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lgbb_01_2020_neu_web

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LATEIN<br />

UND<br />

GRIECHISCH<br />

in Berlin und Brandenburg<br />

ISSN 0945-2257 JAHRGANG LXIV / HEFT 1-<strong>2020</strong><br />

©Musée du Louvre, Paris<br />

Säulen des Apollontempel in Side<br />

Mitteilungsblatt des Landesverbandes Berlin<br />

und Brandenburg im Deutschen<br />

Altphilologenverband (DAV) http://davbb.de<br />

Herausgeber:<br />

Der Vorstand des Landesverbandes<br />

1. Vorsitzender:<br />

Prof. Dr. Stefan Kipf<br />

stefan.kipf@staff.hu-berlin.de<br />

2. Vorsitzende:<br />

StR Gerlinde Lutter · g1lutter@aol.com<br />

Andrea Weiner<br />

Beisitzer:<br />

StR Wolf-Rüdiger Kirsch ∙ StD Dr. Josef Rabl<br />

Redaktion:<br />

StD Dr. Josef Rabl ∙ Josef.Rabl@t-online.de<br />

Kassenwart: Peggy Klausnitzer<br />

peggy.klausnitzer@t-online.de<br />

Verbandskonto:<br />

IBAN: DE51 1605 0000 3522 0069 75<br />

BIC: WELADED1PMB<br />

Mittelbrandenburgische Sparkasse<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt mit der Meinung<br />

des Vorstandes übereinstimmen. Anfragen bitte nur an die Schriftführung<br />

des Landesverbandes. – Nichtmitgliedern des Landesverbandes<br />

bietet der Verlag ein Jahresabonnement und Einzelhefte an. <br />

www.ccbuchner.de<br />

INHALT<br />

■ Andreas Fritsch:<br />

Der junge Leibnitz würdigt Comenius<br />

mit einem Gedicht 3<br />

■ Mitteilungen und Veranstaltungen 13<br />

■ Sonja Schreiner:<br />

Gepaarte (A)symmetrie 15<br />

■ Josef Rabl:<br />

Auf der Jagd nach Bildern 24<br />

■ Klaus Bartels:<br />

Stichwort: Idee 32<br />

■ Friedrich Maier:<br />

Der Bürger zwischen<br />

Lebensmodellen 33<br />

■ Aglaia Rachel-Tsakona:<br />

2. Schülerwettbewerb der Griechischen<br />

Botschaft, Berlin <strong>2020</strong> 37<br />

■ Friedrich Hölderlin:<br />

Griechenland (1793/94) 40<br />

■ Josef Rabl:<br />

Von Gottfreid Semper lernen 41<br />

■ Josef Rabl:<br />

Schöne Bücher –<br />

Sechs Rezensionen 51<br />

■ Impressum 71<br />

C. C. BUCHNER VERLAG · BAMBERG


Ovid-Verlag<br />

Rudolf Henneböhl<br />

Im Morgenstern 4<br />

33<strong>01</strong>4 Bad Driburg<br />

Prof. Dr. Friedrich Maier<br />

„Imperium – von Augustus zum Algorithmus<br />

(Geschichte einer Ideologie)“<br />

224 Seiten [ISBN: 978-3-938952-36-8] – 10,- €<br />

Was hat Augustus mit dem Algorithmus gemein? Die Herrschaftsdoktrin ist es,<br />

die beide verbindet. Sie ist von den Römern „entdeckt“, begründet und praktiziert<br />

worden. Das Imperium Romanum verdankt dem – seit dem vorletzen Jahrhundert<br />

so genannten – „Imperialismus“ seine Entstehung und Größe und seine überragende<br />

Wirkmacht über die Jahrtausende hinweg.<br />

Die Ideologie des Imperium Romanum hat das antike Rom überdauert und ist<br />

in allen Formen von Herrschaft zum Tragen gekommen, weit über den Bereich<br />

der Politik hinaus. Sie ist gleichsam zu einem Herrschaftsmodell geworden auch<br />

für Religionsverbreitung, Industrialisierung, Naturbemächtigung, Wirtschaftsdominanz<br />

und technologische „Welteroberung“.<br />

Der Weg, den das imperialistische Herrschaftsmodell von der Antike über das<br />

Mittelalter und die Neuzeit bis in das moderne digitale Zeitalter genommen hat,<br />

wird in diesem Buch mithilfe einschlägiger, meist lateinischer (aber übersetzter)<br />

Texte erforscht und verständlich dargestellt. Die Geschichte Europas und<br />

der Welt wird unter solchem Vorzeichen in einer <strong>neu</strong>en Weise verlebendigt<br />

und zugleich hinterfragt. In Hinsicht auf die Zukunft ergibt sich die Frage: wie<br />

und inwieweit wird sich die allseits prognostizierte Herrschaft der „Maschine“,<br />

d. h. des Superroboters und der Künstlichen Intelligenz, am antiken Muster der<br />

Machtausübung orientieren und welche Folgen sind daraus zu erwarten?<br />

Prof. Dr. Friedrich Maier / Rudolf Henneböhl<br />

Das große Klausurenbuch zur Autoren-Lektüre (Prosa)<br />

214 Seiten, vollfarbig [ISBN: 978-3-938952-34-4] – 22,- €<br />

➢ 60 Klausurtexte zu 19 Autoren jeweils<br />

mit grammatischer Vorentlastung,<br />

Übungstext und Prüfungstext (Klausur).<br />

➢ Eine kurze Einführung zu allen Autoren.<br />

➢ Lösungen zu allen Texten u. Aufgaben.<br />

➢ Eine Übersicht zur Gundgrammatik<br />

(zum Nachschlagen und Lernen) und<br />

➢ ein Verzeichnis der Grammatik (zum<br />

gezielten Suchen nach Übungstexten).<br />

Das Buch ist gedacht als Materialsammlung<br />

für die Ausbildung in Schule und Universität.<br />

Es kann im Unterricht (Grammatikeinführung<br />

und -wiederholung) und als Vorbereitung<br />

auf die Klausur verwendet werden.<br />

Studium generale<br />

(16 Seiten, A4, vollfarbig)<br />

3,- €<br />

Grammatik und Vokabular<br />

(Grundlagen) als Lernbegleiter.<br />

Aufgrund des geringen<br />

Gewichtes können alle<br />

Schüler das Basiswissen jederzeit<br />

zur Hand haben.<br />

www.ovid-verlag.de<br />

info@ovid-verlag.de<br />

Tel.: 05253-9758-539<br />

Fax: 05253-9758-540<br />

Zur Einführung<br />

Imperium und Imperialismus<br />

Hauptteil<br />

1. Das Doppelgesicht der Herrschaft<br />

Der grauenvolle Akt am Anfang<br />

2. „Barbaren“ als Feindbild<br />

Ein Naturrecht auf Herrschaft?<br />

3. Herrschaft durch Sprache<br />

Propaganda zwischen den Zeilen<br />

4. „Die Räuber der Welt“<br />

Hetzreden gegen das Imperium<br />

5. Der göttliche Augustus<br />

und sein „blutiger Frieden“<br />

6. Dichter am Cäsaren-Hof<br />

Hofieren oder Verlieren<br />

7. Cäsarenwahn und „Pressefreiheit“<br />

„das Äußerste an Knechtschaft“<br />

8. „In diesem Zeichen wirst du siegen.“<br />

Allianz zw. Antike und Christentum<br />

9. „Gerechte Kriege“ für die Christenheit<br />

Politik „im Zeichen des Kreuzes“<br />

10. „Europa“ – Herrin der Welt<br />

Auf den Fundamenten der Antike<br />

11. Christsein ohne Herrschaftsanspruch?<br />

Der franziskanische Widerspruch<br />

12. Die Herrschaft über die Natur<br />

Ikarus – Symbol des Scheiterns<br />

13. „Die Macht des Algorithmus“<br />

Auf der Flucht ins Universum<br />

Nachbetrachtung<br />

Die Geschichte der Zukunft<br />

Warum interessiert die Vergangenheit?<br />

Der junge Leibniz<br />

würdigt Comenius<br />

mit einem Gedicht.<br />

Epicedium in obitum Comenii.<br />

Zum Tod des Comenius vor 350 Jahren (1670)<br />

In den Mitteilungsblättern des Altphilologenverbandes<br />

gab es in den letzten Jahrzehnten<br />

schon mehrmals Hinweise auf Johann Amos<br />

Comenius (1592–1670), da er nicht nur als<br />

Begründer der <strong>neu</strong>zeitlichen Pädagogik, sondern<br />

auch als bedeutender Sprachdidaktiker 1 gilt.<br />

Ein Großteil seiner Schriften ist in lateinischer<br />

Sprache abgefasst und darüber hinaus auch<br />

speziell dem Unterricht der lateinischen Sprache<br />

gewidmet. In seinem bedeutendsten sprachwissenschaftlichen<br />

und sprachdidaktischen Werk<br />

mit dem Titel Novissima Linguarum Methodus<br />

(„Die <strong>neu</strong>este Sprachenmethode”) behandelt er<br />

die lateinische Sprache geradezu als ein „Modell<br />

von Sprache”. 2 Die Lateinlehrer und -lehrerinnen<br />

als Vertreter des ältesten Faches der deutschen<br />

Schule haben Grund, ihn als kompetenten Vertreter<br />

ihres Faches zu verstehen, ja auf ihn stolz<br />

zu sein, zumal viele seiner methodischen Ideen<br />

und Anregungen, die für den modernen Schulunterricht<br />

und besonders den Fremdsprachenunterricht<br />

(z.B. auch die „direkte” Methode) von ihm<br />

„vorweggenommen”, sorgfältig formuliert und<br />

inzwischen selbstverständlich geworden sind. Zu<br />

seiner Zeit war Latein in Europa die lingua franca,<br />

damals schon seit über tausend Jahren zwar niemandes<br />

Muttersprache mehr, aber in vielen Ländern<br />

die Sekundärsprache, in der sich die Wissenschaftler,<br />

Politiker und Diplomaten verständigen<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

