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Klaus Hock | Claudia Jahnel (Hrsg.): Theologie(n) Afrika (Leseprobe)

Das Diskursfeld »Theologie(n) Afrika« ist geprägt durch Begriffe, die nicht nur Theologien generieren und Theologiegeschichte gemacht haben, sondern auch Wissen und Bedeutung konstruieren, Erfahrung strukturieren sowie Verstehen und Denken organisieren und steuern. Die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich mit zentralen Termini und Konzeptionen in diesem Diskursfeld und zeichnen ihre jeweilige Geschichte nach. Dabei geht es um die Historisierung des jeweiligen Begriffs, den Aufweis seines konstruktivistischen Charakters und den Bedeutungswandel, den er im Kontext des weiteren Begriffsfeldes durchlaufen hat. Diskutiert werden die exemplarisch ausgewählten Termini Afrika, Afrikanische Unabhängige Kirchen, Authentizität, Bildung, Entwicklung, Gott, Islam, Leben, Macht, Migration.

Das Diskursfeld »Theologie(n) Afrika« ist geprägt durch Begriffe, die nicht nur Theologien generieren und Theologiegeschichte gemacht haben, sondern auch Wissen und Bedeutung konstruieren, Erfahrung strukturieren sowie Verstehen und Denken organisieren und steuern.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich mit zentralen Termini und Konzeptionen in diesem Diskursfeld und zeichnen ihre jeweilige Geschichte nach. Dabei geht es um die Historisierung des jeweiligen Begriffs, den Aufweis seines konstruktivistischen Charakters und den Bedeutungswandel, den er im Kontext des weiteren Begriffsfeldes durchlaufen hat.
Diskutiert werden die exemplarisch ausgewählten Termini Afrika, Afrikanische Unabhängige Kirchen, Authentizität, Bildung, Entwicklung, Gott, Islam, Leben, Macht, Migration.

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<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> | <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Theologie</strong>(n) <strong>Afrika</strong><br />

Ausgewählte Schlüsselbegriffe<br />

in einem umstrittenen Diskursfeld<br />

Veröffentlichungen der<br />

Wissenschaftlichen Gesellschaft für <strong>Theologie</strong>


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> und <strong>Claudia</strong> Jahne<br />

Einleitung ...................................................................................................................... 7<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

<strong>Afrika</strong> ........................................................................................................................... 17<br />

Andreas Heuser<br />

<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen ( African Independent Churches) ....... 55<br />

<strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Authentizität (Identität, Ownership, Kultur, Tradition) ............................... 77<br />

Christiana Idika<br />

Bildung ........................................................................................................................ 109<br />

Franz Gmainer-Pranzl<br />

Entwicklung .............................................................................................................. 123<br />

Wilhelm Richebächer<br />

Gott – Ursprung und Gegenüber in der Gemeinschaft des Lebens ........... 155<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

Islam ............................................................................................................................ 177<br />

Katharina Peetz<br />

Leben ........................................................................................................................... 207<br />

Frieder Ludwig<br />

Macht (Power, Kolonialismus, Neokolonialismus) ......................................... 221<br />

Stefanie Beck<br />

Migration<br />

Migration – Begriffsgeschichte ................................................................................ 245<br />

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .............................................................. 257


<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> und <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Einleitung<br />

Der Titel dieser Veröffentlichung irritiert – nicht nur wegen des (eingeklammerten)<br />

Plurals »<strong>Theologie</strong>(n) <strong>Afrika</strong>«, sondern auch aufgrund der freischwebend<br />

appositionellen Zuordnung von »<strong>Theologie</strong>(n)« und »<strong>Afrika</strong>«. Doch die gewählte<br />

Bezeichnung ist zugleich Absicht und Programm: Weder im Singular noch im<br />

Plural sollen lineare Zuordnungen à la »<strong>Theologie</strong>(n) in <strong>Afrika</strong>« oder »<strong>Afrika</strong>nische<br />

<strong>Theologie</strong>(n)« vorgenommen werden, und die Beziehung zwischen den beiden<br />

Größen wird ebenso bewusst in der Schwebe gehalten wie ihre Offenheit<br />

für weitergehende Perspektiven. Diese ergeben sich beispielsweise mit Blick auf<br />

Dimensionen jenseits eines auf das Christliche beschränkten Verständnisses von<br />

<strong>Theologie</strong>(n) oder jenseits einer geographisch, kulturalistisch oder anderweitig<br />

essenzialisierend festgeschriebenen Auffassung <strong>Afrika</strong>s oder »des <strong>Afrika</strong>nischen«.<br />

Die so eröffnete Domäne markiert ein gewaltiges Forschungsfeld – mit einer<br />

langen Geschichte und reichen Tradition (erinnert sei beispielsweise an Placide<br />

Tempels, Bengt Sundkler, Adrian Hastings, um nur einige Namen zu nennen);<br />

mit konfessionsverbindenden Einsichten und Impulsen; mit interdisziplinären<br />

Anknüpfungspunkten (Ethnologie, <strong>Afrika</strong>nistik, Postcolonial Studies ); sowie mit<br />

vielfältigen Schwerpunktsetzungen und methodologischen Zugängen.<br />

Durch Migration und Globalisierung hat sich das Feld nochmals weiter ausdifferenziert.<br />

Insofern referiert »afrikanische <strong>Theologie</strong>(n)« auf <strong>Theologie</strong>n sowohl<br />

in als auch aus <strong>Afrika</strong>, die global expandieren, sich je lokal neu (re)kontextualisieren<br />

oder gar jenseits ihrer Markierung als »afrikanisch« weitergehende, geographisch<br />

und kulturell übergreifende Relevanz beanspruchen: in Gestalt internationaler<br />

Gemeinden, globaler Kirchen und auch <strong>Theologie</strong>n, die nicht mehr primär<br />

als »afrikanisch« kategorisiert sein wollen, sondern einfach als – christlich; doch<br />

auch sie bleiben in der Regel noch »irgendwie« auf <strong>Afrika</strong> bezogen.<br />

Im deutschsprachigen Raum wird an verschiedenen Orten wissenschaftlich<br />

zu Religionen, <strong>Theologie</strong>n, Kirchen, neuen religiösen Bewegungen etc. in <strong>Afrika</strong><br />

und in der sog. »afrikanischen Diaspora« gearbeitet und publiziert. Andererseits<br />

arbeiten viele Forscher*innen, die sich mit <strong>Afrika</strong> befassen, verständlicherweise<br />

mit unterschiedlichen theoretischen oder methodischen Ansätzen in verschiedenen<br />

akademischen Feldern primär unter der Perspektive »<strong>Afrika</strong>«, der dann<br />

thematische Bereiche (Politik, Religion, Ökonomie ...) quasi sekundär zugeordnet<br />

werden (wie beispielsweise in der »Vereinigung für <strong>Afrika</strong>wissenschaften in<br />

Deutschland«).


8 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> / <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Kontext, Hintergrund und Genese dieser Publikation<br />

Vor dem soeben skizzierten Hintergrund hatte sich unter dem Dach der Wissenschaftlichen<br />

Gesellschaft für <strong>Theologie</strong> (WGTh) und innerhalb der Fachgruppe<br />

Religionswissenschaft und Interkulturelle <strong>Theologie</strong> vor geraumer Zeit eine Projektgruppe<br />

unter dem Namen »<strong>Theologie</strong>(n) <strong>Afrika</strong>« zusammengefunden. Ihr ging<br />

es zunächst darum, Wissenschaftler*innen, die mit dem Themenfeld »afrikanische<br />

<strong>Theologie</strong>(n)« in einem weiteren Sinne befasst sind, zu einem Austausch<br />

über ihre Arbeit zusammenzubringen und dabei die Relevanz afrikanischer<br />

<strong>Theologie</strong>(n) für das Ganze der <strong>Theologie</strong> wie auch für ihre einzelnen Disziplinen<br />

in den Blick zu nehmen – wohl wissend, dass Letzteres immer noch ein Desiderat<br />

ist. Ausgehend von der Leitidee, die Beziehungen zwischen »Europa« und »<strong>Afrika</strong>«<br />

in ihrer theologischen Bedeutung zu reflektieren, sollten konkrete Themen<br />

und Fragestellungen als Brennpunkte identifiziert werden, deren Bearbeitung für<br />

eine zukunftsfähige (interkulturelle) <strong>Theologie</strong> von konstitutiver Bedeutung ist.<br />

Aus mehreren Treffen dieser Projektgruppe sowie durch die Akquise einiger<br />

Beiträge von weiteren Autorinnen und Autoren ist nun dieser kleine Band entstanden<br />

– quasi als erster Versuch, die über mehrere Jahre gelaufenen, äußerst<br />

dichten und komplexen Diskussionen zumindest ausschnittartig zu materialisieren<br />

und in einigen Artikeln exemplarisch zu präsentieren. Viele, die nun nicht<br />

mit einem eigenen schriftlichen Eintrag in diesem Band vertreten sind, haben<br />

dennoch zur Entstehung der Publikation insgesamt wohl mehr beigetragen, als<br />

ihnen selbst bewusst sein mag, und sicherlich ist auch indirekt in den einen oder<br />

anderen Artikel einiges von dem eingeflossen, was in den Treffen der Projektgruppe<br />

auf äußerst dichte und komplexe Weise diskutiert wurde. Ähnliches gilt<br />

sogar für diejenigen, die an den Treffen nicht teilnehmen konnten, aber mit uns<br />

oder mit einzelnen aus der Projektgruppe im Austausch standen und damit ebenfalls<br />

auf nicht mehr im Detail belegbare Weise unser Vorhaben quasi mit unsichtbarer<br />

Hand mitgeformt haben. An dieser Stelle geht zudem der ausdrückliche<br />

Dank der Herausgeberin und des Herausgebers – im Namen der Autorinnnen<br />

und Autoren – an Herrn Dr. Wieland Berg, Halle (Saale) für die sorgfältige Redaktionsarbeit<br />

und die Erstellung des Satzes.<br />

Von Beginn an haben wir versucht, möglichst breite Expertise einzuholen<br />

und in unsere Überlegungen einfließen zu lassen, um dadurch ein Sensorium<br />

für besonders neuralgische Probleme, Herausforderungen, Sackgassen oder Irrtümer<br />

sowie umgekehrt: neu zu erkundende Felder, weiterführende Optionen,<br />

zukunftsweisende Perspektiven oder mutige Entwürfe zu entwickeln.<br />

Bei einem ersten Zusammentreffen hatte beispielsweise Prof. Dr. Chibueze<br />

Udeani (Würzburg) einen ganzen Blumenstrauß von Monita und Kautelen, aber<br />

auch Ermutigungen, Forderungen und Erwartungen vorgetragen, die, so hoffen<br />

wir jedenfalls, auch in den hier versammelten Beiträgen auf die eine oder andere<br />

Weise ihre Resonanz gefunden haben. Sie lassen sich, wenngleich bei weitem<br />

nicht vollständig, rückblickend und rekonstruierend in folgenden Punkten stichwortartig<br />

so zusammenfassen: Eurozentrische Konstruktionen »<strong>Afrika</strong>nischer<br />

<strong>Theologie</strong>« sind ganz grundsätzlich kritisch zu hinterfragen, insbesondere jene


Einleitung 9<br />

Versuche, Christentum und afrikanische <strong>Theologie</strong> gegen afrikanische Religionen<br />

und Traditionen auszuspielen bzw. letztere als »heidnisch« oder »primitiv«<br />

zu »entsorgen«. Jeglicher Entwurf »<strong>Afrika</strong>nischer <strong>Theologie</strong>« muss letztlich auf<br />

spirituelle Eckpfeiler afrikanischer Religion Bezug nehmen und darauf aufbauen.<br />

In diesem Zusammenhang muss afrikanischen Traditionen besondere Aufmerksamkeit<br />

gewidmet werden, sie sind auch in die kirchliche Praxis, namentlich im<br />

Bereich der Seelsorge, mit einzubeziehen. Was bisweilen als afrikanische »Eigenart«,<br />

so Udeani, herausgestellt wird, darf nicht als Rückständigkeit oder Rückwärtsgewandtheit<br />

betrachtet werden, sondern muss als potenziell bereichernder<br />

»Denk- und Lebensstil« in den Blick kommen, wobei diesbezüglich die Freiheit<br />

dieses Denk- und Lebensstils für die Ausbildung afrikanischer <strong>Theologie</strong>n konstitutiv<br />

bleibt. Jede Rede von Gott impliziert ein Sprechen von menschlicher Wirklichkeit.<br />

Im Mittelpunkt der <strong>Theologie</strong> müssen daher die Fragen der Menschen<br />

stehen, eine afrikanische Anthropologie. Darüber hinaus gilt es, afrikanische Geschichte<br />

als einen zentralen Dreh- und Angelpunkt zu betrachten. Es geht darum,<br />

den afrikanischen Alltag zu entschlüsseln, darauf zu achten, wo <strong>Afrika</strong>ner*innen<br />

ihre Füße haben und was sich in ihren Köpfen und Bäuchen abspielt. <strong>Afrika</strong>nische<br />

<strong>Theologie</strong> erfordert zudem eine eigene Pädagogik und Hermeneutik als<br />

besonderes Hinsehen und Hinhören. Das ist nicht einfach nur Empathie; afrikanische<br />

Theologinnen und Theologen müssen sich auf Bedürfnisse der afrikanischen<br />

Bevölkerung einlassen und diese als Zeichen unserer Zeit zu lesen lernen. Gegenüber<br />

einem eurozentrischen Universalismus, der mit seinem Machtanspruch anderes<br />

Denken vereinnahmt, sind Partikularitäten als Ausgangspunkt zu nehmen.<br />

Deshalb bedarf es eines »interrogativen« Ansatzes mit Blick auf das Verhältnis<br />

von Kultur und Religion. Insgesamt lässt sich deshalb festhalten: Nach »dem <strong>Afrika</strong>nischen«<br />

zu fragen, bedeutet, Fragen, Themen, Anfragen, Herausforderungen<br />

aus afrikanischen Kontexten aufzunehmen.<br />

Von anderer Seite wiederum, um ein zweites Beispiel für einen weiteren<br />

Impuls anzuführen, wurde die Relevanz afrikanischer <strong>Theologie</strong>n für die Interkulturelle<br />

<strong>Theologie</strong> in den Mittelpunkt gestellt. Benjamin Simon, der am Ökumenischen<br />

Institut in Bossey lehrt, schrieb uns diesbezüglich ins Stammbuch,<br />

folgende Aspekte unbedingt zu berücksichtigen: In Begriff und Phänomen »World<br />

Christianity« als der einen globale Christenheit sind implizit wechselseitige Verflechtungen<br />

von Kulturen und Religionen thematisiert. Das Konzept postuliert<br />

zugleich die Notwendigkeit interkulturellen Verstehens und gegenseitigen Respekts.<br />

Interkulturelle <strong>Theologie</strong> als akademische Disziplin wiederum speist interkulturelle<br />

und interreligiöse Perspektiven in den theologischen Lehrbetrieb<br />

ein. Dabei wird durchaus der <strong>Theologie</strong>begriff selbst als solcher in Frage gestellt.<br />

Denn Interkulturelle <strong>Theologie</strong> beschäftigt sich nicht nur mit <strong>Theologie</strong>n, die in<br />

Büchern oder Predigten etc. zu finden sind, sondern auch mit <strong>Theologie</strong>n, die<br />

sich in Riten oder Festen vergegenwärtigen. Die Christentümer afrikanischer<br />

Provenienz sind hinsichtlich ihrer Quantität und Ausbreitung von immer größerer<br />

Relevanz – sie sind glokale Phänomene par excellence. Als wichtige Gegenstände<br />

afrikanischer <strong>Theologie</strong>n sind exemplarisch, wenngleich bei weitem<br />

nicht umfassend und abschließend, folgende Themen vordringlich in den Blick


10 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> / <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

zu nehmen: Migration, Entwicklungspolitik, Heil und Heilung sowie Gender. Jedes<br />

dieser Themen birgt auch und besonders für theologische Debatten weitere<br />

komplexe Herausforderungen in sich. Hinsichtlich der Migrationsfrage etwa ist<br />

zunächst festzuhalten, dass die Migrationsbewegung aus <strong>Afrika</strong> nach Europa im<br />

Vergleich zur afrikanischen Binnenmigration verschwindend gering ausfällt. Die<br />

theologische Auseinandersetzung mit Migration stellt ekklesiologische Fragen<br />

und Fragen des dritten Raums (auch innerhalb der Kirche), Fragen theologischer<br />

Neukonzeptualisierungen (mit Blick auf Exodus und Wüstenwanderung) sowie<br />

ganz grundlegende ethische Fragen, beispielsweise im Zusammenhang mit dem<br />

Recht auf Migration, dem Umgang mit Migrantinnen und Migranten, Normen<br />

des Zusammenlebens etc. Hinsichtlich der Thematik »Entwicklungspolitik« ist<br />

auffällig, dass in Deutschland selbst das Auswärtige Amt inzwischen entwicklungspolitische<br />

