Wilfried Härle: Aus ethischer Sicht (Leseprobe)
»Was sollen wir tun?« Das ist die Frage, die den ethischen Blick auf das Leben leitet. Orientiert man sich bei der Beantwortung dieser Frage allein an in den Massenmedien vertretenen Meinungen, wird man nicht zu einer eigenverantwortlichen ethischen Auffassung gelangen. Denn um die zu erreichen, muss man sich einerseits Klarheit über ethische Grundbegriffe wie »Freiheit«, »Verantwortung«, »Menschenwürde« und »Gewissen« verschaffen, andererseits ist es unverzichtbar, konkrete ethische Herausforderungen zu analysieren, die sich uns im Leben stellen: zum Beispiel »Altersdemenz«, »Schuld und Vergebung«, »Krieg und Frieden« oder »Beihilfe zur Selbsttötung«. Diese Güstrower Vorträge bieten zu beidem ihren Beitrag, und zwar so, dass dabei erhellende Zusammenhänge sichtbar werden. Sie wurden zwischen 2015 und 2021 anlässlich der Güstrower Herbstgespräche gehalten und fanden beachtliche positive Resonanz.
»Was sollen wir tun?« Das ist die Frage, die den ethischen Blick auf das Leben leitet. Orientiert man sich bei der Beantwortung dieser Frage allein an in den Massenmedien vertretenen Meinungen, wird man nicht zu einer eigenverantwortlichen ethischen Auffassung gelangen. Denn um die zu erreichen, muss man sich einerseits Klarheit über ethische Grundbegriffe wie »Freiheit«, »Verantwortung«, »Menschenwürde« und »Gewissen« verschaffen, andererseits ist es unverzichtbar, konkrete ethische Herausforderungen zu analysieren, die sich uns im Leben stellen: zum Beispiel »Altersdemenz«, »Schuld und Vergebung«, »Krieg und Frieden« oder »Beihilfe zur Selbsttötung«.
Diese Güstrower Vorträge bieten zu beidem ihren Beitrag, und zwar so, dass dabei erhellende Zusammenhänge sichtbar werden. Sie wurden zwischen 2015 und 2021 anlässlich der Güstrower Herbstgespräche gehalten und fanden beachtliche positive Resonanz.
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WILFRIED HÄRLE
Aus
ethischer
Sicht
GÜSTROWER VORTRÄGE
Vorwort
Hic aderit deus, si queres in te stand wohl über dem Sprechzimmer
von Carl Gustav Jung (1875–1961) in Küsnacht am
Zürichsee – Hier wird Gott helfen, wenn du in dir suchst.
In diesem Sinne stellen die Güstrower Herbstgespräche
einen Versuch dar, aktuelle ärztliche Fragen nicht nur
durch Vermehrung von Faktenwissen zu klären, sondern
– ausgehend vom Credo einer Beziehungsmedizin – ganz
besonders mittels Begegnung, womöglich sogar mit sich
Selbst. In Zeiten einer beziehungsarmen Medizin mit alltäglicher
Reifizierung (Verdinglichung) der Erkrankten
tut dieser Zugang zum Mensch- und Kranksein not, besonders
im gebeutelten Osten der Republik.
Die Herausgeber freuen sich, rechtzeitig zu den diesjährigen
16. Güstrower Herbstgesprächen zum Thema
Evolution am Samstag, dem 3. September 2022, im Darwineum
Rostock (als Hybrid auch online) diesen Band vorlegen
zu können. Als Zeichen zunehmender Anerkennung
unserer international wahrgenommenen Kongressreihe
betrachten wir es, dass der Weltverband Psychiatrie (World
Psychiatric Association, WPA) als Mitveranstalter fungiert.
In früheren Jahren (2008–2019) stellte das derzeit wegen
einer aufwendigen Sanierung nicht zugängliche Schloss
Güstrow den attraktiven Rahmen der interdisziplinär angelegten
medizinischen Tagungen dar, die jährlich über
5
Vorwort
200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus nah und fern
angezogen haben. Sie beinhalteten zumeist fünf Hauptvorträge
am Vormittag und viele Parallel-Workshops am
Nachmittag mit Raum für Begegnung und Diskussion.
Neben Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen
sowie Psychologinnen und Psychologen gehörten zum
Auditorium stets viele Angehörige pflegerischer und anderer
medizinischer und pädagogischer Professionen, aber
auch Laien, die sich zu den wechselnden Themen informieren
und austauschen wollten, finanziell unterstützt vom
Träger des Güstrower Klinikums KMG, anerkannt von
der Landesärztekammer, zudem immer wieder gefördert
und finanziell mitgetragen von verschiedenen Organisationen
mit inhaltlichem Bezug zum jeweiligen spezifischen
Kongressthema bis hin zur Mitveranstaltung als
Joint Venture.
Die Tagungsstätte, die die Güstrower Herbstgespräche
über zwölf Jahre beherbergt hat, der sie sich nicht
nur als location, sondern als Ort verbunden haben, war das
Schloss in Güstrow, eine der frühen festen Residenzen im Alten
Reich und zugleich einer der anspruchsvollsten Profanbauten
des europäischen Manierismus. Es verlieh dem Symposion
nicht nur den ästhetischen Rahmen, sondern teilte
ihm auch seinen genius loci mit, der allen Abnutzungen
durch die Jahrhunderte zum Trotz, sich noch immer zeigt.
Wie Kongresse und Symposien waren auch die humanistischen
Höfe Denkfabriken, in denen ökonomische, juristische
und administrative Konzepte entwickelt wurden,
in denen Debatten und Korrespondenzen geführt wurden,
6
Vorwort
die universitäre Anbindungen pflegten und Bibliotheken
anlegten, damit sich Fürsten und später auch Höflinge das
damalige Wissen aneignen konnten. Die Theologie beanspruchte
dabei die weitaus meisten Regalmeter. Schlösser
waren Orte hochentwickelter Pharmakognosie, aber auch
der Alchemie; es gab Destillierhäuser, Apotheken und
Labore in den Schlossmauern, Ärzte und Apotheker. Fortwährend
wurde gepflegt, geheilt und gestorben. Lutherische,
reformierte und – während der Güstrower Regentschaft
Wallensteins – auch katholische und schließlich
wie der lutherische und am Ende pietistische Frömmigkeit,
Lehre und Seelsorge durchdrangen das Hofleben. Die
Religion war Richtschnur, Trost und Konfliktstoff. Der
Hof war ein geschlossenes, ganzheitlich wirkendes und
wirksames System. Aus dieser Integralität bezog er seine
Strahlkraft über territoriale Grenzen hinaus. Er war ein
hierarchisches Beziehungsgefüge, ein Ort des Beratens,
Unterstützens und Dienens – nicht immer zum Segen
aller. Fürst und Fürstin wurden von Kind an durch die
Lektüre von Hausväterliteratur, Fürstenspiegeln, moralisierenden
Texten und Bildern sowie täglichen Predigten
zur rechten Lebensführung angehalten. Wie es um die Erfüllung
ethischer Postulate stand, ist bekannt. Umso wichtiger
sind sie.
