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AUSGABE 43 22. Oktober 2022
EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
Francis
Fukuyama
„Putin wird nicht
gewinnen“
Auf der
Flucht
Wie gut sind wir
auf den Zustrom
von Geflüchteten
vorbereitet?
Alfons
Schuhbeck
STEUERBETRUG & GRÖSSENWAHN
Geständnisse eines
Küchenchefs
RAUS
AUS DER
GASKRISE
Ist Fracking eine Lösung
für unser Energieproblem?
Alle FOCUS-Titel to go.
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E-PAPER LESEN:
Günter Bannas über das
Machtwort des Kanzlers
Seite 4
Anne Wizorek über
fünf Jahre #MeToo
Seite 5
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch
22. Oktober 2022 | #42
Wir sollten uns bei unseren
Kindern entschuldigen
EDITORIAL
Von Robert Schneider, Chefredakteur
Fo t o : P e t e r R i g a u d / F O C U S - M a g a z i n
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
war das damals ein Schreck! Sie erinnern
sich sicher noch an die Fassungslosigkeit,
die die erste PISA-Studie mit der Erkenntnis
auslöste, dass die Kompetenzen von
Deutschlands Schülerinnen und Schülern
im Lesen, in Mathematik und in Naturwissenschaften
unter dem Durchschnitt der
OECD-Staaten lagen. Das war vor 22 Jahren.
Umso schockierender sind die jetzt
veröffentlichten Ergebnisse eines bundesweiten
Leistungstests unserer Grundschüler
von 2021: Rund 20 Prozent aller
Viertklässler verfehlen die Mindestanfor -
derungen bei Lesen, Mathematik und Zuhören,
bei der Rechtschreibung sind es
sogar 30,4 Prozent.
In dem vom Institut zur Qualitätsentwicklung
im Bildungswesen (IQB) erhobenen
Leistungstest sind Bremen, Berlin
und Brandenburg unrühmliche Schlusslichter:
In diesen Bundesländern scheitern
bis zu 35 Prozent der Viertklässler an den
Mathe-Mindeststandards, bei der Rechtschreibung
sind es in Berlin sogar 46,1
und in Brandenburg 45,7 Prozent – also
fast jeder zweite! Bayern und auch Sachsen
schneiden noch am besten ab, zum
Beispiel in Mathe: Während 34,5 Prozent
der Berliner Schüler die Mindeststandards
nicht erfüllten, waren es in Bayern 13,2 und
in Sachsen 13,4 Prozent.
Noch erstaunlicher als diese Ergebnisse
aber finde ich die Tatsache, dass der
Aufschrei ausblieb. Ich finde, wir dürfen
uns nicht damit abfinden, dass ein in
Teilen dysfunktionales Schulsystem die
Zukunftschancen so vieler Kinder zerstört.
Schließlich sind sie unsere Zukunft. Was
wollen wir ihnen später mal sagen? Pech
gehabt, erst war Corona, dann Krieg in der
Ukraine, und wir hatten zu wenig Gas?
Es wäre auch gelogen, denn unter dem
Strich verschlechtern sich die Ergebnisse
der Grundschulausbildung seit 2011.
Corona mag den Kompetenzverfall nur
weiter beschleunigt haben.
Diese Ergebnisse, 22 Jahre nach der ersten
PISA-Studie, sind eine Bankrotterklä-
rung der Schulpolitik, der Schul politiker
und auch von Teilen der Lehrerschaft. Es
stellt sich für mich die Frage, ob wir die
Schulbildung unserer Kinder weiter in
den Händen der 16 Bundesländer lassen
sollten. Dagegen sprechen auch nicht
die vergleichsweise guten Ergebnisse in
Bayern und Sachsen, denn es muss ja
darum gehen, bayerische und sächsische
Levels in ganz Deutschland zu erreichen.
Das kann man den dort tätigen Bildungsministern
kaum zutrauen. Da alle Schul -
reformen der Vergangenheit das Ziel hatten,
die Chancen der Schüler zu verbessern,
muss man sagen: Mehr kann man
nicht scheitern.
Bildungspolitik und Lehrerschaft bilden
nach meinem Eindruck eine Koalition
der Verantwortungsverweigerung und des
Verschweigens. Sonst hätten zumindest
in Berlin, Bremen und Brandenburg die
Kultusminister und Grundschulleiter in
dieser Woche kollektiv ihren Rücktritt
anbieten müssen. Doch nichts dergleichen
geschah, nicht einmal zu einer Entschuldigung
bei den Opfern, also den Schülern,
hat es gereicht. Nein, von diesem um sich
selbst kreisenden Schul- und Bildungssystem
ist wenig zu erhoffen.
