FINE - Das Weinmagazin - 58. Ausgabe - 03/2022
FINE DAS WEINMAGAZIN, 58. AUSGABE - 03/2022 SCHLOSS GOBELSBURG TRADITION UND WEITBLICK IM KAMPTAL EDITORIAL Von Dynastien und Revolutionen CHARTA Die FINE-Weinbewertung KAMPTAL Österreichs Wein-K2: Gipfelsturm mit Urgestein KAMPTAL Schloss Gobelsburg: Michael Moosbruggers Visionen BORDEAUX Château Cheval Blanc: Im Galopp zum Öko-Status BORDEAUX Château Lassègue: Weinbau nach Maß BORDEAUX Château Duhart-Milon: Zurück ans Licht DAS GROSSE DUTZEND Château du Tertre: Stilsicher statt modisch LOIRE Clos de la Coulée de Serrant: Pionier der Biodynamie PROVENCE Domaine de Trévallon: Künstlerglück BURGUND Domaine Comte Georges de Vogüé: Geduldsproben TASTING Größen der Côte d’Or aus den Jahren 1996 bis 2010 SÜDFRANKREICH Chant des Cigales: Rosige Aussichten für Chandon TASTING 100 deutsche Spitzen-Spätburgunder von 2019 WORTWECHSEL Warum das deutsche Rotweinwunder kein Wunder ist WEIN & ZEIT Die Anfänge des deutschen Rotweinwunders DIE PIGOTT-KOLUMNE Verblüffende Pinots Noirs aus dem Elsass WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase isst in Erno’s Bistro in Frankfurt TOSKANA Ca’ Marcanda: Angelo Gaja in der Maremma KATALONIEN Purgatori: Ein Zukunftslabor von Familia Torres GENIESSEN Kein Sakrileg: Feine Weine zum Sauerkraut TASTING Pomerol für die Langstrecke: L’Eglise-Clinet NAHE Cornelius Dönnhoff: Wanderer zwischen den Welten ABGANG Der Vater des Geheimrats
FINE DAS WEINMAGAZIN, 58. AUSGABE - 03/2022
SCHLOSS GOBELSBURG
TRADITION UND WEITBLICK IM KAMPTAL
EDITORIAL Von Dynastien und Revolutionen
CHARTA Die FINE-Weinbewertung
KAMPTAL Österreichs Wein-K2: Gipfelsturm mit Urgestein
KAMPTAL Schloss Gobelsburg: Michael Moosbruggers Visionen
BORDEAUX Château Cheval Blanc: Im Galopp zum Öko-Status
BORDEAUX Château Lassègue: Weinbau nach Maß
BORDEAUX Château Duhart-Milon: Zurück ans Licht
DAS GROSSE DUTZEND Château du Tertre: Stilsicher statt modisch
LOIRE Clos de la Coulée de Serrant: Pionier der Biodynamie
PROVENCE Domaine de Trévallon: Künstlerglück
BURGUND Domaine Comte Georges de Vogüé: Geduldsproben
TASTING Größen der Côte d’Or aus den Jahren 1996 bis 2010
SÜDFRANKREICH Chant des Cigales: Rosige Aussichten für Chandon
TASTING 100 deutsche Spitzen-Spätburgunder von 2019
WORTWECHSEL Warum das deutsche Rotweinwunder kein Wunder ist
WEIN & ZEIT Die Anfänge des deutschen Rotweinwunders
DIE PIGOTT-KOLUMNE Verblüffende Pinots Noirs aus dem Elsass
WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase isst in Erno’s Bistro in Frankfurt
TOSKANA Ca’ Marcanda: Angelo Gaja in der Maremma
KATALONIEN Purgatori: Ein Zukunftslabor von Familia Torres
GENIESSEN Kein Sakrileg: Feine Weine zum Sauerkraut
TASTING Pomerol für die Langstrecke: L’Eglise-Clinet
NAHE Cornelius Dönnhoff: Wanderer zwischen den Welten
ABGANG Der Vater des Geheimrats
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3| <strong>2022</strong> Deutschland € 20 Österreich € 21,00 Italien € 24,50 Schweiz chf 35,00 Benelux € 22,90<br />
4 197772 520006 <strong>03</strong><br />
SCHLOSS GOBELSBURG<br />
TRADITION UND WEITBLICK IM KAMPTAL<br />
Bordeaux Burgund 100 deutsche Pinots Noirs Nahe Große Vertikale<br />
Château Cheval Blanc Domaine Comte Spätburgunder List 2019 – Der Weltenwanderer 49 Jahrgänge<br />
wird zum Bio-Gut Georges de Vogüé heimischer Rotwein im Allzeithoch Cornelius Dönnhoff Château L’Eglise-Clinet
<strong>FINE</strong><br />
CHÂTEAU CHEVAL BLANC 26<br />
CHÂTEAU LASSÈGUE 34<br />
CHÂTEAU DUHART-MILON 40<br />
CLOS DE LA COULÉE DE SERRANT 50<br />
DOMAINE DE TRÉVALLON 56<br />
DOMAINE<br />
COMTE GEORGES DE VOGÜÉ 62<br />
GAJA IN DER MAREMMA 112 CORNELIUS DÖNNHOFF 136<br />
6 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> INHALT
DAS WEINMAGAZIN 3|<strong>2022</strong><br />
SPÄTBURGUNDER LIST 2019 78<br />
GRÖSSEN DER CÔTE D’OR 70<br />
VERKOSTUNG L’EGLISE-CLINET 126<br />
SCHLOSS GOBELSBURG 14<br />
9 <strong>FINE</strong> EDITORIAL _________________ Von Dynastien und Revolutionen<br />
11 <strong>FINE</strong> CHARTA ____________________ Die <strong>FINE</strong>-Weinbewertung<br />
12 <strong>FINE</strong> KAMPTAL ___________________ Österreichs Wein-K2: Gipfelsturm mit Urgestein<br />
14 <strong>FINE</strong> KAMPTAL ___________________ Schloss Gobelsburg: Michael Moosbruggers Visionen<br />
26 <strong>FINE</strong> BORDEAUX _________________ Château Cheval Blanc: Im Galopp zum Öko-Status<br />
34 <strong>FINE</strong> BORDEAUX _________________ Château Lassègue: Weinbau nach Maß<br />
40 <strong>FINE</strong> BORDEAUX _________________ Château Duhart-Milon: Zurück ans Licht<br />
46 <strong>FINE</strong> DAS GROSSE DUTZEND ___ Château du Tertre: Stilsicher statt modisch<br />
50 <strong>FINE</strong> LOIRE _______________________ Clos de la Coulée de Serrant: Pionier der Biodynamie<br />
56 <strong>FINE</strong> PROVENCE _________________ Domaine de Trévallon: Künstlerglück<br />
62 <strong>FINE</strong> BURGUND __________________ Domaine Comte Georges de Vogüé: Geduldsproben<br />
70 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Größen der Côte d’Or aus den Jahren 1996 bis 2010<br />
74 <strong>FINE</strong> SÜDFRANKREICH __________ Chant des Cigales: Rosige Aussichten für Chandon<br />
78 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ 100 deutsche Spitzen-Spätburgunder von 2019<br />
94 <strong>FINE</strong> WORTWECHSEL ____________ Warum das deutsche Rotweinwunder kein Wunder ist<br />
96 <strong>FINE</strong> WEIN & ZEIT ________________ Die Anfänge des deutschen Rotweinwunders<br />
102 <strong>FINE</strong> DIE PIGOTT-KOLUMNE _____ Verblüffende Pinots Noirs aus dem Elsass<br />
106 <strong>FINE</strong> WEIN & SPEISEN ___________ Jürgen Dollase isst in Erno’s Bistro in Frankfurt<br />
112 <strong>FINE</strong> TOSKANA __________________ Ca’ Marcanda: Angelo Gaja in der Maremma<br />
118 <strong>FINE</strong> KATALONIEN _______________ Purgatori: Ein Zukunftslabor von Familia Torres<br />
124 <strong>FINE</strong> GENIESSEN ________________ Kein Sakrileg: Feine Weine zum Sauerkraut<br />
126 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Pomerol für die Langstrecke: L’Eglise-Clinet<br />
136 <strong>FINE</strong> NAHE _______________________ Cornelius Dönnhoff: Wanderer zwischen den Welten<br />
146 <strong>FINE</strong> ABGANG ___________________ Der Vater des Geheimrats<br />
INHALT<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 7
KAMPTAL:<br />
GIPFELSTURM<br />
<strong>Das</strong> Kamptal, in Niederösterreich zwischen Kremstal und Weinviertel gelegen, hat in den<br />
vergangenen Jahrzehnten eine so auffällige Entwicklung genommen, dass Weinfreunde<br />
es Österreichs K2 nennen (als Mount Everest gilt ihnen die Wachau).<br />
Seinen Namen verdankt es dem Fluss Kamp,<br />
an dessen Unterlauf das Anbaugebiet liegt,<br />
mit rund 3900 Hektar Rebfläche eines der<br />
größeren des Landes. Die vor kalten Winden<br />
geschützten Südhänge werden großenteils von<br />