Die „Energie“ dieses außergewöhnlichen Tagungsortes,
dieser selbstverständlich interdisziplinäre humanistische
Geist ist noch immer greifbar. Im 16. Jahrhundert,
das dem imposanten Schloss seine Gestalt verlieh, liegt der
Beginn der Moderne. Die nachreformatorische Geistesge-
7
Vorwort
schichte und die kulturellen Traditionen, die zunächst an
den Höfen ausgebildet wurden, haben unseren heutigen
sozialen Umgang, unser Denken und unsere medialen Bedürfnisse
geprägt.
Die Medizin braucht angesichts ihrer zunehmend ökonomischen,
um es deutlicher zu sagen: gewinnorientierten
Ausrichtung und im Hinblick auf die zunehmende Spezialisierung
– zwangsläufig bedingt durch den permanenten
enormen Kenntniszuwachs – das ethische Korrektiv und
die generalistische Betrachtung. – Leider war es nicht möglich,
die Güstrower Herbstgespräche in Tagungsbänden
zu dokumentieren. Daher war es unser großer Wunsch,
wenigstens die einem zutiefst menschlichen Impetus entspringenden
keynotes, mit denen Wilfried Härle die Tagungsreihe
(bisher) fünf Mal bereichert hat, festzuhalten
und mit einem größeren Publikum zu teilen. Zwei weitere
Vorträge (zu „Demenz“ und zum „Gewissen“), die nicht in
Güstrow gehalten wurden, aber dort hätten verortet sein
können und thematisch genau hineinpassen, hat uns der
Autor gewissermaßen als Bonusmaterial dazu gegeben.
Die Nord-Süd-Verbindung von Mecklenburg nach
Württemberg kam zustande, weil Professor Härle als Seelsorger
die 89-jährige Mutter eines der beiden Herausgeber
(SGS) in ihrer Sterbestunde begleitete, am 9. August 2014,
im Augustinum Stuttgart-Killesberg. Genial intuitiv las
der Seelsorger aus Psalm 23, so dass die schon seit Wochen
im Sterben liegende, kämpferische und kluge Frau, baltendeutsche
Heimatvertriebene, Doktorin der Medizin und
der Psychologie, Psychoanalytikerin, fünffache Mutter und
8
Vorwort
vielfache Großmutter, von diesem Leben loslassen und „im
Haus des Herrn immerdar“ ihre Ruhe finden konnte. Während
der Trauerfeier im Augustinum entstand die Idee,
eine Vortragseinladung nach Güstrow auszusprechen, noch
ohne Wissen um den akademischen Rang des Eingeladenen.
Die Resonanz bei dem überwiegend konfessionslosen
Güstrower Publikum war überwältigend, das Experiment,
den württembergischen Protestanten ins Mecklenburgische
zu holen, geglückt. Andere Größen ihrer Disziplin, wie
der Medizinethiker Giovanni Maio aus Freiburg, der Verfassungsrechtler
Paul Kirchhof aus Heidelberg u. v. a. m.
konnten auch deshalb als Referenten gewonnen werden,
weil die häufige Präsenz von Wilfried Härle in Güstrow
magnetisch wirkte.
Wilfried Härles geistige Tiefe und Weite wird bei der
Lektüre dieses Bandes offenbar. Die Themen der Güstrower
Vorträge aus den Jahren 2015 bis 2021 entstanden jeweils
im Dialog. So suchten wir, aus vorangegangenen
Gesprächen oder aus aktuellen Diskussionen herauszufinden,
was im jeweiligen Herbst „dran“ war. Dabei kamen
grundlegende Vorträge zustande (z. B. „Evolutionstheorie
und Schöpfungsglaube“), zum Teil aber auch mehr
praxisbezogene (z. B. „Therapeutische Beziehung“, „Assistierter
Suizid“ u. a. m.). Die verständliche Sprache, der
transparente Aufbau und das offene Einstehen für christliche
Glaubensüberzeugungen machten Härles Referate
so gewinnend, dass von ganz verschiedenen Persönlichkeiten
der Ruf laut wurde, Professor Härle wieder und wieder
einzuladen, was dann auch geschah.
9
Vorwort
Der Emeritus des Heidelberger Lehrstuhls für Systematische
Theologie und Ethik liebt das gesprochene Wort
und den direkten Kontakt zu Theologie-Studierenden,
zudem auch den fächerübergreifenden Dialog mit Ex perten
anderer Disziplinen, unter anderem Medizinern, Psychotherapeuten,
Juristen oder Naturwissenschaftlern.
Härle war Mitglied der Enquetekommission des Deutschen
Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“.
Evangelische Theologen kennen die drei auflagenstarken
Härle-Lehrbücher „Systematische Philosophie“, „Dogmatik“
und „Ethik“.
Letztlich ist es als Fügung anzusehen, dass Professor
Härle trotz der bisweilen recht beschwerlichen Reisen zwischen
Württemberg und der Ostsee so oft hier sprechen
konnte, zumeist begleitet von seiner wunderbaren Rigenser
Gattin, Frau Dr. theol. Ilze K¸ezbere-Härle, professionelle
Geigerin und Pfarrerin, die mehreren Herbstgesprächen
einen unvergesslichen, virtuosen konzertanten Rahmen
verliehen hat.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Professor Wilfried
Härle für sein großes Entgegenkommen und bei Schulpfarrerin
Christina Jung für ihre gründliche Korrektur der
sieben Vorträge. Ermöglicht aber haben das Erscheinen
neben der Evangelischen Verlagsanstalt die Evangelische
Landeskirche in Württemberg und die Evangelisch-Lutherische
Kirche in Norddeutschland.
Regina Erbentraut und Stefan Georg Schröder
Güstrow, im Mai 2022
10
Inhalt
I
Die therapeutische Beziehung aus christlicher Sicht ....................... 13
II
Gewissen und medizinethische Urteilsbildung ................................ 27
III
Hirnforschung, Freiheit und Verantwortlichkeit ............................. 53
IV
Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube aus theologischer Sicht 75
V
Altersdemenz aus der Sicht christlicher Ethik .................................. 101
VI
Beihilfe zur Selbsttötung aus ethischer Sicht ...................................... 123
VII
Versöhnung, Vergebung, Heilung ........................................................ 143
Auswahlbibliographie Wilfried Härle .................................................. 174
Die Herausgeber ........................................................................................ 176
11
12
I Die therapeutische Beziehung
aus christlicher Sicht
1 Die Bedeutung von Therapien in den Anfängen
des Christentums
Wer auch nur einen kurzen Blick in die neutestamentlichen
Evangelien wirft, die vom Wirken Jesu erzählen, wird
feststellen, welche große Rolle dabei Krankenheilungen
(einschließlich der Austreibungen von bösen Geistern, also
der Exorzismen) spielen. Sie kommen mindestens so oft vor
wie die Reden Jesu (Gleichnisse/Parabeln, Bergpredigt und
Feldrede), seine Streitgespräche, die Berichte über die Resonanz,
die Jesus bei seinen Jüngern und in der Öffentlichkeit
findet, und schließlich die Passionsgeschichte (Gefangennahme,
Verurteilung, Kreuzigung) und die Auferstehung
Jesu Christi.