Ein interessanter Beleg für meine These:
Als 2011 das IQB zum ersten Mal die
Leistungsfähigkeit der Viertklässler testete,
fehlte ausgerechnet Rechtschreibung,
weil die Kultusminister sie nicht dabeihaben
wollten – ausgerechnet die Kompetenz,
in der die Defizite bundesweit am
größten sind.
Und wie kann es sein, dass nachgewiesenermaßen
die Leistungen der Schüler
sich verschlechtern, ihre Noten aber
nicht? Da werden wohl die Noten dem
BASTA IS BACK
SHE SAID
DER HAUPTSTADTBRIEF
Rechts
reden
Wie die AfD zur ersten
digitalen Massenkommunikationspartei
wurde
Von Johannes Hillje Seite 2
Noch mehr Politik
DER HAUPTSTADTBRIEF
ist aus der Sommerpause
zurück und erscheint
ab sofort digital.
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aktuelle Ausgabe – den
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am Ende des Inhaltsverzeichnisses.
Leistungsvermögen angepasst, um keine
Unruhe zu stiften und um alles beim Alten
lassen zu können.
Ich bin kein Bildungspolitiker, aber
nach meinem Eindruck würde es helfen,
sich an ein Sprichwort zu erinnern, das
ja auch für Sportler oder Musiker gilt:
Übung macht den Meister. Ich denke,
es müssten in den Grundschulen wieder
mehr Diktate geschrieben und mehr laut
gelesen werden, es müssten wieder mehr
Aufgaben gerechnet werden, vor allem als
Hausaufgabe. Das sind nur einige wenige
Beispiele. Aber im Kern geht es darum,
dass die Grundschule sich auf die Vermittlung
der grundlegenden Kulturtechniken
Lesen, Schreiben und Rechnen konzentriert.
Alles andere ist zweitrangig.
Noch zwei Absätze zur Energiekrise, der
wir in dieser Woche auch unseren Titel
widmen: Über das angebliche Machtwort
des Bundeskanzlers im Atomstreit ist im
Gegensatz zur Schulkatastrophe hitzig
diskutiert worden. Man konnte lesen, dass
Olaf Scholz den historisch beinahe ein -
maligen Rückgriff auf seine Richtlinienkompetenz
als Kanzler mit den Streit -
hähnen Robert Habeck und Christian Lindner
vorher abgesprochen habe, möglicherweise
sogar vor dem Parteitag der Grünen
in Bonn.
Meine Frage: Können die drei Spitzen
der Ampel notfalls beeiden, dass dem nicht
so war? Ein Machtwort nach Absprachen
und folglich nach Einigung in der Sache
wäre ein Schmierentheater, aus dem
mangelnder Respekt vor den Bürgern und
der Verfassung spräche. Die schnelle und
weitgehend reibungslose Zustimmung
der drei beteiligten Fraktionen spricht leider
dafür, dass wir Zeugen einer billigen
Inszenierung zur Vertuschung politischer
Verantwortlichkeiten geworden sind.
Herzlich Ihr
FOCUS 43/2022 3
Zuversichtlich
Professor Francis
Fukuyama prägt mit
seinen Schriften
weltweit den politischen
Diskurs
Seite 42
Unglücklich
Die Lage verschärft sich:
Städte und Kommunen
haben Probleme, all
die Schutzsuchenden
unterzubringen
Seite 28
Erstaunlich
Die Marke Karl
Lagerfeld macht
aus dem verstorbenen
Modezaren
ein lebendiges
Geschäft
Seite 56
Zerbrechlich
„Manifest der
Fragilität“ – so
lautet das Motto
der diesjährigen
Lyon-Biennale
Seite 92
Nachdenklich
Cormac McCarthy,
der große Einzelgänger
der US-
Literatur, meldet
sich zurück
Seite 78
Sportlich Der GT3 RS schafft es fast auf 300 km/h Seite 108
4 FOCUS 43/2022
Seite 4
Seite 5
Titelthema
INHALT NR. 43 | 22. OKTOBER 2022
70 Gemüse ist sein Fleisch
Sollten Tierbesitzer Hund und Katze
vegan oder vegetarisch ernähren?
