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AUSGABE 39 24. September 2022
€ 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
Vestager
So kämpft die EU-
Kommissarin gegen
die Energiepreise
Wagenknecht
Was die Irrläuferin der
Linken über Russland
und Putin denkt
Sex Pistols
Danny Boyle verfilmt
die Kronjuwelen
der britischen
Popkultur
Grauer Star
Netzhautdefekte
Fehlsichtigkeit
Neue
Medizin
für Ihre
Augen
WIRTSCHAFT
Die Dänin
Vor ihrer Zeit in
Brüssel war
Vestager in ihrer
Heimat unter
anderem Parteivorsitzende
und
Wirtschaftsministerin
„Die Grundfesten der
Europäischen Union
stehen auf dem Spiel“
Sie ist eine der mächtigsten Frauen
des Kontinents: Kommissions-Vize
Margrethe Vestager über den Krieg
und die hohen Energiepreise, über Werte
im Web und unsere digitale Zukunft
INTERVIEW VON CARLA NEUHAUS UND THOMAS TUMA
FOTOS VON CHARLOTTE DE LA FUENTE
54
WETTBEWERB
Die Europäerin
2014 wurde Vestager
Wettbewerbskommissarin.
Seit
2019 ist sie zudem
Vizepräsidentin der
EU-Kommission
FOCUS 39/2022 55
WIRTSCHAFT
E
s ist ein großer Erfolg, einer
von inzwischen ziemlich vielen
auf der Liste von Margrethe
Vestager: Alphabet,
der Konzern hinter der Suchmaschine
Google, muss über
vier Milliarden Euro an Strafe
zahlen. Etwas weniger als angesetzt, aber
doch eine enorm hohe Summe. Das entschied
vergangene Woche das Gericht
der Europäischen Union. Alphabet soll
die Marktmacht seines Betriebssystems
Android ausgenutzt haben, deshalb hatte
Vestager die Strafe verhängt.
Seit sie 2014 als Wettbewerbskommissarin
nach Brüssel ging, hat die Dänin
sich dem Kampf gegen die Big Techs
verschrieben. Über die Jahre hat sie das
zu einer der wohl mächtigsten Frauen
in Europa gemacht. Als mögliche Kommissionspräsidentin
wurde sie gehandelt,
nun ist sie Vizepräsidentin an der Seite
der Deutschen Ursula von der Leyen.
Und dennoch gibt Vestager sich bewusst
bodenständig. In der Repräsentanz der
Europäischen Kommission in Kopenhagen,
wo sie regelmäßig vorbeischaut, hat
sie nicht einmal ein eigenes Büro. Den
kleinen Raum oben unterm Dach nutzt sie
im Wechsel mit anderen Mitarbeitern. Dort
hat FOCUS sie auch zum Gespräch getroffen.
Beim Tee – dem Kaffee
hat sie mittlerweile abgeschworen
– ging es um Krieg
und Krise, aber auch um Re -
geln für eine immer digitaler
werdende Welt.
Frau Vestager, in welcher
Verfassung erleben
Sie die EU gerade?
Wir hatten noch nie so viele
Krisen auf einmal wie heute.
Natürlich waren auch Finanzkrise,
Flüchtlingskrise sowie
die Pandemie für sich genommen
schon Herausforderungen.
Aber heute haben wir
einen Krieg in Europa …
… samt hoher Inflation, eine
Energiekrise, eine Klimakrise …
… und zwar alles auf einmal.
Das Einzige, was wir
nicht haben, ist eine Krise
der Institutionen – zum Glück.
Das ist der Silberstreif am
Horizont. Zumal kaum einer
daran glaubt, dass wir so
schnell zur alten Normalität
zurückkehren werden. Wir
müssen daher Tag für Tag die
Krise managen, ohne dabei
unsere langfristigen Ziele aus
Hohe EU-Strafen
für Techkonzerne
Der Google-Konzern
muss 4,13 Milliarden
Euro zahlen wegen seiner
Marktmacht bei Android
Intel sollte wegen zu viel
Macht 1,1 Milliarden
Euro zahlen. Vor Gericht
hielt das aber nicht stand
Der Chipkonzern sollte
fast eine Milliarde Euro
zahlen. Doch Richter hoben
die Strafe kürzlich auf
Der Konzern musste schon
mehrfach zahlen. Die bislang
höchste Strafe der EU:
860 Millionen Euro
Wegen falscher Angaben bei
der Übernahme von Whats-
App musste Facebook
110 Millionen Euro zahlen
dem Blick zu verlieren. Eine
enorme Herausforderung.
Was macht der Krieg mit
den europäischen Werten?
Es ist unglaublich deprimierend
zu sehen, dass in
der Ukraine gerade Menschen
für ebendiese Werte
kämpfen müssen. Dass sie
bereit sind, für den europäischen
Gedanken zu sterben.