Mit einer etwas anderen Verteilung der Gewichte findet
das nach Jesu Erdenwirken Fortsetzung bei seinen Jüngern
bzw. Aposteln. Auch sie heilen, lehren und leiden,
aber nach dem Bericht der Apostelgeschichte steht dabei
die Predigttätigkeit im Zentrum, die Heilungen treten etwas
zurück. Verschwunden sind sie bis heute nicht aus der
Geschichte des Christentums. Aber die therapeutischen Aktivitäten
haben sich verschoben von den wunderhaft wirkenden
Krankenheilungen durch dafür besonders Begabte
zur institutionalisierten Therapie durch ärztliches und
13
I Die therapeutische Beziehung aus christlicher Sicht
pflegerisches Personal, Krankenhäuser, Pflegeheime und
andere medizinische und diakonische Einrichtungen.
Ich möchte mit Ihnen den Blick auf die Anfänge des
Christentums und hier vor allem auf die Heilungen Jesu
richten: Welche Rolle spielen sie in seinem Wirken? (1.1)
Welche Besonderheiten weisen sie auf? (1.2)
Danach will ich im zweiten Teil umgekehrt nach der
therapeutischen Beziehung aus einer speziellen medizinischen
Sicht fragen und besonders darauf achten, wo es Gemeinsamkeiten
(und Unterschiede) zum therapeutischen
Wirken Jesu gibt und welche Impulse daraus für die Wahrnehmung
der therapeutischen Situation (und vielleicht
auch für das Gespräch zwischen Medizin, Religion und
Theologie) zu gewinnen sind.
1.1 Die Rolle von Therapien im Wirken Jesu von Nazareth
Jesu Wirken ist von Anfang an durchzogen von Krankenheilungen.
Darunter befinden sich ganz schlichte therapeutische
Effekte, wie zum Beispiel, dass das Fieber der
Schwiegermutter des Petrus verschwindet, nachdem Jesus
ihr die Hand reichte und sie aufrichtete (Matthäus 8,14 f./
Markus 1,30 f./Lukas 4,38 f.), oder die Heilung eines Blinden,
die erst in zwei Stufen gelingt (nur in Markus 8,22–26),
oder dramatische Therapien, durch die Tote wieder lebendig
werden: die Tochter des Jairus, von der Jesus freilich
sagt, sie sei gar nicht tot, sondern schlafe nur (Matthäus
9,21–26; Markus 5,35–43; Lukas 8,49–56), und der Jüngling
zu Nain (Lukas 7,11) sowie – besonders dramatisch – die
14
1 Therapien in den Anfängen des Christentums
Auferweckung des Lazarus, der schon seit vier Tagen tot
war (Johannes 11,1–45), von dem Jesus aber ebenfalls sagt,
er schlafe nur (V. 11). Die Kranken, die zu Jesus kommen
oder gebracht und von ihm geheilt werden, sind je nachdem
blind, taub, stumm, gelähmt, verkrümmt, blutflüss
ig, epileptisch oder besessen. Es dominieren also Krankheitsbilder,
die sich auch psychosomatisch beschreiben
oder erklären lassen.
Es gibt allerdings auch zwei Erzählungen von nicht gelungenen
Heilungsversuchen. Die eine bezieht sich auf die
Jünger Jesu, die einen epileptischen Knaben nicht heilen
können (Matthäus 17,16/Markus 9,18/Lukas 9,40), die andere
auf Jesus selbst. Ausgerechnet von seiner Heimatstadt
Nazareth heißt es: „Und er konnte dort nicht eine einzige
Tat tun“ (Markus 6,5), nachträglich wird freilich abmildernd
hinzugefügt: „außer dass er wenigen Kranken die
Hände auflegte und sie heilte“. Besonders interessant und
wichtig ist jedoch der Nachsatz, mit dem wir uns noch beschäftigen
werden: „Und er wunderte sich über ihren Unglauben“
(Markus 6,6). Das alles spricht dafür, dass Jesus
die Gabe hatte, Kranke zu heilen, und dass er von dieser
Gabe auch reichlich Gebrauch gemacht hat. Dabei wird
man davon ausgehen müssen, dass manche Heilungserzählungen
nachträglich legendenhaft ausgemalt wurden.
Jesus selbst hat sich daran aber offenbar nicht beteiligt.
Er attestiert im Übrigen den „Söhnen der Pharisäer“, dass
auch sie Kranke heilen und böse Geister austreiben können
(Matthäus 12,27).
15
I Die therapeutische Beziehung aus christlicher Sicht
1.2 Merkmale der von Jesus bewirkten Heilungen
Fragt man, welche Merkmale die Heilungen Jesu haben,
stößt man nicht auf ein einziges Muster, sondern auf eine
Mehrzahl von Eigenheiten.
1.2.1 Vielfalt der Heilmittel
– Manchmal unternimmt Jesus gar nichts, was einer
Therapie ähnelt, sondern schickt die Kranken einfach zu
den Priestern (heute wären das die Amtsärzte in den Gesundheitsämtern),
um dort ihre Gesundheit feststellen zu
lassen (so die zehn Aussätzigen, also Leprakranken in Lukas
17,14).
– Gelegentlich verwendet Jesus Speichel oder einen Brei
aus Erde und Speichel, u. U. verbunden mit anschließender
Waschung (so zum Beispiel Markus 7,33 und Johannes 9,6).
– Häufig heilt Jesus die Kranken, indem er sie berührt
oder sich von ihnen berühren lässt (Markus 1,30 f.; 5,24– 34).
– Meist heilt Jesus mit einem oder mehreren Worten,
die entweder die Krankheit zum Verschwinden bringen
(Markus 7,34) oder die Kranken (zum Beispiel Gelähmte)
auffordern, aufzustehen und nach Hause zu gehen (so zum
Beispiel Markus 2,11 und Johannes 5,8).
1.2.2 Die von Jesus unerwünschte öffentliche Resonanz auf
die Heilungen
Zu den auffälligen Besonderheiten der Heilungen Jesu gehört,
dass sie sehr oft von einem Schweigegebot begleitet
werden (zum Beispiel Markus 1,44 und 5,43). Jesus will nicht,
16
1 Therapien in den Anfängen des Christentums
dass diese Wunder öffentlich bekannt gemacht werden.
Das ist natürlich teilweise gar nicht möglich, weil die Umgebung
ja (z. B. bei Gelähmten, Blinden, Taubstummen)
merkt, dass eine Heilung stattgefunden hat. Das Gebot
wird aber oft von den Betroffenen – verständlicherweise –
nicht eingehalten. So heißt es in Markus 7,36 nach der Heilung
eines Taubstummen: „Und er gebot ihnen, sie sollten’s
niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto
mehr breiteten sie es aus.“ Die Folge dessen ist, dass ein
immer größerer Zulauf an Kranken zu verzeichnen ist. Und
Jesus reagiert darauf häufig durch Rückzug und „Flucht“ in
die Einsamkeit, um im Gebet Kraft zu sammeln.
1.2.3 Die Zuweisung der Heilungen an den Glauben
der Geheilten
Das mit Abstand wichtigste Merkmal der Heilungen Jesu,
das ich deshalb auch in meinem Vortrag ins Zentrum rükken
will, ist die Tatsache, dass Jesus niemals die Heilungen
(ausdrücklich) sich, wohl aber häufig dem Glauben der
Geheilten zuschreibt. „Dein Glaube hat dir geholfen“ oder
„dich gerettet“, ist dafür die Standardformel (Markus 10,52;
Matthäus 8,13; 9,22 und 15,28; Lukas 8,48; 17,19 und 18,42).