»Friedenspotenziale der Religionen« thematisiert; in diesem Zusammenhang<br />

ist aber zu beklagen, dass noch immer eine recht simplifizierende<br />

Sicht vorherrscht, die pentekostale Kirchen als »enchanted religions« (Paul Gifford)<br />

prinzipiell unter den Verdacht stellt, weniger entwicklungsorientiert zu sein<br />

als die römisch-katholische Kirche oder die etablierten protestantischen Kirchen.<br />

Zum Thema »Heil und Heilung« wiederum ist festzustellen, dass es angesichts<br />

der durch Gewalt und Krieg erfahrenen »tiefen Wunden <strong>Afrika</strong>s« (John Mbiti)<br />

einer theologischen Reflexion bedarf, in der Heil mit Aspekten der Versöhnung<br />

verknüpft wird, sowie einer »heilenden Erinnerungskultur«, 1 wobei auch die Ressourcen<br />

traditioneller afrikanischer Weltanschauungen zu aktivieren sind. Das<br />

Thema »Gender(gerechtigkeit)« wiederum verlangt nach einem konstruktiven<br />

Umgang mit der Herausforderung, dass sich in afrikanischen Kontexten traditionelle<br />

kulturelle Praktiken und Vorstellungen in dieser Sache durchaus als zweischneidiges<br />

Schwert erweisen können.<br />

Die Vielfalt der Zugänge zu afrikabezogener Forschung spiegelt die Arbeit<br />

des Leibniz-Zentrums »Moderner Orient« in Berlin, in dem verschiedene Perspektiven<br />

zusammenlaufen und dessen aktuelle Debatten und methodischen Schwerpunkte<br />

Kathrin Bromber beim ersten Zusammentreffen eingebracht hatte. Die<br />

Konzentration auf Mikro- und Regionalstudien, die transkulturelle und transnationale<br />

Verflechtungen gerade nicht ausblenden, sondern Transformations- und<br />

Sedimentierungsprozesse nachzuzeichnen versuchen, deckt die sich wiederholenden<br />

und bestätigenden neuralgischen Knotenpunkte der Wissensgenerierung<br />

und des <strong>Afrika</strong>-Europa-bezogenen Diskurses auf – etwa den (Unter)Entwicklungsund<br />

Fortschrittsdiskurs, gender-Rollen oder dystopische Stereotype.<br />

Die Diskussionen über diese und andere Impulse haben die Arbeit der Projektgruppe<br />

grundlegend und nachhaltig beeinflusst. Manches mag dabei strittig<br />

oder unaufgelöst geblieben sein, über vieles ließ sich aber weitgehend Konsens<br />

herstellen, so etwa, dass Interkulturelle <strong>Theologie</strong> stets mit einer interreligiösen<br />

Perspektive verbunden sein muss und in dieser Hinsicht keine Kompartmentalisierung<br />

betrieben werden darf – ebenso wenig wie hinsichtlich der Frage nach<br />

1<br />

Michael Lapsley, siehe https://healingmemoriesna.org/resources, abgerufen am<br />

28. 3. 2022.


Einleitung 11<br />

Gerechtigkeit, so dass Interkultureller <strong>Theologie</strong> ganz grundsätzlich hier eine<br />

wichtige Vermittlungsaufgabe und Scharnierfunktion auch in die Gesellschaft<br />

hinein zukommt.<br />

Was sind »Critical Terms«?<br />

Die Projektgruppe fand von Anfang an eine gemeinsame Arbeitsebene und konzentrierte<br />

sich auf jenen inhaltlichen Schwerpunkt, der bereits beim ersten Zusammentreffen<br />

mit den Stichworten Critical Terms for African <strong>Theologie</strong>s – Canons<br />

of Conzeptualizations/De-conceptualizations vorläufig umschrieben wurde<br />

und auch während aller nachfolgenden Diskussionen und Debatten im Zentrum<br />

stand.<br />

Hinter der auf den ersten Blick vielleicht etwas kryptischen Nomenklatur<br />

verbirgt sich das Interesse daran, zum einen Schlüsselkategorien im Feld<br />

»<strong>Theologie</strong>(n) <strong>Afrika</strong>« zu identifizieren, zum anderen diese – nicht nur, aber<br />

vornehmlich – unter postkolonialer, auf jeden Fall jedoch fundamental (selbst)<br />

kritischer Perspektive »gegenzulesen«. Auf diese Weise sollen sowohl Genese<br />

und Karriere dieser Schlüsselkategorien nachgezeichnet als auch die Kategorien<br />

selbst auf eine mögliche Notwendigkeit der Dekonstruktion hin befragt werden.<br />

Bei der Namensgebung war die Assoziation zu der gleichnamigen Buchreihe<br />

der University of Chicago Press (»Critical Terms for ...«) durchaus beabsichtigt. 2<br />

Damit ist programmatisch impliziert, dass die Schlüsselbegriffe auch im Feld<br />

»<strong>Theologie</strong>(n) <strong>Afrika</strong>« nicht neutrale Begriffe, sondern Wissenskonzepte darstellen,<br />

die in ganz besonderer Weise historisch und inhaltlich geprägt sind. Daher<br />

genügt es nicht, die entsprechenden Termini lediglich zu beschreiben. Vielmehr<br />

sind sie in ihrem jeweiligen geschichtlichen Werdegang und gegenwärtigen Kontext<br />

zu entfalten. Dabei müssen zum einen Perspektiven der für die Genese vieler<br />

Begriffe einflussreichen Disziplinen (z. B. Ethnologie, Soziologie, Psychologie)<br />

sowie ihr oftmals politisch funktionalisierter Gebrauch einbezogen werden. Zum<br />

andern sind auch die durch die Begriffe aufgeworfenen weiterführenden Fragen<br />

und Aspekte in den Blick zu nehmen. Jeder Begriff ist auf seine jeweiligen Anwendungszusammenhänge<br />

hin zu entfalten und mit Entwicklungen, Ereignissen,<br />

Praktiken und Vorstellungen, also maßgeblichen und prägenden Diskursen, in<br />

Beziehung zu setzen. Die Spannweite soll dabei von stärker unmittelbar religiös<br />

konnotierten (z. B. Gott, Geister) über kulturbezogene (z. B. Kultur, Religion) bis<br />

zu abstrakteren Begriffen (z. B. Befreiung, Moderne) reichen. Nicht vermeiden<br />

lässt sich bei alledem eine gewisse – auch bleibende – Spannung zwischen deskriptiv-praktischen<br />

und analytisch-abstrakten Begriffen.<br />

Ein Schwerpunkt liegt selbstverständlich auf Termini und Konzeptionen aus<br />

den religions- und theologiebezogenen Bereichen. In Frage kämen beispielsweise<br />

auch Begriffe wie »Orakel«, »Hexerei«, »Besessenheit«; bereits diese drei Beispiele<br />

2<br />

https://press.uchicago.edu/ucp/books/series/CRITER.html, abgerufen am 28. 3. 2022.


<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

<strong>Afrika</strong><br />

1. Erste Beobachtungen, akzidentielle Zugänge,<br />

biographische Spiegelungen<br />

»<strong>Afrika</strong>« als Schlüsselbegriff (critical term) im Feld »<strong>Theologie</strong>n <strong>Afrika</strong>« zu bestimmen,<br />

scheint gleichermaßen basal und fundamental wie zirkelschlüssig und<br />

unmöglich: Als Meta-Metabegriff umfasst »<strong>Afrika</strong>« die Gesamtheit dessen, was<br />

innerhalb jenes Feldes genaueren Bestimmungen zugeführt werden soll, liegt ihr<br />

zugrunde, begrenzt sie ... und öffnet sie zugleich, da »<strong>Afrika</strong>« als Begriff – als<br />

Terminus, als festgelegter Grenzpunkt, als »Grenzmarkierung« seinerseits gekennzeichnet<br />

durch Komplexität, Fluidität, Offenheit und Veränderbarkeit – zum<br />

einen auch das Jenseits dieser Gesamtheit anzeigt und zum anderen selbst der<br />

Grenzverschiebung unterliegt (beziehungsweise diese bewirken kann).<br />

1.1 Assoziationen<br />

Der Polysemantik des Begriffs »<strong>Afrika</strong>« ist bereits eine Vielstimmigkeit vorgelagert,<br />

die sich auf ganz banaler Ebene auch quantitativ abbilden lässt, wenn<br />

die ungefähre Anzahl der Ergebnisse bei der Google-Suche rund um »<strong>Afrika</strong>«<br />

zugrunde gelegt werden (Stand: September 2021, auf die jeweilige Suchsprache<br />

voreingestellt):<br />

<strong>Afrika</strong> (deutsch): 230.000.000<br />

Africa (englisch): 2.850.000.000<br />

Afrique (französisch): 380.000.000<br />

África (spanisch/lateinamerikanisch): 1.320.000.000/268.000.000<br />

África (portugiesisch/brasilianisch): 273.000.000/134.000.000<br />

非 洲 (chines.): 167.000.000 / 148.000.000<br />

(arab.): 198.000.000 ايقيرفأ<br />

Африка (russ.): 31.000.000<br />

अफ्रीका (Hindi): 1.060.000.000<br />

አፍሪካ (Amharisch): 2.500.000<br />

Afirka (Hausa): 1.240.000<br />

Der ganze Einstieg via Google-hits ist selbstverständlich ein etwas abwegiger Zugriff,<br />

ein Spiel, bei dem umfassende Unschärfen vorausgesetzt sind wie die, dass<br />

beispielsweise das deutsche »<strong>Afrika</strong>« mit dem indonesischen, dem <strong>Afrika</strong>ansoder<br />

dem KiSwahili-»<strong>Afrika</strong>« identisch ist und viele afrikanische Sprachen wie<br />

das Yoruba oder das Igbo »Africa« vermutlich aus dem Englischen übernommen<br />

haben, ganz abgesehen davon, dass das hier ausgeworfene Netz durch Algorith-


18 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

men konstruiert ist, die vorgeben, eine Wirklichkeit abzubilden. Doch bereits der<br />

hier zufällig-willkürlich gewählte Erstzugang zum Schlüsselbegriff ist äußerst<br />

aufschlussreich: Die häufig beinahe reflexhafte wie unreflektierte Nutzung von<br />

Google bei der Suche nach möglichen Antworten, hier auf die Frage nach »<strong>Afrika</strong>«,<br />

ist bei genauerem Besehen doch nicht einfach »zufällig-willkürlich« – vor einem<br />

guten Vierteljahrhundert wäre eine solche Annäherung an Begriff und Thema<br />

noch gar nicht so recht in dieser Form möglich gewesen; und hinter der historischen<br />

Dimension des technisch möglich gewordenen Zugriffs verbergen sich in<br />

historischen Tiefenschichten weitere: Weshalb wohl heißt »<strong>Afrika</strong>« auf KiSwahili<br />

oder <strong>Afrika</strong>ans »<strong>Afrika</strong>«, aber auf Yoruba oder Igbo »Africa«?<br />

Ein anderer, ebenso banaler Zugang fördert zusätzlich Eigenheiten des<br />

»Schlüsselbegriffs« zu Tage, wenn wir den Duden konsultieren, der unter »Bedeutungsübersicht«<br />

bei »<strong>Afrika</strong>« vermerkt: »drittgrößter Erdteil«. 1 Ist hiermit tatsächlich,<br />

wie üblich, »in der Regel die genaue, das jeweilige semantische Spektrum<br />

abdeckende Bedeutungsbeschreibung eines Stichworts« angeführt? Oder<br />

ist das Wort »aus der Fachterminologie in den allgemeinen Wortschatz übernommen«<br />

– oder lediglich die »allgemeinsprachliche Bedeutung« wiedergegeben?<br />

»Mehrere Unterbedeutungen [des] Wortes« werden hier ebenso wenig referiert<br />

wie »situations- beziehungsweise kontextabhängige Zusatzinformationen«, heißt<br />

es. 2 Noch aufschlussreicher ist jedoch die Angabe der Synonyme: »der Schwarze<br />

Erdteil, der Schwarze Kontinent« – immerhin mit dem eingeklammerten Warnhinweis<br />

»abwertend veraltend« markiert. Ein Blick zu einem verwandten Wort eröffnet<br />

Weiteres – dass hier nämlich sehr explizit Differenz(en) markiert werden:<br />

»<strong>Afrika</strong>ner«/»<strong>Afrika</strong>nerin« ist laut Duden eine »aus <strong>Afrika</strong> stammende männliche/<br />

weibliche Person [von schwarzer Hautfarbe]« (Hervorhebung von mir, KH), 3 / 4 für<br />

die als »bunte« Synonyme – ebenfalls politisch korrekt gegendert – angeführt sind:<br />

»Farbige, Farbiger, Schwarze, Schwarzer«. 5 Zusätzliches erschließt sich indirekt<br />

und ex negativo aus einem weiteren Begriff im Wortfeld: »<strong>Afrika</strong>nisieren«, für das<br />

der Duden als Bedeutungsübersicht »unter afrikanischen Einfluss bringen, unter<br />

afrikanische Herrschaft stellen« angibt, 6 erscheint hier nämlich in einem ganz<br />

anderen Licht als mögliche Korrelate wie »europäisieren« – »der europäischen<br />

Lebensart angleichen, nach europäischem Vorbild umgestalten, kulturell oder politisch<br />

an [Gesamt]europa orientieren« 7 oder »amerikanisieren« – »1. mit typisch<br />

US-amerikanischen Eigenschaften ausstatten 2. (Wirtschaft) (einen Betrieb, eine<br />

1<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/<strong>Afrika</strong> (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

2<br />

https://www.duden.de/node/213979 (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

3<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/<strong>Afrika</strong>ner (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

4<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/<strong>Afrika</strong>nerin (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

5<br />

https://www.duden.de/synonyme/<strong>Afrika</strong>ner (abgerufen am 17. 9. 2021; inzwischen<br />

nur noch über den kostenpflichtigen »Duden-Mentor« zugänglich).<br />

6<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/afrikanisieren (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

7<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/europaeisieren (abgerufen am 19. 1. 2022).


<strong>Afrika</strong> 19<br />

Firma) mit US-amerikanischem Kapital ausstatten, unter US-amerikanische Leitung<br />

stellen«. 8 »Asiatisieren« oder »australisieren« kennt der Duden nicht.<br />

1.2 Intimes: Persönliche Reminiszenzen<br />

Gerahmt von dem, was die soeben über akzidentielle Zugänge sich<br />

vage abzeichnenden Assoziationen erahnen lassen, steigen in mir recht<br />

frühe individuelle Erinnerungen an »<strong>Afrika</strong>« auf, genauer gesagt: an Repräsentationselemente,<br />

bisweilen chimärenhaft, die ich bereits im Kindheitsalter<br />

mit <strong>Afrika</strong> verband und die mit Kategorien des Anderen, des Fremden und<br />

des Exotischen konnotiert waren (<strong>Afrika</strong> 0.1). Eine schwarze Spielpuppe –<br />

aufgrund der Farbe gleichermaßen als anders, fremd, exotisch wie als vertraut,<br />

zugewandt und trostspendend imaginiert; Zeichnungen von Kakaobohnen,<br />

Bananen, Ananas etc. aus dem Schulheft eines älteren Verwandten – noch als<br />

»Kolonialwaren« signifizierte und vornehmlich mit <strong>Afrika</strong> konnotierte Produkte;<br />

»Tarzan« in Comic- und Filmformat – Abenteuer und Romantik; Natur und wilde<br />

Tiere im Medium TV – »Serengeti darf nicht sterben«, »Ein Platz für Tiere«, bloßem<br />

Entertainment in der US-Fernsehserie »Daktari« korrespondierend ... Schon in<br />

Kindheit und früher Jugend füllt sich ein ganzer Kosmos von Imaginationen und<br />

Repräsentationen <strong>Afrika</strong>s; dass sie als solche Projektionen und Konstruktionen<br />

waren, hatte ich auf diffuse Weise irgendwie vielleicht schon damals geahnt, war<br />

aber intellektuell nicht fähig, daraus Konsequenzen zu ziehen – und wenn ich es<br />

gewesen wäre, welche hätten das sein können? Meine zweite »Begegnung« mit<br />

<strong>Afrika</strong> war eher touristischer Art, als ich einen Kommilitonen an die ostafrikanische<br />

Küste begleitete, der dort Daten über historische islamische Grabstelen sammelte<br />

(<strong>Afrika</strong> 0.2). Wenn ich mich recht erinnere, reproduzierte ich dabei einerseits den<br />

kindlichen Phantasiekosmos, von dem ich das eine oder andere Element vor Ort<br />

wiederzuerkennen meinte, andererseits ging diese erfundene Fabelwelt zugleich<br />

nachhaltig in die Brüche – bereits einige wenige, wenngleich ebenfalls letztlich<br />

bloß oberflächliche Eindrücke, wie die Begegnung mit Geflüchteten aus Uganda,<br />

störte ganz fundamental das phantasievoll zusammenfügte Trugbild. Zugleich<br />

bemühte ich mich, quasi komplementär zu dieser vermeintlich unmittelbaren<br />

Erfahrungsebene, zunehmend um eine akademisch kontrollierte Distanzierung zu<br />

»<strong>Afrika</strong>«, durchaus mit der Intention, beides – konkret vorfindliche Phänomene und<br />

deren theoretische Deutung wie auch »jene Welt« und »meine Welt« – aufeinander<br />

zu beziehen und nicht dichotomisch entgegenzustellen, insbesondere nicht<br />

»<strong>Afrika</strong>« und alles damit Konnotierte zu ver-andern, wie wir es heute nennen<br />

würden; 9 ob mir das tatsächlich gelungen ist, bezweifle ich. Selbst mehrere Jahre<br />

8<br />

https://www.duden.de/rechtschreibung/amerikanisieren (abgerufen am 19. 1. 2022).<br />

9<br />

Ver-andern als Übersetzung des auf Gayatri Spivak zurückgehenden »othering«, das<br />

gegenüber der Veränderung (»change«) das »Anders-Machen« (»to make other«; Gayatri<br />

Spivak, Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York/London, 208) hervorhebt,<br />

jenen Vorgang, bei dem etwas aus dem hegemonialen Diskurs ausgeschlossen wird.