– Von Andreas Fritsch –<br />

konnten. Seine Vorschläge galten daher einer<br />

schnellen, angenehmen und sicheren Lehr- und<br />

Lernmethode dieser Sprache als eines Kommunikationsmittels<br />

im Alltag, in der Wissenschaft und<br />

überhaupt in der internationalen Verständigung.<br />

1 Vgl. z.B. „Zum 400. Geburtstag von Jan Amos Comenius”.<br />

In: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes<br />

(= MDAV) 34 (1991), S. 102–104. ·<br />

„Von Comenius zu Horaz”. In: MDAV 35 (1992),<br />

S. 145–148. · „350 Jahre Didactica Magna”. In: Forum<br />

Classicum (= FC) 49 (2006), S. 250. · „Comenius und<br />

Seneca”. In: Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg<br />

(= LGBB) 51 (2007), S. 10-17. · „Daniel Ernst<br />

Jablonski zum 350. Geburtstag geehrt”. [Jablonski war<br />

ein Enkel von Comenius und zusammen mit Leibniz Mitbegründer<br />

der „Sozietät der Wissenschaften“, die heute<br />

in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />

fortlebt.] In: FC 53 (2<strong>01</strong>0), S. 286-289. ·<br />

„Humanitas und Latinitas. Comenius als lateinischer<br />

Schriftsteller”. In: LGBB 59 (1/2<strong>01</strong>5), S. 3-22 (im<br />

Internet: http://mitteilungen.davbb.de/images/2<strong>01</strong>5/heft<br />

1/LGBB_<strong>01</strong>2<strong>01</strong>5_<strong>web</strong>.pdf).<br />

2 Vor einem halben Jahrhundert forderte der Erziehungswissenschaftler<br />

Theodor Wilhelm für die Schule „Latein<br />

plus eine moderne Fremdsprache“, als „unerlässlich,<br />

aber auch ausreichend“. Zwischen diesen beiden Sprachen<br />

seien die Funktionen ökonomisch zu verteilen.<br />

Latein sei besser als jede lebende Sprache geeignet<br />

(gerade weil es eine „tote“ Sprache sei), „Sprache als<br />

ein System sichtbar zu machen, als ein ‚Modell von<br />

Sprache überhaupt‘.“ Th. Wilhelm: Theorie der Schule.<br />

Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften.<br />

Stuttgart 1967, S. 369.<br />

3


In diesem Jahr <strong>2020</strong> gedenkt die bildungshistorisch<br />

interessierte Welt seines 350. Todestages.<br />

Er starb am 15. November 1670 in Amsterdam,<br />

im niederländischen Exil, da er bald nach Beginn<br />

des Dreißigjährigen Krieges aus seiner mährischböhmischen<br />

Heimat vertrieben worden war. Aus<br />

diesem Anlass wurden und werden noch mehrere<br />

z.T. internationale Konferenzen durchgeführt, die<br />

sein Lebenswerk in Erinnerung bringen, untersuchen<br />

und weiter auswerten sollen. In Berlin organisierten<br />

Mitglieder der Deutschen Comenius-<br />

Gesellschaft zusammen mit anderen Institutionen<br />

einen Comenius-Gedenktag am 29. Februar <strong>2020</strong>.<br />

Beteiligt waren auch der Altphilologenverband,<br />

der Förderkreis Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />

Forschung, der Förderkreis Böhmisches Dorf<br />

und die Evangelische Brüdergemeinde der Herrnhuter<br />

in Berlin Neukölln, da Comenius bekanntlich<br />

nicht nur Pädagoge, Philosoph und Theologe,<br />

sondern vor allem auch der letzte Bischof<br />

der Böhmischen Brüderunität war. Daher fand<br />

die Veranstaltung auch im Kirchensaal der gastgebenden<br />

Brüdergemeine im Böhmischen Dorf<br />

in Berlin-Neukölln statt. Etwa hundert Besucher/<br />

innen fanden sich dazu ein. Vorträge hielten<br />

Theodor Clemens, Bischof der Brüderunität, der<br />

Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Lischewski<br />

und der Unterzeichnete. Es gab nach<br />

alternativen Führungen durch den Comeniusgarten<br />

bzw. im Museum des Böhmischen Dorfes<br />

ein Podiumsgespräch zwischen dem Theologen<br />

und Comeniusforscher Dr. Manfred Richter und<br />

dem Landesbischof i.R. der Ev. Kirche Berlin-<br />

Brandenburg und oberschlesische Lausitz Dr.<br />

Markus Dröge über Möglichkeiten der ökumenischen<br />

Verständigung und Zusammenarbeit<br />

zwischen den Kirchen zur Zeit des Comenius und<br />

heute. Eingerahmt wurde das Wortprogramm<br />

durch musikalische Darbietungen: Moritz Kayser,<br />

ein Jungstudent der Universität der Künste,<br />

spielte eine Cellosuite Solo von J.S. Bach, den<br />

Abschluss bildeten Lieder von Comenius und der<br />

3 Vgl. LGBB 59 (1/2<strong>01</strong>5), S. 14f. und 22.<br />

Das auf dem Foto wiedergegebene Ölgemälde von<br />

Comenius (92 x 72 cm) befindet sich heute im Museum der<br />

polnischen Stadt Leszno (Inv.-Nr. MLS 1493). Nach Angaben<br />

des Museums wurde es im Jahr 1835 von Ferdinand Gregor<br />

geschaffen. Als Geburtsjahr des Comenius (natus) wird unter<br />

dem Bild richtig 1592 genannt; als Todesjahr (defunctus)<br />

ist irrtümlich 1671 angegeben, vielleicht weil Leibniz erst<br />

geraume Zeit nach dem Todestag (15. November 1670) vom<br />

Tod des Comenius erfuhr und das Trauergedicht (Epicedium)<br />

erst im Jahr 1671 abschickte.<br />

Böhmischen Brüder, gesungen vom Chor der Brüdergemeine<br />

unter Leitung des Kantors Winfried<br />

Müller-Brandes.<br />

Da es sich um eine Gedenkveranstaltung anlässlich<br />

des Todes von Comenius vor 350 Jahren handelte,<br />

brachte ich in Abstimmung mit den beteiligten<br />

Veranstaltern das lateinische Trauergedicht<br />

von Leibniz in Erinnerung. Dieses Gedicht ist zwar<br />

in dieser Zeitschrift schon einmal kurz vorgestellt<br />

worden. 3 Diesmal konnte ich aber etwas ausführlicher<br />

auf den berühmten Autor Leibniz und<br />

seine Beziehung zu Comenius eingehen. Es folgt<br />

hier der Text meines Vortrags, wobei der Wortlaut<br />

weitestgehend beibehalten ist. Hinzugefügt<br />

wurden nur einige Anmerkungen und Literaturhinweise.<br />

Der Vortrag<br />

Meine Damen und Herren,<br />

liebe Comenius-Freunde,<br />

dass der berühmte Jurist, Mathematiker und Philosoph<br />

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)<br />

im Alter von vierundzwanzig Jahren ein lateinisches<br />

Gedicht zu Ehren des gerade verstorbenen<br />

78-jährigen Johann Amos Comenius verfasst hat,<br />

dürfte nicht jedem geläufig sein. Erst durch die<br />

jüngere Leibniz- und Comeniusforschung ist das<br />

mehr und mehr bekannt geworden. Das Leibniz-<br />

Archiv in Hannover besitzt davon sogar Originalhandschriften<br />

von Leibniz selbst. (Eine verkleinerte<br />

Kopie ist auf der Abbildung unten zu sehen.)<br />

Die Fotokopie dieser Originalhandschrift des Gedichts von<br />

Leibniz ist dem Aufsatz von Hartmut Hecht entnommen:<br />

„Der junge Leibniz über Johann Amos Comenius. Eine<br />

Laudatio in Versen”. In: Werner Korthaase, Sigurd Hauff,<br />

Andreas Fritsch (Hrsg.): Comenius und der Weltfriede.<br />

Comenius and World Peace. Berlin: Deutsche Comenius-<br />

Gesellschaft 2005, S. 377–390.<br />

Wer Comenius war, ist im Kreis der Anwesenden<br />

einigermaßen bekannt. Ich fasse seine Bedeutung<br />

für die Pädagogik schlagwortartig mit einer<br />

Formulierung aus einem modernen „Wörterbuch<br />

der Pädagogik” zusammen. Demnach gilt er als<br />

„erster großer Theoretiker einer systematischen<br />

und umfassenden Pädagogik”. 4 Seine ‘pansophische’<br />

Erziehungs- und Bildungslehre stellt nicht<br />

nur „den Höhepunkt der Barockpädagogik” dar,<br />

sondern sie hat viele Probleme der modernen Pädagogik<br />

„vorweggenommen”, wie z.B. Bildung<br />

für alle, Jungen und Mädchen aus allen Schichten,<br />

Chancengleichheit, Vorschulerziehung, Learning<br />

by Doing, lebenslanges Lernen, Erwachsenenbildung<br />

und viele andere Prinzpien, die heute<br />

vielleicht trivial und selbstverständlich erscheinen<br />

mögen, zu seiner Zeit aber und noch lange danach<br />

als „Utopische Träume” eingestuft wurden. 5<br />

Die Comeniusforschung entdeckt auch jetzt noch<br />

immer wieder <strong>neu</strong>e Aspekte seines etwa 250<br />

Titel umfassenden Gesamtwerks, 6 wobei die vielen<br />

zum Teil sehr umfangreichen Briefe noch gar<br />

nicht mitgezählt sind. Nach der Vertreibung aus<br />

seiner Heimat, dem heutigen Tschechien, wandte<br />

er sich mit seinen Reformvorschlägen für Politik,<br />

Pädagogik und Theologie nicht mehr nur an seine<br />

böhmisch-mährischen Landsleute, sondern an<br />

ganz Europa und benutzte dafür die lingua franca<br />

seiner Zeit, die lateinische Sprache. Etwa Dreiviertel<br />

seiner Werke sind in dieser Sprache abgefasst.<br />

Daher habe ich selbst einige Aufsätze<br />

zum Latein des Comenius verfasst und fühle mich<br />

befugt, hier ein lateinisches Gedicht vorzustellen,<br />

das Leibniz, der letzte Universalgelehrte Europas,<br />

als junger Mann auf Comenius verfasst hat.<br />