Und dazu passt und gehört auch – gewissermaßen im Umkehrschluss
– die anfangs erwähnte Aussage aus dem Markusevangelium,
dass Jesus in Nazareth „nicht eine einzige
Tat tun“ konnte, samt der nachfolgenden Erklärung: „Und
er wunderte sich über ihren Unglauben“ (Markus 6,5 f.).
Was dabei im Neuen Testament unter „Glaube“ und
„Unglaube“ zu verstehen ist, ist völlig unstrittig: nicht
17
I Die therapeutische Beziehung aus christlicher Sicht
etwa ein bloßes Vermuten, Meinen oder Zustimmen zu
einer religiösen Lehre ohne persönliche Überzeugung,
sondern Glaube ist im Neuen Testament immer Vertrauen,
ein Sich-Verlassen auf Gott, Unglaube ist hingegen das
Fehlen, die Verweigerung oder der Verlust solchen Gottvertrauens.
Ich habe für diesen Vortrag noch einmal recherchiert,
ob diese Formulierung „Dein Glaube hat die geholfen“ im
Alten Orient jemals irgendwo anders vorkommt außer im
Wirken Jesu, und die Antwort heißt: Nein. Sie kommt so nur
bei Jesus vor. Er hat sie von niemandem übernommen, sie
ist schlechterdings einmalig und bringt Jesu ureigenstes
Verständnis „seiner“ Heilungen zum Ausdruck.
1.2.4 Die therapeutische Rolle Jesu
Es wäre ein Missverständnis, wenn man Jesu Heilungen
als einen Appell an die Aktivierung menschlicher Selbstheilungskräfte
verstehen würde. Die Begegnung mit Jesus
(oder mit seinen Jüngern) spielt in dem Vorgang, durch
den das heilende Vertrauen auf Gott entsteht, nämlich eine
wichtige Rolle: Durch seine Art der Präsenz und durch
seine Beziehung zu Gott und zu den Patienten (auch zu
den unberührbaren) kann er in den Kranken das Vertrauen
wecken oder entzünden, durch das sie geheilt werden. Aber
es ist nicht ein bestimmtes Verfahren oder gar ein Trick,
durch die das geschieht, so dass man das auch lernen und
imitieren könnte. Es geschieht und es ereignet sich vielmehr
auf eine unverfügbare Weise, zum Beispiel durch das
Gebet. Darauf weist Jesus in Markus 9,28 f. hin, als seine
18
1 Therapien in den Anfängen des Christentums
Jünger ihn fragen, warum sie einen epileptischen Knaben
nicht heilen konnten.
Dabei spielt in der schon erwähnten Heilung der zehn
Aussätzigen ein besonderes Detail eine wesentliche Rolle:
Alle zehn Geheilten werden von Jesus zu den Priestern geschickt,
um sich untersuchen zu lassen. Alle werden auf
dem Weg dorthin gesund, aber nur einer (ein Samariter!)
kehrt um, um Jesus zu danken und damit nach Jesu Worten
Gott zu loben. Und nur zu dem einen sagt Jesus (und
kann Jesus sagen, weil er zu ihm kommt): „dein Glaube hat
dir geholfen bzw. dich gerettet“ (Lukas 17,19). Das heißt
freilich nicht, dass die anderen neun wieder aussätzig geworden,
also mit einem Rückfall in ihre Krankheit bestraft
worden wären, wohl aber entgeht ihnen die entscheidende
Erfahrung des Vertrauens zu Gott, durch die ihr ganzes
Leben grundlegend in Ordnung gekommen und heil geworden
wäre.
1.2.1–4 Die Heilungen als Zeichen des anbrechenden Heils
Fragt man sich, wie das bisher Gesagte zusammenpasst
und eine Einheit bildet, so muss man eine Tatsache erwähnen,
die ebenfalls zu den unbestrittenen Ergebnissen der
neutestamentlichen Forschung gehört: Jesus tritt auf mit
der Botschaft, dass die vom Volk Israel seit Jahrhunderten
erwartete spürbare Nähe Gottes, genannt „die Gottesherrschaft“,
durch Jesus selbst nicht nur als nahe bevorstehend
verkündigt, sondern durch das Wirken Jesu gebracht wird–
nicht im Zustand der Vollendung, wohl aber als Prozess.
Dieser Hinweis auf die für Menschen (und nicht nur für
19
I Die therapeutische Beziehung aus christlicher Sicht
Kranke, sondern auch für Menschen, die unter ihrer Not,
Schuld oder Isolierung leiden) heilsame Nähe Gottes bildet
das Zentrum des Wirkens Jesu. Dem dienen als Zeichen
auch seine Heilungen. Aber diese Heilungen sind nicht
selbst die Sache, um die es geht, sondern sie sind „nur“ ein
Zeichen für die anbrechende Gottesherrsschaft. Dort, wo
sie zur Hauptsache gemacht werden (nach dem uns bekannten
Motto „Hauptsache gesund“), da entzieht sich
Jesus den Menschenmengen. Und damit sie nicht zur
Hauptsache gemacht werden, gebietet Jesus das Schweigen
darüber und verzichtet auf die Publicity, die damit unschwer
zu erzielen wäre.
Dass Heilungen ebenso wie Gesundheit nicht die
Hauptsache sein können, ergibt sich aus christlicher Sicht
schon daraus, dass es allen Menschen bestimmt ist, „einmal
zu sterben“ (Hebräer 9,27). Das Sterben ist in aller Regel
die Endphase eines Krankheitsprozesses, der nicht
mehr durch Heilung, sondern durch den Tod beendet
wird. Das wäre und bliebe auch dann richtig, wenn es nicht
in der Bibel stünde. Aber es gehört zum biblischen Realismus
und zur Lebensklugheit, dies zumindest beiläufig
zu erwähnen und zu bitten: „Lehre uns bedenken, dass wir
sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12).
Ich möchte dem ausdrücklich anfügen, dass es eine
Wohltat ist, dass wir irgendwann sterben müssen und dürfen.
Das sage ich nicht nur als Seelsorger an einer Seniorenresidenz
– aber da wird es als Wunsch und Hoffnung der
meisten Menschen unüberhörbar. Ein besonderes Geschenk
ist es, wenn man von einem Menschen sagen kann: „Er
20
1 Therapien in den Anfängen des Christentums
starb alt und lebenssatt“ (1. Mose 25,8; 35,29 und Hiob 42,17)
und weder jung und lebenshungrig noch irgendwann und
lebensüberdrüssig.
1.3 Die Heilungen Jesu als Placebo-Effekte?!
Könnte oder müsste man im Rückblick auf das bisher zu
Heilungen bei Jesus Festgestellte nicht sagen: Jesu Heilungswunder
(sei es durch Berührung, durch Worte oder
durch antike Heilmittel) erfüllen den Charakter von Placebos?