75 Hollywoods scheuester Star
Los Angeles will seine Pumas retten
Kultur
78 Der Prophet bricht sein Schweigen
Nach 16 Jahren Pause erscheinen gleich
zwei Romane von Cormac McCarthy
Dieser Text
zeigt evtl. Probleme
beim
Text an
Titel: Ikon Images/dpa, Sven Hoppe/dpa
Fotos: Peter Boer/De Beeldunie/laif, Maja Hitij/Getty Images, Studio Safar, dpa
46 Raus aus der Gaskrise
Deutschland könnte selbst mehr Gas
fördern – mit Fracking. Wäre das eine
Lösung für unser Energieproblem?
Agenda
22 Geständnisse eines Küchenchefs
Warum Köche wie Alfons Schuhbeck
zu Stars werden konnten – und was
sie bisweilen abstürzen lässt
Politik
28 Schaffen wir das noch mal?
Die Kommunen gelangen bei der Bewältigung
der Flüchtlingsströme an ihre
Grenzen. Haben wir aus 2015 gelernt?
34 „Freiheit kann man nicht kaufen“
Der FDP-Altstar Gerhart Baum spricht
über Lehren aus der Geschichte, seine
russischen Wurzeln und glückliches Altern
38 Politischer Datenstrudel
Vogel wandert, Giffey tauft und die Audi-
Managerin Wortmann kommentiert
40 Zu seinen Bedingungen
Warum die Wiederwahl von Boris Palmer
in Tübingen alles andere als sicher ist
42 „Putin wird nicht gewinnen“
Wenige glaubten so unbeirrt an die
Demokratie wie Francis Fukuyama. Wie
sieht der US-Politologe die Welt heute?
Wirtschaft
56 Das Geschäft mit einer Ikone
Wie der legendäre Modedesigner
Karl Lagerfeld als Marke weiterlebt
60 Geldmarkt
Wissen
62 Wie gefährlich ist Long Covid?
Hirnforscher Martin Korte erklärt, wie
Coronaviren das Gehirn schädigen
66 So kurzatmig, so müde …
Therapiekonzepte für die Langzeitfolgen
von Corona stehen im Widerstreit
82 Wenn die Tage kürzer werden …
Unsere Empfehlungen der Woche führen
in dunkle Wälder und wilde Nächte
84 Bitte lächeln!
Louis Hofmann muss im Film „Der
Passfälscher“ gegen die Nazis anstrahlen
Rubriken
3 Editorial
6 Kolumne von
Jan Fleischhauer
9 Nachrichten
10 Fotos der Woche
16 Grafik der Woche
Hilfe für die Ukraine
18 Menschen
74 Wir müssen reden
Titelthemen sind rot markiert
IKONE
Günter Bannas über Leben
und Sterben Petra Kellys
Leben
92 Eine Sünde wert
Eine Reise zur Lebenskunst in die
Genusshauptstadt Lyon
98 Jetzt ist Fire-Abend
Yotam Ottolenghi grillt ab
100 Abschalten und Tee trinken
13 Herbstideen für Küche und Tafel
102 Im Insta-Schleudergang
Die Doku „Girl Gang“ beschreibt den
verstörenden Alltag von Teenie-Influencern
106 Wider die Schwerkraft
Wie sich Lukas Dauser zur Turn-WM quälte
108 Jetzt wird’s gewaltig
Schnelle Runden mit dem Porsche GT3 RS
DER HAUPTSTADTBRIEF
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch
83 Mein Salon
86 Bestseller
86 Impressum
110 Die Einflussreichen
112 Leserbriefe
113 Nachrufe
113 Servicenummern
114 Tagebuch
WUNDERWUMMSIS
Inge Kloepfer über
politische Neologismen
Jetzt noch mehr Politik im digitalen Format
Der Hauptstadtbrief Der für FOCUS-Leser
Lesen Sie digital und kostenlos
Osten
noch mehr Analysen zur
Über eine politische Himmelsrichtung
Von Gabriel Kords Seite 2
aktuellen Politik. Scannen Sie
15. Oktober dazu 2022 | #41 einfach diesen QR-Code:
„KARRIERE IM HOMEOFFICE?
MEIN TIPP: COOL BLEIBEN.
UND FOKUS IQ ® .“
FOKUS IQ ® : Mit der speziellen
Formel für geistige Fitness.
Mit der besonderen Nährstoffkombination aus
Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, Vitaminen
und Mineralstoffen unterstützt FOKUS IQ ® die
Gehirn-funktion 1 , geistige Leistung 2 und kognitive
Funktion 3 .
