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NewHealthGuide Magazin 01 2022

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newhealth.guide #1

newhealth.guide #1

hinein, weil es nicht nur um spezifisches

Wissen geht, sondern auch

um eine Einstellung, ein Interesse,

einen Teil der Rolle als Arzt oder Ärztin,

die beinhaltet, dass man sowohl

in Präsenz als auch aus der Ferne

für Patienten da sein kann und sollte.

Bei den Jüngeren sind Offenheit

und Interesse überhaupt kein Problem.

Aber das heißt nicht, dass

diese Menschen digital kompetent

sind im professionellen Kontext. Es

ist aber auch ein ganz zentraler

Auftrag, über 500.000 approbierte

Ärztinnen und Ärzte für die neuen

Möglichkeiten zu qualifizieren.

Welche tiefgreifenden Veränderungen

erwarten Sie in den

nächsten Jahren im Gesundheitswesen?

Ich glaube, dass eine zunehmende

Orientierung hin zu Gesundheit

anstatt zu Krankheit erfolgen

wird, dass wir also weniger dieser

klassische Reparaturbetrieb sind.

Wir werden uns viel stärker hin zu

Outcome-orientierten Behandlungskonzepten

entwickeln. Auch

die Lebensqualität und die durch

Patienten berichteten Behandlungsergebnisse

werden viel stärker

berücksichtigt werden. Und da

werden digitale Tools eine Rolle

spielen im Rahmen von Diagnostik

und Behandlung.

Trotz Corona und vielen Innovationen

geht die Digitalisierung im

Gesundheitswesen in Deutschland

schleppend voran – langsamer

als in anderen Ländern.

Woran liegt das?

Ein Problem war vielleicht, dass in

Deutschland versucht wurde, Innovation

über sehr, sehr große Projekte

voranzutreiben. Die elektronische

Gesundheitskarte, die umfassende

Einführung einer Telematik-Infrastruktur.

Es wurde auch immer wieder

verpasst, einfach mal zu sagen,

wir setzen einen Standard – der

muss natürlich sinnvoll und gut und

Zentrale Aufgabe

Standards

müssen etabliert

werden sowie

Instanzen,

die Leitlinien

festlegen, so Kuhn

etabliert sein, aber dann müssen

sich verschiedene Akteurinnen und

Akteure, Medizinprodukte-Hersteller

etc. danach richten. Stattdessen

wurde immer versucht, irgendwie

Kompatibilität mit allem zu erzeugen,

noch dazu in einer Landschaft,

wo ganz viele Akteure Interoperabilität

nicht wünschen.

Wo machen es die rechtlichen

Hürden Medizinerinnen und Medizinern

besonders schwer?

Es besteht unglaublich viel Unsicherheit.

Was ist erlaubt, was kann

ich machen? Im Endeffekt gibt es

dabei immer vier Komponenten:

eine medizinische, eine technische,

eine rechtliche und eine ethische.

Insbesondere bei der rechtlichen

Komponente gibt es viele Unklarheiten

– nicht nur den Datenschutz.

Es existiert aber in vielen Institutionen

keine Instanz, die wirklich

gestaltend agiert, wie das Ganze

erfolgen sollte. Ich glaube, das

ist eine zentrale Aufgabe für die

Fachgesellschaften, im Dialog mit

unterschiedlichen Expertinnen und

Experten die rechtliche, die technische

und ebenso die ethische Seite

einzubinden und dann auch entsprechende

Leitlinien herauszugeben.

In dieser Art und Weise kann

ich das rechtssicher, technisch

kompetent, medizinisch adäquat

und ethisch vertretbar abbilden.

Und ganz konkret: Was fehlt

den Ärztinnen und Ärzten in den

Krankenhäusern, um digital zu

arbeiten?

Die Technologie ist nicht das zentrale

Problem, sie ist in vielen Bereichen

eigentlich vorhanden. Das

Smartphone und die angeschlossene

Sensorik – das ist für mich das

Stethoskop des 21. Jahrhunderts.

Ich kann Dinge erkennen über

Sensorik, die wir bisher nicht wahrnehmen

konnten. Und Distanzen

überbrücken, egal, wo Patienten

sind. Das Problem ist die Implementierung,

sind die Prozesse und

die Qualifizierung von Menschen.

Eines Ihrer Spezialgebiete ist die

Integration von künstlicher Intelligenz

in die ärztliche Behandlung.

Warum ist sie für den Fortschritt

so wichtig?

Ich glaube wirklich, dass die Integration

von künstlicher Intelligenz

in die ärztliche Behandlung die

wahrscheinlich größte Chance ist,

die wir im Rahmen des digitalen

Wandels haben. Wir haben die Herausforderung,

dass jeder Patient

eine unglaubliche Informationsund

Datenmenge hat, die wir nicht

überblicken können. Zum anderen

haben wir das kollektive medizinische

Wissen, das in der Fachliteratur

publiziert ist und ein enorm rapides

Wachstum erfahren hat.

