Leseprobe: Friedjung Jüttner: Ein Jahr im Tertianum
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />
Daten sind <strong>im</strong> Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />
Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwertung ist ohne Zust<strong>im</strong>mung des Verlags unzulässig.<br />
Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />
und die <strong>Ein</strong>speicherung und Verarbeitung in elektronischen<br />
Systemen.<br />
© 2022 allerArt <strong>im</strong> Versus Verlag AG, Zürich<br />
Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter<br />
www.versus.ch<br />
Fotografien Seite 2 und Seite 143: <strong>Friedjung</strong> <strong>Jüttner</strong><br />
Fotografie Umschlag: <strong>Tertianum</strong> AG<br />
Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich<br />
ISBN 978-3-909066-29-2
All denen gewidmet, die <strong>im</strong> <strong>Tertianum</strong><br />
wohnen und arbeiten
«Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man<br />
sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für<br />
den Standort st<strong>im</strong>mt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der<br />
Hoffnung, dass man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt,<br />
klüger ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte,<br />
und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir<br />
werden geschrieben.<br />
Schreiben heisst: sich selber lesen. Was selten ein reines Vergnügen<br />
ist; man erschrickt auf Schritt und Tritt, man hält sich für einen<br />
fröhlichen Gesellen, und wenn man sich zufällig in einer Fensterscheibe<br />
sieht, erkennt man, dass man ein Griesgram ist. Und ein Moralist,<br />
wenn man sich liest. Es lässt sich nichts machen dagegen. Wir<br />
können nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken<br />
bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennen lernen, seine<br />
Wirrnis oder seine he<strong>im</strong>liche <strong>Ein</strong>heit, sein Unentrinnbares, seine<br />
Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von<br />
einem einzelnen Augenblick aus.» 1<br />
Max Frisch
<strong>Ein</strong>leitung: Vom Monolog zum Dialog<br />
Tagebuch schreibt man für sich selber. Die Texte sollen zum einen<br />
helfen, etwas festzuhalten, was sonst schnell vergessen werden<br />
könnte. Das Schreiben soll aber auch dazu dienen, klarer zu sehen,<br />
was sonst nur verschwommen in meinem Kopf rumoren würde. Ich<br />
bin froh um diese Möglichkeit. Etwas niedergeschrieben zu haben,<br />
gibt mir darüber hinaus noch eine zusätzliche Befriedigung, auch<br />
wenn ich sie nicht jeden Tag brauche. Be<strong>im</strong> Lesen des eigenen Textes<br />
ist es dann anders. Ich gebe Max Frisch Recht, dass man sich dabei<br />
manchmal wie ein «Griesgram» und «Moralist» vorkommt.<br />
Diese Texte sind zunächst eigentlich nicht für andere gedacht.<br />
Aber schön wäre es, wenn aus dem Monolog ein Dialog werden<br />
könnte. Wenn diese vor sich hin gemurmelten Gedanken auch Hörer<br />
finden würden, die mitreden. Die sich angesprochen fühlten, zust<strong>im</strong>mend<br />
oder widersprechend, sich ihre eigenen Gedanken zu<br />
machen. Dann hätte das, was ich schreibe, nicht nur eine Wirkung<br />
für mich selber, sondern auch für meine Leser. Das ist es, was ich mir<br />
wünsche.<br />
Im «Stadt-Anzeiger» von Glattbrugg schreibe ich aus demselben<br />
Grund zwe<strong>im</strong>al monatlich die Kolumne «Gedankensplitter». Vereinzelte<br />
der hier anzutreffenden Tagebuchtexte konnte man dort bereits<br />
lesen.<br />
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Ich weiss nicht, warum mich ein best<strong>im</strong>mtes Thema beschäftigt<br />
und ein anderes nicht. Ich könnte sagen, es fällt mir einfach zu. Aber<br />
Zufall ist es dann doch nicht, denn es hat <strong>im</strong>mer mit mir zu tun. Es<br />
hat mich selber sehr verwundert, wie gerne ich auf Themen zu sprechen<br />