Löss dominiert, zudem finden sich in den Hügeln<br />
des Kamptals mineralstoffreiche Urgesteine wie<br />
Granit, Gneis und Glimmerschiefer mit vulkanischen<br />
Bestandteilen. <strong>Das</strong> Kamptal liegt etwas tiefer als die<br />
Wachau im Westen, daher ist die durchschnittliche<br />
Jahrestemperatur rund ein Grad höher. Klimatische<br />
Dynamik entsteht durch die Begegnung von Wärme<br />
aus der heißen Pannonischen Ebene und kühlen<br />
nächtlichen Winden aus dem nördlich angrenzenden<br />
Waldviertel. Die Temperaturunterschiede zwischen<br />
Tag und Nacht steigern auch die Lebendigkeit und<br />
Spannung in den Weinen. Bei den Rebsorten stehen<br />
Riesling und Grüner Veltliner im Mittelpunkt;<br />
daneben hat sich im weißen Bereich Chardonnay,<br />
im roten Zweigelt und Pinot Noir etabliert.<br />
<strong>Das</strong> Zentrum des Kamptals bildet das Städtchen<br />
Langenlois mit seiner jahrhundertealten<br />
12 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> KAMPTAL
MIT URGESTEIN<br />
Weinbautradition und berühmten Lagen wie dem<br />
Zöbinger Heiligenstein, dessen ganz besonderen<br />
Boden ein Wüstensandstein mit vulkanischen<br />
Bestandteilen aus der Perm-Zeit vor 270 Millionen<br />
Jahren bildet. Zu den bekannten und als Erste<br />
Lagen klassifizierten Weinbergen zählen auch die<br />
Langenloiser Ried Spiegel und die für ihre Grünen<br />
Veltliner geschätzte Ried Lamm in Kammern. Wer<br />
sich einen Überblick über das Kamptal und dessen<br />
Weine verschaffen möchte, dem sei ein Besuch<br />
im Loisium in Langenlois empfohlen, einem<br />
futuristischen Hotel mit Vinothek, Restaurant und<br />
Weinmuseum.<br />
Langenlois ist eng verbunden mit Spitzenwinzern<br />
wie Willi Bründlmayer, der die Weine aus<br />
dem Kamptal international bekannt gemacht hat.<br />
Wichtige Impulse kommen heute aus dem nahe<br />
gelegenen Schloss Gobelsburg, das schon im elften<br />
Jahrhundert den Donauraum dominierte. Michael<br />
Moosbrugger hat das traditionsreiche Schlossgut zu<br />
neuem Leben erweckt und zurück an die Spitze im<br />
Gebiet geführt. Außerdem prägt Moosbrugger seine<br />
Branche landesweit seit 15 Jahren als Obmann der<br />
Österreichischen Traditionsweingüter (ÖTW), der<br />
Entsprechung zum Verband Deutscher Prädikatsweingüter<br />
VDP. So ist es nur natürlich, wenn wir die<br />
Beschäftigung mit Österreichs Weinbau, die sich in<br />
den kommenden <strong>FINE</strong>-<strong>Ausgabe</strong>n fortsetzen wird,<br />
auf den nächsten Seiten mit einem Porträt dieses<br />
meinungsfreudigen Ausnahmekönners beginnen.<br />
KAMPTAL <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 13
IM GALOPP<br />
CHÂTEAU CHEVAL BLANC IN SAINT-ÉMILION WAR<br />
DANK GEWAGTER IDEEN ZUM MYTHOS<br />
GEDIEHEN. NUN WANDELT ES<br />
SICH ATEMBERAUBEND<br />
SCHNELL ZU EINEM<br />
ÖKOLOGISCHEN<br />
MUSTERGUT,<br />
OHNE DIE<br />
LEGENDÄRE<br />
QUALITÄT<br />
SEINER WEINE<br />
ZU GEFÄHRDEN<br />
Von BIRTE JANTZEN<br />
Fotos LEIF CARLSSON und ARNE LANDWEHR<br />
26 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> BORDEAUX
INS GRÜNE<br />
Auf den ersten Blick sieht alles ganz klassisch nach Bordeaux aus. Ein Meer<br />
von Reben, ein sandfarbenes Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert mit grauem<br />
Schieferdach und einem Türmchen, spitz wie ein aufgestelltes Katzenohr, ein<br />
vom Star architekten Christian de Portzamparc entworfener Beton-Weinkeller<br />
in geschwungenen Formen mit wundervoll begrünter Dachterrasse, eine Vinothek<br />
mit den edelsten Jahrgängen aus der Geschichte des Weinguts. Aber dann<br />
folgt der zweite Blick: Blühen da etwa Obstbäume mitten zwischen den Reben?<br />
Und seit wann gibt es vor dem Château einen Teich mit Ruderboot?<br />
Wer seit fünf Jahren nicht mehr auf Cheval Blanc<br />
gewesen ist, kann ins Staunen kommen. Im Galopp<br />
verabschiedet sich das legendäre Spitzengut in<br />
Saint-Émilion gerade von der Agronomie des 20. Jahrhunderts<br />
und erkundet neue Wege, den Weinbau grüner, nachhaltiger,<br />
resilienter zu gestalten – weg von der Monokultur, hin zu einem<br />
gesamtheitlich landwirtschaftlichen Modell. <strong>Das</strong> mag erst einmal<br />
nach biodynamischen Prinzipien klingen oder auch nach<br />
einer neuen Marketingstrategie. Es ist aber keins von beiden,<br />
vielmehr handelt es sich um Agrar ökologie. »Wir nennen es<br />
Landwirtschaft des Lebendigen«, sagt schmunzelnd Pierre-<br />
Olivier Clouet, der technische Direktor des Gutes. Er ist bekannt<br />
dafür, den Weinbau sachlich und bodenständig zu betreiben,<br />
Rudolf Steiner zählt gewiss nicht zu seinen Lieblingsautoren.<br />
Spätestens da fragt man sich im Stillen: Wofür steht Cheval<br />
Blanc denn nun wirklich?<br />
BORDEAUX<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 27
ZURÜCK<br />
INS LICHT<br />
EIN CHÂTEAU OHNE SCHLOSS, ABER ALS GRAND CRU KLASSIFIZIERT,<br />
IM ÄUSSERSTEN WINKEL VON PAUILLAC GELEGEN, ABER EIN NACHBAR<br />
VON CHÂTEAU LAFITE – UNTER DEN SPITZENWEINEN DES BORDELAIS<br />
WAR CHÂTEAU DUHART-MILON LANGE EIN ASCHENPUTTEL. HEUTE<br />
WEIST DIE NEUE LEITUNG DER DOMAINES BARONS DE ROTHSCHILD<br />
(LAFITE) DEM GUT SEINEN VERDIENTEN PLATZ IN DER ERSTEN REIHE ZU,<br />
DAS IN DER KLIMAKRISE BESONDERE STÄRKEN ZEIGT<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos JOHANNES GRAU<br />
40 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> BORDEAUX
Milon ist ein eigenartiger Ort – kaum 30 Häuser, die sich um eine einzelne frei stehende<br />
Pinie scharen. Fast alle Einwohner haben mit Wein zu tun, auch wenn es hier kein einziges<br />
Weingut mehr gibt; in das letzte ist eine Craftbeer-Brauerei gezogen. Nichts an diesem<br />
Dorf, das man diplomatisch als schmucklos beschreiben könnte, vermittelt das Gefühl, an<br />
einem Hotspot der Weinwelt zu stehen. Doch folgte man aus der Ortsmitte dem namenlosen<br />
Gässchen direkt nach Osten, erreichte man nach gut 600 Metern Château Lafite,<br />
nähme man die Rue de Lalande nach Südosten, käme man nach etwa der doppelten<br />
Strecke zu Château Mouton-Rothschild.<br />
<strong>Das</strong>s Milon jedem ernsthaften Weinkenner<br />
ein Begriff ist, verdankt es den Weinen, die<br />
nach ihm benannt wurden: neben zahlreichen<br />
heute verschwundenen Crus Bourgeois wie<br />
den Châteaux La Fleur Milon oder Grand-Duroc-<br />
Milon vor allem dem als Grand Cru der 5. Kategorie<br />
klassifizierten Château Clerc Milon und dem einzigen<br />
Quatrième Grand Cru Classé der Appellation<br />
Pauillac, Château Duhart-Milon. Wem diese Namen<br />
nichts sagen, der wird spätestens beim Hinweis<br />
auf die Besitzer hellhörig: Gehört Clerc Milon der<br />
Baronne Philippine de Rothschild, Eigentümerin von<br />
Château Mouton-Rothschild, so zählt Duhart-Milon<br />
ebenso wie Château Lafite zu den Domaines Barons<br />
