die Covid-19-Pandemie – ein Tabu 297<br />
Autoren 301
7<br />
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Über das Buch<br />
Die <strong>Corona</strong>-Krise hat die Schweiz vor enorme gesellschaftliche und politische Herausforderungen<br />
gestellt. Anstelle eines Diskurses unterschiedlicher wissenschaftlicher<br />
Perspektiven führte die moralische Aufladung der Debatte zur Bildung von<br />
Lagern. Die einen befürchten gesundheitlich stets das Schlimmste, finden damit<br />
Gehör in den Medien, fordern Interventionen des Staates und liefern ihre Expertise<br />
als Begründung für die von der Politik zu ergreifenden Massnahmen.<br />
Andere halten diese Massnahmen für zu wenig evidenzbasiert, unverhältnismässig<br />
im Vergleich zu anderen Gefahren oder sogar für kontraproduktiv in der<br />
Gesamtwirkung. Sie fordern darum die Abwägungen zu Nutzen und Schaden aus<br />
einer ganzheitlichen Perspektive und verlangen die Evaluation der verordneten<br />
Massnahmen. Sie finden damit jedoch in den grossen Medien und in der Politik<br />
wenig Gehör.<br />
Aufgrund der grossen Tragweite der politischen Entscheide fällt beiden Seiten<br />
der Dialog schwer. Darum tut es Not, die kritisch-konstruktive Diskussion wiederzubeleben.<br />
Diese Diskussion ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende<br />
Demokratie, für eine produktive Wissenschaft und für ein vernünftiges Zusammenleben.<br />
Wir meinen, die Wissenschaft sollte den Anfang machen. Dieses Buch<br />
will zum konstruktiv-kritischen Diskurs beitragen, im Wissen, dass Wahrheit kein<br />
absoluter Begriff ist. Darum geht es im <strong>Corona</strong>-<strong>Elefant</strong>en. Mit dem elephant in the<br />
room wird im englischen Sprachraum eine augenfällige Problematik bezeichnet,<br />
die von allen Beteiligten lieber nicht angesprochen wird, beispielsweise aus politischer<br />
Korrektheit. Zum Zeitpunkt der Drucklegung werden neue kontroverse<br />
Forderungen zur Aufhebung der Einschränkungen erhoben. Es scheint, dass dieses<br />
Buch in eine Zeit fällt, in der Diskussionen über den <strong>Elefant</strong>en wieder möglich<br />
werden.<br />
Die Herausgeber haben eine Gruppe von Autorinnen und Autoren versammelt,<br />
die auf ihren jeweiligen Feldern unterschiedliche Positionen zur Krise vertreten,<br />
dies jedoch mit dem Fokus «lessons learned». Es geht also nicht darum, Kritik an
8 Über das Buch<br />
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den <strong>Corona</strong>-Massnahmen oder an den <strong>Corona</strong>-Massnahmen-Kritikern zu üben.<br />
Ebenso wenig geht es darum, recht zu behalten oder im Nachhinein recht zu bekommen.<br />
In diesem Buch sollen Wege zur besseren Bewältigung der nächsten globalen<br />
Herausforderung aufgezeigt werden.<br />
Zahlreiche Personen mit unterschiedlichen Haltungen waren eingeladen, einen<br />
Beitrag zu verfassen. Manche befürchteten Nachteile und sagten ab. Wir mussten<br />
das mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Bis zum Redaktionsschluss Anfang Januar<br />
2022 haben uns 23 Artikel erreicht. Alle Beiträge wurden von mindestens<br />
zwei Experten gegengelesen und liegen nun als Buchbeiträge vor. Wir danken den<br />
Autoren für die vielen geleisteten Abendstunden und das Einhalten der knappen<br />
Terminvorgaben.<br />
Organisation des Buchs<br />
Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, welche die wesentlichen Themenfelder des<br />
<strong>Corona</strong>-Komplexes umfassen.<br />
Der Teil Recht & Politik beleuchtet die Problematik des Notstandes, der geltende<br />
Normen ausser Kraft setzt und gleichzeitig mit neuen Normen den Notstand<br />
überwinden will, was im vorliegenden Fall Auswirkungen auf Rechtsstaat<br />
und Demokratie hat. Die Covid-19-Verordnungen änderten sich in kurzer Kadenz<br />
und waren oft unverständlich formuliert. Sie steuerten die Adressaten nicht,<br />
sondern verunsicherten sie eher. Die Steuerung erfolgte mehr über die öffentliche<br />
Kommunikation und die Medien. Die Demokratie nahm ebenfalls Schaden, da<br />
das Parlament pausierte, sich zurückhielt und Entscheidungen dem Bundesrat<br />
überliess. Eine systematische Betrachtung diktatorischer Staatsformen rundet den<br />
ersten Teil ab.<br />
Der Teil Betriebswirtschaft & Management widmet sich den Voraussetzungen,<br />
die erfüllt sein müssen, damit Politik, Verwaltung und Gesundheitswesen in einer<br />
Krise interagieren können. Die Stichworte sind Leadership und Notfallorganisation<br />
des Bundes. Diese wurden bereits vor <strong>Corona</strong> debattiert und das Fehlen einer<br />
eingeübten Stabsorganisation wirkte sich sehr stark auf den Verlauf der Krise aus.<br />
Es fehlte die Fähigkeit, mit interdisziplinären und kontroversen Teams grosse,<br />
komplexe Probleme rasch zu analysieren und zu lösen. Die Folge war eine einseitige<br />
Fixierung auf flächendeckende Eindämmung statt dem konzentrierten<br />
Schutz der Gefährdeten. Ein weiteres organisatorisches Versäumnis war die Untätigkeit<br />
angesichts drohender Spitalengpässe. Diese lieferten über zwei Jahre die<br />
Begründung für einschneidende Massnahmen, deren soziale, gesellschaftliche<br />
und wirtschaftliche Kollateralschäden uns noch längere Zeit beschäftigen werden.<br />
Sind sie im Vornherein genügend bedacht worden?<br />
Der Teil Gesundheit & Prävention bietet generelle medizinische Einsichten zur<br />
Epidemiologie von Covid und anderen Virusinfektionen der Atemwege und eine
Über das Buch 9<br />
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vertiefte Einführung zum Immunsystem. Bei der kritischen Würdigung der Wirksamkeit<br />
von Präventionsmassnahmen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass für<br />
viele der getroffenen Massnahmen auch jetzt noch wenig Evidenz vorhanden ist<br />
oder die dokumentierte Wirksamkeit vergleichsweise bescheiden ausfällt.<br />
Der Teil Volkswirtschaft & Statistik verbindet die Fragen von Verhältnismässigkeit,<br />
Gefährlichkeit von Virus und Impfung und Bedeutung der Eigenverantwortung<br />
mit der Schaden-Nutzen-Analyse der Pandemiepolitik. Beispielsweise gelingt<br />
es uns nicht, einen Nettonutzen der Impfung für jüngere Erwachsene nachzuweisen,<br />
zumal der gesellschaftliche Nutzen, eine Eindämmung der Verbreitung,<br />
nicht mehr gegeben ist, wenn sich heute an einem Tag gleich viele Menschen infizieren<br />
wie zu Beginn der Pandemie innert sechs Monaten.<br />
Der Teil Philosophie & Ethik geht auf die grundsätzlichen Fragen rund um<br />
Leben und Tod, Freiheit versus Sicherheit, Gesellschaft und Individuum ein, sucht<br />
einerseits den grossen Bogen, wenn er die Entwicklung der Postmoderne beschreibt,<br />
liefert andererseits konkrete Entscheidungshilfen beim Einsortieren ethischer<br />