Für mich ist das gleichzeitig
ein enormer Antrieb, und
das sollte es für uns alle sein.
Die Bereitschaft zum Wandel,
den die Ukraine gerade
demonstriert, macht es
sehr wahrscheinlich, dass
das Land in die EU aufgenommen wird.
Wie sehr schwächen die
hohen Energiepreise die europäische
Wirtschaft?
Natürlich sind der Krieg in der Ukraine
und Putins Haltung, Energie als Waffe zu
benutzen, nicht die einzigen Auslöser der
Energiekrise. Meine Hoffnung aber ist,
dass das den Wandel hin zu einer grünen
Wirtschaft eher noch beschleunigen wird
– allein schon, weil es jeden von uns viel
mehr auf den eigenen Energieverbrauch
achten lässt.
Das reicht?
Es ist natürlich nur ein
schwacher Trost, wenn viele
Haushalte zugleich aktuell
so viel mehr ihres verfügbaren
Einkommens für Energie
ausgeben müssen. Wenn
die Unternehmen überlegen
müs sen, wie sie durch die
nächsten Monate kommen.
Für uns als EU-Kommission
hatte es deshalb zunächst
oberste Priorität, die Energieversorgung
sicherzustellen
– etwa indem wir mehr
Flüssiggas aus dem Ausland
importieren und die
Gasspeicher füllen. Nun müs -
sen wir in einem nächsten
Schritt alles daran setzen,
den Preisanstieg zu stoppen.
Ursula von der Leyen
hat jüngst ein großes
Energiepaket verkündet.
Ist es aus Ihrer Sicht
das richtige?
Darauf setzen wir. Meine
zuständigen Kollegen haben
den Sommer durchgearbeitet,
damit wir genug Quellen
für die Wärmeproduktion im
Winter haben.
»
Mich treibt
täglich der
Wunsch an,
dass wir in der
digitalen Welt
Bürger sind,
nicht nur
Datenpunkte
«
Konkreter bitte!
Wir haben etwa vorgeschlagen,
den Energieverbrauch
in Spitzenzeiten zu
deckeln. Dann brauchen
wir weniger Gas für die
Stromproduktion, sodass die
Strompreise weniger stark
vom Gaspreis bestimmt
werden. Das Zweite ist,
einen Weg zu finden, um
die Übergewinne der Energiekonzerne
abzuschöpfen,
um mit den Einnahmen
die nötigen Hilfen für
stark belastete Haushalte
zu finanzieren. Dabei ist es
extrem wichtig, dass diese
Hilfen gezielt ausgeschüttet werden.
Inwiefern?
Auch meine eigene private Energierechnung
steigt, aber ich kann mir das
leisten. Für eine alleinerziehende Geringverdienerin
zum Beispiel sieht die Lage
ganz anders aus. Außerdem müssen wir
uns überlegen, wie wir den Energiemarkt
als Ganzes in Zukunft gestalten wollen.
Ihre Antwort?
Es ist kompliziert, denn es gibt kein
Marktdesign, das automatisch auch in
Kriegszeiten gut funktioniert. Was wir
gerade sehen, ist eine bewusste Verknappung
des Angebots, Energie wird
als Waffe eingesetzt – das ist ja kein normales
Marktverhalten. Wenn in einem
funktionierenden Markt die Preise steigen,
steigt automatisch das Angebot. Das
Marktdesign jetzt anzupassen ist aber
durchaus legitim. Denn gestaltet haben
wir es vor 20 Jahren, als wir viel weniger
Windenergie hatten und der Markt noch
viel weniger digitalisiert war.
Um Hilfen zu finanzieren, sollen Übergewinne
abgeschöpft werden. Wie soll das gehen?
Nehmen Sie die Solar- oder Windenergie:
Einmal installiert, sind die laufenden
Kosten sehr gering. Aber um die Kapitalkosten
zu decken, braucht man natürlich
einen Gewinn. Können die Anbieter mit
den Einnahmen nur die laufenden Kosten
decken, reicht das nicht. Das heißt, einen
gewissen Übergewinn brauchen wir,
damit die Unternehmen in den Markt einsteigen.
Gleichzeitig aber brauchen die
Unternehmen nicht diese enormen Gewinne,
wie wir sie zuletzt gesehen haben.
Einen Teil der Gewinne abzugreifen ist
allerdings ein starker Eingriff in den Markt …
Drei Dinge sind für uns entscheidend:
Wir brauchen ein gewisses Preissignal
im Markt, damit Verbraucher und Unternehmen
ihren Energieverbrauch minimieren.