Unsere Chance und auch das Potenzial

ist, diese Integration von

menschlicher Expertise zu stärken,

Kommunikation, Interaktion und

Vertrauen in Kombination mit großen

Datenanalysen, mit Nutzung

von kollektivem Wissen. In Bereichen,

in denen wir Defizite haben

und die wir so wirklich im Sinne unserer

Patientinnen und Patienten

nutzbar machen können. Da werden

dann die einzelnen Aspekte

wie Verfügbarkeit von Daten über

elektronische Patientenakten wirklich

zum Tragen kommen.

Viele Patientinnen und Patienten

haben Vorbehalte gegenüber

einer digitalen Patientenakte

oder einem direkten

Datenaustausch ihrer Krankengeschichte.

Wie könnte man ihnen

die Angst nehmen?

Vor allem von rechtlicher Seite her

müssen wir sicherstellen, dass Patientinnen

und Patienten wirklich

Hoheit über ihre Daten haben und

grundlegend entscheiden können,

was damit passiert. Zeitgleich

müssen wir dafür werben und

auch ein Verständnis erzeugen,

dass eine vollständige Krankengeschichte,

ein vollständiger Medikationsplan,

in einigen Situationen

essenziell notwendig ist.

Wie verändert sich die Beziehung

zwischen Arzt und Patient?

Vielleicht gar nicht so sehr. Die

ärztlichen Aufgaben und dieses

Vertrauensverhältnis zwischen

Arzt und Patient sollten weiterhin

bestehen bleiben. Auch die ärztlichen

Aufgaben sind und bleiben

die gleichen: Krankheiten

zu diagnostizieren und zu heilen,

Leid zu lindern und Sterbende zu

begleiten. Was sich ändert, sind

die Werkzeuge, um diese Ziele zu

erreichen.

Was ist für Sie persönlich die

fantastischste digitale Erfindung

der letzten Jahrzehnte?

Ich glaube wirklich, dass die Integration

von künstlicher Intelligenz

und maschinellem Lernen zur Bewältigung

von großen Datenmengen

die zentrale Entdeckung ist,

wo das Potenzial richtig zum Tragen

kommt. Diese zentrale Erfindung

basiert auch darauf, dass wir

digitale Biomarker haben, wo wir

Vitalwerte physiologischer Prozesse

einfach noch schärfer verstehen.

So wie uns das Mikroskop die

optische Wahrnehmung geschärft

hat, so können wir im Endeffekt

über die künstliche Intelligenz, maschinelles

Lernen, die Signale besser

verstehen.

Auch wir als Gesellschaft sind

gefordert, uns neu aufzustellen

und auszurichten – neue Wege

zu denken. Was sind für Sie die

wesentlichsten Wandlungen, auf

die wir uns einstellen müssen?

Neben Chancen, die die digitale

Transformation bietet, haben wir

auch eine relevante Gefahr: Der

digitale Wandel kann zu neuen

Ungleichheiten führen – gerade

bei Menschen, die in der Vergangenheit

auch schon vulnerable

Gruppen waren: ältere, multimorbide

Menschen, Menschen mit

Sprachbarrieren oder niedrigem

Bildungsniveau und Menschen

mit psychischen Erkrankungen. Sie

benötigen ganz besonders unsere

Versorgung, aber es besteht die

Gefahr, dass sie sie nicht erhalten.

Daher, glaube ich, wird es eine

ganz zentrale Aufgabe sein, dort

Unterstützungsangebote, Kümmerer

wie die schon erwähnten neuen

Gesundheitsberufe zu haben,

um sicherzustellen, dass der digitale

Wandel nicht zu neuen Ungleichheiten

führt.

Univ.-Prof. Dr. med. Sebastian Kuhn

ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit dem Schwerpunkt Schwerverletztenversorgung, Universitätsmedizin

Mainz. 2017 etablierte er das erste Curriculum „Medizin im Digitalen Zeitalter“ für Medizinstudierende an der Universitätsmedizin

Mainz, dann an weiteren Kliniken. Gemeinsam mit der Bundesärztekammer entwickelte er 2019 ein

Fortbildungscurriculum zum digitalen Wandel. Zum 1. Oktober 2020 trat er die W3-Professur für Digitale Medizin an der

medizinischen Fakultät OWL, Universität Bielefeld, an. Seit 1. Oktober 2022 ist er W3-Professor für Digitale Medizin an der

Philipps-Universität Marburg und Leiter des Instituts für Digitale Medizin, Universitätsklinikum Gießen-Marburg. Er ist zudem

Gründer und Geschäftsführer der MED.digital GmbH und Mitglied in mehreren Reformkommissionen und Gremien.

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