Sie sind also Placebo-Effekte, die nicht durch Medikamente
oder andere medizinische Maßnahmen an sich erfolgen,
sondern durch die therapeutische Beziehung zwischen
dem Heilenden und dem Patienten entstehen? Ich
habe keine Schwierigkeiten, das so zu formulieren, möchte
es aber im anschließenden zweiten Teil meines Vortrags
noch etwas erläutern. Ich habe das auch schon vor 16 Jahren
so geschrieben, 1 ohne dass das bisher öffentlich kritisiert
worden wäre. Ich möchte aber hinzufügen: Ein wesentliches
Charakteristikum dieses Placebo-Effektes besteht
darin, dass er in der Kommunikation zwischen Jesus
und den von ihm Geheilten ausdrücklich als solcher benannt,
also nicht verheimlicht oder verschwiegen wird.
Und genau an dieser Stelle will ich den Blickwinkel bzw.
die Perspektive wechseln: von der Theologie zur Medizin.
1) W. Härle, Self-fulfilling Prophecy. Beobachtungen und Überlegungen
zum produktiven Erkenntnisaspekt, in: Ders. (Hg.) Im Kontinuum. An -
näherungen an eine relationale Erkenntnistheorie und Ontologie, Marburg
1999, 1–16, bes. 8 –16.
21
II Gewissen und
medizinethische Urteilsbildung
1 Verständigung über den Gewissensbegriff 1
1.1 Ethische und verfassungsrechtliche Vorgaben
Zu den in unserem Kulturkreis weitgehend anerkannten
normativen Instanzen der Ethik gehört das Gewissen. Das
deutsche Grundgesetz zählt die Gewissensfreiheit sogar zu
den Grundrechten, die nicht einmal durch Gesetz eingeschränkt
werden können (ebenso wie die Menschenwürde
nach Art. 1 GG und zusammen mit der Religionsfreiheit
nach Grundgesetz Art. 4 GG). Und im Blick auf den Kriegsdienst
mit der Waffe wird die Bedeutung des Gewissensurteils
eigens hervorgehoben (Art. 4.3 GG).
Als weitestgehend anerkannt dürften dabei folgende
drei Annahmen bzw. Aussagen gelten:
Erstens: Man soll, ja, man darf niemanden veranlassen
(geschweige denn zwingen), gegen sein Gewissen zu handeln.
Diese Einsicht enthält auch die Begründung für Martin
Luthers (1483–1546) Verweigerung eines Widerrufs seiner
Schriften auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521:
„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren
1) Vgl. hierzu I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,
Königsberg 1793, 4. Stück, § 4 sowie ders., Die Metaphysik der
Sitten, Tugendlehre, Königsberg 1797, A 37 f. und A 99 ff.; G. Ebeling,/T.
Koch, Was ist das Gewissen? Hannover 1984; W. Härle, Art. „Gewissen“,
27
II Gewissen und medizinethische Urteilsbildung
Grund widerlegt werde …, so bin ich durch die von mir angeführten
Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen
in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich
nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist,
etwas gegen das Gewissen zu tun.“ 2
Zweitens: Das Gewissen kann sich in seinem Urteil irren,
bleibt aber auch dann verbindlich. Gegen den ersten
Satzteil hat Immanuel Kant (1724–1804) vehementen Einspruch
eingelegt mit der Aussage: „ein irrendes Gewissen
[ist] ein Unding.“ 3 Ob Kant mit dieser These Recht hat,
wird gleich (in Abschnitt 1.3) zu prüfen sein.
Drittens: Nur das einzelne ethische Subjekt kann letztlich
wahrnehmen und beurteilen, was ihm sein Gewissen
sagt, ob es anklagt, tadelt, verbietet oder gebietet. Das war
einer der Gründe, warum die Verfahren, die der Überprüfung
der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
gemäß Art. 4.3 GG dienen sollten, von Anfang an unter
Kritik standen und schließlich abgeschafft wurden.
Diese drei Obersätze sind nicht leicht miteinander zu
verbinden. So ist es zum Beispiel naheliegend zu fragen:
Warum soll oder darf man niemanden veranlassen, gegen
sein Gewissen zu handeln, wenn das Gewissen doch irren
kann? Und: Warum ist das Gewissen auch von anderen zu
respektieren, wenn doch nur der Handelnde selbst zu ihm
in: 4 RGG, Bd. 3, 2000, 902–906; E. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?
Eine ethische Orientierung, Freiburg/Basel/Wien 2003.
2) M. Luther, Werke hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 1, Frankfurt
am Main 1982, 269.
3) I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (s. Anm. 1), A 38.
28
1 Verständigung über den Gewissensbegriff
einen Zugang hat? Vor allem: Was verleiht dem Gewissen
seine Autorität und seinen hohen Rang?
1.2 Ein tiefsitzendes Missverständnis
Auf diese Fragen wird man meines Erachtens keine zufriedenstellende
Antwort geben können, solange man nicht
einen Grundirrtum aufklärt, der die Geschichte des Gewissensbegriffs
von Anfang an bis heute begleitet hat und
durchzieht. 4 Dieser Grundirrtum besteht in der Annahme,
das Gewissen sei insofern eine normative Instanz, als es der
Inbegriff verbindlicher ethischer Normen sei. Das Gewissen
wäre demzufolge die Instanz, die dem Menschen Anweisungen
zum ethisch richtigen Handeln gibt oder ihm
ethisch falsches Handeln untersagt oder vorwirft. Dieser
Grundirrtum kann seinerseits in mehreren Facetten auftreten,
in einer theonomen, autonomen und heteronomen.
– Theonom wird diese Überzeugung etwa schon bei
Philon von Alexandrien und in der mittelalterlichen Scholastik,
5 aber auch bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814)
4) Zu denen, die diesem Irrtum nicht erlegen sind, gehören M. Luther (De
votis monasticis, in: WA 8, 606, 32–34: „Das Gewissen ist nämlich nicht eine
Befähigung zum Wirken [des Guten], sondern eine Befähigung zum
Urteilen, die über die Taten urteilt“) und Th. Hobbes (Leviathan, Hamburg
1996, 274: „eines Menschen Gewissen ist sein Urteil“).
5) In Form der Lehre von der „Synteresis“ oder „Synderesis“. Diese – wahrscheinlich
auf einen Abschreibfehler bei Hieronymus zurückgehende –
Lehre besagt, dass es ein dem Menschen von Gott anerschaffenes unfehlbares
Wissen um Gut und Böse gibt und die Fähigkeit, das als gut Er -
kannte auch zu tun. Siehe dazu K. Hilpert, Art. „Gewissen II“, in: 3 LThK,
Bd. 4, 1995, 622 f.
29
II Gewissen und medizinethische Urteilsbildung
vertreten, 6 wo das Gewissen als Stimme Gottes im Menschen
verstanden wird, die als solche untrüglich ist und der
Folge geleistet werden muss. Dagegen spricht freilich die
Tatsache, dass die Gewissensurteile der Menschen untereinander,
ja sogar im zeitlichen Verlauf ihrer eigenen Biographie,
einander grundlegend widersprechen können.
– Autonom wird sie überall dort begründet, wo – wie
zum Beispiel bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–
1831) – das Gewissen als Inbegriff der subjektiv gewonnenen
ethischen Überzeugungen gilt, denen die objektiven Überzeugungen
in Staat und Gesellschaft gegenüberstehen
können. Im Blick auf diese Gewissensinterpretation erhebt
sich die Frage: Warum sollte man solche subjektiv
gewonnenen ethischen Überzeugungen nicht beeinflussen
dürfen und zu korrigieren versuchen? Und was verleiht
ihnen einen so hohen Rang?