de Rothschild (DBR). So glanzlos der Ort auch ist,<br />
schmücken seine Weine dennoch die Portfolios des<br />
höchsten Bordelaiser Weinadels.<br />
Davon weiß niemand besser zu erzählen als Eric<br />
Kohler, der sowohl bei Lafite als auch beim benachbarten<br />
Duhart-Milon technischer Direktor ist. Für<br />
ihn verkörpert Duhart-Milon »die perfekte Balance«<br />
zwischen Cabernet Sauvignon und Merlot in Pauillac.<br />
Denn der Boden für den Cabernet besteht hier, wie<br />
Kohler erläutert, »fast nur aus Kieseln und ist sehr<br />
karg, während der von Lafite auch ein wenig Lehm<br />
enthält. Der Merlot steht bei Lafite dagegen großenteils<br />
auf Böden, die eigentlich zu warm für ihn sind,<br />
im Grunde sind das Cabernet-Lagen. In den nördlichen<br />
Lagen von Duhart-Milon gibt es dagegen<br />
›echten‹ Merlot-Boden mit einem hohen Anteil<br />
von Lehm und Kalk.« Darum habe der Wein von<br />
Duhart-Milon mit etwa einem Drittel auch immer<br />
einen höheren Merlot-Anteil.<br />
Diese Eigenart von Duhart-Milon wird noch<br />
deutlicher bei einer Fahrt durch den nördlichen Teil<br />
von Pauillac und einem anschließenden Spaziergang<br />
durch die Weinberge. Die Gegend nördlich des<br />
Bächleins Chenal du Gaët bildet ein geschlossenes<br />
Ganzes, abgegrenzt im Osten durch die Gironde und<br />
im Westen durch die sandigen Hügel der Landes<br />
mit ihrem dichten Koniferenbewuchs; im Norden<br />
markiert die Sumpflandschaft des Jalle du Breuil<br />
die Grenze zur Appellation Saint-Estèphe. Dieser<br />
Sektor bringt die wohl dramatischsten Weine des<br />
Médoc hervor, darunter gleich zwei Erste Gewächse.<br />
<strong>Das</strong> liegt vor allem an den bis zu 30 Meter hohen<br />
»croupes«, den Kieskuppen, die sich nach der Günz-<br />
Eiszeit aus von der Gironde angeschwemmtem<br />
Pyrenäen-Schotter gebildet haben: Diese Bodenformation<br />
speichert Wärme und leitet Wasser gut<br />
ab, ideal für den spät reifenden Cabernet Sauvignon.<br />
Flüsschen und Kieshügel machen den<br />
Nordteil der Appellation heterogen<br />
Während die Landschaft im südlichen Teil von<br />
Pauillac um Château Latour und die beiden Pichons<br />
recht ebenmäßig ist, machen geologische Faltungen<br />
und kleine Flussläufe sie im Norden heterogener.<br />
Markant fallen hier die dominierenden Kieshügel<br />
und -plateaus ins Auge, etwa die Parzelle Perot, mit<br />
ihrer perfekten Südausrichtung und dem steilen<br />
Hang so etwas wie das Herzstück von Lafite, oder<br />
die südwestlich an Duhart-Milon anschließenden<br />
Les Carruades, die erst 1845 in den Besitz von<br />
Lafite kamen, aber dessen vielleicht kompletteste<br />
Grundweine liefern. Auch Duhart verfügt über<br />
einen solchen außergewöhnlichen Kieshügel um<br />
die Parzelle Garrouil Nord, auf der einige der ältesten<br />
Cabernet-Sauvignon-Reben des Gutes stehen.<br />
Die große Bodenkarte der beiden Domänen<br />
Lafite und Duhart-Milon in Eric Kohlers Büro auf<br />
BORDEAUX<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 41
DAS GROSSE DUTZEND<br />
46 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> DAS GROSSE DUTZEND
CHÂTEAU DU TERTRE<br />
Von DIRK WÜRTZ<br />
Fotos GUIDO BITTNER<br />
DAS GROSSE DUTZEND <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 47
HIER ZÄHLT<br />
DAS GROSSE<br />
GANZE<br />
NICOLAS JOLY VERTRAUT AUF DIE KRAFT DER NATUR<br />
EBENSO WIE AUF DIE PRÄSENZ DER VERGANGENHEIT.<br />
EINWÄNDE GEGEN DIESE WELTANSCHAUUNG KÖNNEN<br />
DER VORKÄMPFER DER BIODYNAMIE UND SEINE TOCHTER<br />
VIRGINIE EINFACH MIT IHREM LEGENDÄREN CHENIN<br />
BLANC KONTERN: DER COULÉE DE SERRANT IST NICHT<br />
NUR AN DER LOIRE EINE KATEGORIE FÜR SICH<br />
Von KRISTINE BÄDER<br />
Fotos LEIF CARLSSON<br />
50 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> LOIRE
Die Sonne brennt vom Himmel, zwischen den Reben flimmert die Luft. Es ist heiß an<br />
der Loire, heiß im berühmten Clos de la Coulée de Serrant. Die Trauben für den wohl<br />
bekanntesten Chenin Blanc der Welt sind noch fest und grün, aber die Ernte wird in<br />
diesem Jahr früh beginnen. »Es hat sich viel verändert«, sagt Nicolas Joly, »früher haben<br />
wir Anfang Oktober geerntet, heute lesen wir in der ersten Septemberwoche.« Die Veränderungen<br />
des Klimas lassen sich auch mit Brennnesseltees und anderen Präparaten<br />
nicht aufhalten.<br />
Über Nicolas Joly gibt es viel zu lesen, und<br />
irgendwie ähnelt sich alles ein wenig. <strong>Das</strong><br />
mag daran liegen, dass seine Idee vom Weinmachen<br />
im Prinzip simpel ist – vielleicht die einzige,<br />
die das immer wieder bemühte Credo von »die<br />
Qualität beginnt im Rebberg« und »kontrolliertes<br />
Nichtstun im Keller« konsequent umsetzt. Wissenschaft<br />
und akribische Analyse sind nicht die Welt des<br />
Endsiebzigers. »Wenn ich einen Wein probiere«, sagt<br />
er, »geht es doch darum, ob er mich berührt. Wir<br />
aber haben die Analyse so weit getrieben, dass wir<br />
perfekte Weine haben, die komplett ohne Charme<br />
sind. Solche Weine finde ich schrecklich langweilig.«<br />
Immerhin zählt er in der Rückschau »zu viel Önologie<br />
im Keller« zu den schwersten Fehlern aus der<br />
Anfangszeit seines Weinmachens.<br />
Als Weinmacher will sich der bekennende<br />
Anthroposoph ohnehin nicht verstanden wissen.<br />
Eher als Assistent der Natur, wie er es auf seine<br />
Visitenkarten hat drucken lassen. Früher war Nicolas<br />
Joly Investmentbanker mit einem Abschluss an der<br />
Columbia-Universität und einem hoch dotierten Job<br />
bei JP Morgan, erst in New York, später in London.<br />
Mit 32 Jahren hatte er genug vom Bankgeschäft:<br />
»Wir haben so viel Geld verdient, aber womit und<br />
wofür?« Zurück an der Loire, im Château de la<br />
Roche aux Moines, dem Anwesen seiner Familie,<br />
begann er Wein zu machen. Die Rebberge gab es<br />
LOIRE <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 51
KÜNSTLERGLÜCK<br />
DER DOMAINE DE TRÉVALLON HAT ELOI DÜRRBACH<br />
HÖCHSTEN RUHM VERSCHAFFT, INDEM ER MIT ALLEN<br />
PROVENCE-KLISCHEES BRACH. DER KREATIVE ANSATZ<br />
LAG IN DER FAMILIE – SEINE MUTTER WEBTE TEPPICHE<br />
FÜR PICASSO, ZEICHNUNGEN DES VATERS ZIEREN DIE<br />
ETIKETTEN DES GUTS. HEUTE FÜHRT ELOI DÜRRBACHS<br />
TOCHTER OSTIANE DAS ERBE WEITER<br />
Von BIRTE JANTZEN<br />
Fotos JOHANNES GRAU<br />
<strong>Das</strong> Kalksteinmassiv der Alpilles im Südosten Frankreichs zählt mit seinen teils<br />
bizarr zerfurchten weißen Felsen zu den markantesten Gegenden des Landes.<br />
Ebenso singulär ist die Domaine de Trévallon an den Hängen der Nordseite,<br />
umgeben von Wald und Olivenhainen. Hier entsteht ein Wein, der gekonnt von<br />
allen Provence-Klischees befreit worden ist und doch provenzalischer nicht<br />
sein könnte – ein würdiges Denkmal für den 2021 mit 71 Jahren verstorbenen<br />
Eloi Dürrbach. Der hat geschaff, was seinerzeit längst überfällig war: rote und<br />