20 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

Aufenthalt in (<strong>Afrika</strong> 0.3) und die damalige wie nachfolgende akademische<br />

Befassung mit <strong>Afrika</strong> (<strong>Afrika</strong> 0.4) haben schließlich nicht unbedingt dazu geführt,<br />

dass mir <strong>Afrika</strong> vertrauter wurde, auch wenn mir vieles vertraut scheint, das muss<br />

ich wohl, etwas resigniert, ganz klar konstatieren. 10 Aber ist diese Feststellung<br />

nicht doch auch wieder Resultat einer äußerst problematischen Konstruktion<br />

und Imagination, inklusive der Neubildung, Fortschreibung oder gar Ausweitung<br />

eines blinden Flecks für die Gefahr wiederkehrender Exotisierungs- oder Veranderungsprozesse?<br />

So bleiben als Wirkmächte, die mich seit geraumer Zeit mit<br />

<strong>Afrika</strong> verbinden: Unsicherheiten, Ambivalenzen, Ambiguitäten. Das scheint mir<br />

allerdings kein lediglich individueller Eindruck, keine bloß subjektive Erfahrung<br />

zu sein. <strong>Afrika</strong> selbst hat etwas Changierendes, auch als fremdes Exotikum bleibt<br />

es Eigenprodukt – und als Vertrautes entzieht es sich. <strong>Afrika</strong> steht für Übergänge,<br />

ist selbst Übergang.<br />

2. »<strong>Afrika</strong>« als Grenzbegriff<br />

Die hier weitgehend wahllos und völlig unsystematisch eingeworfenen, zufälligen<br />

wie individuell-assoziativen Beobachtungen sind Indizien dafür, dass »<strong>Afrika</strong>« semantische<br />

Akzentuierungen wie auch ungeklärte Assoziationen eingeschrieben<br />

sind, die zumeist vermutlich unbewusst reproduziert werden und ins weitere<br />

Begriffsumfeld diffundieren. Dabei ist »<strong>Afrika</strong>« jedoch auch aus etymologischer<br />

Perspektive weder selbsterklärend noch genetisch eindeutig. Zwar wissen wir,<br />

dass die Römer mit dem lateinischen Wort africa eine ihrer Provinzen bezeichneten<br />

– aber das meinte nicht <strong>Afrika</strong> als Kontinent, auf den sie in Gestalt der ihnen<br />

damals bekannten Region westlich des Nils zunächst als pars pro toto mit der<br />

Bezeichnung Libya verwiesen 11 und den sie nochmals von Aegyptus und Aithiopia<br />

unterschieden; auch nach der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert blieb die<br />

10<br />

Dies scheint auch eine der wesentlichen Grunderfahrungen zu sein, die Heike<br />

Behrend im Laufe ihrer mehrere Jahrzehnte umfassenden Feldforschungen in <strong>Afrika</strong><br />

gemacht hat und die sie in ihrer mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie<br />

Sachbuch/Essayistik ausgezeichneten wissenschaftlichen Autobiographie mit den Worten<br />

zusammenzufassen versucht, sie habe erkennen müssen, »dass das Leben als Ethnografin<br />

die Kategorien meines Denkens, mithilfe ich mich zu orientieren suchte, gewaltig störte. ...<br />

Bei der Bewährungsprobe in der Fremde ... greifen Fremd- und Selbstzurichtung ineinander<br />

und bringen eine autobiographische Sprache hervor, die Selbstvergewisserung eher stört,<br />

Erschütterung erzeugt und keine Versprechen erfüllt. Dabei destabilisiert und verunsichert<br />

die Figur der Umkehrung ... auch das wissenschaftliche Unternehmen« (Heike Behrend,<br />

Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnologischen Forschung, Berlin<br />

2020, 257 f.).<br />

11<br />

Nach der Deutung dieses äußerst komplexen Werdegangs von der Provinz africa<br />

bis zum Kontinent <strong>Afrika</strong> ist erst über den Umweg der konzeptuellen Integration des<br />

griechischen libýē in das lateinische africa der Erdteil mit dem Begriff »<strong>Afrika</strong>« belegt


<strong>Afrika</strong> 21<br />

entsprechende Bezeichnung – ifrīqiya beziehungsweise ifrīqiā – zunächst auf die<br />

gleiche Region begrenzt. Aber die Bedeutung des Begriffs selbst ist mitnichten<br />

geklärt, und die entsprechend spekulativen Erschließungsversuche sagen wohl<br />

mehr über die Intentionen der Deutung als über das zu Deutende aus. 12<br />

Damit bezeichnet »<strong>Afrika</strong>« einerseits zunächst das Noch-Nicht-Gedeutete,<br />

andererseits aber auch schon das potenziell Ausgreifende, Ganzes Imaginierende,<br />

Provinzielles Transzendierende – ein terminus par excellence im Zusammenspiel<br />

von Komplexität, Fluidität, Offenheit und Veränderbarkeit, aber auch ein<br />

Begriff, der im hybriden Wechselspiel von »Außen« und »Innen« oszilliert, wobei<br />

ihm allerdings der Vektor des Kolonisierenden – wie des Kolonisierten – bereits<br />

implizit eingeschrieben scheint, zumindest in einer Außenperspektive, die sich<br />

im Laufe der Geschichte als Zentralperspektive, mehr noch: als hegemoniale Perspektive<br />

durchsetzen sollte. Publius Cornelius Scipio (ca. 235–183 v. Chr.) erhielt<br />

aufgrund seiner militärischen Erfolge den Siegernamen »Africanus«, und das zu<br />

einer Zeit, als die Bezeichnung africa ihre frühen, engsten Grenzen der Referenz<br />

auf das Hinterland von Karthago, mit etymologischen Bezügen des Wortes zu den<br />

dort lebenden Bevölkerungsgruppen, den »Afri«, auf weitere Gebiete auszudehnen<br />

begann – im Gleichtakt mit römischen Expansionsprojekten.<br />

Dabei ist »<strong>Afrika</strong>« sowohl in der räumlichen als auch zeitlichen Totale hochgradig<br />

polyzentrisch sowie polysynchron und polydiachron, worüber auch das<br />

Diktum von <strong>Afrika</strong> als »Wiege der Menschheit« nicht hinwegtäuschen kann 13 – ein<br />

Diktum, das seinerseits hohes narratives Potenzial hegemonialer Diskursivität<br />

enthält und damit nicht einfach für selbstverständlich genommen werden kann.<br />

Im Umkehrschluss heißt das: Die geschichtliche und gegenwärtige Vielfalt <strong>Afrika</strong>s<br />

kennt keine Mitte und lässt sich auch nicht durch Erzählungen herstellen,<br />

die vermeintlich aus einer Zentralperspektive heraus entwickelt sind, tatsächlich<br />

jedoch bloß einen von vielen Aspekten – in diesem Fall auf der Grundlage akademisch<br />

beglaubigter und so mit Deutungsmacht ausgestatteter Interpretation – in<br />

den Vordergrund stellen, wenngleich aus guten Gründen und in wohlmeinender<br />

worden, was frühestens nach ca. 250 vor unserer Zeitrechnung der Fall gewesen sein<br />

kann.<br />

12<br />

Al-Ţahṭāwī etwa vermutete eine Herleitung des lateinischen africa aus dem arabischen<br />

ifrīqiya, siehe Karl Stowasser (Hg.), Ein Muslim entdeckt Europa, Rifā‘a al-Ţahṭāwī:<br />

Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826–1831, München 1989, 23.<br />

13<br />

So die Out of Africa-Theorie, bei der es sich wohl eher um einen Diskurs-Komplex<br />

handelt, der bei genauerem Besehen nochmals in eine Out of Africa-Theorie I und II<br />

zu differenzieren ist, wobei sich das seit den 1980er Jahren kursierende Schlagwort<br />

üblicherweise auf Letztere bezieht (siehe beispielsweise Jürgen Richter, »Out of Africa<br />

II«. Die Theorie über die Einwanderung des modernen Menschen nach Europa auf dem<br />

archäologischen Prüfstand, in: Archäologische Informationen 19/1–2 (1996), 67–73 oder<br />

John G. Fleagle u. a. (Hg.), Out of Africa I: The First Hominin Colonization of Eurasia,<br />

Dordrecht 2010).


22 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

Absicht. 14 Wenn <strong>Afrika</strong> die Metapher der Wiege zugesprochen werden soll, so am<br />

überzeugendsten durch die Markierung als Wiege menschlicher Diversität – unter<br />

interdisziplinärer, namentlich paläoanthropologischer, (kultur)historischer wie<br />

auch genomischer Perspektive. 15 Doch der vereinheitlichende Duktus des Sprechens<br />

über und Handelns gegenüber diffusen Phänomenen erschafft im Laufe<br />

der Zeit <strong>Afrika</strong> als raumzeitliche Größe; gerade der Diffusität oder sogar Komplementarität<br />

metaphorischer Bezüge kommt so nach und nach konstitutive Kraft<br />

zu: Der »schwarze Kontinent« wird in den »weißen Flecken« seiner Kartographien<br />

fassbar. Dabei hatte eigentlich die antike Etymologie nicht das lateinische africa,<br />

sondern das griechische aithiopia 16 zur etymologischen Matrix erhoben, zum terminus,<br />

der an den Grenzen der bekannten Welt das in Beziehung zum Bekannten<br />

stehende Andere in den Vordergrund stellt. 17 Die antike Exotik entwirft Tierwelt,<br />

Menschen, Völker, Orte ... jenseits beziehungsweise am Rande des Vertrauten<br />

und damit in spiegelbildlicher Umkehrung des Eigenen und markiert damit ein<br />

Grundmuster der »Erfindung <strong>Afrika</strong>s«. 18<br />

14<br />

Dabei ist die Out-of-Africa-Theorie einerseits durchaus mit Blick auf die Einheit der<br />

Menschheit(sgeschichte) von nicht zu unterschätzender Bedeutung, andererseits darf nicht<br />

aus dem Blick geraten, dass bei einer eindimensionalen Fokussierung auf sie durchaus<br />

Gefahren drohen für den – unwahrscheinlichen, hier nur als Gedankenspiel einmal<br />

angenommenen – Fall, dass sie, vielleicht auch nur in Teilen, falsifiziert würde: Drohte<br />

dann <strong>Afrika</strong> plötzlich wieder im Windschatten der Globalgeschichte zu verschwinden?<br />

15<br />

Cesar Fortes-Lima/Ezekia Mtetwa/Carina Schlebusch (Hg.), Africa, the Cradle of<br />

Human Diversity. Cultural and Biological Approaches to Uncover African Diversity, Leiden/<br />

Boston 2022.<br />

16<br />

Von αἴθω, »brennen« und ὤψ, »Gesicht«, in Anspielung auf die Dunkelhäutigkeit der<br />

Bewohner; damit ist zugleich ein Marker gesetzt, der potenziell binäre Konstruktionen<br />

vorzunehmen erlaubt – bis hin zur rassistischen Differenzsetzung, aber auch mit dem<br />

Potenzial essenzialisierender Erfindungen wie der Négritude oder einem afrikanischen<br />

»Wir-Subjekt« (Fabien Eboussi-Boulaga, A contretemps. L‘enjeu de Dieu en Afrique, Paris<br />

1991, 67 f.).<br />

17<br />

Siehe etwa Valentin Y. Mudimbe, The Idea of Africa, Bloomington u. a. 1994, 71–104;<br />

Christopher L. Miller, Blank Darkness. Africanist discourse in French, Chicago 1985,<br />

6–14.<br />

18<br />

Das sog. »Nilmosaik« von Palestrina, dessen Datierung ebenso umstritten ist wie<br />

seine Deutung, ist in dieser Hinsicht nicht nur als »biogeographisches Dokument« zu lesen<br />

[Ragnar Kinzelbach, Das Nilmosaik von Praeneste als biogeographisches Dokument,<br />

in: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption 23 (2013), 139–191], sondern auch<br />

als Zeugnis des imaginierten Anderen, das vornehmlich in Tiergestalten repräsentiert<br />

wird; siehe etwa Monika Hinterhöller, Das Nilmosaik von Palestrina. Aspekte zur<br />

Raumerfassung und perspektivischen Bildstruktur eines geographischen Großraums<br />

in einem späthellenistisch-republikanischen Mosaik, in: Klassische und frühägäische<br />

Archäologie. Akten des 13. Österreichischen Archäologentages, Wien 2012, 89–104.


<strong>Afrika</strong> 23<br />

Jahrhunderte später sollte aus der etymologischen eine koloniale Matrix<br />

werden, 19 die – quasi als Modell von und als Modell für 20 – mit Blick auf <strong>Afrika</strong><br />

sowohl die Konstitutionsbedingungen der als auch einen Analyserahmen für<br />

Kolonialität bietet. 21 Zwar prägen die in der antiken Exotik präfigurierten Phantasmen<br />

auch den Begriff <strong>Afrika</strong>s in der Moderne, namentlich als zweite der von<br />

Achille Mbembe hervorgehobenen Bezeichnung für »die allgemeine Frage der<br />

Unentwirrbarkeit des Menschlichen, des Tiers und der Natur, des Todes und des<br />

Lebens« – neben der für die »umstrittene, in absoluter Unsicherheit und Seinslehre<br />

gefangene Gestalt des Menschlichen«. 22 Allerdings scheint die koloniale Matrix<br />

stärker als alle vorhergehenden ein vermeintliches Zentrum <strong>Afrika</strong>s zu imaginieren<br />

und dann auch zu produzieren und somit <strong>Afrika</strong> als raum-zeitliche, in sich<br />

geschlossene, wesenhafte Größe festzuschreiben.<br />

»Africa is a Country« ist der Name einer Website, auf der afrikabezogen Meinungen,<br />

Analysen und diverse Beiträge zu politischen und kulturellen Themen<br />

vorgetragen werden. »<strong>Afrika</strong> ist ein Land« – aber, wie es im Impressum heißt,<br />

prominent mit Asterisk referenziert: »*Nicht der Kontinent mit 55 Ländern!« 23<br />

Die metaphorische Dimension dieses Selbstverständnisses ließe sich aufgreifen<br />

und für unseren Zweck weiterspinnen: Country/Land dient dann nicht als Begriff<br />

für Territorialität, sondern als Chiffre für das Überschreiten der Fixierung auf<br />

eine kolonial induzierte, nationalstaatlich formatierte Wesenheit, implizit aber<br />

zugleich für das Transzendieren eines <strong>Afrika</strong>s auf eine Einheit hin, die stets auch<br />

auf andere Größen bezogen war und bleibt sowie in den daraus resultierenden<br />

komplexen Verflechtungszusammenhängen wahrzuzunehmen ist.<br />

19<br />

Walter Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial<br />

Options, Durham 2011, insbesondere Vorwort sowie Einleitung und passim; siehe auch<br />

Ders., Mariátegui and Gramsci in ›Latin‹ America. Between Revolution and Decoloniality,<br />

in: Neelam Srivastava/Baidik Bhattacharya (Hg.), The Postcolonial Gramsci, New York/<br />

London 2012, 191–217, insbesondere unter Verweis auf Aníbal Quijano, Coloniality<br />

and Modernity/Rationality, in: Cultural Studies 21/2–3 (2007): Globalization and the De-<br />

Colonial Option, 168–178; siehe auch Ders., Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin<br />

America, in: Nepantla 1/3 (2000), 533–580.<br />

20<br />

Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: Ders., Dichte Beschreibung.<br />

Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 4 1995, 44–95, hier 92.<br />

21<br />

Edgar Forster, »Border Thinking« – Intersektionalität als kosmopolitische<br />

Intervention?, in: Ricarda Drüeke u. a. (Hg.), Zwischen Gegebenem und Möglichem.<br />

Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation, Bielefeld 2015, 29–41, hier 44 f.<br />

22<br />

Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, 100.<br />

23<br />

https://africasacountry.com/about (abgerufen am 17. 2. 2022).