4 Winfried Böhm: Wörterbuch der Pädagogik. 14.,<br />

überarbeitete Aufl. Stuttgart: Kröner 1994, S. 151.<br />

5 Vgl. Johann Gottfried Herder, 57. Brief der Briefe zu<br />

Beförderung der Humanität. 124 Briefe in 10 Sammlungen.<br />

Ausgabe Riga 1793–97; der 57. Brief („über den<br />

menschenfreundlichen Comenius”) erschien 1795.<br />

Vgl. Reinhard Golz, Werner Korthaase, Erich Schäfer<br />

(Hg.): Comenius und unsere Zeit. Geschichtliches, Bedenkenswertes,<br />

Biographisches. Baltmannsweiler: Schneider<br />

Verlag Hohengehren 1996, S. 2<strong>01</strong>–214, hier 205.<br />

6 Vgl. Klaus Schaller: Johannes Amos Comenius. Ein pädagogisches<br />

Porträt. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz (UTB)<br />

2004, S. 13.<br />

4 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

5


Für die Wiederentdeckung, Veröffentlichung und<br />

Übersetzung dieses Gedichts ist mehreren Wissenschaftlern<br />

zu danken. Erstmals gedruckt wurde<br />

es offenbar erst 1847 in der Ausgabe von Georg<br />

Heinrich Pertz. 7 In jüngerer Zeit haben sich vor allem<br />

Hartmut Hecht (1993 und 2005) 8 und Konrad<br />

Moll (2004) 9 um die Bekanntmachung dieses Gedichts<br />

verdient gemacht. 10 Seit 2006 ist es auch<br />

in der kritischen Leibniz-Edition zu finden. 11 Es<br />

lagen seit 1892 einzelne deutsche Übersetzungen<br />

vor. 12 Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen<br />

Comenius-Gesellschaft, Werner Korthaase<br />

(1937–2008), bat mich seinerzeit um eine Neuübersetzung,<br />

die erstmals 1996 in dem von Golz,<br />

Korthaase und Schäfer herausgegebenen Band<br />

„Comenius und unsere Zeit” erschien. Meine<br />

Übersetzung verzichtete auf das antike Versmaß,<br />

7 G.W. Leibniz, Gesammelte Werke, hg. von G.H. Pertz,<br />

1. Folge, Bd. 4, Hannover 1847, S. 270.<br />

8 Hartmut Hecht: „Die Handschriften des Leibnizschen<br />

Gedichts auf Johann Amos Comenius“. In: Comenius-<br />

Jahrbuch 1, 1993, S. 83–90. – Ders.: „Der junge Leibniz<br />

über Johann Amos Comenius. Eine Laudatio in Versen”.<br />

In: Werner Korthaase, Sigurd Hauff, Andreas Fritsch<br />

(Hg.): Comenius und der Weltfriede. Comenius and<br />

World Peace. Berlin: Deutsche Comenius-Gesellschaft,<br />

2005, S. 377–390.<br />

9 Konrad Moll: „Leibniz, Comenius, Bisterfeld. Die Ambivalenz<br />

des Menschen zwischen Weltordnung und Chaos”.<br />

In: Comenius-Jahrbuch 9-10/20<strong>01</strong>-2002 (erschienen<br />

2004), S. 44–61.<br />

10 Milada Blekastad hat das lateinische Gedicht bereits<br />

1969 in ihrem Standardwerk (ohne Übersetzung) veröffentlicht:<br />

Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben,<br />

Werk und Schicksal des Jan Amos Komenský. Oslo:<br />

Universitetsforlaget / Praha: Academia, S. 678.<br />

11 Leibniz, Sämtliche Schriften, 2. Reihe Philosophischer<br />

Briefwechsel, 1. Band, Berlin: Akademie Verlag 2006, S.<br />

188 (= im PDF der Internet-Ausgabe auf S. 243): https://<br />

rep.adw-goe.de/bitstream/handle/11858/00-0<strong>01</strong>S-0000-<br />

0006-B8E3-4/Vollversion-II%2c1.pdf?sequence=1.<br />

12 Theodor Renaud: „An Johann Amos Comenius”. In:<br />

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, 1. Jahrgang<br />

1892, S. 168 f. – Dietrich Mahnke: „Der Barock-Universalismus<br />

des Comenius“, 2. Teil. In: Zeitschrift für Geschichte<br />

der Erziehung und des Unterrichts, 22. Jg. 1932,<br />

S. 61–90 (Übers. auf S. 90). Im Internet: https://goobi<br />

<strong>web</strong>.bbf.dipf.de/viewer/object/025295241_0<strong>01</strong>7/3/.<br />

13 Albert Einstein: Mein Weltbild. Hrsg. von Carl Seelig.<br />

Frankfurt/M., Berlin: Ullstein 1964; bes. S. 19.<br />

bemühte sich aber um rhythmische Prosa; sie ist<br />

seitdem mehrmals an verschiedenen Stellen abgedruckt<br />

oder zitiert und auch in der genannten<br />

Leibniz-Edition erwähnt worden.<br />

Es stellen sich die Fragen: Warum ausgerechnet<br />

Leibniz das Gedicht verfasst hat, und warum hat<br />

er es in kunstvollen lateinischen Versen gestaltet,<br />

d.h. in klassischen Distichen, die jeweils aus<br />

einem Hexameter und einem Pentameter bestehen?<br />

Warum lateinisch?<br />

Diese Frage beantworte ich mit einem Zitat von<br />

Albert Einstein (1879–1955), dem großen Physiker<br />

des 20. Jahrhunderts. Er schrieb in einer Stellungnahme<br />

nach der Gründung des Völkerbundes<br />

(1919 in Genf) u.a.: „Noch im siebzehnten Jahrhundert<br />

sind die Wissenschaftler und Künstler<br />

von ganz Europa so fest durch ein gemeinsames<br />

idealistisches Band verbunden gewesen, daß ihre<br />

Zusammenarbeit durch die politischen Ereignisse<br />

kaum beeinflußt wurde. Der Allgemeingebrauch<br />

der lateinischen Sprache festigte noch die Gemeinschaft.<br />

Heute schauen wir auf diese Situation<br />

wie auf ein verlorenes Paradies.” 13 Somit gehören<br />

viele Schriften von Leibniz, der sonst auch deutsch<br />

und französisch schrieb, nach heutigem Verständnis<br />

zur sog. „<strong>neu</strong>lateinischen Literatur”. 14<br />

An Umfang übertrifft die Zahl <strong>neu</strong>lateinischer<br />

Werke die Zahl der aus der Antike überlieferten<br />

lateinischen Texte – nach Schätzung von Experten<br />

– „um das Hundert- bis Zehntausendfache”. 15<br />

Woher kannte der 24-jährige<br />

Leibniz den mit 78 Jahren<br />

verstorbenen Comenius?<br />

Hierzu veröffentlichte der Leibnizforscher Konrad<br />

Moll in einem Aufsatz für das Comenius-Jahrbuch<br />

detaillierte Informationen. 16 Die Frage, wie, wann<br />

und wo der junge Leibniz zu seinen Comeniuskentnissen<br />

kam, müsse zwar „offen bleiben”.<br />

Aber die Frage, was ihn prinzipiell schon in seiner<br />

Studentenzeit dem Comenius näherbrachte und<br />

ihn so sehr für ihn eingenommen hat, lasse sich<br />

„recht eindeutig beantworten.” (S. 46f.) Nach<br />

Molls Forschungen hatte Leibniz aber bereits als<br />

achtjähriges Kind Gelegenheit, „die Urform des<br />

Orbis sensualium pictus (das Lucidarium) von<br />

Comenius kennenzulernen und aus dieser Encyclopaediola<br />

sensualium zu lernen.” Schon das hat<br />

„sicher bei ihm Spuren hinterlassen”, zumal er<br />

sich später als junger Mann den Orbis sensualium<br />

pictus selbst gekauft hat (S. 47). Doch die eigentliche<br />

Verbindung von Leibniz zur Gedankenwelt<br />

des Comenius wurde (nach Molls Forschungen)<br />

durch die Schriften des reformierten Theologen<br />

und Philosophen Johann Heinrich Bisterfeld<br />

(1605–1655) hergestellt, der wie Comenius in der<br />

pansophisch ausgerichteten Hochschule im calvinistischen<br />

Herborn bei Johann Heinrich Alsted<br />

(1588–1638) seine geistige Heimat hatte (Moll,<br />

S. 47). Von Bisterfelds Philosophie übernahm<br />

Leibniz „die wichtigste Grundüberzeugung seines<br />

Lebens, die ,Harmonie’ alles Seienden”. Diese gemeinsame<br />

pansophische Verwurzelung lässt sich,<br />

wie Konrad Moll aufgezeigt hat, in Leibnizens früher<br />

Zeit „bis in biographische Einzelheiten hinein<br />

belegen” (S. 48).<br />

Bis heute gilt Leibniz als „Wunderkind”. 17 Die Berliner<br />

Philosophieprofessorin Katharina Kanthack<br />

(19<strong>01</strong>–1986) erzählt in ihrem Buch über „Leibniz.<br />

Ein Genius der Deutschen”: 18 „Er lernt als Achtjähriger<br />

ohne jede Unterweisung Latein, indem er<br />

die Bildunterschriften einer Liviusausgabe gleichsam<br />

als Fibel benutzt” (S. 7 f.) Er „durchrast”<br />

bald nach dem frühen Tod seines Vaters dessen<br />

Bibliothek, „schwelgt in Folianten, sättigt sich an<br />

klassischen Schriftstellern, an Cicero und Seneca,<br />

Plinius, Herodot, Plato und Xenophon. […] Mit<br />

zwölf Jahren genügt ihm ein Vormittag, um dreihundert<br />

lateinische Hexameter anzufertigen. Aber<br />

er entzieht sich schnell wieder den Schlingen der<br />

Poesie und fällt dafür in die der formalen Logik”<br />

(S. 8). Doch die Fähigkeit und die Bereitschaft, lateinische<br />

Verse zu dichten, bleiben ihm zeitlebens<br />

erhalten, nicht nur bis zu seinem 24. Lebensjahr,<br />

also bis zum Tod des Comenius; sondern auch 35<br />

Jahre später, als er zum Tod der preußischen Königin<br />

Sophie Charlotte (1705) ein noch längeres<br />

lateinisches Gedicht verfasste. Mit ihr hatte er<br />

intensiven freundschaftlichen Umgang, 19 und auf<br />

ihre Initiative gründete er bekanntlich zusammen<br />

14 Vgl. den Artikel „Neulatein” in: Der <strong>neu</strong>e Pauly.<br />

Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/4 (20<strong>01</strong>), Sp. 925–946.<br />