weiße Weine zu keltern, die dieses fantastische Terroir auf internationalem<br />
Top-Niveau repräsentieren.<br />
Mittlerweile haben die Weine von Trévallon Kultstatus<br />
und werden nur noch auf Allokation verkauft. Zum<br />
Bedauern so mancher Liebhaber ist und bleibt die<br />
Produktion auf rund 55 000 Flaschen im Jahr begrenzt. Mehr<br />
als die bestehenden 17 Hektar Reben zu pflanzen, lehnt die<br />
Familie ab, denn auf Trévallon stehen zwei Dinge über allen<br />
anderen: Respekt vor der Natur und Qualität ohne Kompromisse.<br />
Wer sich mit Eloi Dürrbach unterhielt, ahnte rasch, dass<br />
dessen Erfolgsgeschichte nicht ohne Hindernisse hatte verlaufen<br />
können – Dürrbach war engagiert, ehrlich und sensibel,<br />
aber auch dickköpfig, und er nahm kein Blatt vor den Mund,<br />
womit er sich in Les Baux-de-Provence nicht nur Freunde<br />
gemacht hat. Wein war für ihn ein Stück Kunsthandwerk, vergängliches<br />
Abbild einer Natur, für die er sich sein Leben lang<br />
einsetzte als unermüdliche Frontfigur einer Provence jenseits<br />
der Massenrosés. Als Les Baux-de-Provence 1995 eine eigenständige<br />
AOP wurde, bot man Dürrbach an, Vorsitzender der<br />
neuen Appellation zu werden. Er lehnte ab. Kaum ein Jahr<br />
später wurden die Regularien so abgeändert, dass nur ein einziges<br />
Weingut sie nicht mehr erfüllen konnte: Trévallon. »<strong>Das</strong><br />
war damals sicher brutal für ihn«, sagt nachdenklich seine<br />
56 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> PROVENCE
PROVENCE<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 57
GEDULDSPROBE<br />
AUF HÖCHSTEM NIVEAU<br />
WEHE, DIE FLASCHEN KOMMEN ZU FRÜH AUS<br />
DEM KELLER! DIE GRANDS CRUS DER DOMAINE<br />
COMTE GEORGES DE VOGÜÉ BRAUCHEN<br />
JAHRZEHNTE, UM ZUGÄNGLICH ZU WERDEN.<br />
DOCH SELBST HIER IN BURGUND WIRD DAS<br />
WARTEN NUR SELTEN SO REICH BELOHNT<br />
Von SIGI HISS<br />
Fotos ARNE LANDWEHR<br />
62 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> BURGUND
Kellermeister Jean Lupatelli (l.)<br />
und Verwalter Jean-Luc Pépin<br />
BURGUND <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 63
78 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> TASTING
SPÄTBURGUNDER<br />
LIST 2019<br />
TASTING <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 79
<strong>FINE</strong> TASTING | SPÄTBURGUNDER LIST 2019<br />
SPÄTBURGUNDER<br />
DAS NÄCHSTE LEVEL<br />
Neuauflage in Rot: Hatten voriges Jahr das Handelshaus URSUS Wineries und <strong>FINE</strong> aus<br />
deutschen Rieslingen die besten herausschmecken lassen, ging es im Hattenheimer<br />
Kronenschlösschen diesmal um heimische Spätburgunder. Neben der Gelegenheit, den<br />
aktuellen Qualitätsstand auszuloten, bot die dreitägige Blindprobe der Spätburgunder List<br />
2019 mit 100 Spitzenweinen aus zehn Anbaugebieten auch Anlass zu grundsätzlichen<br />
Betrachtungen von Geschichte, Stilistik und jüngster Entwicklung des hiesigen Pinot Noir<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos GUIDO BITTNER und ARNE LANDWEHR<br />
Es war eine Probe auf historischem Boden: Am 11. November 1470 hatte eine örtliche<br />
Bruderschaft einige Parzellen mit Reben erhalten, unter anderem im Hattenheimer Proffen,<br />
den die Stiftungsurkunde als »clebroitwyngart« bezeichnet. Diese Erläuterung »Klebrot-<br />
Weingarten« ist nicht nur für Historiker interessant, denn Klebrot ist der alte rheinländische<br />
Ausdruck für Spätburgunder – das macht das Dokument dieser Schenkung<br />
zum ersten echten Nachweis der Rotweinrebe im Rheingau. 552 Jahre später, im August<br />
<strong>2022</strong>, waren zwei Weine aus der Hattenheimer Hassel, zu der das Gewann Proffen gehört,<br />
unter den Top 100 der deutschen Spätburgunder.<br />
Eine lange Geschichte hat diese Rebsorte<br />
also, die 2021 mit 11 602 Hektar Fläche in<br />
Deutschland nach dem Riesling am weitesten<br />
verbreitet war. Der Legende nach soll bereits Karl<br />
der Große sie zum Anbau empfohlen haben; wahrscheinlicher<br />
ist, dass sie im 14. Jahrhundert durch<br />
Zisterziensermönche aus Burgund hierhergelangt<br />
ist. Die Premiers und Grands Crus der dortigen<br />
Côte d’Or bilden bis heute eine beständige Messlatte,<br />
und mit der Ausbreitung des Pinot Noir in<br />
andere europäische Regionen und nach Übersee<br />
hat sich die Konkurrenz vervielfältigt. Seine<br />
Bedeutung wird dem deutschen Spätburgunder<br />
jedenfalls schon wegen des Produktionsvolumens<br />
niemand absprechen, liegen wir doch international<br />
nach Frankreich und den USA auf Platz drei.<br />
Die bloße Menge ist bei ernsthaften Diskussionen<br />
über Weine allerdings Nebensache, und so ging es<br />
auch bei der außergewöhnlichen Probe zur Spätburgunder<br />
List 2019 um ganz andere Fragen: Welches<br />
Sortenprofil hat der deutsche Spätburgunder heute?<br />
Drückt es sich analog zu Frankreich in erkennbar<br />
unterschiedlichen Terroirs aus? Lassen sich hierzulande<br />
nicht nur Spitzen-Rotweinwinzer benennen,<br />
sondern auch Regionen, aus denen die besten Spätburgunder<br />
kommen – und knüpfen deren Erzeuger<br />
an Traditionen an, oder erfinden sie sich gerade neu?<br />
Sortenprofil im Wandel<br />
Genetisch bedingt enthält Pinot Noir beziehungsweise<br />
Spätburgunder grundsätzlich wenig Anthocyane,<br />
also Farbstoffe. Dieser naturgegebene Mangel<br />
lässt sich allerdings durch die Wahl kleinbeeriger<br />
Klone, niedrige Erntemengen und kellertechnische<br />
Eingriffe bis zu einem gewissen Grad ausgleichen.<br />
Obwohl auch Rotweine aus Burgund in den 70erund<br />
80er-Jahren vor allem durch die Wahl hochproduktiver<br />
Reben buchstäblich an Farbe verloren,<br />
galten französische Pinots Noirs lange Zeit<br />
im Vergleich zu Spätburgundern als tendenziell<br />
dunkler. <strong>Das</strong> lag am Streben deutscher Rebzüchter<br />
80 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> TASTING
SPÄTBURGUNDER LIST 2019 | <strong>FINE</strong> TASTING<br />
nach lockerbeerigen, ertragreichen Klonen sowie<br />
am Verzicht hiesiger Kellermeister auf längere<br />
Maischestandzeiten und, zumindest bis Mitte der<br />
80er-Jahre, auf den Ausbau in kleinen Holzfässern –<br />
eine Stilistik, wie sie als Modell der »Sortentypizität«<br />
insbesondere die Qualitätsweinprüfungen seit<br />
1971 prägte. Ein Kapitel für sich war daneben die<br />
deutsche Spezialität, Spätburgunder-Moste als Weißherbste<br />
auszubauen.<br />
Eng verknüpft mit den Maßnahmen in Weinberg<br />
und Keller sind Aromenprofil und Mundgefühl, die<br />
sogenannte Textur. Seit Ann C. Nobles »Aromarad«<br />
ist es beliebt, Rebsorten bestimmte Gerüche zuzuordnen.<br />
Als »Leitaromen« des Spätburgunders<br />
nennt etwa »Frenzels Weinschule« Himbeere, Sauerkirsche,<br />
Herbstwald und Tomatenstaude. <strong>Das</strong> ist zur<br />