– Heteronom taucht sie dort auf, wo – wie zum Beispiel
bei Herbert Spencer (1820–1903), Friedrich Nietzsche (1844–
1900) und Sigmund Freud (1856–1939) – das Gewissen als
Resultat eines geschichtlich-gesellschaftlichen Erziehungsund
Beeinflussungsprozesses verstanden wird, durch den
Menschen moralisch konditioniert werden oder sich überwacht
fühlen und dadurch unter Umständen abhängig,
krank und deformiert werden. Dabei kann es sich aber von
der Begründung her nicht um eine gültige normativ ethische
Instanz handeln, die zu respektieren wäre.
6) J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1800), in: Ders., Sämtliche
Werke, Bd. 2, Berlin (1845) 1965, 298.
30
1 Verständigung über den Gewissensbegriff
1.3 Kants entgegengesetzter Irrtum
Kant hat demgegenüber in aller Deutlichkeit gesagt, dass
das Gewissen nicht zuständig sei für die Frage, ob eine
Handlung oder eine Handlungsregel ethisch richtig ist,
das sei vielmehr eine Aufgabe der praktischen Vernunft.
Beim Gewissen gehe es hingegen nur um die Frage, ob ich
eine Handlung „mit meiner praktischen ... Vernunft zum
Behuf [= Zweck] jenes Urteils verglichen habe“ – und darin
„kann ich nicht irren, weil ich alsdann praktisch gar nicht
geurteilt haben würde“ 7 .
Kant zielt mit dieser Aussage meines Erachtens zwar
in die richtige Richtung, geht dabei aber einen entscheidenden
Schritt zu weit, und zwar dadurch, dass bei ihm der
Anschein entsteht, als beurteile das Gewissen nur, ob eine
innere Prüfung der Handlung anhand des eigenen Normbewusstseins
(der praktischen Vernunft) überhaupt stattgefunden
habe und ob diese gründlich, d. h. „mit aller Behutsamkeit“,
vorgenommen worden sei. 8 Aber wenn Kant
damit Recht hätte, dann müssten wir zum Beispiel dann
ein gutes Gewissen haben, wenn wir eine Handlung sorgfältig
auf ihr ethisches Gutsein hin geprüft hätten, auch
wenn wir dabei zu einem negativen Ergebnis gekommen
wären. Denn das hieße ja: Ich habe die Handlung sorg-
7) I. Kant, Metaphysik der Sitten, (s. Anm. 1), Tugendlehre A 38.
8) So I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (s.
Anm. 1), A 288. Schon durch den Zusatz, dass diese Prüfung „mit aller
Behutsamkeit“ stattgefunden haben müsse, nennt Kant freilich eine
Bedingung, im Blick auf deren Erfülltsein man sich sehr wohl irren kann.
31
II Gewissen und medizinethische Urteilsbildung
fältig anhand meiner ethischen Normen geprüft und bin
zu dem Ergebnis gekommen, dass sie mit diesen Normen
nicht übereinstimmt. Wenn es nur auf die Tatsache der
sorgfältigen Prüfung und nicht auf deren Ergebnis ankäme,
müsste ich folglich die Handlung mit gutem Gewissen
vollziehen können. Aber das wirkt geradezu absurd
und ist offensichtlich falsch. Das Gewissen bezieht sich
eben nicht nur auf die Tatsache und Behutsamkeit der Prüfung,
sondern auch auf ihr Ergebnis. Sollte Kant das gemeint
und sich nur missverständlich ausgedrückt haben,
dann müsste er allerdings auch zugeben, dass wir uns bei
dieser inhaltlichen Prüfung auch irren können. Jedenfalls:
Ein irrendes Gewissen ist kein Unding, es ist eine reale
Möglichkeit und Wirklichkeit, also ein Ding.
Wenn das Gewissen aber weder die Instanz ist, die dem
Menschen die unfehlbare Anweisung zum ethisch richtigen
Handeln gibt, noch die Instanz, die lediglich die Tatsache
der Prüfung von Handlungen anhand von ethischen
Überzeugungen feststellt, was ist das Gewissen dann und
stattdessen?
1.4 Die Bedeutung des Begriffs „Gewissen“
Auf die Frage nach der Bedeutung des Gewissensbegriffs
gibt – wie oft – die Beachtung der Sprache, und zwar vor
allem der etymologischen Wurzeln der Begriffe wichtige
9) Die hebräische Sprache der Bibel kennt noch keinen Begriff für „Gewissen“.
Aber sie kennt das Phänomen des (schlechten) Gewissens und be -
32
1 Verständigung über den Gewissensbegriff
Hinweise. Die griechischen 9 und lateinischen sowie die
daraus abgeleiteten italienischen, französischen und englischen
Begriffe für „Gewissen“: συν-είδησις, con-scientia,
co-scienza und con-science haben alle dieselbe Struktur, indem
sie das Wort, das „Wissen“ bedeutet, und die Vorsilbe
„mit“ 10 verbinden. Das ist ein Hinweis darauf, dass es sich
beim Gewissen um ein Mit-Wissen handelt, aber – und das
ist das Besondere am Gewissen – um ein Mit-Wissen nicht
mit anderen, sondern (nur) mit sich selbst. „Ich habe ein
Gewissen“ bedeutet zunächst: „Ich bin mein eigener Mit-
Wisser.“
Wenn man die Einsicht in die Irrtumsfähigkeit des Gewissens
jedoch nicht schon terminologisch ausschalten
will, könnte es sich empfehlen, die Rede vom „Wissen“ zumindest
zu relativieren oder durch die Rede vom „Bewusstsein“
zu ersetzen. Denn der Begriff „Wissen“ schließt
nach den Regeln der deutschen Sprache das Wahrsein des
Gewussten ein. Das gilt für die Begriffe „Bewusstsein“,
„Ge wissheit“ und „Gewissen“ aber nicht. Deshalb sollte
man stets dessen eingedenk sein, dass die Rede vom Gewissen
als einem Mit-Wissen mit sich selbst den Anspruch,
dass das Mit-Gewusste wahr ist, nicht unbedingt einschließt.
Wohl aber schließt es ein, dass das Mit-Gewusste
für wahr gehalten wird.
schreibt es mit der bildhaften, phänomennahen Wendung vom „schlagenden
Herzen“ (so z. B. 1. Samuel 24,6 und 2. Samuel 24,10).
10) Davon weicht der deutsche Begriff „Gewissen“ ab.
33
III Hirnforschung, Freiheit und
Verantwortlichkeit
1 Ergebnisse der Hirnforschung
In vielen öffentlichen Diskussionen wird seit einigen Jahren
die These vertreten, Freiheit sei eine Illusion, in Wirklichkeit
seien wir Menschen ebenso wie alle anderen Wesen
völlig determiniert, also vorherbestimmt und festgelegt,
und zwar durch unser Gehirn. Häufig wird diese These wie
eine bewiesene Tatsache dargestellt. Als Kronzeuge hierfür
wird meist der amerikanische Physiologe Benjamin Libet
(1916–2007) angeführt, der in den 1970er und 1980er Jahren
eine Reihe von Experimenten durchgeführt hat, die angeblich
gezeigt haben, dass der Mensch nicht fähig ist, durch
sein Wollen sein Handeln zu bestimmen, sondern dass sein
Handeln durch die in seinem Gehirn ablaufenden autonomen
Prozesse determiniert ist. Das hieße dann für unser
Thema: Für menschliche Entscheidungen gibt es keine
menschliche Verantwortlichkeit. Was wir möglicherweise
als eine solche Verantwortlichkeit empfinden, sind tatsächlich
Abläufe in unserem Gehirn, die durch dessen
Eigenaktivität festgelegt sind und nach dessen Gesetzen
ablaufen. Wir können sie nicht verändern oder beeinflussen
und tragen darum für sie auch keine Verantwortung.