– Ferner: Jozef IJsewijn: Companion to Neo-Latin Studies.<br />

Amsterdam, New York, Oxford: North-Holland Publishing<br />

Company 1977, S. 125, 128, 139; auf S. 234 der<br />

Hinweis auf Joh. T. Roenickius, Recentiorum poetarum<br />

Germanorum carmina selectiora (2 vols.; Helmstedt,<br />

1749–1751). “Among the famous names included are<br />

the philosophers Leibniz and Baumgarten.” [Alexander<br />

Gottlieb Baumgarten (1714–1762) war ein deutscher<br />

Philosoph, der in der Tradition der Leibniz-Wolff’schen<br />

Aufklärungsphilosophie stand und die Ästhetik als<br />

philosophische Disziplin begründete.] – Martin Korenjak:<br />

Geschichte der <strong>neu</strong>lateinischen Literatur. Vom Humanismus<br />

bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 2<strong>01</strong>6, S.<br />

23, 87, 89, 148, 152, 159, 235; S. 77: Leibniz bezeichnete<br />

das Lateinische in seinem „Kurzen wohlgemeinten<br />

Bedenken zum Abgang der Studien und wie denenselben<br />

zu helfen” (1711) wegen seiner „Dauerhaftigkeit” im Gegensatz<br />

zu den lebenden Sprachen als „lingua Europaea<br />

universalis et durabilis ad posteritatem.” – Sehr wertvoll<br />

ist in diesem Zusammenhang der im Internet abrufbare<br />

Text „Klassische und Neulateinische Philologie. Probleme<br />

und Perspektiven” (http://www.rhm.uni-koeln.de/146/<br />

Ludwig.pdf). Die dort wiedergegebenen drei Referate<br />

von Walther Ludwig, Reinhold F. Glei und Jürgen<br />

Leonhardt wurden unter diesem Sammeltitel innerhalb<br />

der 27. Tagung der Mommsen-Gesellschaft, die am<br />

11.–14. Juni 2003 in Freiburg im Breisgau und in Sélestat/Schlettstadt<br />

unter dem Titel „Die Zukunft der Antike“<br />

stattfand, am 14. Juni in einerVeranstaltung im dortigen<br />

Institut Universitaire de Formation des Maîtres<br />

d’Alsace gehalten.<br />

15 Walther Ludwig: „Die <strong>neu</strong>lateinische Literatur seit der<br />

Renaissance“. In: Fritz Graf (Hg.): Einleitung in die lateinische<br />

Philologie. Stuttgart und Leipzig: B.G. Teubner<br />

1997. S. 323–356, hier 333.<br />

16 Siehe oben Anm. 9. Konrad Moll hatte zuvor (1978 bis<br />

1996) ein dreibändiges Werk Der junge Leibniz veröffentlicht<br />

(Stuttgart: Frommann-Holzboog).<br />

17 Wilhelm Weischedel: Die philosophishe Hintertreppe.<br />

34 große Philosophen in Alltag und Denken (1966).<br />

München: dtv 1975, S. 142.<br />

18 Katharina Kanthack: Leibniz. Ein Genius der Deutschen.<br />

Berlin: Minerva 1956, S. 7.<br />

6 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

7


mit dem Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, einem<br />

Enkel des Comenius, im Jahr 1700 in Berlin<br />

die preußische Sozietät der Wissenschaften,<br />

die heutige Berlin-Brandenburgische Akademie<br />

der Wissenschaften. Nach dem Tod der Königin<br />

Sophie Charlotte wurde die Stadt Lietzenburg in<br />

Charlottenburg umbenannt, wie der betreffende<br />

Berliner Stadtteil noch heute heißt. Von ihr angeregt<br />

veröffentlichte Leibniz seine „Theodizee”<br />

und widmete das Werk ihrem Andenken. 20<br />

19 Die in Berlin lebende Schriftstellerin Renate Feyl hat über<br />

die Begegnungen zwischen Leibniz und der Königin<br />

einen Roman verfasst: Aussicht auf bleibende Helle. Die<br />

Königin und der Philosoph (München 2008). Sie erzählt,<br />

wie Sophie Charlotte in Leibniz „einen Seelenverwandten<br />

und Gefährten ihrer Gedanken” findet, wie sie ihn „zu<br />

einer systematischen Ausarbeitung seiner Ideen” ermuntert<br />

und „ihn durch ihre Fragen immer wieder aufs<br />

Neue” herausfordert. So wird sie „zu seiner diva vitae,<br />

der Frau seines Lebens”.<br />

20 George MacDonald Ross: „Leibniz und Sophie Charlotte“.<br />

In: Sophie Charlotte und ihr Schloss: Ein Musenhof<br />

des Barock in Brandenburg-Preußen. Katalogbuch zur<br />

Ausstellung im Schloß Charlottenburg, Berlin, 6. November<br />

1999 bis 30. Januar 2000. München, London, New<br />

York: Prestel 1999, S. 95-105, hier 102.<br />

21 Wie Klaus Bartels über eine Hexameter-Maschine aus<br />

dem 19. Jahrhundert berichtet hat. Bartels erzählt von<br />

dem Buchdrucker John Clark, der 1845 in London eine<br />

Maschine vorführte, die in der Lage war, „über 26 Millionen<br />

metrisch korrekte lateinische Hexameter nachein<br />

ander herunterzuklappern”. Der Erfinder hat die Maschine<br />

1848 in einer Broschüre beschrieben: General History<br />

and Description of a Machine for Composing Latin Hexameter<br />

Verses. (K. Bartels: Zeit zum Nichtstun. Streiflichter<br />

aus der Antike. Paderborn, München, Wien, Zürich:<br />

Schöningh 1989, S. 176-178.)<br />

22 Herbert Meschkowski: Jeder nach seiner Façon. Berliner<br />

Geistesleben 1700–1810. München, Zürich: Piper 1986,<br />

S. 21. – Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften<br />

(BBAW) widmete „ihrem Gründer, dem Philosophen,<br />

Mathematiker, Physiker, Historiker; Diplomaten,<br />

Politiker und Bibliothekar” zum 370. Geburtstag<br />

am 1. Juli 2<strong>01</strong>6 eine Vortragsreihe mit dem Thema<br />

„Leibniz: Vision als Aufgabe”. Die Veranstaltungen<br />

sollten „Leibniz als visionären Denker” zeigen, „dessen<br />

multidisziplinäres Gesamtwerk bis heute Impulsgeber für<br />

Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist”,<br />

wie es auf einem Flyer der BBAW hieß.<br />

23 Meschkowski (s.o.), S. 22.<br />

24 „Die Firma Siemens hat Leibniz für seine Entdeckung<br />

durch eine Veröffentlichung im Jahre 1966, zu seinem<br />

250. Todestag, gedankt.” (Meschkowski, S. 23)<br />

Vom jungen Leibniz gibt es keine Porträts; berühmt sind<br />

aber einige Gemälde, die ihn als Diplomaten und Wissenschaftler<br />

und, wie es zu seiner Zeit modern war, mit üppiger<br />

Perücke darstellen. Hier eine Briefmarke aus dem Jahr 1980,<br />

die wohl eines der berühmten Porträts (von Christoph Bernhard<br />

Francke um 1700) zeitgemäß stilisiert. Den Entwurf<br />

dieser Briefmarke schuf Elisabeth von Janota-Bzowski.<br />

Die lateinische Verskunst setzt aber nicht nur poetische<br />

Phantasie, sondern auch gründliche Kenntnis<br />

der lateinischen Sprache und Literatur voraus,<br />

insbesondere die genaueste Beachtung der Längen<br />

und Kürzen der Silben. Die antike Metrik hat<br />

darüber hinaus wohl auch eine gewisse Nähe zur<br />

Mathematik und Technik. 21 Heute ist Leibniz, der ja<br />

eigentlich Jurist und Diplomat war, bekannt als der<br />

bedeutendste Mathematiker seiner Zeit. Er gilt als<br />

„der letzte Gelehrte” Europas, „der das gesamte<br />

Wissen seiner Zeit beherrschte”. 22 Leibniz (1646–<br />

1716) und Newton (1643–1727) haben in etwa<br />

zur selben Zeit, aber unabhängig voneinander,<br />

die Differenzial- und Integralrechnung entwickelt.<br />

Leibniz hat auch – was für uns alle und für die Entwicklung<br />

der Informatik bis heute von allergrößter<br />

Bedeutung ist – das binäre Zahlensystem oder Dualsystem<br />

erfunden; 23 auf dieser Grundlage baute<br />

er selbst eine mechanische Rechenmaschine. Zur<br />

vollen Geltung kam diese Leibnizsche Entdeckung<br />

aber erst im elektronischen Zeitalter. Jetzt konnte<br />

man Computer bauen und die Ziffer 1 „durch einen<br />

Stromstoß, die Null durch das Ausbleiben des<br />

Stroms vertreten lassen.” 24<br />

Unter den Büchern in der Bibliothek von Leibniz<br />

sind zwei kleine Werke von dem erwähnten Johann<br />

Heinrich Bisterfeld erhalten geblieben, „die<br />

er offenbar in seiner Studentenzeit in Leipzig oder<br />

in Jena gelesen hat. Sie haben seine geistige Biographie<br />

prägend mitbestimmt.” Darin finden sich<br />