Damit sie neue Wärmepumpen
56 FOCUS 39/2022
WETTBEWERB
Hierher den
Anreisser
wo der es gerade
fünfzehn Jahr alt
der König und die
Königin nicht zu
Haus waren
der wir uns befinden. Alle hätten sich das
anders gewünscht. Ich kenne aber auch
kaum Leute, die mir vor einem Jahr genau
hätten sagen können, was uns da bevorsteht.
Das ist also zweischneidig, denn
wenn man immer nur für den schlimmsten
Fall plant, tritt der manchmal erst recht
ein. Stattdessen haben wir versucht, eine
Balance zu wahren und unsere Mitgliedsstaaten
bei der Stange zu halten.
Wie würden Sie das aktuelle
Verhältnis zwischen EU-Rat und
-Kommission beschreiben?
Generell ziemlich gut.
Ihr Team untersucht gerade auch die
Rolle des russischen Energieriesen
Gazprom in diesem Krieg, der auch ein
Wirtschaftskrieg ist. Wie weit sind Sie?
Wir machen Fortschritte.
Das bedeutet …
… dass ich Ihnen noch keine Ergebnisse
liefern kann. Wir haben uns da auch keine
Frist gesetzt.
Fällt Europa eigentlich vor lauter Krise beim
Zukunftsthema Digitalisierung zurück?
Wir tun unser Bestes, dass es dazu nicht
kommt. Die Veränderungen, die wir angehen
müssen, werden lediglich immer weitreichender.
Bei Corona hatten wir ja teils
Foto: Jean-Francois Badias/dpa
installieren, ihre Fenster dämmen und
vieles andere. Als Zweites brauchen wir
ein Investitionssignal: Unternehmen müssen
einen Anreiz haben, die Stromkapazität
auszubauen. Und dabei müssen wir
langfristig denken. Wenn Sie etwa einen
Offshore-Windpark bauen, dann dauert es
20 bis 30 Jahre, bevor sich das auszahlt.
Das heißt, die Unternehmen
brauchen Verlässlichkeit …
… um zu investieren, genau. Und außerdem
müssen wir sicherstellen, dass der
Binnenmarkt funktioniert, sonst riskieren
wir einen Blackout. Diese drei Dinge
müssen wir berücksichtigen, sonst verlängern
wir die Krise nur noch. Wenn wir
nicht investieren und gleichzeitig Energie
sparen, wird die Krise länger.
Mal ehrlich: Wie lange
können wir uns diesen Krieg
in der Ukraine leisten?
Es geht nicht darum, ob wir
uns diesen Krieg leisten können.
Es geht darum, dass hier
die Grundfesten der Europäischen
Union auf dem Spiel stehen.
Das heißt, der Krieg ist für
uns genauso entscheidend wie
für die Ukraine, mit dem Unterschied,
dass nicht unsere Leben
LESERDEBATTE
Was wünschen
Sie sich für
Europa?
Schreiben Sie
uns an
leserbriefe@
focus-magazin.de
auf dem Spiel stehen. Darum geht
es in der Ukraine. Jeden Tag.
Die Inflation war schon vor dem
Krieg hoch. Nun erreicht sie immer
neue Rekordstände. Christine
Lagarde, Chefin der Europäischen
Zentralbank, hat dafür jüngst die
Verantwortung übernommen.
Welche Fehler sind gemacht worden
in den vergangenen Jahren?
Es ist noch zu früh, das be -
urteilen zu können, zumal rund
40 Prozent des aktuellen Inflationsdrucks
auf die Energiepreise
zurückzuführen sind. Andere Teile der
Inflation haben damit zu tun, dass während
Corona viele Lieferketten gerissen
sind. Es ist also schon wichtig,
nicht zu sagen: Christine übernimmt,
wir müssen sonst nichts
machen.
Charles Michel, Präsident des
EU-Rates der Regierungschef,
klagte jüngst, die Kommission
hätte die herannahenden Probleme
zu lange unterschätzt.
Verstehen Sie seinen Ärger?
Ich verstehe, dass zurzeit jeder
und jede wirklich frus triert
ist angesichts der Situation, in
Appell an die Union Kommissionspräsidentin von der
Leyen forderte Europa kürzlich zum Durchhalten auf
einen totalen Stillstand zu managen. Nun
müssen wir Veränderungen beschleunigen,
ohne genau zu wissen, was morgen
sein wird. Das sind zwei höchst unterschiedliche
Übungen, die uns derzeit aber
quasi gleichzeitig abverlangt werden.
Sie kämpften in der Vergangenheit immer
wieder tapfer gegen die Marktmacht von
Apple oder Google an. Ist es für deren Chefs
nun einfacher, wenn Sie den Kopf voller
anderer Herausforderungen haben?
Mir ist wichtig: EU-Rat und -Parlament
haben dem Digital Services Act ebenso
wie dem Digital Markets Act zugestimmt.
Nun ist es wichtig, dass die Kommission
liefert, denn die Versprechen sind
FOCUS 39/2022 57