ersten Orientierung hilfreich, genauer betrachtet<br />
aber hängen diese Aromen von allerlei Faktoren<br />
ab, die beim viel beschworenen Terroir anfangen<br />
und mit der Wahl des Fasses längst nicht aufhören.<br />
So hatte die oben beschriebene deutsche Machart<br />
Weine hervorgebracht, an denen ein Mandelton<br />
gerühmt wurde und deren Aromen mit Himbeersirup<br />
beschrieben wurde. Nicht zuletzt ein gehöriger<br />
Anteil Restsüße sicherte die Akzeptanz bei Verbrauchern,<br />
die milde, bekömmliche und »nicht zu<br />
herbe« Weine suchten.<br />
Obwohl in Deutschland auch nach 1945 einzelne<br />
Partisanen den klassischen Prinzipien der Rotweinbereitung<br />
wie Maischegärung, trockenem Ausbau<br />
oder Reifung im Holzfass die Treue gehalten hatten,<br />
begann erst um 1980 die eigentliche Renaissance<br />
der heimischen Spätburgunder-Kultur. Die kurz<br />
zuvor gegründete Zeitschrift »Alles über Wein« veranstaltete<br />
im August 1983 eine erste Probe trockener<br />
deutscher Spätburgunder, an der sich immerhin<br />
32 Güter aus sechs Anbaugebieten beteiligten. Wie<br />
weit man damals noch von einem modernen Spätburgunder-Verständnis<br />
entfernt war, belegt der<br />
Siegerwein – eine 1979er trockene Beerenauslese<br />
vom Walporzheimer Kräuterberg des Ahr-Rebellen<br />
Alois Grimminger. Der Durchbruch kam erst ein<br />
paar Jahre später, als Pioniere wie August Kesseler<br />
im Rheingau, Robert Bauer in Württemberg und<br />
Franz Keller in Baden Spätburgunder in Barriques<br />
ausbauten: Auf die Renaissance des Rieslings folgte<br />
der zweite Teil des deutschen Weinwunders.<br />
Dabei wurde das kleine Holzfass zwar ein<br />
Symbol der neuen Zeit, war aber beileibe nicht der<br />
einzige Faktor. Standortwahl, französische Klone,<br />
temperaturkontrollierte Gärung, französische Küfer:<br />
Im intensiven Austausch mit dem Vorbild Burgund,<br />
später auch mit Spitzenwinzern der Neuen Welt,<br />
verwandelte sich der heimische Spätburgunder in<br />
einen deutschen Pinot Noir. Spätestens als 2016 das<br />
britische <strong>Weinmagazin</strong> »Decanter« zum Thema<br />
»Pinot Noir: The world’s best (outside Burgundy)«<br />
einen Spätburgunder Alte Reben vom Ahr-Gut Jean<br />
Stodden auf den Titel setzte, konnte deutscher Rotwein<br />
auch international als anerkannt gelten. Wer<br />
freilich im heimischen Supermarkt eine Flasche Spätburgunder<br />
erwirbt, kann ein unangenehmes Déjàvu<br />
erleben: Die Gespenster der Vergangenheit sind<br />
in vielen Kellereien putzmunter, sodass bis heute<br />
von einem einheitlichen Spätburgunder-Profil in<br />
Deutschland nicht die Rede sein kann.<br />
Um die Vielfalt der deutschen Spätburgunder-<br />
Ausprägungen etwas zu ordnen, hat die Önologie<br />
verschiedene Klassifizierungen vorgeschlagen. So<br />
unterscheidet Herbert Krebs vom Staatlichen Weinbauinstitut<br />
Freiburg einen »Fruchttyp« und einen<br />
»romanischen Typ«, wobei ersterer sich durch deutliche<br />
Kirsch- und Brombeernoten bei sehr dezenten<br />
Gerbstoffen und milder Säure auszeichne, während<br />
letzterer deutlicher von Gerbstoffen und etwas<br />
kräuterigen, herben Noten geprägt sei. In einer groß<br />
angelegten Sensorikstudie hatten Gergely Szolnoki<br />
und Torsten Proschwitz 2013 in Geisenheim drei<br />
unterschiedliche Typen ausgemacht: den leichten,<br />
fruchtigen Spätburgunder, geprägt von Primäraromen<br />
roter Früchte wie Himbeere, Erdbeere<br />
und Roter Johannisbeere, den mittelschweren Spätburgunder,<br />
intensiver in Farbe, Aroma, Körper und<br />
Tannin, mit mehr hellen als dunklen Früchten sowie<br />
Noten von Leder und getoastetem Eichenholz, sowie<br />
als dritten Typus tiefdunkle, reifere und komplexe<br />
Weine mit kräftigem Körper, intensiven Aromen<br />
und markanter Tanninstruktur. Hier herrschen im<br />
Bukett dunkle Früchte und Tertiäraromen vor wie<br />
Cassis, Schwarzkirsche, Trockenobst, Lakritz, Tabak,<br />
Kaffee, Leder und vor allem getoastete Eiche.<br />
Da das aktuelle Tasting Deutschlands 100 beste<br />
trockene Spätburgunder des Jahrgangs 2019<br />
umfassen sollte, erstaunt es nicht, dass die in<br />
Hattenheim versammelten Weine ausnahmslos als<br />
»romanische Typen« gelten konnten beziehungsweise<br />
in die Gruppen zwei und drei der Geisenheimer<br />
Gliederung fielen. Dabei ist der Einfluss<br />
des Holzfasses im vergangenen Jahrzehnt spürbar<br />
zurückgegangen, oder er wird von der neuen Winzergeneration<br />
besser integriert. <strong>Das</strong> liegt einmal daran,<br />
dass weniger Neuholz eingesetzt wird und statt der<br />
klassischen burgundischen 228-Liter-Barriques auch<br />
größere Gebinde zum Einsatz kommen oder gar<br />
in Gefäßen aus Ton oder Zement ausgebaut wird –<br />
ein Trend, der zuvor schon in Frankreich eingesetzt<br />
hatte. Zudem zeigten manche Weine ausgesprochen<br />
reduktive Noten, die von manchen Juroren auch<br />
Inbegriff einer deutschen Rotweinlage:<br />
der Höllenberg bei Assmannshausen<br />
kritisch beurteilt wurden. Dabei gilt die Minimierung<br />
von Sauerstoffeinwirkung bis zum Abstich als ein<br />
wesentlicher Schritt hin zu möglichst puren, »durchlüfteten«<br />
Weinen, die das entschiedene Gegenbild zu<br />
den alkoholreichen, überextrahierten Pinots Noirs<br />
der 1990er- und 2000er-Jahre bilden.<br />
Auch dies ist in gewisser Weise eine Mode:<br />
Gerade einmal vier Jahre ist es her, dass Andrew<br />
Jefford im »Decanter« über »purity« als neues Ideal<br />
für Winzer geschrieben hat, und Patrick Landanger,<br />
Kellermeister beim burgundischen Spitzengut La<br />
Pousse d’Or, hat 2015 für »Bourgogne Aujourd’hui«<br />
konkret erzählt, wie diese Vorstellung die Winzerschaft<br />
erreicht hat. Er habe den US-Weinkritiker<br />
Allen Meadows gefragt, was für ihn den Unterschied<br />
zwischen einem Wein von 92 und einem von 97<br />
Punkten ausmache, und Meadows’ Antwort habe<br />
gelautet: »La pureté, la droiture« (»die Reinheit, die<br />
Aufrichtigkeit«). <strong>Das</strong> war eine Botschaft, die schnell<br />
um die Welt ging und natürlich auch Deutschland<br />
erreichte. Dem Ziel der »Reinheit«, von anderen<br />
mit »größere Präzision« umschrieben, dienten möglichst<br />
präzise Lesezeitpunkte, ermittelt mit Messsonden<br />
am Boden und Drohnenüberwachung,<br />
ebenso wie kellertechnische Innovationen: immer<br />
ausgefeiltere Sortiertische, stufenlos einstellbare<br />
Abbeer-Maschinen mit Entrappungsgraden von 100<br />
bis null Prozent für eine mögliche Ganztraubenpressung,<br />
schonende pneumatische Pressen und<br />
digital steuerbare thermoregulierte Gärtanks. Solche<br />
Entwicklungen haben bereits die Weine von Burgund<br />
tiefgehend verändert, und ihre Auswirkungen waren<br />
auch in der Hattenheimer Verkostung spürbar.<br />
Auf der Suche nach dem Terroir<br />
Besonders »reinen Wein« zu produzieren, war<br />