Stimmt die These von der völligen Determiniertheit aller
geistigen Vorgänge durch die Abläufe im Gehirn?
53
III Hirnforschung, Freiheit und Verantwortlichkeit
Um das zu beantworten, müssen wir noch einmal mehrere
Jahre hinter Libet zurückgehen. 1965 hatte der deutsche
Neurologe Hans Helmut Kornhuber (1928–2009) zusammen
mit Lüder Deecke (*1938) entdeckt und publiziert,
dass etwa eine Sekunde vor einer absichtlich ausgeführten
Handlung („Willkürbewegung“) im Gehirn, und zwar
über der vorderen und oberen Großhirnrinde, ein Signal
im EEG zu messen ist, und er bezeichnete das treffend als
„Bereitschaftspotential“. 1
Libet brachte diese Entdeckung dann Anfang der 70er
Jahre des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit der naheliegenden
Vermutung, dass das Bereitschaftspotential durch
die willentliche Entscheidung des Menschen entstünde.
Demnach wäre es so, dass ein Mensch sich willentlich entscheidet,
zum Beispiel die Hand zu heben, daraufhin (etwa
0,1 bis 0,2 Sekunden später) entstünde das Bereitschaftspotential
in seinem Gehirn und eine Sekunde später erfolgte
die Handlung. Aber jeder weiß und kann leicht für
sich überprüfen, dass das nicht so ist; denn zwischen dem
Handlungsentschluss und der Handlung besteht nicht in
jedem Fall ein zeitlicher Abstand von etwa einer Sekunde.
Wir können viel schneller handeln. Viele Spiele, die blitzschnelles
Reagieren und Agieren voraussetzen, wären andernfalls
gar nicht mehr sinnvoll möglich. Aber müsste es
nicht so sein, wenn es ein Bereitschaftspotential gibt, das
1) H. H. Kornhuber/L. Deeke, Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen
und passiven Bewegungen des Menschen, in: Pflügers Archiv für
Gesamte Physiologie 284 (1965), 1–17.
54
1 Ergebnisse der Hirnforschung
eine Sekunde vor der Handlung entsteht, und wenn die
willentliche Entscheidung des Menschen die Ursache für
dieses Bereitschaftspotential darstellt? Wo liegt der Denkfehler
in dieser Konstruktion?
Wenn Kornhubers Forschungsergebnisse zutreffen,
kann der Fehler allem Anschein nach nur in der Annahme
liegen, die willentliche Entscheidung sei die Ursache für
das Bereitschaftspotential, gehe ihm also voraus. Libet untersucht
dies in seinen Experimenten und kommt zu dem
Ergebnis, dass es tatsächlich anders ist: das Bereitschaftspotential
ist früher zu messen; es geht der Willensentscheidung
um ca. 0,4 Sekunden voraus. Zuerst ist also das
Bereitschaftspotential da, dann folgt die Willensentscheidung,
dann folgt die Handlung. Was folgt daraus? Das
scheint klar zu sein: Allem Anschein nach gibt es folglich
keine freie, unabhängige Willensentscheidung, sondern
nur Entscheidungen und Handlungen, die durch das Gehirn
und seine Aktivitäten bestimmt werden. Wir meinen
zwar, so sagen es viele Hirnforscher, wir seien in unseren
Entscheidungen und Handlungen frei, beides ist aber in
Wirklichkeit durch unser Gehirn determiniert. In einem
gängigen Slogan zusammengefasst: Wir tun nicht, was wir
wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Ist das kein Beweis
gegen jede Freiheit des Willens, also für einen konsequenten
Determinismus?
Interessant und merkwürdig ist freilich, dass Libet
selbst sich diese deterministische Schlussfolgerung nicht
zu eigen gemacht hat, sondern den Determinismus als
„eine unbewiesene Theorie“ bezeichnet und es sogar für
55
III Hirnforschung, Freiheit und Verantwortlichkeit
„töricht“ erklärt, auf der Basis seiner Experimente die Überzeugung
aufzugeben, „dass wir eine gewisse Handlungsfreiheit
haben“. 2 Warum zieht er aus scheinbar so klaren
Ergebnissen solch halbherzige Konsequenzen? Die Antwort
scheint klar zu sein: Ihm fehlt der Mut, sich zum Determinismus
zu bekennen und den freien Willen für eine Illusion
zu erklären. So liest man es oft. Aber der Grund ist ein
ganz anderer. Er liegt in Libets Experimenten selbst.
Diese Experimente werden immer wieder fälschlich so
beschrieben, als habe Libet seine Probanden aufgefordert,
irgendwann willkürlich ihre Hand zu bewegen und sich
dabei anhand einer schnell rotierenden Uhr den Zeitpunkt
der Entscheidung zu merken. Aber das stimmt nicht. Libet
hat seine Probanden zwar gebeten, ihre Hand zu einem
von ihnen gewählten Zeitpunkt zu bewegen. Sie sollten
diese Bewegung jedoch gerade nicht bewusst planen, sondern
warten, bis sie sich eines „Dranges“ („urge“) oder des
„Wunsches“ („wanting“) zur Bewegung bewusst würden,
also ein Bedürfnis verspürten, die Bewegung zu vollziehen.
3 Den Zeitpunkt, an dem sich die Probanden dieses
Dranges bewusst würden, den Wunsch verspürten und
sich daraufhin zur Handbewegung entschieden, sollten sie
auf einer Uhr ablesen und sich merken. Gleichzeitig wurde
in einem EEG die Entstehung des Bereitschaftspotentials
gemessen und ebenfalls zeitlich eingeordnet.
2) So B. Libet zuletzt in seinem Buch: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein
produziert, [Harvard 2004] Frankfurt am Main 2005, 195–198.
3) So B. Libet, Time of Conscious Intention to Act …, in: Brain 106 (1983), 623–
627.
56
1 Ergebnisse der Hirnforschung
Bezieht man diese Anweisung an die Probanden in die
Betrachtung ein, so fällt auf, dass Libet die Versuchsanordnung
so gewählt hat, dass das vorliegende Ergebnis eigentlich
gar nicht überraschen kann. Er forderte die Probanden
ausdrücklich auf zu warten, bis sie sich eines „Dranges“
oder „Wunsches“ zur Bewegung bewusst würden: „the subject
was instructed ‘to let the urge to act appear on its own
at any time without any preplanning or concentration on
when to act’”. 4 Dass aufgrund dieser Anweisung irgendwann
ein solcher Drang entsteht und dass er in Form des
Bereitschaftspotentials dem Handlungsentschluss und der
Handlung um einen kleinen Zeitraum vorangeht, ist alles
andere als verwunderlich. Es ist vielmehr genau das, was
wir so erwarten und auch erleben.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Libet-Experimente
besteht darin, dass die Probanden den empfundenen Handlungsimpuls
(urge/wanting) noch vor Ausführung der
Handbewegung stoppen konnten, also, wie Libet sagt, ein
„Veto“ einlegen konnten. 5 In diesem Fall dominiert also die
bewusste, willentliche Entscheidung eindeutig über das
Bereitschaftspotential und ist ihm offenbar übergeordnet.