Andreas Heuser<br />

<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen<br />

( African Independent Churches)<br />

Stichworte zur Kartierung des Feldes jenseits von<br />

Differenz und Kongruenz<br />

Struggle discourse / political correctness – Nativismus – inter-/religio-scapes –<br />

transkulturelle Austauschräume – pneumatische Genealogie afrikanischer Religionsgeschichte<br />

– Essenzialisierung – Black Atlantic / Black Indian Ocean – Archäologie<br />

des Wissens<br />

Taxonomische Experimente<br />

An keinem Begriff der jüngeren Forschungsgeschichte zum Christentum in <strong>Afrika</strong><br />

entzündet sich eine derartig ausdifferenzierte und über mehrere Jahrzehnte<br />

währende Praxis der Klassifikation mehr als an dem der <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen<br />

Kirchen (AUK). 1 Bemerkenswert ist, dass das Sujet, das damit umrissen ist,<br />

einen sowohl internationalen wie interdisziplinären Forschungsschub zu afrikanischem<br />

Christentum überhaupt ausgelöst hat. »African Christianity«, hält Adrian<br />

Hastings 1990 fest, habe sich seit den1960er Jahren entfaltet zu einem »popular<br />

subject indeed but almost entirely in terms of the independent churches«. 2 Die<br />

Attraktivität von Primärstudien zu <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen Kirchen spiegelt<br />

somit eine grandiose Perspektiverweiterung auf das Christentum vor allem im<br />

postkolonialen <strong>Afrika</strong>. Zwar liegen verstreute Berichte über missionskirchliche<br />

Abspaltungen, die sich um sektiererische Wanderprediger scharen und die sich<br />

als vermeintlich »schwarze Gefahr« kolonialpolitischer Kontrolle entziehen, seit<br />

der Jahrhundertwende verstärkt in staatlichen und kirchlichen Archiven vor oder<br />

beschreiben Zeitungsreportagen vermeintliche nativistische Sekten, die heterodoxen<br />

Ritualpraktiken anhängen. Doch erst mit Bengt Sundklers »Bantuprophets<br />

in South Africa« (1948) setzt die Wissenschaftsgeschichte um die von ihm so genannten<br />

»Einheimischen-Kirchen« ein. Die stark revidierte Zweitauflage von 1961<br />

1<br />

Das Diskursfeld um den Begriff der AUK übersteigt die derzeitige Debatte um die<br />

»Pfingstbewegung«, ist aber teilweise damit verbunden.<br />

2<br />

Adrian Hastings, Christianity in Africa, in: Ursula King (ed.), Turning Points in<br />

Religious Studies: Essays in Honor of Geoffrey Parrinder, Edinburgh 1990, 201–210, hier<br />

204.


56 Andreas Heuser<br />

wird zu dem Klassiker der AUK-Forschung schlechthin. 3 Sieht Sundkler 1948 im<br />

Wirken von Bantupropheten »eine Brücke zu einer Religion der Vergangenheit«, 4<br />

erkennt er 1961 konstruktive Hinweise auf eine afrikanisierte christliche <strong>Theologie</strong>.<br />

Er sieht in den »Bantupropheten« theologiegenerierende Akteure und erhebt<br />

– vor dem Hintergrund des 1948 etablierten politischen Systems der Rassentrennung<br />

in Südafrika – das »<strong>Afrika</strong>nische« zur formativen Kategorie im Verständnis<br />

von religiösem und sozialem Wandel. 5 Doch verwendet Sundkler mit der ethnisierenden<br />

Typologie von »Bantupropheten« zugleich einen mit Ambivalenzen geladenen<br />

Begriff, der sich im internationalen Forschungsdiskurs, der nun Fahrt<br />

aufnimmt, abbildet. Bis weit in die 1960er Jahre tauschen sich Zuschreibungen<br />

von »Stammesreligion« 6 oder »Eingeborenenkirchen« 7 mit normativ besetzten<br />

Termini wie Sekten oder »messianische« Bewegungen aus, um den religions-,<br />

kirchen- und missionsgeschichtlichen Ort der religiösen Bewegungen um Bantupropheten<br />

zu bestimmen. 8 Vor allem regt der von Sundkler eingeführte Idealtyp<br />

eines Schwarzen Messias, mit dem er vormalige Klassifikationen von AUK in<br />

»Äthiopische«, »Zionistische« oder »Apostolische« Kirchen erweitert, die kategoriale<br />

Phantasie ungemein an. Für Sundkler zeigt sich im »Schwarzen Christus«<br />

eine eigenständige Christologie der Bantukirchen am Werk, die den Christus des<br />

Neuen Testaments substituiert. 9 Umgehend begriffsprägend schlug Hans-Jochen<br />

Margull 1962 das Attribut des »Postchristlichen« vor. 10 Die Verwendung dieser<br />

Nomenklatur wird maßgeblich forciert durch religionsgeschichtliche Beiträge im<br />

Umfeld Ernst Dammanns. 11 Die Debatte um die »Nachchristlichkeit« des kirchli-<br />

3<br />

Bengt G. M. Sundkler, Bantuprophets in South Africa, second edition, London 1961,<br />

Erstauflage 1948; dt. Bantupropheten in Südafrika, Stuttgart 1964.<br />

4<br />

Zitiert ebd., 30.<br />

5<br />

Ebd., 286–287.<br />

6<br />

Horst Bürkle, Die Rebellion der Magie. <strong>Afrika</strong>s Kirchen und die falschen Propheten,<br />

in: Christ und Welt, 39 (18), 1965, 24.<br />

7<br />

Vgl. Katesa Schlosser, Eingeborenenkirchen in Süd- und Südwest-<strong>Afrika</strong>, Kiel<br />

1958.<br />

8<br />

Vgl. Ernst Benz (Hg.), Messianische Kirchen, Sekten und Bewegungen im heutigen<br />

<strong>Afrika</strong>, Leiden 1965.<br />

9<br />

Sundkler wird sich in »Zulu Zion and some Swazi Zionists« (Oxford 1976) von dieser<br />

Kategorisierung distanzieren. Vgl. im Überblick Andreas Heuser, Vom »Schwarzen« zum<br />

»<strong>Afrika</strong>nischen Messias«. Projektionen charismatischer Herrschaft in der Nazareth Baptist<br />

Church, in: Ehrhard Kamphausen/Andrea Zielinski (Hg.), Die Rolle von Religionen in<br />

politischen Transformationsprozessen im südlichen <strong>Afrika</strong>. Ein interdisziplinärer Diskurs,<br />

Aachen 2005, 45–72.<br />

10<br />

Hans Jochen Margull, Aufbruch zur Zukunft. Chiliastisch-messianische Bewegungen<br />

in <strong>Afrika</strong> und Südostasien, Gütersloh 1962.<br />

11<br />

Ernst Damann, Das Christusverständnis in nachchristlichen Kirchen und Sekten<br />

<strong>Afrika</strong>s, in: Ernst Benz (Hg.), Messinaische Kirchen, Sekten und Bewegungen im heutigen<br />

<strong>Afrika</strong>, Leiden 1965, 1–21. Vgl. Hans-Jürgen Greschat, Eine vorläufige Bibliographie


<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen 57<br />

chen Indepentismus gelangt über seine Schüler in den südafrikanischen Diskurs,<br />

wo sie lange überdauert. 12<br />

Das Drama um die Kategorisierung jener »Bantupropheten«, ihre Klassifikation<br />

und typologische Erfassung ist kaum überbietbar: Kaum nachdem sie als<br />

innovative Ausdrucksform afrikanischer <strong>Theologie</strong> entdeckt wurden, stehen sie<br />

davor, als das »Andere« der Christentumsgeschichte etikettiert zu werden. 13 In<br />

diesem Umfeld postkolonialer Kirchen- und Religionsgeschichte <strong>Afrika</strong>s aber verdichtet<br />

sich der terminologische Findungsprozess in einer neuen, ökumenischen<br />

Entdeckung. Erstmals spricht eine Veröffentlichung des Ökumenischen Rats der<br />

Kirchen (ÖRK) 1963 von »African Independent Church Movements«. 14 Der Terminus<br />

der <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen Kirchen wird zum Gegenbegriff gegen deren<br />

kirchengeschichtliche Marginalisierung. Er entpuppt sich als Leitchiffre in<br />

der postkolonialen Übergangsära, aufgewertet durch einen politischen Imprint,<br />

der um »revolutionären Messianismus«, 15 nationalistischen Zeitgeist, Autonomiestreben<br />

und <strong>Afrika</strong>nität kreist. <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen Kirchen wird zugeschrieben,<br />

näher an afrikanischer Lebensdeutung zu stehen als historische Kirchen,<br />

um gerade daraus Widerstandsoptionen gegen koloniale Herrschaft sowie<br />

Perspektiven für die nun ansetzende nationalstaatliche Identitätsbestimmung<br />

zu erschließen. Endlich scheint die kompakte Kategorie gefunden zu sein, die<br />

Orientierung in dem »brodelnden Kessel« 16 der Religionslandschaft afrikanischer<br />

Postkolonie verspricht. <strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen werden gar rezipiert<br />

als ein vitales Element in globalen antikolonialen Emanzipationsszenarien. 17 Ihre<br />

Akteurschaft verlagert sich mithin vom Außenrand der christlichen Welt <strong>Afrika</strong>s<br />

gar ins Zentrum des welthistorischen Aufbruchs seiner Zeit. Auch ist die interdisziplinäre<br />

Faszination für <strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen so allgemein, dass<br />

sie sich in Form der Akronyme AUK oder AIC festsetzt. In diesem Sinn nimmt<br />

zum Problem nachchristlicher Kirchen, Sekten und Bewegungen in <strong>Afrika</strong>, in: Ernst Benz<br />

(Hg.), Messinaische Kirchen, 105–127.<br />

12<br />

Vgl. vor allem Gerhardus C. Oosthuizen, Post-Christianity in Africa, London: Hurst,<br />

1968; Ders., The Healer-Prophet in Afro-Christian Churches, Leiden 1992.<br />

13<br />

Ausführlich in Andreas Heuser: Einholungsakte eines »Anderen« der<br />

Missionsgeschichte: <strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen im Urteil der deutschen<br />

Missions- und Religionswissenschaft der 1960er bis 1980er Jahre, in: Hanns Lessing et<br />

al. (Hg.), Umstrittene Beziehungen: Protestantismus zwischen dem südlichen <strong>Afrika</strong> und<br />

Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit, Wiesbaden 2015, 350–361.<br />

14<br />

Vgl. Victor E. W. Hayward (Hg.), African Independent Church Movements, London<br />

1963. Der Band bringt Vorträge von einer Konferenz zu AIC zusammen, die in Kitwe<br />

(heutiges Sambia) 1962 durchgeführt wurde.<br />

15<br />

Angestoßen durch Norman Cohn, The Pursuit of the Millennium, London: Secker and<br />

Warburg, 1957 (dt. Das Ringen um das Tausendjährige Reich, München/Bern 1961).<br />

16<br />

So Ernst Benz, Neue Religionen, Stuttgart 1971, 140.<br />

17<br />

Vgl. schon Guglielmo Guariglia, Prophetismus und Heilserwartungs-Bewegungen<br />

als völkerkundliches und religionsgeschichtliches Problem, Horn/Wien, 1959.


58 Andreas Heuser<br />

David Bosch die Etablierung von AUK in der afrikanischen Religionslandschaft<br />

zum Anlass, die globale Kirchengeschichte neu zu kartieren. In der Hochphase<br />

der AUK-Forschung definiert er 1987 AUK als »fünften Haupttyp« des globalen<br />

Christentums, neben Orthodoxie, der Römisch-Katholischen Kirche, den Kirchen<br />

der Reformation und – nota bene – den Pfingstkirchen. 18 Noch in den aktuellsten<br />

Datensammlungen sticht das religionsdemographische Gewicht von AUK heraus.<br />

Danach verzeichnet der prozentuale Anteil von AUK allein im Zeitraum zwischen<br />

1970 und 2015 einen Anstieg an der christlichen Bevölkerung in Subsahara-<strong>Afrika</strong><br />

von 15 % auf 22 %. Die hohe Relevanz von AUK ist in einzelnen Regionen<br />

<strong>Afrika</strong>s besonders nachweisbar; in den Ländern des südlichen <strong>Afrika</strong> bilden AUK<br />

durchweg den Mehrheitsstrang des Christentums, ein Trend, der zweifellos anhalten<br />

wird. 19<br />

Auffällig ist aber auch eine, wie Ezra Chitando kürzlich festhält, anhaltende<br />

»contestation about terminology” 20 um <strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen. Selbst<br />

nach Jahrzehnten gärt die Diskursgeschichte um den einst erfolgreich eingebürgerten<br />

Begriff weiter. Gleichwohl sind Ungleichzeitigkeiten feststellbar. Während<br />

im deutschen Sprachgebrauch die Rede von <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen Kirchen<br />

(AUK) seit den 1970er Jahren unumstritten ist, sind anglophone Diskurse<br />

von einer anhaltenden terminologischen Unruhe ergriffen. Der Widerstreit um<br />

Terminologie zeigt sich nirgends drastischer als an der Rückübertragung des Akronyms<br />

AIC.<br />

Nachdem sich die taxonomischen Experimente hauptsächlich an der Signifikation<br />

des »I«, das mal als Independent oder Indigenous, mal als Instituted, Initiated<br />

oder International ausgereizt wird, abmühten, sind inzwischen alle Bestandteile<br />

des Akronyms erfasst. Chitando übrigens favorisiert kurzerhand die Verwendung<br />

von Initiated Churches; mehr dezisionistisch denn argumentativ abgeleitet, sieht<br />

er darin die agency von AIC kategorial ausgedrückt. Man kann hier von einer<br />

Diskursvergessenheit sprechen, denn die außergewöhnlich zu bezeichnende<br />

Aushandlung des Akronyms der AIC basiert insgesamt darauf, diesen kleinsten<br />

gemeinsamen Nenner auf den Begriff zu bringen. Alle Nuancierungen des<br />

Akronyms kennzeichnen die religionsgeschichtliche Handlungsmacht von AUK.<br />

Worauf es ankommt ist, den jeweiligen Initiativimpuls zu perspektivieren, unterschiedliche<br />

Akzentsetzungen wie Deutungsverschiebungen freizulegen. In den<br />

Begriffsvariationen des Akronyms zeigen sich zudem sich verändernde (inter-)<br />

disziplinäre Konstellationen in der Diskursgeschichte zu AUK. Die lange international<br />

führende Leitdisziplin der Missions-, Religions- und Ökumenewissenschaft<br />

18<br />

David Bosch, Foreward, in: Martinus L. Daneel, Quest for Belonging: Introduction to<br />

a Study of African Independent Churches, Gweru 1987, 8–11, hier 9.<br />

19<br />

Vgl. Gina A. Zurlo, A Demographic Profile of Christianity in Sub-Saharan Africa, in:<br />

Kenneth R. Ross/J. Kwabena Asamoah-Gyadu/Todd Johnson (Hg.), Christianity in Sub-<br />

Saharan Africa, Edinburgh 2017, 3–18, hier 7.<br />

20<br />

Ezra Chitando, African Initiated Christianity in Southern Africa, in: Elias Kifon<br />

Bongmba (ed.), The Routledge Companion to Christianity in Africa, New York/London<br />

2016, 285–296, hier 285.