komme, die sich mit Gott und Kirche beschäftigen. Dazu gaben<br />
zwar die Enthüllungen der Medien während der vergangenen zwölf<br />
Monate viel Anlass, aber es hat auch mit meiner theologischen Vergangenheit<br />
zu tun. Dessen bin ich mir voll bewusst. Obwohl ich diese<br />
Epoche meines Lebens bereits ausführlich beschrieben habe, 2 brodelt<br />
sie noch heftig in mir, und wie ein Vulkan verschafft sie sich<br />
durch gelegentliche Eruptionen etwas Luft. Anders ist es mit dem<br />
Thema Älterwerden, das inzwischen zu meinen täglichen Erfahrungen<br />
gehört. Darum n<strong>im</strong>mt es auch den meisten Platz in diesem Buch<br />
ein. Gleich der erste <strong>Ein</strong>trag vom 31. März 2021 ist ein Beispiel dafür.<br />
Es ging dabei ums Vergessen oder genauer ums Namenmerken, das<br />
mir sehr zu denken gab. Im Laufe eines <strong>Jahr</strong>es, von März 2021 bis<br />
März 2022, haben mich dann aber auch noch andere Themen beschäftigt.<br />
Es mag damit zusammenhängen, dass ich, weil ich nicht mehr<br />
berufstätig bin, mehr Zeit habe, über mein Älterwerden nachzudenken.<br />
Ganz sicher hat es aber mit meinem Alter zu tun. Ich werde<br />
dieses <strong>Jahr</strong> fünfundachtzig.<br />
Ich hatte das Privileg, verschiedene Ausbildungen absolvieren zu<br />
können. Zuerst war es die Theologie, die mich volle zwölf Semester<br />
in Beschlag genommen hat. Nach fünf <strong>Jahr</strong>en Seelsorgearbeit wechselte<br />
ich zur Psychologie. Der Seelenkunde habe ich mich aus drei<br />
Perspektiven genähert. Zuerst am Institut für Angewandte Psychologie<br />
(IAP). Dann besuchte ich teilweise gleichzeitig das Szondi-Institut<br />
in Zürich, wo ich das Diplom zum Psychotherapeuten (Schicksalsanalyse)<br />
erhielt. Weil meine psychologischen Studien bisher nur<br />
an Instituten erfolgt waren, die in der akademischen Fachwelt nur<br />
noch wenig Anerkennung erhielten, beschloss ich, nochmals ein Stu-<br />
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dium und zwar in klinischer Psychologie zu absolvieren. Das jetzt an<br />
der Universität Zürich. Mit einer religionspsychologischen Dissertation<br />
habe ich dann meine offiziellen Studien beendet. Wobei ich<br />
nicht versäumen möchte, darauf hinzuweisen, dass ich von meinen<br />
Patienten während der sechsundvierzig <strong>Jahr</strong>e, in denen ich als Psychotherapeut<br />
tätig war, unendlich viel gelernt habe.<br />
Ich habe das jetzt aufgezählt, um zu zeigen, dass ich vorher – beruflich<br />
bedingt – mir viele Gedanken über andere machen musste.<br />
Das hat sich nun radikal geändert. Jetzt geht es häufig um mich. Ich<br />
bin froh um die Zeit, die ich zur Verfügung habe und die mir erlaubt,<br />
über mich, meine Beziehungen und meine Welt nachzudenken. Und<br />
ich kann das an einem Ort tun, an dem ich mich, zusammen mit<br />
meiner Frau, gut aufgehoben fühle. Wir leben jetzt das vierte <strong>Jahr</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Tertianum</strong> Bubenholz Glattbrugg.<br />
Es ist eigentlich überflüssig, zu sagen, dass ich meine Ansichten<br />
nicht als allgemeingültig verstanden wissen möchte. Sie sind ganz<br />
subjektiv, und ich weiss nicht, ob ich sie in drei <strong>Jahr</strong>en <strong>im</strong>mer noch<br />
äussern würde. Mein Menschwerdungsprozess n<strong>im</strong>mt mit zunehmendem<br />
Alter <strong>im</strong>mer mehr Fahrt auf.<br />
Glattbrugg, <strong>im</strong> Juni 2022<br />
9
Tartare-Käse 31. März 2021<br />
Heute war ich be<strong>im</strong> <strong>Ein</strong>kaufen. Ich stand vor dem Regal, in dem verschiedene<br />
Käsesorten auslagen. <strong>Ein</strong>en sollte ich mitbringen. Ich<br />
wusste genau, es war ein Weichkäse, er ist in einer runden Schachtel,<br />
aber ich wusste plötzlich nicht mehr, wie er hiess. Vielleicht war er<br />
ausverkauft. Ich hätte eine Angestellte fragen können, aber was hätte<br />