Verletzungen und bietet eine historische Einordnung der Krise. Bei diesen<br />
Themen geht es immer wieder um die Angst vor dem Tod und man fragt sich, ob<br />
diese Angst das normale Leben zerstört hat.<br />
Das Philosophieren über Krankheit, Leben und Tod leitet das Buch ein und<br />
schliesst es auch ab.<br />
Ziel des Buchs<br />
Ist damit alles gesagt? – Mitnichten. Gerade weil die <strong>Corona</strong>-Diskussion noch<br />
lange anhalten wird, erscheint das Buch im Verbund mit einer Homepage<br />
(www.corona-elefant.ch). Bleibt das Buch ein zeitgebundenes Dokument, so ist es<br />
der Zweck der Homepage, laufend die neusten, uns wichtig erscheinenden Erkenntnisse<br />
zum Thema abrufbereit zu halten.<br />
Das Buch verfolgt das Ziel, dass die <strong>Corona</strong>-Themen nicht nur als «pro» und<br />
«contra» erlebt und diskutiert werden. Stattdessen soll eine Diskussion um die<br />
besten Ansätze ermöglicht werden. Die intensiven Gespräche untereinander, die<br />
gemeinsamen Analysen, die konstruktiven Auseinandersetzungen mit Vertretern<br />
aus allen beteiligten Disziplinen, das Ringen um die Inhalte der Beiträge war ein<br />
stimulierendes Erlebnis. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren,<br />
den Lektorinnen, allen Sparringspartnern und dem Versus Verlag für die gute<br />
Zusammenarbeit. Der Dank gilt auch dem persönlichen und familiären Umfeld<br />
für dessen Geduld, Interesse und die anspornende Kritik.<br />
Zürich, am 26. Januar 2022<br />
Konstantin <strong>Beck</strong>, Andreas <strong>Kley</strong>, Peter <strong>Rohner</strong>, Pietro <strong>Vernazza</strong>
10<br />
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11<br />
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Marcel Tanner<br />
Vorwort –<br />
Gedanken zum Geleit<br />
Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun,<br />
sondern auch für das, was wir nicht tun. Jean-Baptiste Poquelin, Molière, 1622–1673<br />
Ja, der <strong>Elefant</strong> steht im Raum – schon lange – und nun gibt es endlich ein Buch,<br />
das das Problem, die SARS-CoV-2-Pandemie, nicht nur anspricht, sondern umfassend<br />
analysiert, diskutiert und klare Ausblicke für alle Betroffenen schafft. Nur<br />
zu gut kennen wir das fernöstliche Gleichnis vom <strong>Elefant</strong>en, der von einer Gruppe<br />
Blinder untersucht wird, um zu erfassen und zu begreifen, worum es sich wirklich<br />
handelt. Jeder Beteiligte untersucht einen Körperteil, vom Bein zum Ohr, Stosszahn<br />
und Flanke und beim Vergleich der Erfahrungen stellen sie fest, dass diese<br />
individuellen Erfahrungen zu oft völlig eigenen und vollständig unterschiedlichen<br />
Schlussfolgerungen führen.<br />
Das vorliegende Buch ist keine Illustration dieser<br />
<strong>Elefant</strong>enmetapher. Vielmehr finden wir hier eine<br />
Fülle von wissenschaftlich und in der gelebten<br />
Pandemiebekämpfung abgestützten Erkenntnissen.<br />
Durch evidenzbasierte Public-Health-Kommunikation<br />
wird der <strong>Elefant</strong> gleichsam aus dem Raum<br />
getrieben und viele der zu oft dargestellten unterschiedlichen<br />
Realitäten werden zu einem klaren<br />
Bild zusammengefügt. Wir erleben keine Fragmente,<br />
sondern betrachten einen sehr schönen,<br />
reich verwobenen Quilt, ein Gesamtbild, das uns<br />
Vertrauen schenkt und die nötigen Ein- und Ausblicke<br />
gibt.