<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen 59<br />

sieht sich zunehmend herausgefordert durch sozial- und kulturwissenschaftliche<br />

Ansätze in der Erforschung von AUK. Kurzum, das AUK/AIC-Akronym strahlt<br />

eine forschungsgenerative Aura in den Studien zu afrikanischem Christentum<br />

aus. Gleichwohl birgt es die Ambiguität eines Containerbegriffs, der deskriptiv<br />

immer wieder neu gefüllt wird, analytische Kehren und abweichende Erklärungsmodelle<br />

zulässt, aber der eben auch die Grenzen von Kategorienbildungen in sich<br />

trägt. Mit dieser Andeutung breche ich meinen ersten Anlauf an die taxonomischen<br />

Gratwanderungen zu AUK/AIC ab.<br />

Knotenpunkte einer Diskursgeschichte<br />

Im Folgenden gilt es Knotenpunkte der Diskursgeschichte zu AUK/AIC benennen.<br />

Es geht mir im Foucaultschen Sinne der »Archäologie des Wissens« 21 darum,<br />

Diskursverschiebungen zu rekonstruieren, also die Attraktivität terminologischer<br />

Innovationen aufzuspüren, in denen sich Theoriebildungen und epistemologische<br />

Rahmungen abbilden. Dadurch wird die vermeintliche Homogenität des Akronyms<br />

aufgebrochen und es kommen alternative Weltdeutungen an die Oberfläche.<br />

Die Historisierung von Diskursformationen legt ein Augenmerk darauf, die<br />

in sich vernetzte Kategorienbildung in der deutschsprachigen und anglophonen<br />

Forschung zu AUK/AIC zu entzerren, aber auch die unterschiedlich wirkenden<br />

disziplinären Dynamiken in diesem weithin verwobenen Diskurs zu entfalten. Es<br />

kommen drei Knotenpunkte zum Vorschein, die sich 1.) vor allem an der Indepentismus-Formel<br />

verdichten, 2.) eine pneumatische Auslegung der AUK-Geschichte<br />

vornehmen, und 3.) Lokalität mit globalen Austauschprozessen verflechten.<br />

I. <strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen – begrifflicher<br />

Ruhepol?<br />

Anfang der 1970er Jahre legt sich die definitorische Unruhe um die »Bantupropheten«<br />

mit dem Einlenken auf die kirchliche Indepentismus-Formel. Mit <strong>Afrika</strong>nischen<br />

Unabhängigen Kirchen ist ein Gegenbegriff gegen den Ausgrenzungsdiskurs<br />

der 1960er Jahre gefunden. Die Festlegung auf das Wortfeld von Unabhängigkeit<br />

positioniert AUK/AIC in der Mitte postkolonialer Kirchen- und Religionstopographien.<br />

Die Begriffsfindung überzeugt dadurch, dass sie als Selbstbezeichnung in<br />

der kirchlichen Unabhängigkeitsbewegung verankert ist. 22 Zusätzliches Gewicht<br />

erhält die Unabhängigkeits-Formel durch die Tatsache, dass sie eine vielfach übersehene<br />

wissenschaftshistorische Perspektive aufweist: Sie wird nämlich geboren<br />

in innerafrikanischen Diskursen, die in die Anfangsphase der AUK-Bewegung<br />

21<br />

Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973.<br />

22<br />

Vgl. Paul Makhubu, Who are the Independent Churches? Johannesburg: Skotaville,<br />

1988; C. W. du Toit/N. H. Ngada (Hg.), Hearing the AIC-voice, Pretoria 1999.


60 Andreas Heuser<br />

hinein führen, um deren Eigensinn anzuerkennen. 23 Noch in aktuellen Positionierungen<br />

erhält dieses ursprüngliche Unabhängigkeitsattribut von AUK neues<br />

Gewicht, indem es eine sozio-kulturelle Integrität afrikanischen Christentums<br />

gegen jede Form von fremdkultureller Dominanz ausdrückt. 24 Doch verbinden<br />

sich mit der Indepentismus-Formel die am heftigsten geführten Diskussionen um<br />

das Akronym der AUK – sie sind beeinflusst durch missionswissenschaftliche<br />

Neupositionierungen wie interdisziplinäre Kräftespiele.<br />

Ökumenische Wurzel<br />

Der Indepentismus-Begriff hat wie erwähnt ökumenische Wurzeln. Die ÖRK-Publikation<br />

zu »African Independent Church Movements« (1963) enthält sich jedoch einer<br />

definitorischen Zuweisung. Ihr Hauptanliegen ist, eine in Aussicht genommene<br />

Aufnahme von einzelnen AUK in die ökumenische Bewegung vorzubereiten.<br />

In diesem Sinne erhält der Begriff Eingang in die deutschsprachige Forschung.<br />

Erstmals wird er eingeführt mit den missiologischen Studien Hans-Jürgen Beckens<br />

zur <strong>Theologie</strong> der Heilung (1972). Er plädiert dafür, AUK als Bewegung sui<br />

generis in das Weltchristentum aufzunehmen. Insbesondere bereicherten AUK<br />

durch ihr Heilungshandeln die ökumenische Bewegung. 25 Becken verbindet damit<br />

auch eine selbstkritische Wahrnehmung von klassischen Missionskirchen.<br />

Eine selbstreflexive Distanzierung von missionskirchlichen Deutungsmonopolen<br />

vertritt auch Theo Sundermeier in seiner Studie zur namibischen Separationsbewegung<br />

(1973). 26 Er setzt auf eine ökumenische Wiederannäherung durch einen<br />

Imperativ der Versöhnung. In diesem Sinn treibt Marie-Louise Martin Anfang<br />

der 1970er die AUK-Forschung voran. Ihre Studie zur Kimbanguistenkirche im<br />

23<br />

Die Bezeichnung findet sich erstmalig in einer zulusprachigen Schrift aus dem Jahr<br />

1922. Vgl. zu historischem Kontext und Quellenbezug Andreas Heuser, Ethnizität und<br />

die Entdeckung afrikanischer Religion: Die Debatte um eine Zulu-Nationalkirche zwischen<br />

Segregation und kirchlichem Indepentismus, in: Ulrich van der Heyden/Holger<br />

Stoecker (Hg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische<br />

Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in <strong>Afrika</strong> und Asien zwischen<br />

1800 und 1945, Stuttgart 2005, 345–372.<br />

24<br />

Vgl. Nicta Lubaale, Independents, in: Kenneth R. Ross/J. Kwabena Asamoah-Gyadu/<br />

Todd Johnson (Hg.), Christianity in Sub-Saharan Africa Edinburgh 2017, 252–263; Thomas<br />

Oduro, Independent Churches in Africa (AICs), in: Isabel Apawo Phiri/Dietrich Werner/<br />

Chammah Kaunda/Kennedy Owini (Hg.), Anthology of African Christianity, Oxford 2016,<br />

431–440.<br />

25<br />

Hans-Jürgen Becken, <strong>Theologie</strong> der Heilung: Das Heilen in den <strong>Afrika</strong>nischen<br />

Unabhängigen Kirchen in Südafrika, Hermannsburg: Missionshandlung Hermannsburg<br />

1972, 157.<br />

26<br />

Vgl. Theo Sundermeier, Wir aber suchten Gemeinschaft. Kirchwerdung und<br />

Kirchentrennung in Südwestafrika, Witten/Erlangen 1973.


<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen 61<br />

Kongo – eine Auftragsstudie für den ÖRK – zielt darauf ab, deren Ökumenetauglichkeit<br />

zu erfassen. Sie porträtiert AUK als »die afrikanische Ausprägung des<br />

christlichen Glaubens« und als mögliche Inspirationsquelle für »Neuansätze in<br />

den Kirchen des Westens«. 27 Die ökumenische Perspektive insgesamt zielt also<br />

darauf ab, AUK mit und trotz ihrer kirchlichen Eigenheit als Teil der ökumenischen<br />

Bewegung zu akzeptieren. Noch 1987 verstärkt Becken diese ökumenische<br />

Absicht mit seinem Eintrag zu <strong>Afrika</strong>nischen Unabhängigen Kirchen im Lexikon<br />

Missionswissenschaftlicher Grundbegriffe. 28 Mit diesem Artikel ist die endgültige<br />

Durchsetzung des Unabhängigkeitsbegriffs in der deutschsprachigen Forschung<br />

erreicht. Inhaltlich aber verdeckt er schwelende Debatten.<br />

<strong>Afrika</strong>nität<br />

Zu den Mitverfassern des ökumenischen Einstiegswerks von 1963 gehört auch<br />

Harold Turner, der gerade seine Feldforschung zu den sog. Aladura- (Gebets-)<br />

Kirchen in Westafrika durchführt. 29 Auf Turner geht wenig später die erste Definition<br />

von AUK zurück. 1967 definiert Turner AUK nachhaltig als: »a church<br />

which has been founded in Africa, by Africans, and primarily for Africans«. 30<br />

Indem Turner den Kirchenbegriff stärkt, rückt er AUK in die Kirchengeschichte<br />

<strong>Afrika</strong>s ein. Zudem entdramatisiert er den kursierenden Synkretismusverdacht<br />

wie die postchristliche Positionierung gegenüber AUK. Zweifelsohne ist der identitätspolitisch<br />

aufgeladene Begriff der Unabhängigkeit en vogue mit den turbulenten<br />

Aufbrüchen in der afrikanischen Staatenwelt der 1960er Jahre. Entscheidend<br />

aber ist, dass der Begriff des kirchlichen Indepentismus durch eine multipel<br />

konnotierte <strong>Afrika</strong>klammer zusammen gehalten wird. Der »<strong>Afrika</strong>-Code« erfährt<br />

eine dreifache Zuordnung: er bezieht sich geographisch auf einen afrikanischen<br />

Gründungort, historisch auf eine afrikanische Ekklesiogenese und soziologisch<br />

auf eine afrikanische Mitgliedschaft. Diesem starken <strong>Afrika</strong>-Geflecht vermag sich<br />

die AIC-Forschung hinfort nur schwer zu entwinden. Seither verdichtet sich ein<br />

<strong>Afrika</strong>nitätsdiskurs, durch den Entstehungsgeschichte, Verlaufsformen und auch<br />

<strong>Theologie</strong>bildungen – der ökumenischen Absicht entgegen – herausgebrochen<br />

werden aus der allgemeinen Christentumsgeschichte.<br />

27<br />

Marie-Louise Martin, Kirche ohne Weisse: Simon Kimbangu und seine<br />

Millioenenkirche im Kongo, Basel 197, 13.<br />

28<br />

Vgl. Hans-Jürgen Becken, »<strong>Afrika</strong>nische Unabhängige Kirchen«, in: Karl Müller/<br />

Theo Sundermeier (Hg.), Lexikon Missionstheologischer Grundbegriffe, Berlin 1987, 16–<br />

19.<br />

29<br />

Vgl. seine zweibändige Monographie: African Independent Church, Vol. I: The Church<br />

of the Lord (Aladura), Vol. II: The Life and Faith of the Church of the Lord (Aladura), Oxford<br />

1967.<br />

30<br />

Harold W. Turner, A Typology for African Religious Movements, JRA 1 (1967) 1,<br />

1–34, hier 17.


<strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Authentizität (Identität,<br />

Ownership, Kultur, Tradition)<br />

»Authentizität läuft auf allen Kanälen […] Das Kino verkündet in jedem zweiten Voroder<br />

Abspann, dass das Gezeigte auf einer ›wahren Geschichte‹ beruhe […] An allen<br />

Ecken werden dem Publikum die Lockstoffe der »Echtheit« unter die Nase gerieben,<br />

auf dass es sich an der Illusion von empathischem Miterleben und direktem Dabeisein<br />

berauschen möge.« 1<br />

»The Black communities […] mobilized themselves to set up different cultural […]<br />

projects. […] the focal point was their curiosity about traditional African cultures and<br />

ancient Egyptian cultural and moral values. […] Western culture continues to renew<br />

and enrich itself through the high value placed on antique art and artefacts, particularly<br />

Egyptian art. Why is there resentment and great concern when diaspora Africans<br />

recognize the value of African antiquity?« 2<br />

1. Authentizität hat Konjunktur<br />

Authentizität hat Konjunktur: Sei es, dass die Bemerkung »[…] beruht auf einer<br />

wahren Geschichte«, die aktuell vielen Filmen vorangestellt wird, den Umsatz<br />

in der Unterhaltungsindustrie fördert, wie die Schriftstellerin Juli Zeh in dem<br />

oben zitierten Zwischenruf »Zur Hölle mit der Authentizität!« kritisch anmerkt.<br />

Sei es, dass sich »black communities«, wie die ebenfalls im Epigraph zitierte nigerianische<br />

Religionswissenschaftlerin Ifi Amadiume bemerkt, auf der Suche<br />

nach ihren »Wurzeln« für antike afrikanische Kunst interessieren. Und warum<br />

auch nicht? Mit welchem Recht sollte es westlichen Liebhaber*innen afrikanischer<br />

Kunst eher und unhinterfragter zugestanden werden, afrikanische Kunst<br />

zu sammeln und sich dadurch kulturell zu bereichern, als <strong>Afrika</strong>ner*innen oder<br />

Afro-Amerikaner*innen, denen in diesem Fall eine restaurative Erfindung »ihrer<br />

längst nicht mehr existierenden Ursprungskultur« vorgehalten werde?<br />

Doch was ist Authentizität? Bemerkungen wie die von Zeh und Amadiume<br />

machen nicht nur deutlich, dass Authentizität ein höchst schillernder und mehrdeutiger<br />

Begriff ist. Die Rede von der Authentizität ruft ambivalente und meist<br />

sehr emotionale Reaktionen hervor. »Authentische« Erzählungen oder Artefakte<br />

suggerieren den umstrittenen Anschein von Echtheit und Dauer. Es geht um<br />

1<br />

Juli Zeh, Zur Hölle mit der Authentizität! in: Zeit, 21. 9. 2006, http://www.zeit.<br />

de/2006/39/ L-Literatur (Abruf 1. 3. 2020).<br />

2<br />

Ifi Amadiume, Reinventing Africa. Matriarchy, Religion and Culture, London/New<br />

York 1997, viii.


78 <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Wahrheit in einer Welt, die sich kontinuierlich verändert, und um Identität in<br />

einer Zeit, die sich weniger durch Stabilität auszeichnet als vielmehr durch Fluidität,<br />

Hybridität und den Druck, sich permanent neu und kreativ zu erfinden. 3<br />

Zahlreiche, vor allem jüngere Studien diagnostizieren ein »Begehren nach<br />

Authentizität«, 4 das sich in den vielfältigen ästhetischen Regimen des Alltags<br />

niederschlägt 5 – von der Werbung über (alltags)kulturelle Veranstaltungen und<br />

religiöse Praxis bis hin zu politischen Ansprachen. Thomas Bauer sieht in diesem<br />

»Authentizitätswahn« 6 den Wunsch nach einer »Vereindeutigung der Welt«. Die<br />

Sehnsucht nach Eindeutigkeiten löse die höhere Ambiguitätstoleranz früherer<br />

Tage ab und entlarve zugleich die Rede von zunehmender Vielfalt als rhetorische<br />

Floskel. Den Wunsch nach weniger Vielfalt und mehr Eindeutigkeiten konstatiert<br />

auch der Islamwissenschaftler Ali Ghandour, und zwar am Beispiel muslimischer<br />

Sexualmoral, die v. a. unter dem Einfluss von Industrialisierung und Kolonialisierung<br />

rigider geworden sei. 7<br />

Dem konstatierten Authentizitätsbegehren stehen also gleichzeitig – wie die<br />

Veröffentlichungen von Bauer, Ghandour und anderen zeigen – kritische Stimmen<br />

gegenüber. Sie gehen – den kultur- und sozialwissenschaftlichen Einsichten<br />

der letzten Jahrzehnte entsprechend – davon aus, dass Kulturen und Identitäten<br />

das Ergebnis soziokultureller Vermischungs- und Aushandlungsprozesse sind,<br />

also das vermeintliche Gegenteil von Authentizität und authentisch-reinen Kulturen.<br />

Diese kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Authentizität hat seit<br />

dem ausgehenden 20. Jahrhundert vor allem in Literatur-, Kultur-, Religionswissenschaft<br />

und Philosophie zugenommen. Bezeichnenderweise ist aber auch das<br />

Authentizitätsverständnis der Kritiker keinesfalls eindeutig. Oftmals wird in wissenschaftlichen<br />

Auseinandersetzungen wie in der symbolischen Alltagspraxis<br />

ein irgendwie geartetes gemeinsames Verständnis von Authentizität vorausgesetzt,<br />

wie die viel zitierte Analyse von Susanne Knaller feststellt:<br />

»Das Vertrackte des Authentizitätsbegriffs scheint u. a. darin zu liegen, dass<br />

er ermöglicht, empirische, interpretative, evaluative und normative Momente auf<br />

eine kaum aufschlüsselbare Weise miteinander zu kontaminieren. Das erklärt<br />

auch, dass viele ihn verwenden, ohne sonderliche begriffliche Anstrengungen auf<br />

3<br />

Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher<br />

Ästhetisierung, Berlin 6 2019.<br />

4<br />

Gerhard Härle, Authentizität gibt es nicht – aber sie kann sich ereignen. Ungekürzte<br />

Fassung 2014. Als PDF-Datei veröffentlicht unter unter http://www.ph-heidelberg.de/<br />

haerle/downloadbereich (Abruf 1. 2. 2020).<br />

5<br />

Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible, London<br />

2006.<br />

6<br />

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit<br />

und Vielfalt, Stuttgart 2018.<br />

7<br />

Ali Ghandour, Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime,<br />

München 2018.