Randnotizen von Leibniz, die, wie Moll schreibt,<br />

„unmittelbar ins Zentrum der späteren Leibnizschen<br />

Philosophie” führen (S. 48). Demnach hat<br />

die Universalharmonie (panharmonia) aller Dinge<br />

ihren Grund in der göttlichen Trinität (S.49 f.). 25<br />

In ihr liegen sowohl Quelle wie Maß und Ziel aller<br />

(Welt-)Ordnung. Der Mensch darf dem, was<br />

existiert, keine Gewalt antun, das kommt im<br />

Lebensmotto des Comenius zum Ausdruck, in<br />

dem von Comenius selbst geprägten lateinischen<br />

Hexameter: Omnia sponte fluant, absit violentia<br />

rebus. „Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne<br />

den Dingen.”<br />

Titelseite der Neuesten Sprachenmethode (1648/49)<br />

Er wiederholt oder interpretiert diesen Wahlspruch<br />

in mehreren Schriften, so auch in der zu<br />

seiner Lebenszeit nicht mehr veröffentlichten<br />

Pampaedia, dem Herzstück seines siebenbändigen<br />

Hauptwerks. 26 Auch in der „Großen Didaktik”<br />

(Didactica magna) betont er mehrfach das<br />

Prinzip der Gewaltlosigkeit.<br />

Der Spruch findet sich als Umschrift auf dem Emblem vieler<br />

Werke des Comenius, erstmals 1648 auf der Titelseite seiner<br />

„Neuesten Sprachenmethode” (Methodus Linguarum novissima).<br />

25 Vgl. Erwin Schadel: „‘Triunitas vox absurda est.‘<br />

Methodologische Beobachtungen zur sozinianischen<br />

Trinitätskritik“. In: Gerhard Banse u.a. (Hg.): Von<br />

Aufklärung bis Zweifel. Beiträge zu Philosophie, Geschichte<br />

und Philosophiegeschichte. Festschrift für<br />

Siegfried Wollgast. (Abhandlungen der Leibniz-Sozietät<br />

der Wissenschaften). Berlin: trafo Verlag 2008, S.<br />

293–324.<br />

26 Vgl. A. Fritsch: „Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne<br />

den Dingen. Das Emblem des Johann Amos Comenius”.<br />

In: Korthaase et al. 2005 (s.o. Anm. 8), S. 118–114;<br />

später auch in: Comenius, Opera didactica omnia, IV, 77:<br />

Latium redivivum § 8.<br />

8 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

9


Nach dem Tod des Comenius meldete sich der<br />

Tübinger Professor Magnus Hesenthaler, (1621–<br />

1681), der mit Comenius befreundet war, bei Leibniz<br />

und bat ihn um ein lateinisches Trauergedicht<br />

auf den Verstorbenen für dessen Sohn Daniel Comenius<br />

(1646–1696). 27 In einem Brief an Hesenthaler<br />

schreibt Leibniz, dass er dadurch Anlass und<br />

Gelegenheit hatte, sich mit den Schriften des Comenius<br />

intensiv zu befassen, „in Comenii scriptis<br />

animi attentione versari”. Ausdrücklich schreibt<br />

Leibniz: „Seine didaktischen Schriften finde ich<br />

insgesamt gut” (Didactica ejus in summa probo)<br />

Das zeigt sich auch heute noch, für jeden erkennbar<br />

und anschaulich, an dem Kinder-, Bild- und<br />

Sprachlehrbuch des Comenius, dem Orbis sensualium<br />

pictus (1658), das man zu Recht zu den<br />

etwa 400 Büchern zählt, „die die Welt verändern”<br />

konnten. 29 Dieses Kinderbuch versucht – wie die<br />

pansophischen Schriften für die Erwachsenen, die<br />

Theologen, Philosophen und Politiker – von Vornherein<br />

in den Einzelheiten doch immer zugleich<br />

auch das Ganze ganzheitlich zu vermitteln (omnia<br />

omnino): „Weltall, Erde, Mensch”, 30 aber eben als<br />

Schöpfung Gottes.<br />

sei! 31 Die Bemühungen des Comenius um die Verständigung<br />

unter den christlichen Konfessionen<br />

und der Einsatz für den Frieden zwischen den<br />

europäischen Staaten sind durchaus mit den Anstrengungen<br />

Leibnizens vergleichbar. Am 25. August<br />

2<strong>01</strong>8 hat hier an dieser Stelle in der Gedenkveranstaltung<br />

für Werner Korthaase Herr<br />

Dr. Hartmut Rudolph darauf hingewiesen. 32 Von<br />

alldem findet sich in dem kleinen Gedicht, um das<br />

es hier geht, gewissermaßen in nuce eine Fülle<br />

von Anklängen und Andeutungen, und es ist in<br />

wenigen Minuten (bzw. auf beschränktem Raum)<br />

kaum möglich, die Vielzahl der literarischen, philosophischen<br />

und biografischen Anspielungen im<br />

Einzelnen aufzuzeigen und zu interpretieren. Einige<br />

Hinweise finden sich in der Anmerkung. 33<br />

Nun aber möchte ich zum Schluss das Gedicht<br />

von Leibniz im Original vortragen. Mit Hilfe des<br />

Handouts (hier nicht abgedruckt) haben Sie dann<br />

selbst zu Hause die Möglichkeit, die verschiedenen<br />

Übersetzungen auf ihre Treffsicherheit zu<br />

vergleichen. Wie ein Musikstück, das man hören,<br />

nicht nur lesen muss, soll auch das Leibniz-<br />

Gedicht auf Comenius hier im Original erklingen,<br />

bevor ich es in Prosa übersetze.<br />

Das erste Kapitel des Orbis sensualium pictus von 1658.<br />

und zur Janua linguarum reserata bekennt er:<br />

„Dem Comenius stimme ich also durchaus zu, dass<br />

das Tor zu den Sprachen (Janua linguarum) so etwas<br />

sein muss wie eine kleine Enzyklopädie” (vgl.<br />

Moll, S. 46): Comenio igitur prorsus assentior, Januam<br />

Linguarum et Encyclopaediolam debere esse<br />

idem. 28 Es geht also um das Unterrichtsprinzip,<br />

Sprach- und Sachinhalt aufs engste zu verknüpfen.<br />

Die große Bedeutung des Comenius für die<br />

Sprachwissenschaft kann hier nur nebenbei erwähnt<br />

werden. Die Linguistin Ulrike Haß-Zumkehr<br />

kam vor zehn Jahren (2<strong>01</strong>0) zu der verblüffenden<br />

Feststellung, dass Comenius mit dem Orbis pictus<br />

und der Janua linguarum und deren später<br />

bearbeiteten Auflagen „der einflussreichste Lexikograf<br />

aller Zeiten und ganz Europas” gewesen<br />

27 Daniel Comenius war das vierte Kind aus der zweiten Ehe mit Dorothea Cyrillová, die Comenius 1624 (nach dem Tod seiner<br />

ersten Frau 1622) geheiratet hat. Aus dieser Ehe gingen 1. Dorota Kristina, 2. Elisabeth, 3. Susana und 4. Daniel hervor Daniel<br />

stiftete die Grabplatte für seinen Vater in Naarden. Elisabeth (*1628) heiratete 1649 Peter Figulus Jablonský (1619–1670) und<br />

wurde die Mutter des späteren preußischen Hofpredigers Daniel Ernst Jablonský (1660–1741). Dieser war also ein Enkel von<br />

Jan Amos Comenius und war 1700 zusammen mit Leibniz Mitbegründer der Berliner Sozietät der Wissenschaften.<br />

28 Leibniz Werke, im Internet, N. 60b [Mai – Okober 1671], S. 189.<br />

29 John Carter und Percy H. Muir: Bücher, die die Welt verändern. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1968, Nr. 139, S. 267f.<br />

(Das englische Original erschien unter dem Titel Printing and the Mind of Man, London 1967. Herausgeber der deutschen<br />

Ausgabe: Kurt Busse.)<br />

30 „Weltall Erde Mensch” war ein in der DDR erschienenes Sammelwerk, das als das am weitesten verbreitete Druckwerk der<br />

DDR gilt und (nicht zuletzt wegen seiner antireligiösen Tendenz) meist zur Jugendweihe verschenkt wurde.<br />

31 Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprache und Kulturgeschichte. Berlin, New York:<br />

Walter de Gruyter (De-Gruyter-Studienbuch) 2<strong>01</strong>0, S. 303.<br />

32 Der Vortrag von Hartmut Rudolph hatte den Titel: „Leibniz’ (vielleicht gar nicht so inaktuelle) Ideen zu Frieden und Gerechtigkeit”.<br />

33 Hier nur einige Hinweise auf Andeutungen und Anspielungen. 1 Fortunate senex (Verg. ecl. 1,46; 1,51). – 2 incola mundi<br />

(Cic.Tusc. 5,108: totius mundi se incolam et civem arbitrabatur (Socrates). – 3 pictum spielt an auf den Titel des Orbis<br />

pictus (gemalt = dargestellt) – res humanas spielt an auf den Titel des Hauptwerks von Comenius: De emendatione<br />

rerum humanarum Consultatio catholica. – insanaque iurgia (Ovid, fasti 1,73f.). – 4 movere = moveris. – 5 Apicem Rerum:<br />