Das sind die beiden Gründe, warum die Libet-Experimente
nach Auffassung ihres Erfinders und Anleiters keinen Determinismus
belegen. Sie widerlegen ihn eher.
Was die Libet-Experimente jedoch zeigen, ist, dass
unseren Handlungsentscheidungen in Form des Bereit-
4) A. a. O., S. 625.
5) So B. Libet in der Zeitschrift Consciousness and Cognition 12 (2003), 321–
331.
57
III Hirnforschung, Freiheit und Verantwortlichkeit
schaftspotentials eine unbewusste, gefühlsmäßige Beeinflussung
in Form eines Dranges, eines Wunsches oder einer
Absicht vorausgehen kann, die auf unsere Entscheidungen
als starker Handlungsreiz einwirkt. Und wodurch entsteht
dieser Reiz? Im Falle der Libet-Experimente lässt er sich
ganz unkompliziert durch die Anweisungen des Versuchsleiters
erklären und jedenfalls sicher nicht durch eine davon
unabhängige autonome Gehirnaktivität.
Der Ablauf des Experiments ist also:
1. Anweisung des Versuchsleiters;
2. Entstehung des Bereitschaftspotentials im Gehirn
der Versuchsperson;
3. dessen Wahrnehmung als Drang oder Wunsch;
4. Handlungsentscheidung der Versuchsperson;
5. Durchführung der Handlung.
Eine Beeinflussung der Entscheidung und Handlung durch
das Bereitschaftspotential ist in diesem Fall also durchaus
anzunehmen. Aber dies ist nicht die auslösende Ursache
für den ganzen Prozess, sondern nur ein Vermittlungsglied
zwischen der Anweisung und der Entscheidung, und das
menschliche Handeln wird durch dieses Vermittlungsglied
nicht determiniert; denn der vom Bereitschaftspotential
ausgehende Drang kann zugelassen oder abgelehnt
oder auch noch durch das „Veto“ der Versuchsperson nachträglich
gestoppt werden. Dabei ist Libet sich durchaus
dessen bewusst, dass man auch für ein solches Veto die Entstehung
und das Vorhandensein eines Bereitschaftspotentials
annehmen könnte, das (ebenfalls) nicht erst durch die
58
1 Ergebnisse der Hirnforschung
willentliche Entscheidung hervorgebracht, sondern „nur“
angenommen oder abgelehnt werden kann. 6
Das alles ergibt aber nur Sinn, wenn der Mensch eine
begrenzte Freiheit hat, nämlich die Freiheit, gegenüber
dem Drang oder Wunsch zur Handlung, der durch alles
Mögliche ausgelöst werden kann, in einem kurzen Zeitraum
von etwa 0,2 bis 0,3 Sekunden ein „Veto“ einzulegen,
also „Nein!“ zu sagen und die geplante Handlung nicht zu
vollziehen. Und dabei werden offenbar auch Einflüsse
wirksam, die entweder schon früher von außen auf den
Menschen eingewirkt haben (zum Beispiel in Form ethischer
Erziehung und Bildung) oder die im Moment auf
ihn einwirken (zum Beispiel in Form der Wahrnehmung,
dass er beobachtet wird). Das ist keine unbegrenzte, sondern
eine begrenzte Freiheit. Und die Entdeckung dieser
begrenzten Freiheit, die durch die Experimente belegt
wird, ist der Grund, warum Libet den Determinismus als
„unbewiesen“, ja sogar als „töricht“ bezeichnet und ablehnt.
Was sich daraus für die Bedeutung der Hirnforschung
für die menschliche Verantwortlichkeit ergibt, will ich im
Moment noch zurückstellen und stattdessen zunächst einen
kurzen Blick auf die Position lenken, die sich von der
reformatorischen Theologie Martin Luthers her im Blick
auf die Alternative von Freiheit und Unfreiheit ergibt. Die
Wahl Luthers als Vergleichsposition zu den Ergebnissen
der Hirnforschung bei Kornhuber, Deecke und Libet legt
6) So B. Libet in Mind Time (s. Anm. 2), 187–189.
59
III Hirnforschung, Freiheit und Verantwortlichkeit
sich – trotz des Abstandes von mehr als 500 Jahren – aus drei
Gründen nahe,
– erstens, weil Luther sich vom Beginn seines Klosterlebens
im Jahr 1505 an intensiv, aber mit ganz wechselnden
Ergebnissen mit der Frage nach dem (eigenen) freien Willen
im Sinne von Wahlfreiheit beschäftigt hat; 7
– zweitens, weil er diese Frage insbesondere in seiner
Kontroverse mit Erasmus von Rotterdam für die entscheidende
Frage in den reformatorischen Auseinandersetzungen
beurteilt hat 8 und
– drittens, weil er sich für ihre Beantwortung immer
wieder auf die menschliche Erfahrung und damit auf eine
wissenschaftlich relevante Größe berufen hat. 9
Das sind hinreichende Gründe, um sich mit Luthers
Position zu befassen.
7) „Ich selbst war über zehn Jahre lang davon [sc. vom freien Willen] so
beeindruckt, dass ich glaube, es gibt keinen anderen, der in gleicher Weise
davon beeindruckt war. Und es war mir eine unglaubliche Vorstellung,
dies unser Troja, … könne einmal eingenommen werden“ (M.
Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1, [= LDStA 1] Leipzig
3 2022, 301,18–22.
8) „Dich nun, mein Erasmus, … lobe und preise ich … auch deswegen nachdrücklich,
dass du als einziger von allen die Sache selbst angegangen bist,
das heißt: den Hauptpunkt des Streits … Du als wirklich einziger hast
den Dreh- und Angelpunkt der Dinge gesehen und den Hauptpunkt des
Streits selbst angegriffen, wofür ich dir von Herzen Dank sage.“ (LDStA 1,
3 2022, 659,5–15).
9) „Das bedeutet, der Wille kann sich nicht ändern und anderswohin wenden.
… Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die leidenschaftlich
berührt [affecti] irgendeiner Sache anhängen“ (LDStA 1,
3 2022, 289,35–41 und 291,13.
60
Wilfried Härle ist Professor em. für Sys -
tematische Theologie. Er lehrte von 1975
bis 2008 an den Universitäten Kiel, Groningen
(NL), Marburg und Heidelberg.
Parallel dazu war er 18 Jahre lang Mitglied
und zwölf Jahre lang Vorsitzender
der Kammer für Öffentliche Verantwortung
der EKD und drei Jahre
lang Mitglied der Enquetekommission
des Deutschen Bundestages für Ethik
und Recht der modernen Medizin. Nach
seiner Emeritierung war er fünf Jahre
lang Seelsorger an einer Stuttgarter Seniorenresidenz und ist als Buchautor
und Vortragsreisender tätig.
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Cover: makena plangrafik, Leipzig
Satz: ARW-Satz, Leipzig
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ISBN 978-3-374-07269-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07270-5
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