ich ihr sagen sollen? Der Name war weg. Nach kurzem Suchen habe<br />
ich ihn gefunden und sofort nach dem Namen geschaut. Ja, richtig,<br />
er heisst Tartare.<br />
So weit, so gut. Aber ganz so gut fühlte ich mich doch nicht. Das<br />
passiert mir ja <strong>im</strong>mer öfter, dass mir plötzlich gewisse Namen entfallen.<br />
Namen, die mir vor einer Stunde noch geläufig waren und<br />
jetzt plötzlich nicht mehr abrufbar sind.<br />
Nun widerfährt mir das ja nicht das erste Mal. Darum weiss ich,<br />
dass ich meistens in einer Stunde das Objekt wieder bei seinem<br />
Namen nennen kann. Aber trotzdem lässt mich diese Episode nicht<br />
einfach kalt. Es ist kein Trost, wenn ich mir beruhigend sage: Es ist<br />
das Alter, n<strong>im</strong>m’s nicht so ernst. Ich denke dann, das Alter wird ja<br />
nicht weniger. Es n<strong>im</strong>mt zu. Und damit vermutlich auch die Aussetzer<br />
meines Gedächtnisses.<br />
Soll ich einen Kurs für Gedächtnistraining besuchen? Im Haus<br />
wird er angeboten. Geht nicht. Die Angebote fallen <strong>im</strong> Moment<br />
wegen der Corona-Epidemie aus. Wenn ich ehrlich bin, kommt mir<br />
das sehr gelegen. Ich will nicht mehr in die «Schule» gehen.<br />
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Dafür lese ich viel und schreibe fast täglich ein paar Zeilen. Das<br />
sollte reichen, sage ich mir zur Beruhigung. Ausserdem habe ich den<br />
Käse gefunden, auch ohne seinen Namen zu wissen. Das sollte doch<br />
erst mal genügen.<br />
Vielleicht mache ich mir etwas vor, wenn ich mir beschwichtigend<br />
sage: Es ist doch alles gut gegangen. Sich selbst etwas vorzumachen,<br />
kann für den Moment hilfreich sein. Darum bleibe ich offen für die<br />
Frage: Was bringt das Alter wohl sonst noch?<br />
Nachtrag 1. April 2021<br />
Ich muss doch nochmals auf meinen gestrigen <strong>Ein</strong>trag zurückkommen.<br />
Dem st<strong>im</strong>me ich heute noch zu, muss aber etwas ergänzen. Bei<br />
aller Gelassenheit, mit der ich solche Gedächtnispannen ertrage,<br />
schwingt – wenn ich ehrlich bin – doch, wenn auch nur kurz, eine<br />
Sorge mit, vielleicht sogar eine Angst. Sie fragt nicht zu Unrecht: Wo<br />
führt das noch hin? Wie geht es dir in ein paar <strong>Jahr</strong>en? Angst ist<br />
zukunftsgerichtet. Ich versuche, sie etwas zu bagatellisieren. Wer hat<br />
schon gern Angst? Aber ich habe sie. Sie stört und ist zudem nutzlos.<br />
Früher habe ich an dieser Stelle meiner Hoffnung Ausdruck gegeben,<br />
dass schon alles irgendwie gut gehen wird. Heute vertausche<br />
ich die Hoffnung, die auf Haben ausgerichtet ist, mit der Zuversicht,<br />
die mit meinem Sein verbunden ist. Ich denke möglichst nicht mehr<br />
daran, dass mein Gedächtnis bis zu meinem Tode intakt bleibt. Ich<br />
stelle mich zuversichtlich darauf ein, dass, sollte mein Gedächtnis<br />
bald mal Lücken aufweisen, ich dieses Manko akzeptieren und damit<br />
leben kann.<br />
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Der Autor<br />
<strong>Friedjung</strong> <strong>Jüttner</strong>, Dr. phil., geboren 1937, studierte<br />
Theologie in Würzburg (Deutschland).<br />
Fünf <strong>Jahr</strong>e Studentenseelsorge in Freiburg<br />
(Schweiz). 1970 Wechsel zur Psychologie. Diplom<br />
am Institut für Angewandte Psychologie<br />
(damals IAP). Studium der klinischen und anthropologischen<br />
Psychologie an der Universität<br />
Zürich. Dissertation zu einem religionspsychologischen<br />
Thema. Psychotherapiediplom des Szondi-Instituts in<br />
Zürich. Dozent und Stiftungsrat des Szondi-Instituts. Eigene psychotherapeutische<br />
Praxis in Zürich-Nord. Verschiedene Publikationen<br />
zur schicksalsanalytischen Theorie und ihren Anwendungen.<br />
Schreibt monatlich eine Kolumne für den «Stadt-Anzeiger» von<br />
Opfikon-Glattbrugg. Seit dem 1. Januar 2019 wohnt er mit seiner<br />
Frau <strong>im</strong> <strong>Tertianum</strong> Bubenholz in Glattbrugg.