Spitze der Dinge = das Wesen des Weltalls. – 6 Der ganze 6. Vers wird später im Gedicht auf die verstorbene Königin wiederholt.<br />

– solo von sõlum: der Erdboden, hier: das irdische Leben. – Pansophia (im ionischen Dialekt sophië statt sophia) ist<br />

der Titel des 4. (= zentralen) Hauptteils der siebenbändigen Consultatio catholica. – 7 spem ne pone tuam (vgl. cf. Andrea<br />

Gabrieli, Komponist, ca. 1532–1585): Ne confide in forma generosa / Neque spem tuam pone / In volubilitate divitiarum. –<br />

Zu Vers 8–10 vgl.die von Comenius oft benutzte Metapher vom (gewaltfreien) Wachstum der Pflanzen, hier des Getreides.<br />

9 posteritas: Dass Leibniz an die Rezeption durch die „Nachwelt“ dachte, wird auch daran deutlich, dass er das Lateinische<br />

selbst benutzte. Das klingt m.E. auch im 7. Vers in Bezug auf die Schriften des Comenius an (superant tua carmina<br />

mortem). Dem exzellenten Leibnizkenner Dr. Hartmut Rudolph verdanke ich den Hinweis auf entsprechende Äußerungen<br />

von Leibniz, z.B. in „De re publica literaria“ (1681): „Contra quae latine scribuntur, eandem post multa secula gratiam<br />

laudemque habebunt.“ (A VI,4 S. 433 f.) – 1688 notiert Leibniz: „Was nun beständig bleiben und apud seram posteritatem<br />

mit applausu gelesen werden soll, muß billig in latein geschrieben seyn.“ (A IV,4 S. 37) – iam messis in herba est (cf. Ovid,<br />

her. 17,263 bzw. 265 = epist. Helenae). – 10 articulus: Gelenk, Knoten- oder Wedepunkt = entscheidender Augenblick. –<br />

11–12 felicibus una … esse licet: es ist (uns) möglich, gemeinsam glücklich zu sein. – conatus jungere: die (gemeinsamen)<br />

Versuche, Anstregungen verbinden = Andeutung der Friedensbemühungen; darüber hinaus ist conatus aber auch ein in der<br />

Philosophie der Neuzeit viel diskutierter Begriff. – 13 Tempus erit, quo ...: cf. Ovid. ars 3, 69; medic. 47. – turba bonorum<br />

(cf. Johannes Schosser, 1534–1585: De coniugio Thomae Matthiae et Ursulae Meienburgiae, Elegia III: Candida prosequitur<br />

te carmine turba bonorum, / Carmine, patrono fausta precante suo.) – 14 vota quoque ipsa (cf. Lucr. 4,508: vita<br />

quoque ipsa; 4, 554: verba quoque ipsa).<br />

10 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

11


Gedicht: In Comenii obitum<br />

(Leibniz notierte hierzu: Versus, quos Hesenthalero misi.)<br />

Fortunate senex, veri novus incola mundi,<br />

Qvem pictum nobis jam tua cura dedit.<br />

Seu res humanas insanaqve jurgia, liber<br />

Despicis, et nostris usqve movere malis;<br />

Sive Apicem Rerum et mundi secreta tuenti,<br />

Interdicta solo, nunc data Pansophie;<br />

Spem ne pone tuam, superant tua carmina mortem,<br />

Sparsaqve non vanè semina servat humus.<br />

Posteritas non sera metet, jam messis in herba est,<br />

Articulos norunt fata tenere suos.<br />

Paulatim natura patet, felicibus unâ,<br />

Si modò conatûs jungimus, esse licet.<br />

Tempus erit qvo te, COMENI, turba bonorum,<br />

Factaqve, spesqve tuas, vota qvoqve ipsa, colet.<br />

Glückseliger Greis, <strong>neu</strong>er Bewohner der wahren Welt,<br />

von der uns deine Sorge (dein forschendes Mühen) schon jetzt ein Bild gegeben hat;<br />

ob du nun frei auf die menschlichen Verhältnisse und die heillosen Streitigkeiten<br />

herabblickst und noch immer von unseren Leiden (oder Übeln) berührt wirst,<br />

oder ob dir jetzt, da du das Wesen der Dinge und die Geheimnisse der Welt schaust,<br />

die Allweisheit (die Pansophie), die dem Erdenleben versagt ist, zuteil wurde,<br />

gib deine Hoffnung nicht auf, deine Werke überleben den Tod,<br />

und der Ackerboden bewahrt den nicht vergeblich ausgesäten Samen.<br />

Nicht allzu spät wird die Nachwelt ernten, schon reift die Ernte heran,<br />

das Schicksal weiß den rechten Zeitpunkt einzuhalten.<br />

Allmählich offenbart sich die Natur. Wir dürfen gemeinsam glücklich sein,<br />

wenn wir nur unsere Anstrengungen vereinen.<br />

Es wird die Zeit kommen, da eine Vielzahl guter Menschen, dich, Comenius, ehren,<br />

deine Werke und deine Hoffnungen schätzen, ja selbst deine innigsten Wünsche verwirklichen wird. 34<br />

5<br />

10<br />

Mitteilungen &<br />

Veranstaltungen<br />

9. Literaturwissenschaftliches<br />

Propädeutikum der<br />

Klassischen Gräzistik<br />

Die Klassische Gräzistik am Institut für Griechische<br />

und Lateinische Philologie lädt ab dem<br />

02.03. bis zum 30.03.<strong>2020</strong> in fünf Sitzungen jeweils<br />

montags, 18:15–19:45 Uhr, zum 9. Literaturwissenschaftlichen<br />

Propädeutikum ein.<br />

Das Thema lautet diesmal:<br />

Unterweltsmythen. Erzählungen über das<br />

Leben nach dem Tod in antiker Literatur<br />

Ob auf Fahrt in die Unterwelt über den Fluss Styx<br />

mit dem Fährmann Charon, vor dem Totengericht,<br />

bei den Frevlern im Tartaros oder bei den<br />

glücklichen Seelen im Elysion – Bilder und Mythen<br />

über ein Leben nach dem Tod begegnen uns<br />

immer wieder und in vielfältigen Formen in den<br />

Erzählungen der antiken Literatur. Sie sind Teil<br />

der Handlungen und Geschichten, die in Dichtungswerken<br />

erzählt werden. Doch sie haben<br />

auch darüber hinaus Bedeutung für die, die sie<br />

geschrieben und erzählt, gehört und gelesen haben.<br />

Manchmal als Spiegelung eines noch praktizierten<br />

Kultes oder einer religiösen Überzeugung,<br />

manchmal als Erinnerung an ferne Vergangenheiten<br />

der eigenen Kultur. Und auch uns erzählen die<br />

Unterweltsmythen etwas: Sie lassen das Verhältnis<br />

von Leben und Tod, von Handeln und Strafe,<br />

von Religion und Unsterblichkeitserwartung, wie<br />

es in den antiken Kulturen begegnete, lebendig<br />

werden.<br />

Mit diesem Gedicht und besonders mit den letzten Zeilen hat sich Leibniz schon in jungen Jahren als<br />

„visionärer Denker” 35 erwiesen, als der er auch heute noch in vieler Hinsicht gilt.<br />

34 Das letzte Wort des Gedichtes colet vom Verbum colĕre (von dem unser Wort Kultur abstammt) hat hier eine fast alle nur<br />

denkbaren Schattierungen umfassende Bedeutung: bebauen, bestellen, bearbeiten; hegen, pflegen, ausbilden; sorgfältig üben<br />

oder betreiben; Sorge tragen für etwas; hochhalten, verehren.<br />

35 Vgl. den Flyer der BBAW zum 370. Geburtstag 2<strong>01</strong>6, oben Anm. 22.<br />

Gesehen im Neuen Museum, Berlin Museumsinsel<br />

12 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 13<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV


Gepaarte (A)symmetrie.<br />

Schönheit und ihr Gegenteil<br />

als Entwicklungsfaktoren<br />

in der zoologischen Fachliteratur 1<br />

– Von Sonja Schreiner, Wien –<br />

Schönheit, so sagt man, liegt im Auge des<br />

Betrachters. Dies mag besonders für zwei<br />

dieser vier Hunde 2 in erhöhtem Maß zutreffend<br />

sein:<br />

Und es impliziert, dass für Symmetrie Ähnliches<br />

gilt – und folgerichtig auch für deren Gegenteil:<br />

Doch was tun mit scheinbar Unvereinbarem wie<br />

der Ästhetik des Hässlichen oder gar Kitsch?<br />

Kann und darf es reichen, auf ein strapaziertes<br />

Diktum zurückzugreifen und sich damit zu begnügen,<br />

dass sich über Geschmack sehr gut streiten<br />

lasse? Kitsch ist Kunst, 3 wie Plastiken von Jeff<br />

Koons, zu bestaunen in der Münchener Sammlung<br />

Brandhorst und im Amsterdamer Stedelijk<br />

Museum, 4 eindrücklich belegen:<br />

Raub der Persephone. Apulischer rotfiguriger Volutenkrater, um 340 v. Chr.<br />

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Unterweltvasen#/media/Datei:Persephone_krater_Antikensammlung_Berlin_1984.40.jpg<br />