Authentizität 79<br />

sich zu nehmen: Sie setzen ihn als nicht weiter erläuterungs- oder erklärungsbedürftigen<br />

Letzt- oder Argumentationsstoppbegriff ein.« 8<br />

Von seiner griechischen Herkunft her bedeutet Authentizität »Echtheit im<br />

Sinne des Verbürgten, das ›als Original befunden‹ wird« und »impliziert gleichzeitig<br />

Urheberschaft«, Selbst-Handeln und Selbst-Vollenden, agency, ist also eng mit<br />

»Autorität über Echtheit, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und der<br />

Treue zu sich selbst bis hin zum Selbstmörder« verknüpft. 9 Auch in der heutigen<br />

Alltags- wie Wissenschaftssprache rangiert der Terminus Authentizität im Wortund<br />

Bedeutungsfeld von »echt«, »wahr«, »wahrhaftig«, »ehrlich«, »glaubwürdig«,<br />

»zum Selbst gehörend« und »eigen«. 10<br />

Diese Verbindungen zeigen, dass es sich bei Authentizität um einen relationalen<br />

und gleichzeitig normativen Begriff handelt. Der Rückgriff auf vermeintlich<br />

authentische kulturelle Traditionen oder auch auf subjektive, »persönliche« und<br />

damit authentische Erfahrungen will dem Einzelnen oder Gruppen eine nicht<br />

zu hinterfragende Autorität und Deutungshoheit verleihen und zugleich das Verhältnis<br />

zwischen denen, die sich auf authentische Erfahrungen oder Traditionen<br />

berufen können, und jenen, die außerhalb dieser Erfahrungen oder Traditionen<br />

stehen, ordnen. Es gibt beim Thema Authentizität somit ein Innen und ein Außen.<br />

Authentische Erfahrungen und Traditionen entziehen sich der Kritik von Außen<br />

bzw. sind bestrebt, sich dieser zu entziehen. Die Rhetorik der Authentizität kann<br />

eine Aura der Immunität vor Kritik schaffen. Anderen die Echtheit und Wahrhaftigkeit<br />

ihrer Erfahrung abzusprechen, wird hingegen als Akt der Grenzüberschreitung<br />

wahrgenommen. Die Infragestellung einer authentischen Erfahrung,<br />

die ein anderer macht, verletzt, so scheint es, das Recht auf Selbstbestimmung,<br />

Selbstdeutung und agency. Oder, in diskursanalytischen Worten formuliert: Es<br />

geht bei Authentizität auch um Diskurshoheit, Deutungs- und Wissensmacht.<br />

2. Wer ist ein afrikanischer Theologe, eine<br />

afrikanische Theologin? Authentizität zwischen<br />

Widerstand und Fetischisierung<br />

Auch im Bereich »<strong>Theologie</strong>n <strong>Afrika</strong>« ist das Thema Authentizität höchst normativ<br />

und umkämpft. Das gilt ebenso für das erweiterte Themen- und Bedeutungsfeld,<br />

in dem Authentizität im Diskursfeld afrikanischer <strong>Theologie</strong> steht und das insbesondere<br />

die Begriffe »Identität«, »Ownership«, »Kultur« und »Tradition« verbindet.<br />

Deutlich wird dies bereits an der Frage: Wer darf sich »authentischer« afrikanischer<br />

Theologe oder »authentische« afrikanische Theologin nennen?<br />

8<br />

Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs<br />

Authentizität, Heidelberg 2007, 9.<br />

9<br />

Achim Saupe, Authentizität, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010,<br />

URL: http:\\docupedia.de/zg/, 1–15, 6.<br />

10<br />

Siehe Härle, Authentizität (wie Anm. 4), 2.


80 <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

Die Beantwortung dieser Frage hängt mit dem jeweiligen Verständnis von<br />

afrikanischer <strong>Theologie</strong> zusammen. Im Prozess der Arbeit an meiner Habilitation<br />

»Interkulturelle <strong>Theologie</strong> und Kulturhermeneutik. Untersucht am Beispiel<br />

afrikanischer <strong>Theologie</strong>« 11 kam ich zu dem Schluss, »afrikanische <strong>Theologie</strong>« aus<br />

kulturwissenschaftlicher und diskurstheoretischer Perspektive als »Produkt diskursiver<br />

Prozesse« zu verstehen. 12 Die Herausforderung einer so verstandenen<br />

afrikanischen <strong>Theologie</strong> als Diskursfeld liegt darin, dass das »mit afrikanischer<br />

<strong>Theologie</strong> Bezeichnete […] nicht einfach als gegeben vor[liegt], sondern […] – so<br />

wie auch die Erfindung ›<strong>Afrika</strong>s‹, ›der <strong>Afrika</strong>ner‹ oder ›der afrikanischen Kultur‹<br />

– das Ergebnis einer machtvollen Wissensproduktion« ist. 13 Die diskursiven Prozesse,<br />

die dieses Wissen produzieren, beschränken sich gerade nicht auf »innerafrikanische«<br />

Auseinandersetzungen, sondern sind auch transkontinentale Aushandlungsprozesse.<br />

Daher ist jeder Eigentumsanspruch auf afrikanische <strong>Theologie</strong><br />

unmöglich.<br />

Konsequent weiter gedacht bedeutet dies, dass auch Theolog*innen, die nichtafrikanischer<br />

»Abstammung« sind, Autor*innen afrikanischer <strong>Theologie</strong> sein<br />

können – zumal so die Begriffe »afrikanische Abstammung« – wie auch »europäische<br />

Abstammung« – höchst problematische Kategorien darstellen. Demnach<br />

zählen etwa der belgische Missionar und Theologe Placide Tempels ebenso zu<br />

den Akteuren auf dem Diskursfeld afrikanischer <strong>Theologie</strong> wie John Mbiti oder<br />

Claude Ozankom, die beide über Jahrzehnte hinweg ihren Hauptwohnsitz in Europa<br />

hatten bzw. haben. Auch Heribert Rückert, 14 Heinrich Balz, 15 Ulrike Link-Wieczorek<br />

16 oder Wilhelm Richebächer 17 gehören dann zu jenen, die zum Diskursfeld<br />

»afrikanische <strong>Theologie</strong>« beitragen, wobei der Grund für diese Zuordnung eben<br />

gerade nicht in der Tatsache liegt, dass der eine oder die andere längere Zeit<br />

in einem afrikanischen Land gelebt hat. Indikatoren für die Zugehörigkeit zum<br />

afrikanisch-theologischen Diskursfeld sind vielmehr der Beitrag zur europäischafrikanischen<br />

theologischen Diskussion – etwa in Form des ein oder anderen Aufsatzes,<br />

im Bemühen, Themen afrikanischer <strong>Theologie</strong> in die Lehre einzubringen<br />

oder in der Mitarbeit in einem afrikanisch-europäischen Netzwerk.<br />

11<br />

<strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong>, Interkulturelle <strong>Theologie</strong> und Kulturhermeneutik. Untersucht am<br />

Beispiel afrikanischer <strong>Theologie</strong>, Stuttgart 2016.<br />

12<br />

A. a. O., 17.<br />

13<br />

A. a. O., 16 (Hervorhebung im Original).<br />

14<br />

Heribert Rücker, »<strong>Afrika</strong>nische <strong>Theologie</strong>«. Darstellung und Dialog, Innsbruck/Wien<br />

1985.<br />

15<br />

Heinrich Balz, Where the faith has to live. Studies in Bakossi society and religion,<br />

Berlin 1995.<br />

16<br />

Ulrike Link-Wieczorek, Reden von Gott in <strong>Afrika</strong> und Asien. Darstellung und<br />

Interpretation afrikanischer <strong>Theologie</strong> im Vergleich mit der koreanischen Minjung-<br />

<strong>Theologie</strong>, Göttingen 1991.<br />

17<br />

Wilhelm Richebächer, Religionswechsel und Christologie. Christliche <strong>Theologie</strong> in<br />

Ostafrika vor dem Hintergrund religiöser Syntheseprozesse, Neuendettelsau 2002.


Authentizität 81<br />

Doch eben diese Aussage, auch Nicht-<strong>Afrika</strong>ner*innen seien an der Produktion<br />

afrikanischer <strong>Theologie</strong> beteiligt, führte auch zum Konflikt, und zwar mit<br />

wertgeschätzten europäischen Kolleg*innen: Diese Annahme untergrabe, so<br />

der Vorwurf, die afrikanische »ownership« auf afrikanische <strong>Theologie</strong>. <strong>Afrika</strong>nische<br />

<strong>Theologie</strong> sei eine authentische, d. h. selbständige <strong>Theologie</strong>. <strong>Afrika</strong>nische<br />

Theolog*innen hätten »westliche« <strong>Theologie</strong> erfolgreich inkulturiert, das Christentum<br />

übersetzt und authentisch afrikanisiert. Mein Zugang jedoch wiederhole<br />

alte koloniale Muster der Bevormundung und der paternalistischen – bzw. maternalistischen<br />

– Vereinnahmung und achte die »Anderen« nicht als freie, selbstdenkende<br />

und handelnde Subjekte bzw. als Theolog*innen.<br />

Die Kritik ist wichtig und in bestimmter Hinsicht berechtigt. Sie macht aber<br />

auch paradigmatisch deutlich, wie ambivalent der Authentizitätsdiskurs ist. Sie<br />

ist wichtig und berechtigt, weil sie in heilsamer Weise die Wunde offenhält, die<br />

der Kolonialismus geschlagen hat und die das Verhältnis zwischen Europa und<br />

<strong>Afrika</strong> nachhaltig prägt. Die »Kolonialherrschaft [war so] total und nivellierend«,<br />

so Frantz Fanon, dass kolonisierte Kulturen unter ihr »verbleichen« mussten. 18 Im<br />

Wunsch nach Authentizität – in <strong>Theologie</strong>, Philosophie oder Politik – drückt sich<br />

daher mithin Widerstand gegen dieses Verbleichen der eigenen Kultur und gegen<br />

die Auslöschung des Rechts auf Identität und Geschichte aus. Dieser Widerstand<br />

findet seinen Niederschlag etwa in den eindrucksvollen Worten von Kardinal<br />

Joseph-Albert Malula, der als Erzbischof von Kinshasa zu den einflussreichsten<br />

Kritikern des Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo (von 1971–1997:<br />

Zaire), Mobutu Sese Seko, zählte: »Wir wollen authentisch und keine Marionetten<br />

der Geschichte anderer Menschen mehr sein.« 19<br />

Die Kritik an der Aussage, dass auch europäische Theolog*innen afrikanische<br />

<strong>Theologie</strong> »produzieren« – und »die« authentische <strong>Theologie</strong> somit ein diskursives<br />

Konstrukt ist –, erinnert also daran, dass weder die koloniale Wunde noch die<br />

afrikanische agency, die sich eben auch in der Suche nach einer authentischen<br />

<strong>Theologie</strong> Ausdruck verschafft, diskurstheoretisch relativiert oder als restaurative<br />

Erfindungen abgetan werden dürfen. Darin ist die Kritik überaus sinnvoll. Im<br />

Umgang mit der kolonialen Wunde besteht mithin aber auch die Gefahr, in das<br />

Gegenteil zu verfallen und durch eine europäische Begeisterung über die »reichhaltige,<br />

authentische afrikanische Kultur« die »Verbleichung« und kulturelle, ökonomische<br />

oder politische Marginalisierung fortzusetzen. Denn die Rede vom »authentischen<br />

<strong>Afrika</strong>« und die Euphorie über authentische afrikanische <strong>Theologie</strong><br />

wiederholt die kolonialen Prozesse des Othering – in den provozierenden Worten<br />

18<br />

Frantz Fanon, Über nationale Kultur. (Rede auf dem II. Kongreß schwarzer<br />

Schriftsteller und Künstler in Rom 1959), in: Ders., Die Verdammten dieser Erde, Reinbek<br />

bei Hamburg 1969, 158–189, 181.<br />

19<br />

Joseph-Albert Malula, Editorial, in: Afrique chrétienne 12 (1972), 3, zitiert nach:<br />

Boniface Mabanza Bambu, Das Leben bejahen. Elemente einer <strong>Theologie</strong> des Lebens aus<br />

kongolesischer Perspektive, Ostfildern 2015, 87.


82 <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

von Gareth Griffiths: Die »Mythologisierung und Fetischisierung« der Authentizität<br />

»des Anderen« konzipiert den Anderen weiterhin als den »Wilden«. 20<br />

Im theologischen Diskurs hat Manas Buthelezi diese Tendenz bereits in den<br />

1970er Jahren beobachtet. Es existiere, so beobachtet er, eine euphorische Begeisterung<br />

europäischer Theolog*innen über die Entstehung von <strong>Theologie</strong>n aus<br />

der Feder afrikanischer Theolog*innen. Diese sei aber in erster Linie aus dem<br />

»schlechten Gewissen« geboren, dass das Christentum »der geistliche Arm des europäischen<br />

Imperialismus in <strong>Afrika</strong>« war, so kritisiert der südafrikanische Theologe.<br />

21 Die Begeisterung über die Authentizität »des Anderen« kann also – und eben<br />

darin liegt die hohe Ambivalenz des Authentizitätsdiskurses – eine Strategie sein,<br />

einen »Schuldkomplex« zu kompensieren 22 oder koloniale Wunden und postkoloniale<br />

Ungleichheiten zu kaschieren.<br />

3. Europäischer Authentizitätsdiskurs als offener<br />

Grenzdiskurs zwischen Europa und <strong>Afrika</strong><br />

Die Rede von Authentizität ist also durch und durch zweischneidig: Sie kann stärken,<br />

Selbstwert und Widerstand fördern, ihre essenzialisierende Dynamik kann<br />

aber auch Machthierarchien festschreiben, identitären Entwicklungen Vorschub<br />

leisten oder Veränderungen und kulturelle Vermischungsprozesse verhindern.<br />

20<br />

Gareth Griffiths, The Myth of Authenticity. Representation, discourse ad social<br />

practice, in: Chris Tiffin/Alan Lawson (Hg.), Describing Empire. Postcoloniality and<br />

Textuality, London 1994, 17–86, hier 71.<br />

21<br />

Manas Buthelezi, Ansätze afrikanischer <strong>Theologie</strong> im Kontext von Kirchen in<br />

Südafrika, in: Ilse Tödt (Hg.), <strong>Theologie</strong> im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas<br />

Buthelezi, Stuttgart/München 1976, 33–132, hier 116.<br />

22<br />

Buthelezis Beschreibung des »schlechten Gewissens« europäischer Theolog*innen<br />

ähnelt dem »Schuldkomplex« von <strong>Afrika</strong>nisten, den Veit-Wild beschreibt: »Europäische<br />

<strong>Afrika</strong>nisten unserer Generation kommen mit einem Schuldkomplex auf die Welt:<br />

sie fürchten nichts mehr, denn als eurozentrisch zu erscheinen […] Belastet mit der<br />

Verantwortung für die ›koloniale Vergangenheit‹ europäischer Großmachtpolitik, fühlen<br />

sie sich getrieben, die kolonialen Mythen über die Rückständigkeit der Schwarzen und<br />

ihrer Kultur zu zerstören und den antikolonialen, afrikanischen Diskurs aufzuzeigen,<br />

der sich dagegen entwickelt hat. Dies leistet neuen Mythen Vorschub, Mythen, denen<br />

viele <strong>Afrika</strong>reisende und -leser noch immer auf der Spur sind: Mythen von dem wahren,<br />

unverdorbenen, exotischen <strong>Afrika</strong>, dem <strong>Afrika</strong>, das so ganz anders und so viel reicher<br />

ist als unser verkümmertes, verarmtes Europa«, in: Flora Veit-Wild, Karneval und<br />

Kakerlaken. Postkolonialismus in der afrikanischen Literatur. Antrittsvorlesung 8. Februar<br />

1995, http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/veit-wild-flora/PDF/Veit-Wild.pdf (Abruf 31. 3.<br />

2019), gekürzt wieder abgedruckt in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), Family<br />

Nation Tribe Community Shift: Zeitgenössische Konzepte im Haus der Kulturen der Welt<br />

(Ausstellungskatalog), Berlin 1996, 80–86.