So können wir den stressigen Herausforderungen
des Alltags besser entgegentreten.
3 Editorial
6 Kolumne von Jan
Fleischhauer
Mehr 9 Infos: Nachrichten
8 Fotos der Woche
16 Grafik der Woche
Rubriken
90 Salon
95 Buch & Welt
96 Kultur-Macher
102 Bestseller
124 Die Einflussreichen
128 Nachrufe/ Namen
18 Menschen
1
DHA trägt 129 zur Impressum
Erhaltung einer
48 Leserbriefe normalen 130 Gehirnfunktion Tagebuch bei
2
Pantothensäure trägt zu einer
Titelthemen sind rot markiert normalen geistigen Leistung bei
3
FOCUS 43/2022 Zink trägt zu einer normalen 5
kognitiven Funktion bei
IN IHRER
APOTHEKE
ERHÄLTLICH.
IQ_PAN_1022_2
AGENDA
Geständnisse eines
Küchenchefs
Einst schaffte er den Aufstieg vom
Bauernburschen zum König der Köche.
Doch der Absturz von Alfons Schuhbeck
begann schon vor seinem Steuer-
Prozess. Und er legt tiefer sitzende
Probleme eines arg gebeutelten
Berufsstandes bloß
TEXT VON THOMAS TUMA
22 FOCUS 43/2022
Platzl-Hirsch
Rund ums Platzl im Herzen
Münchens schuf sich
Schuhbeck einen Großteil
seines Reichs: Restaurants,
Shops, Kochschule
GASTRONOMIE
Scheinwelt
Im Februar 2020 blickte
Schuhbeck noch entspannt
aus seinen
„Südtiroler Stuben“
auf sein Restaurant
„Orlando“. Corona
hatte noch nicht
zugeschlagen, und von
seinen kriminellen
Machenschaften
wusste kaum jemand
Foto: Hans-Bernhard Huber/laif
23
WIRTSCHAFT
BLINDBLIND
Raus aus
der Gaskrise
Lange war es ein Tabu, nun könnten wir
damit die Energieknappheit überwinden:
Fracking in Deutschland. Liegt unter
Niedersachsen so viel Gas, dass es uns für
20 Jahre unabhängig machen könnte?
Die Zeitenwende löst eine Debatte aus über
Risiken und den Wert unseres Wohlstands
TEXT VON MATTHIAS JAUCH UND MICHAEL KNEISSLER
46 FOCUS 43/2022
TITEL
Den Schatz bergen
Das Eruptionskreuz ist das Herz
der Anlage. „Hier kommt das
Gas aus dem Boden“, sagt
Gasfeldwart Peter Thie. Weihnachtsbaum
nennen sie die Anlage
hier aufgrund ihrer Form
Systemrelevant Aus 4000 Metern Tiefe
holen Gasfeldwart Peter Thie und Kollegen
in Goldenstedt das Erdgas. Es ist die größte
Förderung von ExxonMobil in Deutschland
Fo t o : R o m a n P a w l o w s k i f ü r F O C U S - M a g a z i n
47
DOKUMENTARFILM
Kommt und folgt mir! Leonie begann mit 14,
Videos von sich ins Netz zu stellen. Heute hat sie
1,4 Millionen Follower auf der Plattform TikTok
Instagang
Die Doku Girl Gang zeigt den Alltag des Berliner
Teenie-TikTok-Stars Leoobalys – intim und verstörend
Ein paar Millionen könnten
sie in den nächsten Jahren
schon verdienen. Das verspricht
ein Social-Media-
Manager Leonie und ihren
Eltern bei einem Meeting. Es
gibt nur ein Problem: Leonie
muss authentischer werden. „Das fehlt
dir komplett“, sagt der Manager und äfft
das Mädchen mit den langen roten Haaren
nach. Aber jetzt bitte nicht als Kritik
verstehen!
Leo ist 14 Jahre alt, als sie anfängt,
Videos von sich ins Internet zu stellen.
Schon ein paar Jahre später gibt sie
Interviews für die „Bravo“, füllt Einkaufszentren
mit kreischenden Mädchen
und macht Werbung für Burger
und Nagellack. Immer begleitet von
ihren Eltern, die – auch aufgrund der
unangenehmen Erfahrung mit dem Social-Media-Manager
– das Management
für ihre Tochter selbst übernommen ha -
ben. Und das hat sich gelohnt: Knapp
1,4 Millionen Follower hat sie heute auf
TikTok. 1,6 Millionen bei Instagram. In
ihren Videos tanzt sie im Garten, wälzt
sich im Bikini am Strand, macht sich
einen Zopf, küsst ihre Mutter, ihren
Hund, albert mit ihrem Vater herum.