Im diesjährigen Literaturwissenschaftlichen Propädeutikum<br />

setzen wir unsere Reihe zu Klassikern<br />

der antiken Literatur bzw. Philosophie fort<br />

und präsentieren in Vorträgen und Seminardiskussionen<br />

Erzählungen über ein Leben nach dem<br />

Tod in einigen der meistgelesenen Werke der Antike:<br />

von Homer über die griechische und römische<br />

Tragödie, den Unterweltsmythen bei Platon<br />

bis hin zu den Metamorphosen Ovids.<br />

Im Zuge der Maßnahmen der Freien Universität<br />

im Zusammenhang mit COVID 19 wurde<br />

entschieden, die Reihe des 9. Literaturwissenschafltichen<br />

Propädeutikums abzusagen.<br />

02.03.<strong>2020</strong> Prof. Dr. Gyburg Uhlmann,<br />

Unterwelt im Epos: Homer<br />

09.03.<strong>2020</strong> Sandra Erker,<br />

Unterwelt in der griechischen Tragödie:<br />

Euripides, Alkestis<br />

16.03.<strong>2020</strong> PD Dr. Michael Krewet,<br />

Unterwelt in der römischen Tragödie:<br />

Seneca, Thyest<br />

23.03.<strong>2020</strong> Dr. Christian Vogel,<br />

Unterweltsmythen bei Platon<br />

30.03.<strong>2020</strong> Prof. Dr. Melanie Möller,<br />

Unterwelt in Ovids Metamorphosen:<br />

Orpheus und Eurydike<br />

Oder wäre es an der Zeit, über menschliche Kategorisierungen<br />

etwas objektiver nachzudenken?<br />

1 Dem Beitrag liegt ein Referat beim internationalen<br />

Symposion Schönheit und Symmetrie zugrunde, das<br />

vom 17. bis zum 19. Oktober 2<strong>01</strong>9 am Institut für<br />

Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein der<br />

Universität Wien stattgefunden hat.<br />

2 Der Labrador auf dem linken Bild hat einen deformierten<br />

Schädel, der ihn im alltäglichen Leben ebenso wenig<br />

beeinträchtigt wie die massive Kieferfehlstellung des<br />

Mischlingsrüden Picasso (abgebildet gemeinsam<br />

mit seinem Bruder Pablo).<br />

3 Ute Dettmar & Thomas Küpper, Kitsch. Texte und<br />

Theorien, Stuttgart 2007.<br />

4 Links Amore, rechts Pig Angels.<br />

14 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

15


Doch Halt. All dies ist längst geschehen und hat –<br />

abhängig von der Textsorte – unterschiedlichen<br />

Einfluss hinterlassen. Fachliterarisch nachweislich<br />

weniger als in der Philosophie oder im weiten Bereich<br />

dessen, was die deutsche „Belletristik“ unzureichender<br />

abbildet als die französischen belles<br />

lettres. Schönheitsideale sind zeitabhängig: Für<br />

das 20. oder 21. Jahrhundert gelten andere Maßstäbe<br />

als für Rubens oder für das geschönte Kleopatra-Bild.<br />

Vergleichbares mag für fragwürdige<br />

Wettbewerbe gelten, in denen der hässlichste<br />

oder der schönste Hund der Welt 5 gekürt werden:<br />

5 Quasimodo (links) und Boo (rechts) stehen stellvertretend<br />

für eine Vielzahl von solchen „Preisträger*innen“.<br />

Während Boo zu einem multimedialen Star (und professionell<br />

vermarktet) wurde, hat Quasimodo von seinem<br />

Halter, einem Tierarzt aus Florida, der ihn aus einem<br />

Tierheim adoptierte, durch die Teilnahme am Wettbewerb<br />

eine Plattform bekommen, die breit dafür sensibilisieren<br />

sollte, dass jedes Lebewesen Aufmerksamkeit,<br />

Achtung und Zuneigung verdient. Die Präsentation dieser<br />

case study bei der Kinderuni Vet.med. führte zu emotionalen<br />

Reaktionen der Buben und Mädchen zwischen<br />

7 und 12 Jahren: Die meisten ergriffen schützend (und<br />

mit guten Argumenten) Partei für den vermeintlich<br />

unattraktiven Hund.<br />

6 Rezent idealtypisch gezeigt von Dominik Berrens,<br />

Soziale Insekten in der Antike. Ein Beitrag zu Naturkonzepten<br />

in der griechisch-römischen Antike.<br />

Göttingen 2<strong>01</strong>8 (Hypomnemata 205).<br />

7 Diese Schematik zeigt sich in Naturkundebüchern<br />

(z.B. bei Conrad Ges[s]ner, 1516–1565) ebenso wie in<br />

der didaktischen Literatur (z.B. Johann Amos Comenius,<br />

1592–1670) oder der Emblematik (z.B. Joachim Camerarius,<br />

1534–1598); für Details cf. Sonja Schreiner, Orbis<br />

pictus for Boys – Emblematics for Men: Some Remarks<br />

on Learning by Studying Pictures and Interpreting<br />

Riddles, in: Emblems and the Natural World (ed. by Karl<br />

A.E. Enenkel & Paul J. Smith), Leiden-Boston 2<strong>01</strong>7<br />

(Intersections 50), 629–653.<br />

8 Mehr dazu bei: Sonja Schreiner, Mitgeschöpfe auf der<br />

Werteskala? Plinius maior über Tiere und den Menschen,<br />

cursor 15 (2<strong>01</strong>9), 40-44.<br />

Doch das soll nicht das Thema sein, auch nicht,<br />

wie tierisches Streben nach Symmetrie (Bsp. Bienenwaben)<br />

oder Organisationstalent (Bsp. Ameisen),<br />

menschliche Wahrnehmung auf Basis von<br />

Analogien, Imitation oder Metaphorik beeinflusst<br />

haben. 6 Vielmehr geht es um eine Spurensuche<br />

außerhalb der Spezies Mensch, genauer: wie<br />

menschliche Beobachter*innen das, was nach<br />

unseren Kategorien – und als Menschen haben<br />

wir nur die – schön, hässlich, ponderiert, unausgewogen,<br />

aufeinander abgestimmt und einander<br />

ergänzend oder eben inkompatibel ist – oder<br />

mindestens so häufig: zu sein scheint.<br />

Insekten sind ein vielversprechender Beginn. Gemäß<br />

einer traditionsbildenden Kategorisierung 7<br />

stehen sie am Ende von Plinius‘ mehrbändiger<br />

Zoologie in der Naturalis historia. Am Beginn des<br />

elften Buches macht er deutlich, dass sie für ihn<br />

viel mehr sind als krabbelnde oder schwirrende<br />

Quälgeister, die lediglich der Systematik halber<br />

auch noch einer Behandlung bedürfen: Sie werden<br />

zu einem effektvollen Vehikel, um den Lesern,<br />

die genau das nicht erwarten, sondern die wohlvertraute<br />

Mischung aus Fakten (oder dem, was<br />

Plinius – insbesondere bei Reverenz an und Referenz<br />

auf Autoritäten – dafür hielt) und Wundererzählungen<br />

in immer <strong>neu</strong>er Zusammenstellung,<br />

ihre eigene Beschränktheit vor Augen zu führen.<br />

Der Durchschnittsmensch, so Plinius, hat Interesse<br />

an starken, großen, mächtigen Tieren; die Perfektion<br />

in Lebewesen en miniature übersieht er. 8<br />

Diese Haltung manifestiert sich auch in der Kunst;<br />

denn zumeist sind es stolze Pferde, treue Hunde<br />

oder prächtige Großkatzen, die in Portraits oder<br />

Plastiken verewigt sind. Am berühmtesten (und<br />

berührendsten) ist wahrscheinlich Martials Issa-<br />

Epigramm (1, 109), in dem zunächst die kleine<br />

Hundedame Issa (kolloquial für ipsa) gepriesen<br />

und dann das lebensechte Bild, das ihr Herrchen<br />

von ihr anfertigen hat lassen, präsentiert wird. 9<br />

Sollte einem Kerbtier künstlerische Betrachtung<br />

gelingen, ist es parodistisch, wie im Culex, oder<br />

metaphorisch, wie im Bild der Biene(n) als Begleiterin(nen)<br />

von Dichtern. Eine interessante,<br />

aber erste wenige Jahre alte Ausnahme ist Diane<br />

Middlebrooks Vorstellung von Ovids Fresken in<br />

seiner domus, die Szenen aus den Metamorphosen<br />

zeigen: darunter auch eine klitzekleine Spinne,<br />

das spätere Ich der Arachne. 10<br />

Plinius‘ Plädoyer für den Sinn, den die schöpferische<br />

Natur in Insekten sieht, ist hingegen die<br />

Quelle des für bis Carl von Linné (1707–1778) 11<br />

und weit über ihn hinaus geltenden Leitspruchs<br />

natura nil agit frustra – erwachsen aus dem Wissen,<br />

dass (wenn auch topisch) Autoapologetik<br />

zum Einsatz kommen muss, weil nicht alle Rezipienten<br />

die Wichtigkeit des Gegenstands erkennen<br />

(11, 4: in contemplatione naturae nihil possit<br />

videri supervacuum): Nach zehn Büchern seiner<br />

naturkundlichen Enzyklopädie – darunter eines<br />

zur Anthropologie 12 (Buch 7) und drei weitere zur<br />

Zoologie (Bücher 8–10) – konnte Plinius jedoch<br />

selbstbewusst genug auftreten, war man doch<br />

schon seit seiner Einstufung des Menschen zugleich<br />

als – anachronistisch gesprochen – „Krone<br />

der Schöpfung“ und Mängelwesen daran<br />

gewöhnt, keine eindimensionalen Bilder präsentiert<br />

zu bekommen (7, 1–3 = praef. 7). Wer<br />

Ganzheitlichkeit und Respekt vor „Mutter Natur“<br />

einforderte, Wohlverhalten gegenüber der<br />

schöpfenden Macht, der er am Ende der Naturalis<br />

historia (37, 205) ein hymnisches Gebet widmen<br />