schon immer ein Ziel der Winzer – sei es, um sich<br />
von Fälschungen abzusetzen, sei es, um als irrig<br />
angesehene Tendenzen rückgängig zu machen. Heute<br />
wird das Narrativ des puren Weins bestimmt von dem,<br />
was in ihm sichtbar werden soll: dem Terroir, dem er<br />
entstammt. Folgt man der klassischen Definition von<br />
Cornelis van Leeuwen und Gérard Seguin, umfasst<br />
dieses Terroir »die Beziehung zwischen den Eigenschaften<br />
eines landwirtschaftlichen Erzeugnisses<br />
TASTING <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 81
DANIEL DECKERS<br />
Foto: Privatbesitz<br />
»AUF IHRE ART<br />
PERFEKT«<br />
DAS DEUTSCHE ROTWEINWUNDER –<br />
VERSUCH EINER REKONSTRUKTION<br />
Als der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) im September 2002 eine neue<br />
Kategorie von Spitzenweinen namens »Großes Gewächs« (GG) vorstellte, kam dies einer<br />
kleinen Revolution gleich. Zwar hatten noch weit ins 20. Jahrhundert hinein Grands Crus<br />
aus Deutschland international in hohem Ansehen gestanden. Doch waren die »Hocks« und<br />
»Moselles«, die man in den Grandhotels der Welt, den Londoner Klubs oder an den Tafeln<br />
der Reichen und Mächtigen serviert hatte, ausschließlich Weißweine und nur in Ausnahmefällen<br />
geschmacklich trocken gewesen.<br />
96 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> WEIN & ZEIT
Abbildung: Nach dtv-Lexikon des deutschen Weins von Helmut Hochrain<br />
Erst vor diesem Hintergrund ist zu ermessen,<br />
was die Etablierung der Kategorie Großes<br />
Gewächs bedeutete: Der VDP brach mit einer<br />
jahrhundertealten Tradition, und das gleich dreifach.<br />
Denn erstens konnte von nun an auch ein Wein<br />
ohne oder mit nur wenig Restsüße den Anspruch<br />
untermauern, deutsche Weißweine zählten zu den<br />
besten der Welt. Zweitens sollte der Grand-Cru-<br />
Status nicht länger zwingend mit der Rieslingtraube<br />
verknüpft sein. Für die Erzeugung von GG sollten je<br />
nach Region auch andere weiße Rebsorten infrage<br />
kommen, in Franken etwa der Silvaner und in Baden<br />
der Grau- und sogar der erst seit wenigen Jahren<br />
geschätzte Weißburgunder. Über diesen kühnen<br />
Ansagen verschwand die dritte Neuerung fast im<br />
Kleingedruckten: Nicht nur Weißweine sollten den<br />
Ruf der deutschen Winzerkunst in alle Welt tragen,<br />
sondern auch trocken ausgebaute Rotweine.<br />
Dieser Anspruch war zwar kühn, doch nicht vermessen,<br />
daran bleibt 20 Jahre nach der ersten GG-<br />
Präsentation in Berlin kein Zweifel – auch und gerade<br />
hinsichtlich des Rotweins. Spätburgunder von der<br />
Ahr, aus der Pfalz und aus Baden oder Lemberger<br />
aus Württemberg erfahren längst über Deutschland<br />
hinaus die Anerkennung, die sie verdienen. <strong>Das</strong>s es<br />
so kommen würde, war 2002 aber nicht mehr als<br />
eine Hoffnung. Denn um die Jahrhundertwende<br />
war es kaum 20 Jahre her, dass einige wenige junge<br />
Winzer gewagt hatten, sich die großen Rotweine<br />
anderer Länder zum Vorbild zu nehmen.<br />
Zu kurz gedacht: Ein Spätburgunder<br />
ist nicht einfach ein Riesling in Rot<br />
Nun sind zwei Jahrzehnte in der Welt des Weins<br />
generell eine bescheidene Zeitspanne. Wie kurz<br />
erst war sie für das Unterfangen, große Rotweine zu<br />
erzeugen, wie sie in Deutschland nie zuvor gemacht<br />
worden waren! Rotweinbereitung verlangt eben<br />
nicht einfach andere Gärbehälter oder andere Hefen<br />
als jene, die man für Weißweine braucht, auch wenn<br />
diese Idee während der 70er- und 80er-Jahre in den<br />
Köpfen vieler Winzer herumspukte. Ein charaktervoller<br />
Spätburgunder oder ein körperreicher Lemberger<br />
waren eben nicht Rieslinge in Rot, sondern<br />
setzten ein önologisches Wissen und Können voraus,<br />
das durch Erfahrung gewonnen werden musste und<br />
in einem klassischen, für Weißweine bekannten<br />
Betrieb schlicht nicht vorhanden war. Große<br />
Unbekannte waren vor allem die Wirkungsweise<br />
des biologischen Säureabbaus anstelle der gängigen<br />
chemischen Entsäuerung des Mostes sowie der Sinn<br />
des Einsatzes von kleinen Gebinden aus neuem<br />
Holz anstelle großer Fässer während der Gärung<br />
und Lagerung. Fraglich war aber auch, ob man farbstarke<br />
Weine ohne technische Hilfsmittel wie Spiraloder<br />
Plattenwärmetauscher zur Maischeerhitzung<br />
erzeugen könne und wie sich die allgegenwärtigen<br />
spanischen Deckrotweine überflüssig machen ließen,<br />
mit denen deutsche Kellermeister routiniert einen<br />
Mangel an Farbe, ein Zuwenig an Alkohol und das<br />
Fehlen von Süße wegretuschierten.<br />
2002 waren sich daher alle aufstrebenden Rotweinerzeuger<br />
unter dem Dach des VDP nur in einem<br />
sicher: Ihr Weg war noch lange nicht zu Ende. Sofern<br />
es dafür eines Beweises bedurft hatte, lieferten ihn<br />
die Güter bei der Premiere der neuen heimischen<br />
Spitzenklasse in Berlin gleich mit: Nur zwei von<br />
ihnen, Dr. Wehrheim aus Siebeldingen in der Pfalz<br />
und Kühling-Gillot aus Bodenheim in Rheinhessen,<br />
hatten überhaupt Spätburgunder-Flaschen mitgebracht<br />
– und das, obwohl sich längst mehr als nur<br />
eine Handvoll der annähernd 200 VDP-Mitglieder<br />
auch mit Rotweinen einen Namen gemacht hatten.<br />
Hier ist nicht der Platz, um die Evolution der<br />
deutschen Rotweinszene in den beiden vergangenen<br />
Jahrzehnten nachzuzeichnen. Gezeigt werden soll<br />
nur, warum es nicht übertrieben ist, mit Blick auf<br />
das Jahr 2002 von einer Revolution zu sprechen.<br />
Oder um eine andere Metapher zu bemühen: Mit der<br />
Präsentation der ersten GG kam eine Entwicklung<br />
zum vorläufigen Abschluss, die man als das deutsche<br />
Rotweinwunder bezeichnen kann.<br />
»Die Nachfrage nach gebiets- und sortentypischen<br />
aromatischen feinherben Rotweinen<br />
ist beachtlich«, war im April 1987 im Vorspann<br />
eines Beitrags über Rotweinmaischebehälter in<br />
A<br />
der Zeitschrift »Der deutsche Weinbau« zu lesen:<br />
»Neuerdings triff man auch wieder mehr auf die<br />
Meinung, dass solche Rotweine einen feinen Gerbsäuregeschmack<br />
aufzeigen dürfen.« Woher dieser<br />
Trend kam, wovon die neuen Rotweine sich absetzen<br />
sollten und wo sie erzeugt wurden, war dem Artikel<br />
nicht zu entnehmen. Sollten sie dem allgegenwärtigen<br />
Amselfelder Paroli bieten oder anderen<br />
»lieblichen« Weinen wie Lambrusco und Chianti,<br />
mit denen die tonangebenden Kellereien die Supermarktregale<br />
fluteten? Wollte man den dünnen, fast<br />
durchgängig mit spanischen Deckweinen und/oder<br />
Traubenlese Traubentransport Traubenannahme = 100%<br />
RAPPEN Kämme 3–5%<br />
1. ROTWEIN durch<br />
VERGÄRUNG DER MAISCHE<br />
CO2<br />
H2O<br />
B<br />
C<br />
D<br />
MAISCHE-Gärtanks<br />
4 Tage<br />
Wirzwein<br />
Vergärung im Holzfass<br />
ROTWEINBEREITUNG<br />