Und sie macht Werbung. Fast Fashion,
Fast Food. Die ganz großen Firmen. Die
Familie hat es geschafft, Pool im Garten
und Urlaub auf den Malediven.
Schätzungen zufolge nutzen über 20
Millionen Menschen in Deutschland die
chinesische Social-Media-Plattform Tik-
Tok. Die meisten sind unter 30. Um diese
Zielgruppe zu erreichen, setzen immer
mehr Firmen auf Influencer-Marketing.
Früher waren es die Beatles, dann die
Boygroup Take That: Stars, denen junge
Mädchen kreischend entgegenjubeln,
während die Eltern verständnislos den
Kopf darüber schütteln. Heute sind es
TikTok-Stars. Wem die Namen Dixie
D’Amelio, Dannero und Enyadres nicht
bekannt sind, wer nicht versteht, warum
Mädchen vor ihren Handys stumm die
Lippen bewegen, der gehört zur neuen
Generation abgehängter Eltern. Nicht
nur denen sei die Doku „Girl Gang“, die
vom aufregenden Leben der Influencerin
Leoobalys erzählt, dringend empfohlen.
Konfettikanonen und Luftballons
Kreisch! Fans jubeln Leonie bei einem Auftritt
im Einkaufszentrum zu. Ihre Werbekunden
freut’s. Influencer-Marketing nennt man das
Denn der Filmemacherin
erging es ähnlich.
Susanne Regina
Meures studierte Fotografie,
Kunstgeschichte
und Film in London
und Zürich. Schon ihre
Diplomarbeit „Raving
Iran“ über zwei DJs aus
Teheran war 2016 ein
großer Festivalerfolg.
Ihr zweiter Dokumentarfilm
„Saudi Runaway“ galt als Oscar-
Hoffnung. Nun kommt ihr drittes Werk
„Girl Gang“ in die Kinos.
In das Thema sei sie „reingerasselt“,
erzählt sie im Interview: „2017 saß ich
in einem Park und habe Mädchen dabei
beobachtet, wie sie Pantomimen und
Lip-Sync-Tänze gemacht haben und sich
dabei gegenseitig gefilmt haben. Als ich
sie ansprach, erzählten sie mir, dass sie
Musicallys aufnehmen, das ist der Vorgänger
von TikTok.“ In dem Moment ist
ihr klar geworden, dass sie keinen Bezug
mehr zu der jungen Generation hat. Also
wollte sie mit den Kids reden, auf der
Straße, in Schulen, in Parks, über Instagram.
„Ich wollte einen Film machen, der
von ihrer Lebensessenz handelt.“
Mit über 160 Mädchen hat sie gesprochen.
Von Klimaaktivistinnen über Spiel -
platzraucherinnen bis hin zu den Insta-
Girls. Auf einer Jugendmesse hat Meures
dann Leonie kennengelernt. Die ideale
Protagonistin. Wenige Tage danach
haben sie angefangen zu drehen. Vier
Jahre später ist daraus ein vielschichtiger
Film geworden. Er wurde auf 40 Festivals
weltweit gezeigt, hat ein paar Preise
gewonnen und steht auf der Shortlist
des Europäischen Filmpreises. „Ich
wollte eigentlich einen Film über eine
Mädchengruppe machen“, sagt Meures,
„aber dann habe ich festgestellt, dass
hier die Geschichte in den Dynamiken
der Familie liegt.“
Ein Reihenhaus in Ostberlin, ein Ringlicht,
davor ein junges Mädchen, das
Karriere machen will. Hund Maja, Katze
Claudi, Mutter Sunny, Papa Andy, das
sind die Balys, dazu passend der Internetname
der Tochter: Leoobalys. Der Film
begleitet die Familie bei ihren Versuchen,
Content zu erstellen, mit Luftballons,
die im Wind nicht so
wollen, wie sie sollen.
Mit Konfettikanonen
und Engelsflügeln.
Der Vater kontaktiert
die Einkaufszentren und
potenzielle Werbekunden,
weiß, dass man in
Werbevideos keine Markenklamotten
tragen
kann. Die Mutter hilft
bei der Recherche –
Fo t o s : Rise and Shine Cinema
102 FOCUS 43/2022