12 Tanner: Vorwort – Gedanken zum Geleit<br />
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Wir erkennen in den verschiedenen stimulierenden Beiträgen auch, dass die<br />
Vergangenheit vor uns liegt und wir nebst den nötigen, breit abgestützten, interund<br />
transdisziplinären Analysen auch besser erkennen müssen, woher wir kommen,<br />
damit wir wissen, wohin wir gehen. Das heisst, wie wir eine Pandemie angehen<br />
und durchstehen, ja leben können. Etwas selektiv möchte ich zum Geleit zentrale<br />
Befunde der vorliegenden Analysen erörtern.<br />
Infektionszahlen, Krankheits- und Todesfälle müssen stets in den lokalen und<br />
nationalen Public-Health-Kontext gesetzt werden, um die Wirkung von Massnahmen<br />
zu verstehen und wie wir gemeinsam voran- und wieder aus der Krise kommen.<br />
Nur so vermeiden wir falsche Dualität, wie zum Beispiel der «klassische»<br />
Gegensatz von Gesundheit und Wirtschaft, als ginge es hier um Entweder-oder-<br />
Entscheide. Die Public-Health-Sicht erfasst stets die Gesellschaft, ihre sozial-politische<br />
Anatomie, das soziale Gewebe und damit auch die wirtschaftlichen Dimensionen.<br />
Das soziale Gewebe trägt die Wirtschaft und nicht umgekehrt.<br />
Schauen wir uns das Virus, SARS-CoV-2, genauer an, dann verstehen wir, was<br />
Zoonosen für unsere Welt bedeuten und wie die Tier- und Menschengesundheit<br />
verwoben sind. Von den 1400 bekannten Infektionskrankheiten sind 800 zoonotischer<br />
Natur. SARS-CoV-2 ist ein typisches Beispiel eines Spezies-Sprungs mit<br />
enormer Dynamik der Ausbreitung und der damit verbundenen Mutations- und<br />
Anpassungskraft. Das Wissen über die Herkunft und Übertragungsdynamik des<br />
Virus genügt noch nicht, um griffige Interventionsstrategien und Massnahmen zu<br />
entwerfen und auf nationalen oder internationalen Ebenen umzusetzen. So haben<br />
wir zum Teil schmerzlich lernen müssen, wie wir Heterogenität in der Ausprägung<br />
des Virus in Public-Health-Massnahmen umsetzen müssen: (i) Unterschiedliche<br />
Virulenz in Bezug auf Alter und Ko-Infektionen und Vorerkrankungungsstatus<br />
und damit unterschiedliche Perzeption der Risiken von Infektion und Erkrankung<br />
in der Bevölkerung, (ii) die nicht solide, lebenslange Immunität nach<br />
Erkrankung oder Impfung gegen SARS-CoV-2, ganz im Gegensatz zu Masern,<br />
(iii) verschiedene Übertragungsmöglichkeiten, insbesondere auch durch die relativ<br />
spät erkannte Bedeutung der Aerosole, (iv) sozio-kulturelle Dimensionen der<br />
Akzeptanz von Massnahmen, um einige Schlüsselthemen, die noch einen hohen<br />
Grad der Unsicherheit in sich tragen, zu nennen, obwohl sie die Strategien und<br />
Massnahmen bestimmen und wirksam werden lassen.<br />
Überrollt von der Wucht der Pandemie und auch gezeichnet von einem gehörigen<br />
Grad des Unwissens mussten Strategien erarbeitet und situationsgerecht wie<br />
ländergerecht eingesetzt werden. Und gerade hier zeigte sich, dass wir nicht geübt<br />
waren, den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft im Sinne eines<br />
kontinuierlichen Übertragungsriemens wirksam zu leben. Eindrücklich wurde<br />
klar, wie entscheidend Kommunikation – nicht Propaganda – ist. Wie sehr also zu<br />
jedem Zeitpunkt die Wissenschaft darlegen muss, was man weiss oder eben nicht
Tanner: Vorwort – Gedanken zum Geleit 13<br />
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weiss, und dabei im Sinne der Ethik und Integrität auch stets die vorhandenen<br />
Fakten der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen hat. Die Wissenschaft muss jederzeit<br />
die Fakten und Evidenz aufzeigen, woraus Handlungsoptionen entstehen,<br />
ohne aber Vorgaben oder Richtlinien zu formulieren.<br />
Der vorliegende Zwischenhalt dokumentiert – nicht einzig auf den Erfahrungen<br />
der SARS-CoV-2-Pandemie bauend –, welches die drei Grundpfeiler einer<br />
umfassenden Pandemiebewältigung sind.<br />
1. Nebst dem grossen Thema der Vorbereitung, wozu auch der gesetzliche Rahmen<br />