MAISCHE = (Saft, Kerne, Hülsen = 95–97%)<br />
Maische nach Bedarf schwefeln<br />
PRESSE<br />
Nachgärung<br />
biolog. Säureabbau<br />
1. Abstich und Schwefelung Ausbauschönung 2. Abstich Klärfiltration<br />
FLASCHENLAGER<br />
Nachdruck<br />
3. WEISSHERBST<br />
TRESTER<br />
KOHLENSÄURE<br />
HEFE<br />
E<br />
AUFBEREITEN = Mahlen, Abbeeren<br />
a) ohne<br />
60° C sofort<br />
2. ROTWEIN durch<br />
MAISCHE-ERHITZUNG<br />
b) mit<br />
Standzeit<br />
oder<br />
Preßmost zur Gärung<br />
WEIN & ZEIT XLIV<br />
Die Maische zu erhitzen,<br />
war eine gängige Praxis:<br />
So lief um 1980 die<br />
Rotweinbereitung ab<br />
2 Std. bei 45° C<br />
Gärung im Tank oder Fass<br />
Flaschenabfüllung<br />
halbautomatisch<br />
CO2<br />
WEIN & ZEIT <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 97
112 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> TOSKANA<br />
LOHN DER
AUSDAUER<br />
CA’ MARCANDA IST<br />
PIEMONTESISCH UND<br />
HEISST SO VIEL WIE<br />
»HAUS DER FEILSCHEREI«:<br />
18 TREFFEN BRAUCHTE<br />
ANGELO GAJA, UM SEIN<br />
TOSKANISCHES GUT<br />
DEN VORBESITZERN<br />
ABZUHANDELN. VON DER<br />
MÜHE PROFITIEREN AUCH<br />
SEINE KINDER ROSANNA,<br />
GAIA UND GIOVANNI,<br />
INZWISCHEN SCHON<br />
MIT DEM 20. JAHRGANG<br />
Von RAINER SCHÄFER<br />
Fotos ANDREAS HANTSCHKE<br />
TOSKANA<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 113
REBEN IM<br />
WÜSTENHITZE IM SOMMER, EISIGE PYRENÄENWINDE IM<br />
WINTER: WEIN BAU AN DEN AUSLÄUFERN DES FLUSSES SEGRE<br />
WAR EINST DIE STRAF ARBEIT FÜR SÜNDIGE MÖNCHE. SEIT<br />
1999 STELLT SICH FAMILIA TORRES IM GUT PURGATORI DEN<br />
EXTREMEN HERAUSFORDERUNGEN DES NORD WESTLICHEN<br />
KATALONIENS. DORT ENTSTEHEN MITTLERWEILE NICHT<br />
NUR HERVOR RAGENDE ROTWEINE, ES DIENT ZUGLEICH ALS<br />
ZUKUNFTS LABOR FÜR DEN WEINBAU VON MORGEN<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos JOHANNES GRAU<br />
118 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> KATALONIEN
FEGEFEUER<br />
Am tiefsten verwurzelt sind hier nicht die Rebstöcke. Nähert man sich dem Weingut<br />
Purgatori von der Autopista del Nordeste, sieht man schnell, was in dieser Gegend bis<br />
heute vorherrscht: Oliven. Kilometer an Kilometer reihen sich jahrhundertealte Anlagen,<br />
gut 100 Hektar davon im Besitz der Familie Torres. »Wir produzieren zwei Virgen-Extra-<br />
Öle von hier«, erklärt Miguel Torres Maczassek, der geschäftsführende Direktor von<br />
Familia Torres, »das reinsortige El Silencio aus Arbequina-Oliven und dann vor allem<br />
die Cuvée Purgatori, in der neben Arbequina auch die Sorten Picudo, Rojal und Farga<br />
eine Rolle spielen. Beide sind wirklich gut.« <strong>Das</strong> ist etwas untertrieben, wie so vieles, was<br />
der noch jugendlich wirkende Chef eines der größten Weingüter Spaniens sagt – bei der<br />
NYIOOC World Olive Oil Competition <strong>2022</strong> sind El Silencio und Purgatori in die Liste<br />
der besten Olivenöle der Welt aufgenommen worden.<br />
Olivenöl war auch das wichtigste Produkt des<br />
gut 870 Hektar umfassenden Agrarbetriebs<br />
Mas de l’Aranyó in der katalanischen Provinz<br />
Lleida, als ihn die Familie Torres 1999 übernahm.<br />
Die letzten Reben hingegen waren 1987 gerodet<br />
worden, dabei hatten die Weine aus dem Bezirk<br />
(katalanisch: comarca) Les Garrigues gerade durch<br />
die Gründung der Appellation Costers del Segre<br />
den gesetzlich geschützten DO-Status bekommen.<br />
Doch für das hiesige Olivenöl gab es bereits seit<br />
1975 eine eigene DOP Les Garrigues – die erste für<br />
spanisches Öl überhaupt. Kein Wunder, dass sich die<br />
Eigentümerfamilie Figuerola i Ferrer aus Barcelona<br />
ganz auf das grüne Gold konzentrieren wollte. Die<br />
Idee von Torres aber war, erneut auf Wein zu setzen.<br />
<strong>Das</strong> Projekt war, gelinde gesagt, ambitioniert.<br />
Sicherlich war an dieser Stelle, wie archäologische<br />
Fundstücke zeigen, schon vor Jahrtausenden Wein<br />
angebaut worden. Die Landschaft um die alte<br />
aragonesische Königsresidenz Lleida war Teil einer<br />
natürlichen Binnensenke, der Depressió Central –<br />
der Ausdruck beschreibt gut den fragwürdigen<br />
Charme dieser Gegend zwischen den Pyrenäen<br />
und ihren Ausläufern einerseits und den küstennahen<br />
Gebirgsketten der Berge von Prades und<br />
von Montsant andererseits. Der von den Pyrenäen<br />
kommende und schließlich in den Ebro mündende<br />
Fluss Segre teilt die Hochebene in einen nordwestlichen<br />
und einen südöstlichen Bereich, doch nur<br />
wenig abseits seiner fruchtbaren Ufer versteppen<br />
ohne künstliche Bewässerung bereits die Böden.<br />
Die Comarca Les Garrigues etwa, die im Süden ans<br />
Priorat und im Osten an die Conca de Barberà grenzt,<br />
KATALONIEN<br />
<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 119
POMEROL FÜR DIE<br />
49 JAHRGÄNGE L‘EGLISE-CLINET – GROSSE<br />
Ein Erweckungserlebnis – so beschreibt Torsten Görke seine erste Begegnung mit einer<br />
Flasche L’Eglise-Clinet. Lange Zeit hatte Wein ihm wenig bedeutet, obwohl er als Sohn<br />
des so prominenten wie umstrittenen Sammlers und Händlers Hardy Rodenstock gewiss<br />
genug Gelegenheiten zum Probieren gehabt hatte. Dieser ganz besondere Pomerol aber<br />
ließ ihn aufmerken, und zwar derart nachhaltig, dass Görke schließlich Wein sogar zu<br />
seinem Beruf machte: 2008 stieg er aus der Werbebranche aus und übernahm in Essen<br />
den Weinhandel Bürgerheim.<br />
Fotos ANDREAS HANTSCHKE<br />
Die Macht, Biografien zu verändern, verdankt<br />
Château L’Eglise-Clinet natürlich<br />
wesentlich seinen vorzüglichen Böden und<br />
einem Rebbestand, der zu einem Gutteil die Frostkatastrophe<br />
von 1956 überlebt hat. Zur Spitze der<br />
Region schloss es aber erst auf, als Denis Durantou<br />
das kleine Familiengut nach Jahrzehnten der Verpachtung<br />
selbst übernahm und 1983 seinen ersten<br />
eigenen Jahrgang abfüllte. Der stille Perfektionist<br />
erneuerte über die Jahre Keller wie Rebberge und<br />
schaffe spätestens mit dem 1998er auch international<br />
den Durchbruch. Rodenstock wiederum<br />
hatte schon in den 80er-Jahren die Qualitäten des<br />
126 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> TASTING
LANGSTRECKE<br />
GEGENWART UND REICHE ZUKUNFT<br />
Châteaus erkannt. Da er wusste, dass die Winzer<br />
von Pomerol ihre Weine traditionell weniger über<br />
Bordeaux als direkt nach Paris oder Belgien verkauften,<br />
schickte er einen Kontaktmann in Brüssels<br />
Villenvierteln von Tür zu Tür, um nach alten Flaschen<br />
von Pétrus und L’Eglise-Clinet zu fragen. Ebenfalls<br />
zu den Bewunderern des Guts zählt der Kritiker<br />
Robert Parker, dem die Jahrgänge 2005 und 2010<br />
glatte 100 Punkte wert waren.<br />
Wenn die Weine von L’Eglise-Clinet abgefüllt<br />
werden, durchleben sie meist eine kurze Phase, die<br />