Authentizität 83<br />

Zwischen diesen beiden Polen rangieren eine Fülle von mehrdeutigen Authentizitätspraktiken,<br />

die etwa von den einen als Formen des antihegemonialen Widerstands<br />

und als Impuls zur Veränderung herrschender Strukturen gedeutet<br />

werden, von den anderen als restauratives Festhalten an bestehenden Machthierarchien.<br />

Das Authentische wird somit also auch immer wieder ausgehandelt – und<br />

immer wieder fixiert. In dieser Spannung stellt der Authentizitätsdiskurs einen<br />

geradezu klassischen Forschungsgegenstand des diskurstheoretischen Ansatzes<br />

dar. Denn dessen »Pointe« ist es, so Michael Bergunder,<br />

»[…] dass er zum einen jede essentialistische Fundierung der Grenzen eines Diskurses<br />

zurückweist, ohne damit aber eine prinzipielle Grenzenlosigkeit, Willkürlichkeit oder<br />

Unschärfe von Bedeutungszuschreibungen zu behaupten. In jedem Diskurs werden<br />

notwendigerweise fortlaufend Bedeutungsfixierungen vorgenommen, die scharfe, andere<br />

Bedeutungen ausschließende Grenzen aufweisen. Diese Bedeutungsfixierungen<br />

oder Schließungen des Diskurses sind notwendig und in keiner Weise (›postmodern‹)<br />

beliebig! Dennoch sind sie zugleich kontingent, oder genauer gesagt, ihre Existenz<br />

und Grenzziehung lässt sich nicht durch eine äußere Referenz bzw. transzendentales<br />

Signifikat rechtfertigen. Diese fehlende äußere Referenz macht es angesichts der Differentialität<br />

der Zeichen aber zugleich prinzipiell unmöglich, endgültige Bedeutungen<br />

zu fixieren.« 23<br />

Wird also, wie es für die Rede von Authentizität geradezu charakteristisch ist, die<br />

Kontingenz von Bedeutungen übersehen und stattdessen Echtheit, Originalität<br />

und – eng mit Authentizität verbunden – Identität 24 behauptet, dann dominieren<br />

Grenze und Grenzziehungen gegenüber »dem Anderen« und dem behaupteten<br />

Unechten. Vagheit, Mehrdeutigkeit und Deutungsoffenheit werden hingegen an<br />

den Rand gedrängt. Der Authentizitätsdiskurs ist somit der Grenz- und Abgrenzungsdiskurs<br />

schlechthin. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Authentizität<br />

in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels einen besonderen Aufwind erfährt und<br />

sich dann in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen niederschlägt.<br />

Das gilt auch für den Authentizitätsdiskurs in afrikanischer <strong>Theologie</strong>, Philosophie<br />

und Politik. Auch für ihn ist charakteristisch, dass er durchdrungen ist<br />

von Bedeutungsfixierungen und zugleich von fortlaufenden Verschiebungen. Außerdem<br />

zeichnen sich die Phasen, in denen Authentizität hier besonders virulent<br />

und oftmals umkämpft waren und sind, auch durch erhöhte gesellschaftliche Veränderungsdynamiken<br />

und Innovationsdruck aus.<br />

Ein zentrales Kennzeichen des Authentizitätsdiskurses in afrikanischer<br />

<strong>Theologie</strong>, Philosophie und Politik ist darüber hinaus, dass oftmals »Europa« oder<br />

»der Westen« als Abgrenzungsfolie konstruiert wird. Damit ist Europa konstitutiv<br />

für den afrikanischen Authentizitätsdiskurs. Ich behaupte, dies gilt auch umge-<br />

23<br />

Vgl. Michael Bergunder, Was ist Religion?, in: ZfR 19, 1/2 (2011), 3–55, hier 33.<br />

24<br />

Erinnert sei an dieser Stelle an die lateinische Wurzel von Identität, die die<br />

enge Beziehung zu Authentizität deutlich macht: »idem« – »derselbe«-Sein, s. Bauer,<br />

Vereindeutigung (wie Anm. 6), 71.


84 <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

kehrt: <strong>Afrika</strong> ist auch für den europäischen Authentizitätsdiskurs konstitutiv. Ich<br />

möchte diesen Zusammenhang im Folgenden an drei Beispielen skizzieren.<br />

3.1 Der Traum des weißen Mannes vom<br />

authentischen <strong>Afrika</strong><br />

Schon Juli Zehs und Ifi Amadiumes Äußerungen im Epigraph des vorliegenden<br />

Beitrags haben deutlich gemacht, dass Authentizität nicht nur ein Thema intellektueller<br />

Auseinandersetzungen oder eine immer wieder zum Leben erweckte<br />

politische Forderung ist. Sie ist auch und besonders Bestandteil von Kunst und<br />

Kultur und prägt die ästhetischen Regime mit, die die Wahrnehmung der Welt<br />

und dessen, was als echt und wirklich wahrgenommen und gedeutet werden soll,<br />

steuern.<br />

In diesem Kontext wirft Ruth Mayers umfangreiche Analyse von afrikabezogenen<br />

Romanen und Filmen in »Artificial Africas« 25 einen erhellenden Blick<br />

auf den Zusammenhang zwischen afrikanischen und europäischen Authentizitätsdiskursen.<br />

<strong>Afrika</strong>bezogene Romane und Filme entwickeln und wiederholen<br />

machtvolle Narrative, nicht nur über »das Andere« – <strong>Afrika</strong> –, sondern immer<br />

auch über »das Eigene« – Europa. Die in der Darstellung <strong>Afrika</strong>s angewandten<br />

»höchst-ambivalenten Metaphern der Authentizität, Primitivität, Differenz und<br />

Andersheit mit ihren mal faszinierenden, mal furchteinflößenden Konnotationen«<br />

fungieren schon immer, so Mayer in Anlehnung an Toni Morrison, als<br />

»machtvoller Subtext nicht nur für schwarze, sondern auch für weiße Kulturen<br />

in den USA«: 26 »[…] the process of organizing American coherence through a distancing<br />

Africanism be came the operative mode of a new cultural hegemony.« 27<br />

Das »authentische« <strong>Afrika</strong> wird also zur Abgrenzungsfolie der Authentizität und<br />

Hegemonie der amerikanischen oder europäischen Kultur.<br />

Wie vielschichtig und uneindeutig dieser Prozess ist, wird gerade dort deutlich,<br />

wo <strong>Afrika</strong> als Sehnsuchtsort europäischer Echtheits-, Ursprünglichkeits- und<br />

Authentizitätsphantasien konzipiert und dargestellt wird:<br />

»From Roosevelt’s African Game Trails (1910) to Burroughs’s Tarzan of the<br />

Apes and Hemingway’s Green Hills of Africa, the experience of Africa is time and<br />

again enacted via a strange oscillation between an almost aggressive claim for<br />

authenticity (›this is what life is really like‹) and an emphasis on the experience’s<br />

fantastic exeptionality (›this is in no way like ordinary life‹).« 28<br />

25<br />

Ruth Mayer, Artificial Africas. Colonial Images in the Times of Globalization, London<br />

2002, 77.<br />

26<br />

A. a. O., 5 (Übersetzung CJ).<br />

27<br />

Toni Morrison, »black matters«, in: Dies., Playing in the Dark: Whiteness and the<br />

Literary Imagination, Cambridge 1992, 3–28, hier 8, zitiert nach Mayer, Artificial Africas<br />

(wie Anm. 25), 5.<br />

28<br />

Mayer, Artificial Africas (wie Anm. 25), 77 (Hervorhebung CJ).


Christiana Idika<br />

Bildung<br />

Im Diskurs ›<strong>Theologie</strong>(n) in <strong>Afrika</strong>‹ steht ›Bildungsbegriff‹ als ›Critical Term‹ im<br />

Kontext der Geschichte der Missionierung in <strong>Afrika</strong> und der theologischen Ausbildung<br />

im Hinblick auf die koloniale Geschichte, besonders im Zusammenhang<br />

mit christlichen und aufklärerischen Ausprägungen. In anderen Kontexten ist<br />

er mit anderen Begriffen wie Entwicklung, Armut, Gesundheit usw. verbunden.<br />

Dieser Beitrag wird sich eher auf Erstere konzentrieren, nämlich auf Mission und<br />

theologische Ausbildung.<br />

Die bloße Darstellung <strong>Afrika</strong>s ist mit einer Vielfalt von Wahrnehmungen und<br />

Vorstellungen verbunden. <strong>Afrika</strong> ist nicht nur ein Kontinent, es ist auch eine Idee<br />

und eine Kategorie. Die Idee von <strong>Afrika</strong> ist ein mentales Repräsentationsbild über<br />

<strong>Afrika</strong>, die so operiert, dass man schon immer ein Bild dessen hat, was <strong>Afrika</strong> ist,<br />

ohne jemals in <strong>Afrika</strong> gewesen zu sein. Dieses mentale Repräsentationsbild über<br />

<strong>Afrika</strong> wird zu einer Konstruktion, die in Macht, Wissen und Diskurs eingebettet<br />

ist. Es ist eine Idee, weil es eine Darstellung einer Imagination und Projektion<br />

durch ihre ›anderen‹ ist. <strong>Afrika</strong> ist eine Idee im Kopf und in den Vorstellungen der<br />

›anderen‹ <strong>Afrika</strong>s. Darüber hinaus ist <strong>Afrika</strong> auch eine Kategorie. Die Kategorisierung<br />

erfolgt hauptsächlich durch ein zentrales, semiotisches System, mit dem<br />

wir Menschen, Gruppen und Ereignisse in vereinfachter oder bereicherter Form,<br />

in vorurteilsfreier oder toleranter Weise präsentieren können. Die Entstehung<br />

von Vorurteilen und Stereotypen basiert auf dem Prozess der Kategorisierung, so<br />

dass <strong>Afrika</strong> eine Kategorie ist und Stereotypen über <strong>Afrika</strong> die Bilder sind, die die<br />

Kategorie verzerren. Diese Bilder beinhalten Farbe, Armut, Krankheit usw. Die<br />

Kartographie <strong>Afrika</strong>s wird als geografische Region dargestellt, ist aber nicht nur<br />

eine Idee auf der Karte, sondern auch auf den Körpern der Menschen gezeichnet<br />

und geschnitzt, die in diese Kategorie eingeordnet sind. Infolgedessen kennt<br />

man einen <strong>Afrika</strong>ner durch eine einfache Begegnung. Doch welche Aspekte man<br />

sich innerhalb dieses Bedeutungsspektrums im Zusammenhang mit ›<strong>Afrika</strong>‹ auswählt,<br />

hängt davon ab, wo man im Weltgeschehen steht. In diesem Zusammenhang<br />

spiegelt sich ›Bildung‹ im Diskurs <strong>Afrika</strong>s wider.<br />

Bildung: Begriffliche/sprachliche Landschaft<br />

Spricht man von Bildung im Allgemeinen, so bezieht man sich meist auf eine der<br />

drei folgenden und durchaus diffusen Konnotationen: entweder auf jeden Prozess,<br />

wodurch der Mensch geformt und zur Vollendung geführt wird, oder auf<br />

die Aufgabe der Erziehung, wofür sich Erwachsene gegenüber den Jugendlichen


110 Christiana Idika<br />

absichtlich engagieren, oder die besondere Aufgabe von Schulen und Universitäten.<br />

1 Dementsprechend ist der Begriff »Bildung« mehrdeutig und ambivalent.<br />

Zunächst soll daher die sprachliche Landschaft in den Blick genommen werden.<br />

Die semantischen Grenzen verschwimmen in den verschiedenen Sprachen: ›Education‹<br />

im Englischen, ›Bildung‹ im Deutschen, Éducation, im Französischen und<br />

Educação im Portugiesischen, die vier, die koloniale, aber auch amtliche Sprachen<br />

in verschiedenen Ländern <strong>Afrika</strong>s sind. Dennoch wird der Begriff auch in<br />

unterschiedlichen afrikanischen Sprachen zum Ausdruck gebracht. In Swahili<br />

werden die Begriffe ulezi und elimu verwendet und in Igbo entspricht es dem<br />

Wort Ọzụzụ.<br />

Der englische Begriff Education hat den Charakter einer vielschichtigen Bedeutung,<br />

weil er täglich auf unterschiedliche Weise verwendet wird, selbst wenn<br />

ein anders Wort ausgesprochen wird. Manchmal beinhaltet sie Formation und<br />

zu anderen Zeiten unterscheidet sie sich von der Formation und Sozialisation.<br />

In gewissem Sinne könnte Education auch Unterrichten oder Lehren bedeuten.<br />

In den meisten Fällen bezieht sich der Begriff Education im englischsprachigen<br />

Kontext jedoch auf den Prozess, der in den Schulen und Universitäten abläuft.<br />

Dies ist anders als im deutschsprachigen Umfeld, wo ›Bildung‹ mehr und etwas<br />

anderes bedeutet als Education, ›Lehren‹ oder ›Sozialisation.‹ Ein weiteres Wort,<br />

das im deutschsprachigen Raum verwendet wird, ist ›Erziehung.‹ Wenn man nach<br />

dem Synonym ›Erziehung‹ sucht, sieht man unter anderem Bildung, Schule, Ausbildung<br />

usw., was darauf hindeutet, dass Erziehung ein Synonym für Bildung ist.<br />

Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Während Erziehung das Gleiche bedeuten<br />

könnte, wie der englische Begriff Education und zudem auch Sozialisation,<br />

Unterricht und die Formation von Kindern und Jugendlichen, beinhaltet ›Bildung‹<br />

viel mehr als das. In Helmuth Danners Pädagogik ist das Ziel von Erziehung ›Bildung.‹<br />

Die historischen Grundlagen der Bildung lassen sich zwischen dem 13.<br />

und 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Die früheste Prägung dieses deutschen<br />

Wortes geht wohl auf den Theologen und Mystiker Meister Eckhart (1260–1328)<br />

zurück. 2 Begriffsgeschichtlich verbindet sich ›Bildung‹ im deutschen Sprachraum<br />

mit Selbstbestimmung und Selbststeuerung. Sie überschreitet die Grenze des<br />

Kognitiven hin zum Normativen und zur Frage des Könnens und der Handlung. 3<br />

›Bild-ung,‹ beinhaltet also ›das Bild‹ und das Verb ›bilden.‹ Diese zwei Implikationen<br />

aus dem Begriff ›Bildung‹ deuten darauf hin, dass es ein bestehendes<br />

Bild gibt, nach dem die menschliche Person geformt werden soll. Ein derartig<br />

idealisiertes Bild ist sichtbar in platonischer Philosophie oder christlicher Vorstellung<br />

von Imago Dei, d. h. Eben-bild Gottes als auch »Nachbildung« oder »Nach-<br />

1<br />

Vgl. Jacques Maritain, Education at Cross Road, USA, Yale 1971; vgl. auch Stephen J.<br />

McKinney/John Sullivan (Hg.), Education in a Catholic Perspective, England 2013, 13.<br />

2<br />

Vgl. Petra Bahr, Art. Bildung, Bildungspolitik, in: Werner Heun/Martin Honecker/<br />

Martin Morlok/Joachim Wieland (Hg.), Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe,<br />

Stuttgart 2006, 210–216, hier 211.<br />

3<br />

Hand J. Münk/Michael Durst, Kirche, <strong>Theologie</strong> und Bildung, Schweiz / Freiburg<br />

2009, 12.


Bildung 111<br />

ahmung« imitatio. 4 Anstoßend »verweist Bildung dem Wort nach ursprünglich<br />

auf die deutsche Mystik und erhält dadurch ihr theologisches Gepräge. In diesem<br />

Zusammenhang ist zunächst an die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen<br />

zu erinnern, wie sie in der ›Genesis‹ zum Ausdruck kommt: ›So schuf Gott<br />

den Menschen nach seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn, als Mann und<br />

Frau erschuf er sie.‹« 5<br />

In diesem Zusammenhang schreibt Hans-Jürgen Fraas, dass es nur sinnvoll<br />

ist, den Bildungsbegriff zu verwenden, wenn es auch klar ist, vom welchem Weltund<br />

Menschenbild her dieser abgeleitet wird. Demzufolge steht der Begriff in<br />

einer Wechselbeziehung zum Menschenbild und zum Menschengedanken. 6 Dies<br />

ist offensichtlich in der kolonialen und missionarischen Bildungsförderung und<br />

der daraus resultierenden Erfahrung der afrikanischen Bevölkerungen z. B. die<br />

sogenannte Education for the natives implementiert in Nigeria, Südafrika, Simbabwe<br />

usw. Wir werden auf das Thema Education for the Natives, in Hinblick auf den<br />

ausgewählten afrikanischen Sprachen elimu, und Ọzụzụ später eingehen.<br />

Darüber hinaus verbindet sich Bildung einem weiteren Pfad, nämlich mit der<br />

Ära der Aufklärung und dem Mittelpunkt aller Kämpfe der Aufklärung – der Mündigkeit<br />

des Menschen. In der deutschen Geschichte findet man Persönlichkeiten<br />

wie Herder, Goethe, Schiller, Hegel und Humboldt, die Bildung in einem engeren<br />

oder breiteren Spektrum formuliert haben. Von Belang sind hier besonders<br />

Herder und Humboldt. Für Herder ist Bildung ein selbst vollzogener Prozess der<br />

Entfaltung der Menschheit im Individuum. Auf der anderen Seite ist Bildung für<br />

Humboldt mit der Kultivierung von Charakter verbunden, einer ganzheitlichen<br />

Entwicklung. Humboldt verknüpfte diese integrale Entwicklung mit den Feldern,<br />

die auf eine harmonische Entwicklung der gebildeten Person abzielen, wie zum<br />

Beispiel Sprache (Griechisch), Kunst und Literatur. Humboldt wurde von der Vorstellung<br />

beeinflusst, dass die alten Griechen eine menschliche Vollkommenheit<br />

erreichten, welche als Ideal zu gelten hat. Folglich platzierte er die griechische<br />

Sprache als eines der Fächer, die zu einem harmonischen Wachstum beitragen.<br />

Dies erscheint im gegenwärtigen Kontext und darüber hinaus sehr problematisch.<br />

Im afrikanischen Kontext ist es nicht nur das Griechische, sondern auch<br />

die koloniale Sprache, die das Niveau der Aufklärung oder Zivilisation, das man<br />

erreicht hat, bestimmt. Sie schafft auch eine Elitegesellschaft, die den Diskurs<br />

über Bildung im heutigen <strong>Afrika</strong> prägt.<br />

Zusätzlich stimmt das humboldtsche Bildungsverständnis mit der paideia<br />

(Bildung, Kultivierung) überein, die notwendig ist für die Entwicklung dessen,<br />

4<br />

Frank Wistuba, Nach dem Menschen fragen. Selbstverständigungen im Zeichen<br />

von Bildung, in: Hans J. Münk/Michael Durst, Kirche, <strong>Theologie</strong> und Bildung, Schweiz/<br />

Freiburg 2009, 40. Vgl. auch Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Otto Brunner/Werner<br />

Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur<br />

politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.1: A–D, Stuttgart 1972, 508–551.<br />

5<br />

Wistuba, ebd.<br />

6<br />

Hans-Jürgen Fraas, Bildung und Menschenbild in Theologischer Perspektive,<br />

Göttingen 2000, 13.