gehört, sind es das Vorhandensein eines funktionierenden Wissenschaftssystems<br />
für Forschung sowie Forschung und Entwicklung, das die Entscheidungsgrundlagen<br />
für sozialpolitische Entscheide sowie neue Möglichkeiten von Massnahmen<br />
liefert.<br />
2. Strategien, die gezielt die Fragen der Heterogenität und Diversität einer Gesellschaft<br />
angehen, wie Schutz der Risikogruppen, unterschiedliche geographische<br />
Verteilung von Risikolagen, Kultur, Mobilität/Grenzlagen und Struktur und Funktion<br />
des Gesundheitssystems. Oberziel der Strategien muss es stets sein, lange,<br />
flächendeckende, regionale/nationale Massnahmen zu vermeiden und Übertragungsorte/Ausbrüche<br />
rasch zu erkennen und gezielt einzugreifen. Dies verhindert<br />
wiederum, dass die Gesellschaft massiv und langdauernd sozial und wirtschaftlich<br />
geschwächt wird. Das bedeutet, den für eine wirksame Bekämpfung von Epidemien<br />
bewähren Ansatz von «Surveillance-Response» zu praktizieren, das heisst,<br />
mit den minimal nötigen (nicht maximal möglichen) Daten in Raum und Zeit zu<br />
erkennen, wo wir wie intervenieren müssen. Diese Systeme von Surveillance-<br />
Response waren und sind noch immer nahezu inexistent und müssen erst noch<br />
etabliert und validiert werden – nicht nur für die Schweiz, sondern global, wenn<br />
wir für nächste epi- wie pandemische Ereignisse besser gewappnet sein wollen.<br />
3. Die Prozesse der Planung und Zusammenarbeit müssen definiert sein, damit<br />
sie auch kohärent und konsequent umgesetzt werden können. Es beginnt mit definierten<br />
Zielvorstellungen der Gesamtstrategie in einem Public-Health-Kontext<br />
und geht über eine klare Verteilung von Rollen und Verantwortungen bis hin zur<br />
Kommunikation. Im Zentrum der Herausforderungen stehen (i) der Prozess zur<br />
Formulierung einer nationalen Strategie in einem föderalistischen System, (ii) das<br />
Identifizieren der Risikobereiche und das rasche Identifizieren von Ausbruchsherden<br />
inklusive Kontaktverfolgen, (iii) die kontinuierliche Evaluation der lancierten<br />
Interventionen ebenfalls im Sinne eines Surveillance-Response-Ansatzes, (iv) der<br />
Übertragungsriemen des Dialogs und Kommunikation von der Wissenschaft zur<br />
Politik und Gesellschaft und schliesslich (v) die entsprechenden gesetzlichen<br />
Möglichkeiten und Grundlagen.<br />
Ich hoffe, dass diese vielen wertvollen Beiträge bei der Leserin und dem Leser<br />
nicht zu völlig eigenen und vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen füh-
14 Tanner: Vorwort – Gedanken zum Geleit<br />
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ren, sondern dass das Leseerlebnis dazu führt, die Fakten zu einem Prozess zu verdichten,<br />
damit wir Epidemien und Pandemien stets als Herausforderung sehen,<br />
wissenschaftlich systemisch und transdisziplinär zu arbeiten. So könnten wir auf<br />
der sozialpolitischen Ebene mit klaren Zielvorstellungen vorhandene technisch<br />
wie sozial und wirtschaftlich mögliche Interventionen und Massnahmen auf der<br />
Basis von ethisch fundierten Güterabwägungen im Dienste der Gesellschaft einsetzen.<br />
Dieser Prozess des Dialogs einer evidenzbasierten Public-Health-Kommunikation<br />
und Entscheidungsfindung kann auch dazu führen, dass wir uns auf allen<br />
Ebenen, nicht nur in der Wissenschaft und Politik, wieder respektvoller begegnen<br />
und dass das Vertrauen des Miteinanders entscheidend gestärkt wird.<br />
Ich gratuliere den Herausgebern und allen Autoren zu diesen beeindruckend<br />
verwobenen Beiträgen und wünsche den Leser*innen eine anregende, erfüllende<br />
sowie Ein- wie Ausblicke schaffende Lektüre.<br />
Bildnachweis zu Seite 11:<br />
Blind men and an elephant, 1907, From The Heath readers by grades, D.C. Heath and Company (Boston), p. 69, File:Blind<br />
men and elephant4.jpg. (2021, June 4). Wikimedia Commons, the free media repository. Retrieved 14:42, February 4, 2022<br />
from https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Blind_men_and_elephant4.jpg&oldid=567079077.