Torsten Görke als »sehr sexy« beschreibt. Nach<br />
diesem Zeitfenster aber verschließen sie sich in der<br />
Regel und machen mit ihren massiven Tanninen fürs<br />
Erste wenig Freude – doch wenn sie dann wiederkommen,<br />
belohnen sie die Geduld oft jahrzehntelang.<br />
Positive Ausnahmen waren etwa die Jahrgänge<br />
2008 und 2012, die durchweg zugänglich geblieben<br />
sind und immer noch viel versprechen, ebenso wie<br />
der 1995er, Rodenstocks Hauswein: Den hat Torsten<br />
Görke in einem Vierteljahrhundert mehr als 40-mal<br />
probiert, »und er hat immer sehr gut geschmeckt«.<br />
Eine vertikale L’Eglise-Clinet-Verkostung,<br />
gespeist aus seinen privaten Beständen, hat Görke<br />
seit Jahren geplant und doch immer wieder verschoben,<br />
um eine günstige Gelegenheit abzupassen:<br />
Zu gern hätte er bei diesem Anlass mit seinem Vater<br />
und dem als genial, aber verschlossen geltenden<br />
Winzer gemeinsam an einem Tisch gesessen. Doch<br />
Rodenstock starb 2018, Denis Durantou 2020, und<br />
so diente die jetzt vom <strong>FINE</strong> Club im Hotel Post in<br />
Lech am Arlberg veranstaltete Probe zugleich dem<br />
würdigen Gedenken. Eigentlich hätte zu den 49 Jahrgängen<br />
seit 1955 sogar noch eine Doppelmagnum<br />
des legendären 1949ers hinzukommen sollen. Aber<br />
der Sammler, in dessen Keller sie liegt, musste wegen<br />
der Corona-Pandemie zu Hause bleiben – und so<br />
eine Flasche lässt selbst der großzügigste Spender<br />
nicht in Abwesenheit entkorken.<br />
TASTING <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 127
136 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> NAHE<br />
WANDERER
ZWISCHEN<br />
DEN WELTEN<br />
CORNELIUS DÖNNHOFF HAT SEIN WINZERHANDWERK<br />
IN DEUTSCHLAND GELERNT UND AUF DER SÜDHALBKUGEL<br />
DEN FLEXIBLEN UMGANG MIT HERAUSFORDERUNGEN.<br />
DIESES KÖNNEN UND EINE IMPOSANTE SAMMLUNG VON<br />
NAHE-LAGEN LASSEN SEIN BERÜHMTES FAMILIENGUT IN<br />
OBERHAUSEN IMMER NOCH BESSER WERDEN<br />
Von STEPHAN REINHARDT<br />
Fotos RUI CAMILO<br />
An Cornelius Dönnhoff heranzukommen, ist gar nicht so leicht – schon gar nicht, wenn es weniger um seine<br />
Weine als um ihn selbst gehen soll. »Was gibt’s denn da zu schreiben?«, fragt er beim Gesprächstermin<br />
immer noch entgeistert. Am selben Tisch des Familienguts in Oberhausen an der Nahe habe ich viele Jahre<br />
mit seinem Vater Helmut die jeweils neuen Weine verkostet, auch wenn die längst schon Cornelius verantwortet<br />
hatte. Erst den 2020er, seinen 14. eigenen Jahrgang, habe ich mit ihm selbst probiert – und zwar<br />
nicht wie mit Helmut bis weit nach Mitternacht, sondern konzentriert binnen weniger Stunden.<br />
Cornelius macht nicht viele Worte um seine Weine,<br />
beantwortet Fragen präzise aus der Sicht des Praktikers,<br />
nicht des Vermarkters. Unter einem guten Jahrgang versteht<br />
er einen, dessen Herausforderungen er mit seinem Team<br />
gemeistert hat. Ob der dann auch der Presse gefällt, will er<br />
gar nicht wissen, und auch nicht, was sie über ihn persönlich<br />
berichtet: »Ich habe noch nie etwas angeschaut, geschweige<br />
denn durchgelesen, was über mich geschrieben steht. Ich will<br />
das eigentlich gar nicht … Aber mein Gott, es gehört wohl<br />
irgendwo dazu … Also hopp, meinetwegen!«<br />
Da hatte schon der <strong>FINE</strong>-Verleger Ralf Frenzel angedroht,<br />
beim Fototermin notfalls persönlich vorbeizukommen und<br />
schmutzige Witze zu erzählen, falls Cornelius Dönnhoff nicht<br />
wenigstens ab and an mal lächeln würde. Allzu unwillig posierte<br />
der Winzer dann doch nicht, dennoch zeigen die Bilder nur<br />
einen Teil der Wahrheit – ohne die Mannschaft des Guts, ohne<br />
Cornelius Dönnhoffs Frau Anne oder die beiden ein und fünf<br />
Jahre alten Kinder. Die Familie mag Cornelius Dönnhoff nicht<br />
leichtfertig in seinen Beruf hineinziehen, hat solch eine Verquickung<br />
doch seine eigene Jugend bestimmt. »Daheim«,<br />
erinnert er sich, »das war immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.«<br />
Während seine Schulkameraden samstags ins Freibad »der<br />
für uns großen Stadt Bad Kreuznach« entschwanden, musste<br />
Cornelius Reben anbinden, Trauben lesen und sortieren, Weine<br />
abfüllen, etikettieren oder Kartons packen. In der vermeintlichen<br />
Glanz-und-Glimmerwelt seines in der Weinszene weltberühmten<br />
Vaters durchlebte der Heranwachsende eine freudlose,<br />
fast bleierne Zeit. Niemals wolle er Winzer werden und<br />
den elterlichen Betrieb fortführen, dachte der 1980 geborene<br />
Cornelius noch als Jugendlicher, ein solches Leben schien ihm<br />
NAHE <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 137
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<strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> 145
<strong>FINE</strong>ABGANG<br />
DER VATER DES<br />
GEHEIMRATS<br />
Zwei Jahrzehnte ist es jetzt her, dass der Aufstieg des trockenen deutschen<br />
Rieslings in der Einführung der Großen Gewächse gipfelte. Wie überall<br />
hat auch hier der Erfolg viele Väter, und am bekanntesten sind natürlich<br />
diejenigen, deren Namen auf den Etiketten stehen. Auf diese Art prominent ist<br />
Norbert Holderrieth nie gewesen, aber wer ein bisschen über die hiesige Weingeschichte<br />
weiß, kennt ihn dennoch als einen ganz Großen: Wir verdanken ihm<br />
den Geheimrat »J« der Weingüter Wegeler.<br />
Die Ahnen des gebürtigen Schwaben sollen bereits seit dem Dreißigjährigen<br />
Krieg als Küfer zur Qualität im Keller der Grafen von Neipperg beigetragen haben,<br />
so wird jedenfalls in der Familie gern erzählt. Norbert Holderrieth selbst lernte<br />
in Weinsberg und Geisenheim, ehe er 1959 als Weinbauingenieur und Gutsverwalter<br />
zu Wegeler in den Rheingau ging. Schon in den 70er-Jahren wollte<br />
ihm die damals selbstverständliche Süße der Spätlesen nicht recht schmecken,<br />
und 1983 wagte er die Revolution: Für den neuen Spitzen-Riesling verschnitt er<br />
nach dem Vorbild großer Châteaux Weine aus den besten Oestricher und Rüdesheimer<br />
Lagen, baute sie trocken aus und benannte das Ergebnis in Analogie zum<br />
legendären Baron de L nach dem Gründer des Guts, Julius Wegeler. Bis heute<br />
kann der Geheimrat »J« als Definition dessen gelten, was ein deutscher trockener<br />
Riesling sein sollte.<br />
Der Neuerer Holderrieth wirkte dabei nie wie ein verbissener Umstürzler<br />
oder Kellertüftler, er hatte eine große positive Ausstrahlung und einen spitzbübischen<br />
Humor. Nun ist er mit 87 Jahren gestorben. Die Erinnerung an ihn<br />
wird bleiben, die Familientradition auch: Als Norbert Holderrieth 1998 nach<br />
fast vier Jahrzehnten bei Wegeler in den Ruhestand ging, ist ihm dort sein Sohn<br />
Andreas als Kellermeister nachgefolgt.<br />
Ihr Ralf Frenzel<br />
Verleger und Herausgeber<br />
146 <strong>FINE</strong> 3 | <strong>2022</strong> ABGANG