112 Christiana Idika<br />

was die Griechen mit andreia meinten, später ins Lateinische als virtus übersetzt,<br />

aber auch als humanitas. Die Grundidee hinter der griechischen paideia ist der<br />

Gedanke, dass das Beste des Menschseins verborgen ist, wobei dies durch Bildung<br />

und Kultivierung ans Licht gebracht werden kann. Ausgestattet mit einer<br />

angemessenen Bildung wird der Mensch sein Wesen erkennen, kontrollieren und<br />

auf die höchstmögliche Ebene bringen. Es ist umstritten, wer die Autorität hat,<br />

zu bestimmen, worin diese höchstmögliche Ebene des Menschseins besteht. Weiterhin<br />

ist Humboldt nicht allein in dieser Hochachtung der antiken griechischen<br />

Kultur. Auch Hegel maß ihr eine besondere Bedeutung bei. In seiner Philosophie<br />

der Weltgeschichte rühmt er das antike Griechenland kritisch und explizit für<br />

seinen angeblichen intellektuellen Fortschritt. Im gleichen Maße, in dem er es als<br />

Wiege der Zivilisation würdigt, verunglimpft er die <strong>Afrika</strong>ner. 7<br />

Was haben all diese europäischen/deutschen historischen sprachlichen Angelegenheiten<br />

mit Bildung im Hinblick auf den Diskurs über <strong>Afrika</strong> und insbesondere<br />

auf <strong>Theologie</strong> zu tun?<br />

Es ist wichtig festzustellen, dass die Denkmuster der Kolonialisten und Missionare<br />

in afrikanischen Ländern von Vorurteilen, Vorbehalten und Repräsentationen<br />

<strong>Afrika</strong>s beeinflusst wurden. Die Dichotomie von zivilisiert und unzivilisiert;<br />

der Aufklärung der Barbaren und der Mündigkeit; den verfluchten Kindern von<br />

Ham und Erlösung, Kultivierung und Kultur, kann auf verschiedene Weise mit<br />

dieser Denkweise verbunden werden.<br />

Obwohl die Instrumentalisierung der Bildung ständig global in Frage gestellt<br />

wird, scheinen ihre allgemeinen Auswirkungen auf <strong>Afrika</strong> eine dreifache Tragödie<br />

zu sein, und zwar im Sinne der Vergangenheit, der Gegenwart und der<br />

Zukunft <strong>Afrika</strong>s, und im diesem Fall – im Diskurs. Wenn Bildung, wie in der<br />

Vergangenheit, als Instrument zur Entwicklung des afrikanischen Bewusstseins,<br />

zur Befreiung von Unmündigkeit, Ekstase und emotionaler Konstitution und zur<br />

Bekehrung von Barbarei, falschen Riten, Hexerei usw. betrachtet wird, wird Bildung<br />

auch heute noch auf die gleiche Weise verstanden und die Zukunft <strong>Afrika</strong>s<br />

wird immer noch in die Hände der Bildung gelegt. Während man im Allgemeinen<br />

die Bedeutung der Bildung für die Entfaltung und Vollkommenheit des Menschen<br />

nicht leugnen kann, besteht die Herausforderung darin, wie diese Bildung derzeit<br />

im Rahmen des europäisch-afrikanischen Diskurs-Umfelds verstanden wird.<br />

Bildungsgeschichte in <strong>Afrika</strong><br />

Bevor eine kritische Betrachtung der europäischen Bildungsform, die in <strong>Afrika</strong><br />

etabliert wurde, vorgenommen wird, ist es wichtig, die komplexe Geschichte der<br />

Bildung in einigen afrikanischen Ländern aus der Vogelperspektive zu betrachten.<br />

Zu beachten ist, dass diese Geschichte in den einzelnen Ländern des Konti-<br />

7<br />

G. W. F. Hegel, The Philosophy of History, trans. J. Sibree, New York 1990, 1–2.


Bildung 113<br />

nents unterschiedlich ist, auch wenn sie einen gewissen typologischen historischen<br />

Rahmen gemein zu haben scheinen, nämlich den Einfluss der islamischen<br />

Religion, der katholischen und protestantischen Missionare, die nach der Reformation<br />

und Gegenreformation tätig wurden, 8 und den gegenwärtigen Einfluss<br />

des Pfingst-Evangelikalismus. Während diese vier religiösen Kerneinflüsse in<br />

fast allen Ländern <strong>Afrika</strong>s präsent sind, unterscheiden sich die Chronologie, der<br />

Grad und das Fortbestehen dieser vier Einflüsse in einigen dieser afrikanischen<br />

Länder mehr oder weniger stark. Zum Beispiel die Geschichte der Etablierung<br />

islamischer Schulen in Kenia 9 vor der Ankunft der Missionsgesellschaft und nach<br />

dem Scheitern der portugiesischen Missionare. Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls<br />

dieselbe Typologie teilt, ist die islamische Schulbildung in Nigeria 10 vor der<br />

Ankunft irischer und britischer Missionare, was ebenfalls nach dem Scheitern<br />

der portugiesischen katholischen Missionare geschah. Während sie die gleiche<br />

Chronologie und Typologie teilen, können die Ursachen für das Scheitern der<br />

portugiesischen katholischen Missionare unterschiedlich sein. Dasselbe könnte<br />

man von Tansania 11 sagen. In der Tat hatten sowohl das Christentum als auch der<br />

Islam im Süden der Sahara ihre Einflüsse im Bildungs- und Erziehungswesen, die<br />

mit der Bekehrung zu jeweils einer der beiden Religionen verbunden waren.<br />

Allerdings ist der allgemeine hellenistisch-westliche Einfluss auf Theorie und<br />

Praxis der Bildung in den meisten afrikanischen Ländern, insbesondere in der<br />

Subsahara, bis heute offensichtlich und deutlich präsent.<br />

Dass Bildung in ihrer hellenistisch-westlichen Ausprägung unter anderem<br />

Zivilisation, Aufklärung und Mündigkeit einschließt, kennzeichnet ihre Verwendung<br />

durch die Kolonisatoren und vor allem durch die Missionare. Das Wissen<br />

über <strong>Afrika</strong> und die Darstellung <strong>Afrika</strong>s bestimmen in hohem Maße, wie Bildung<br />

in der Zeit des Kolonialismus als Instrument der Unterwerfung diente, was ein<br />

Widerspruch ist. Denn es gibt keine neutrale Bildung. Bildung dient entweder der<br />

Unterdrückung oder der Befreiung. Obwohl sie als ein Konditionierungsprozess<br />

betrachtet wird, kann Bildung auch ein Instrument zur Entkonditionierung sein,<br />

eine erste Wahl ist jedoch erforderlich. 12 Daher war es in Anbetracht des Einflusses<br />

der Macht denkbar, Bildung zur Instrumentalisierung zur Unterdrückung der<br />

kolonisierten Menschen in <strong>Afrika</strong> zu nutzen.<br />

Oftmals trifft man in Texten von europäischen und afrikanischen Autoren<br />

auf Begriffe wie formal und informal education. Im Diskurs nutzten sie es, um<br />

unterscheidbar zu machen, was sie systematisierte Education/Erziehung nannten,<br />

die von den Missionaren und den Kolonialisten übernommen wurde, von den<br />

8<br />

Beispiele dafür sind die Jesuiten, die Lutheraner in Deutschland und die schottischen<br />

Presbyterianer.<br />

9<br />

Vgl. Sorobea N. Bogonko, A History of Modern Education in Kenya (1895–1991),<br />

Nairobi 1992, 10.<br />

10<br />

Vgl. Babs Fafunwa, A History of Education in Nigeria, London 1974, 11–21, 50–54.<br />

11<br />

Philemon Mushi, History and Development of Education in Tanzania, Tanzania 2009.<br />

12<br />

Paulo Freire, Cultural Action for Freedom, Penguin Education: A division of Penguin<br />

Books, London/USA 1974, 9.


114 Christiana Idika<br />

sogenannten traditionellen Bildungssystemen in afrikanischen Ländern. Es ist<br />

sehr fragwürdig, warum das eine formell ist und das andere informell. Dieser Dichotomie<br />

liegt immer ein Machtverhältnis zugrunde. <strong>Afrika</strong>nische Autoren nutzten<br />

diese Dichotomie, um zu verteidigen, dass <strong>Afrika</strong> vor der Ankunft der Missionare<br />

und Kolonialisten »Education« hatte, während die europäischen Autoren<br />

sie heuchlerisch verwenden. Mit anderen Worten geht es dabei keineswegs um<br />

»Education«, aber wir können es dennoch als informell bezeichnen. Allerdings<br />

sind die Kriterien des Formalen und Informellen und ihre normativen Implikationen<br />

zu hinterfragen.<br />

Dennoch kann man das, was als formale Bildung eingestuft wird, in einigen<br />

afrikanischen Ländern koloniale Education of the natives, Mis-Education oder Bantu<br />

Education in Südafrika, in keiner Weise als ›Bildung‹ bezeichnen. Denn eine<br />

Mis-Education oder ›Bildung‹, die im Grunde auf einer fragwürdigen anthropologischen<br />

Prämisse basiert, ist überhaupt keine ›Bildung‹.<br />

Der erste Ansatz dagegen ist das europäische Verständnis von ›Bildung‹, griechisch<br />

oder deutsch, oder das europäische Christentum, wie oben beschrieben.<br />

Das kann nicht verdrängt werden, da trotz europäischer philosophischer Anthropologie,<br />

Aufklärung und Erkenntnisse das Menschsein des <strong>Afrika</strong>ners auf etwas<br />

Minderwertiges reduziert wird. Koloniale, native oder Bantu Education ist nur<br />

dann sinnvoll, wenn sie dem eigentlichen Wort Education hinzugefügt wird. Sie<br />

sagt nichts über »Bildung« aus, denn ihr Ziel ist nicht, afrikanische Menschen<br />

zu bilden im deutschsprachigen Sinne, sondern die Konditionierung, um zahme<br />

Schwarzarbeiter zu produzieren. 13<br />

Der Zweck der sogenannten native Education ist »to equip them to deal with<br />

their environment and fit them to live in their own conditions of life«. 14 Der Ausdruck<br />

klingt sehr bekannt im heutigen afrikanisch-europäischen Diskurs über die afrikanische<br />

Entwicklung. So etwas wie: »<strong>Afrika</strong>nische Antwort auf das afrikanische<br />

Problem«, mit Begriffen wie <strong>Afrika</strong>nisierung, Indigenisierung. Diese Begriffe kommen<br />

immer im Diskurs vor. Aber sagt der Gesprächspartner dasselbe? Vielleicht<br />

auch nicht.<br />

Im Zusammenhang mit dem Zitat ist der Umstand nicht die umweltbedingte,<br />

es handelt sich auch nicht um die ökologische oder kontextuelle Realität der <strong>Afrika</strong>ner,<br />

sondern die beschriebene Situation der Unterwerfung. Dr. Verwoerd, der<br />

Architekt der Bantu Education, sagte:<br />

»Education must train and teach people in accordance with their opportunities in<br />

life, according to ›the sphere in which they live‹. 15 It is important to bear in mind that<br />

both ›their opportunities in life‹ or ›the sphere in which they live‹ are defined by the<br />

13<br />

Isaac Bangani Tabata, Education for Barbarism in South Africa: Bantu Apartheid<br />

education, London 1960, 6.<br />

14<br />

Cf. Rhodesian Herald, April 4, 1903, quoted in Dickson A. Mungazi, Colonial Education<br />

for Africans: George Stark’s Policy in Zimbabwe, New York 1991, 3.<br />

15<br />

Platon argumentierte auch, dass die Form der Bildung für jedes Individuum von seiner<br />

sozialen Stellung abhängt.


Bildung 115<br />

oppressor. By defining this frame of reference, the oppressor makes choices for the<br />

oppressed. He sees to it that their activities remain, strictly within the material and<br />

cultural frame imposed by the oppressive system. Thus, their consciousness is transformed<br />

and guided by those who control the system. For this reason, it is common talk<br />

amongst regime spokesman that, the native needs ›White Christian guardianship‹.« 16<br />

Tatsächlich sagte Rhode im simbabwischen Kontext etwas Ähnliches: »The black<br />

peril will only become a reality when the results of a misguided system of education<br />

has [sic] taken root and the veneer of European civilization struggles with<br />

innate savage nature of the Africa.” 17<br />

Im nigerianischen Kontext ist die Gründung der kolonialen Education nicht<br />

ohne Grund.<br />

Es betrifft auch die Äußerung von Lord Macaulay:<br />

»I have travelled across the length and breadth of Africa and I have not seen one person<br />

who is a beggar, who is a thief, such wealth I have seen in this country, such high<br />

moral values, people of such caliber, that I do not think we would ever conquer this<br />

country, unless we break the very backbone of this nation, which is her spiritual and<br />

cultural heritage and therefore, I propose the we replace her old and ancient education<br />

system, 18 her culture for if the Africans think that all that is foreign and English is<br />

good and greater than their own, they will lose their self-esteem, their native culture<br />

and they will become what we want them, a truly dominated nation.« 19<br />

So lautete das Verständnis von Bildung, das darauf beruhte, was heute als formale<br />

Bildung bezeichnet wird, im Gegensatz zu der sogenannten informellen. Nyerere<br />

von Tansania sagte einmal, dass das post-unabhängige Tansania noch nie über<br />

die Art der Bildung, die sie geerbt hat, nachgedacht hat. 20<br />

Die <strong>Afrika</strong>ner bekamen westliche Bildung, die darauf abzielte, sie zu<br />

›zivilisieren‹. 21 Laut Mkandawire diente Bildung sowohl in der Versklavung als<br />

auch in der Kolonialisierung <strong>Afrika</strong>s dazu, die Versklavten und Kolonisierten zu<br />

entmenschlichen, indem sie ihre Geschichte leugneten und ihre Leistungen und<br />

Kapazitäten verunglimpften. 22<br />

16<br />

Tabata, Education for Barbarianism: Bantu Apartheid Education in South Africa 1960<br />

(wie Anm. 13), 5.<br />

17<br />

Cf. Rhodesian Herald, April 4, 1903, quoted in Mungazi (Anm. 14), 8.<br />

18<br />

Hervorhebung von mir.<br />

19<br />

Lord Macaulay in addressing the British Parliament on 2nd February 1835.<br />

20<br />

Julius K Nyerere, Ujamaa: Essays on Socialism, Nairobi, 1968, 44.<br />

21<br />

Dama Mosweunyane, The African Educational Evolution: From Traditional Training<br />

to Formal Education, Higher Education Studies; Vol. 3, No. 4, p. 54, abgerufen am<br />

27. 9. 2020.<br />

22<br />

African intellectuals and nationalism, in: Thandika Makandawira (Hg.), African<br />

intellectuals (10–55). New York, quoted in Dama Mosweunyane, The African Educational<br />

Evolution: From Traditional Training to Formal Education, Higher Education Studies;<br />

Vol. 3, No. 4, p. 54, abgerufen am 27. 9. 2020.


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ISBN 978-3-374-07277-4 // eISBN (PDF) 978-3-374-07278-1<br />

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