301<br />
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Autoren<br />
Ruth Baumann-Hölzle, Dr. theol., Mitbegründerin und Leiterin des «Interdisziplinären<br />
Instituts für Ethik im Gesundheitswesen» der Stiftung Dialog Ethik.<br />
Konstantin <strong>Beck</strong>, Prof. Dr. oec., Titularprofessor für Gesundheitsökonomie an<br />
der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern.<br />
Reiner Eichenberger, Prof. Dr. oec., Lehrstuhl für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik<br />
an der Universität Freiburg (Schweiz) und Forschungsdirektor von<br />
CREMA (Center for Research in Economics, Management and the Arts, Schweiz).<br />
Michael Esfeld, Prof. Dr., Professor für Wissenschaftsphilosophie, Universität<br />
Lausanne.<br />
Bruno S. Frey, Prof. em. Dr. rer. pol., Dr. h.c. mult., Professor für Volkswirtschaftslehre<br />
an der Universität Zürich und Forschungsdirektor von CREMA.<br />
Daniel Gregorowius, Dr. sc. nat., Leiter Fachbereich Versorgungsforschung im<br />
«Interdisziplinären Institut für Ethik im Gesundheitswesen» der Stiftung Dialog<br />
Ethik.<br />
Ludwig Hasler, Dr. phil., Philosoph und Publizist.<br />
Severin Hohler, Leiter Wirtschaftspolitik GastroSuisse.<br />
Stefan Holenstein, Dr. iur., Rechtsanwalt, EMBA UZH, ehemaliger Präsident der<br />
Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG) bis 28.08.2021.<br />
Andreas <strong>Kley</strong>, Prof. Dr. rer. publ., Dr. iur. h.c., Lehrstuhl für öffentliches Recht,<br />
Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität<br />
Zürich.<br />
Daniel Kübler, Prof. Dr. ès sciences politiques, Professor für Demokratieforschung<br />
und Public Governance am Institut für Politikwissenschaft an der Uni-
302 Autoren<br />
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versität Zürich sowie Leiter der Abteilung für Allgemeine Demokratieforschung<br />
am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA).<br />
Margit Osterloh, Prof. em. Dr. oec., Dr. h.c., Permanent Visiting Professor Universität<br />
Basel, Universität Zürich, Department of Business Administration, und<br />
Forschungsdirektorin von CREMA.<br />
Mathias Ott, MLaw, Rechtsanwalt, Rechtskonsulent GastroSuisse.<br />
Andreas Radbruch, Prof. Dr. rer. nat., Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen<br />
Rheuma‐Forschungszentrum Berlin.<br />
Peter <strong>Rohner</strong>, Prof. Dr. oec., Titularprofessor an der School of Management der<br />
Universität St. Gallen (HSG).<br />
Heinz Schott, Prof. em. Dr. phil., bis zur Emeritierung Professor für Geschichte<br />
der Medizin und Direktor des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bonn.<br />
Thomas Schweizer, Dr. med., pensionierter Hausarzt, MAS Philosophie und<br />
Medizin.<br />
David Stadelmann, Prof. Dr. rer. pol., Professor für Volkswirtschaftslehre an der<br />
Universität Bayreuth sowie Mitglied des Ostrom Workshop an der Indiana University<br />
und bei CREMA.<br />
Roger Staub, MPH, MAE, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, Zürich.<br />
Marcel Tanner, Prof. em. Dr. phil., Dr. h.c. (mult.), MPH, Präsident der Akademien<br />
der Wissenschaften Schweiz, Direktor em. Schweizerisches Tropen- & Public<br />
Health-Institut (Swiss TPH).<br />
Felix Uhlmann, Prof. Dr. iur., Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie<br />
Rechtsetzungslehre an der Universität Zürich.<br />
Pietro <strong>Vernazza</strong>, Prof. em. Dr. med., bis zu seiner Emeritierung Chefarzt der Klinik<br />
Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen. 16 Jahre Mitglied/Präsident<br />
der ausserparlamentarischen Kommission für sexuelle Gesundheit<br />
(vormals «für AIDS-Fragen»).<br />
Werner Vontobel, Wirtschaftsjournalist.<br />
Werner Widmer, Dr. rer. pol., Vorsitzender des Leitenden Ausschusses der Stiftung<br />
Diakoniewerk Neumünster, Verwaltungsrat des Careum Bildungszentrum,<br />
Lehrbeauftragter für Spitalmanagement an der Universität Luzern, vormals Spitaldirektor.