wird, hatte auch das Recht, wenn nicht sogar die<br />

Pflicht, auch über Spezies zu schreiben, die in der<br />

Wertschätzung der Allgemeinheit sowieso, aber<br />

auch mancher Fachvertreter tiefer standen.<br />

Gleichzeitig ist es interessant zu sehen, dass Plinius<br />

in seiner Bewertung nicht selten genau das widerfährt,<br />

vor dem auch Verhaltensforscher*innen und<br />

Kognitionsbiolog*innen unserer Tage zuweilen<br />

nicht gefeit sind: Menschen vermenschlichen gerne.<br />

13 So ist 8, 13–14 die Rede der Liebe von Elefanten<br />

zu Menschen, wobei das Konstatieren von<br />

Interspeziesfreundschaften durchaus legitim, hier<br />

aber nicht gemeint ist (zumindest nicht vorrangig):<br />

9 Verblüffende Lebensnähe ist nicht nur bei Tieren ein<br />

Thema, auch bei Gegenständen und Menschen (cf. den<br />

täuschend echt gemalten Vorhang bei Plinius, NH 35,<br />

64, und die Pygmalion-Episode bei Ovid: Met. 10,<br />

245–289).<br />

10 Diane Middlebrook, Der junge Ovid. Eine unvollendete<br />

Biographie. Mit einem Vorwort von Carl Djerassi und<br />

einem Nachwort von Maurice Biriotti. Aus dem Amerikan.<br />

von Barbara von Bechtolsheim, Salzburg-Wien<br />

2<strong>01</strong>1, 133: Wie im Garten, so hat er auch die Ausstattung<br />

im Inneren selber beaufsichtigt, und besonders<br />

stolz ist er auf sein Speisezimmer mit den Fresken an den<br />

Wänden, die Darstellungen aus seiner geliebten Mythologie<br />

zeigen. An der größten Wand bleibt er stehen. Sie<br />

zeigt den künstlerischen Wettstreit zwischen der Göttin<br />

Minerva und dem trotzigen Mädchen Arachne. Im Mittelteil<br />

sitzen die beiden im Halbprofil einander gegenüber<br />

und arbeiten konzentriert an ihren Webstühlen. Unten<br />

sind die bereits fertigen Teile der Teppiche sichtbar.<br />

Arachnes schreckliches Ende, ihre Verwandlung in eine<br />

Spinne, hat Ovid bei dem Freskenmaler nicht in Auftrag<br />

gegeben. Die Kunst sollte bei der Geschichte im Mittelpunkt<br />

stehen: Sie endet mit den zwei so verschiedenartigen<br />

Tapisserien, die je eine Wand einnehmen. Nur<br />

wenn man genau hinschaut, entdeckt man in den netzförmigen<br />

Ornamenten eine kleine Spinne, die da herabhängt.<br />

11 Cf. Sonja Schreiner, Von Uppsala nach Graz. Linnés<br />

Amoenitates academicae in einer österreichischen Auswahledition,<br />

in: Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis.<br />

Proceedings of the Fourteenth International Congress of<br />

Neo-Latin Studies (Uppsala 2009), general editor: Astrid<br />

Steiner-Weber; editors: Alejandro Coroleu, Domenico de<br />

Filippis, Roger Green, Fidel Rädle, Valery Rees, Dirk<br />

Sacré, Marjorie Woods & Christine Wulf, Leiden-Boston<br />

2<strong>01</strong>2, 965–975.<br />

12 Eine grundlegende Aufbaustudie liefert: Franz Römer, Die<br />

plinianische „Anthropologie“ und der Aufbau der Naturalis<br />

historia, Wiener Studien 96 (1983), 104–108.<br />

13 Dem gegenüber steht das entwickelte Konzept von Mark<br />

Rowlands, der das System „Affe & Mensch“ philosophisch<br />

gegen das von Wolf und Hund führt: The Philosopher<br />

and the Wolf. Lessons from the Wild on Love,<br />

Death and Happiness, London 2008 = Der Philosoph und<br />

der Wolf. Was ein wildes Tier uns lehrt, Berlin 2009.<br />

16 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

17


Vielmehr wird der Elefant zu einem dem Menschen<br />

nahestehenden, hochintelligenten und –<br />

wie man an einigen Epigrammen Martials (z.B.<br />

spect. 20 = 17 Shackleton Bailey) sehen kann –<br />

panegyrisch idealtypisch auswertbaren Lebewesen.<br />

Solch bewährte und beliebte Motive wurden<br />

genos- und epochenübergreifend immer wieder<br />

aufgegriffen: selbst im Kinderbuch, in antikisierender<br />

Manier 14 und ganz modern. 15 Wenn wir<br />

den Blick wieder auf Plinius lenken, fällt auf, dass<br />

diese hohe Wertigkeit auch Fehleinschätzungen<br />

bedingt: So ist die behauptete Schamhaftigkeit<br />

der Elefanten bei der Paarung (8, 12) nicht zutreffend,<br />

sondern dem Umlegen menschlichen Wohlverhaltens<br />

auf ein in hohem Ansehen stehendes<br />

Säugetier geschuldet.<br />

Im Gegensatz dazu gehört anderes in den Bereich<br />

der auf Autoritätsgläubigkeit fußenden Wundererzählungen,<br />

z.B. die Unterscheidung von reinrassigen<br />

Löwen (8, 42) und Verpaarungen über<br />

Artgrenzen hinweg (8, 43 und 107: mit einer<br />

Hyäne, die, wie 8, 105 nachzulesen ist, auch ihr<br />

Geschlecht zu wechseln imstande sein soll; oder<br />

148, wo erst der dritte Wurf nach einer Paarung<br />

von Hund und Tiger Welpen mit Charakterzügen<br />

ergibt, die für den Menschen brauchbar sind, also<br />

keine Gefahr mehr darstellen). Dass sich dominante<br />

Hündinnen, somit Alphatiere, mit Wölfen<br />

und Tigern lieber paaren als mit Artgenossen,<br />

kennt man aus Grattius‘ fragmentarisch erhaltenem<br />

Lehrgedicht Cynegetica – einem Text, der<br />

abgesehen davon recht brauchbare, aber auch<br />

ethisch verwerfliche Ratschläge zur Hundezucht<br />

14 Ein Kriegselefant wird zum „Lebenstier“ bei Hans<br />

Baumann, Ich zog mit Hannibal, München 32 2<strong>01</strong>6.<br />

15 Besonders eingängig geschildert in den Hunderomanen<br />

einer österreichischen Autorin der 1950-er bis 1980-er-<br />

Jahre; cf. Sonja Schreiner, Vroneli und Ihr bester Freund.<br />

Zwei zu Unrecht vergessene Bücher von Helene Weilen,<br />

libri liberorum 13/40 (2<strong>01</strong>2), 15–22.<br />

16 Mehr zu irreführenden Analogieschlüssen bei Gabriela<br />

Kompatscher Gufler, Franz Römer & Sonja Schreiner:<br />

Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen<br />

der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen<br />

Texten, Wien 2<strong>01</strong>4.<br />

enthält (und den Ovid – allerdings mit deutlicher<br />

Schwerpunktsetzung auf dem jagdlichen Aspekt<br />

– lobt: ex Pont. 4, 16, 34: aptaque venanti Grattius<br />

arma daret). Die naturgegebene Feindschaft<br />

zwischen Hyänen und Löwen dürfte Plinius nicht<br />

bekannt gewesen sein, wiewohl er dem Irrglauben<br />

aufsaß, dass Pferde und Kamele sich nicht<br />

vertragen. 16<br />

Fortpflanzung, auch durch den Menschen gesteuerte,<br />

ist für Plinius generell von Interesse (und<br />

entspricht dem römischen Nutzendenken): 8, 164<br />

behauptet er, Pferdestuten würden nach dem Abschneiden<br />

ihrer Mähne ihre Libido verlieren, was<br />

ihm einen nahtlosen Übergang zur Maultier- und<br />

-eselzucht (ab 171) ermöglicht. Ausgangspunkt<br />

ist die abgeschnittene Mähne an einer weiteren<br />

Stelle (10, 180) noch für Weitreichenderes: Esel<br />

als Paarungspartner werden nur nach dem Verlust<br />

der Haarpracht akzeptiert (comantes enim<br />

gloria superbire): Die sich nicht mehr als attraktiv<br />

empfindende equa ist weniger anspruchsvoll geworden.<br />

Diese Sichtweise hängt mit dem Stichwort<br />

generositas zusammen. Mit Vorliebe schildert<br />

Plinius, welche optischen Kriterien – welche<br />

Zuchtnorm? – Tiere unterschiedlichster Artzugehörigkeit<br />

erfüllen müssen, um edel zu sein: Bei<br />

den Haustieren ist das z.B. das Zuchthuhn, dessen<br />

generositas 10, 156 beschrieben wird. Doch<br />

auch im Bereich der Wildtiere ist es nicht anders:<br />

Dies gilt für den Löwen ebenso, wenn er eine<br />

Mähne hat, die Hals und Schultern bedeckt wie<br />

– zurück im vertrauteren Bereich – für den Stier<br />

(181) oder das Schaf (198). Der Nutzenaspekt<br />

schwingt auch hier immer mit; wie sonst wäre<br />

es zu erklären, dass Hybridkreuzungen nicht nur<br />

bei Maultieren und -eseln besondere Bedeutung<br />

zukommt, sondern auch bei Verpaarungen von<br />

Haus- und Wildschweinen? Besonderheiten beim<br />

Paarungsakt stehen bei Bären (noch in Buch 8)<br />

und dann schon in Buch 9 bei Robben, Hunden,<br />

Schildkröten und Seetieren er<strong>neu</strong>t im Fokus des<br />

Interesses. Hervorzuheben ist insbesondere die<br />

etwas verquere Behauptung, <strong>neu</strong>geborene Bären<br />

seien formlose Fleischklumpen, die von ihrer<br />

Mutter erst in die endgültige Form geleckt, also<br />

erst „schön“ gemacht werden – wenngleich der<br />

Anblick von Bärenjungen und die das Immunsystem<br />

aktivierende Pflege durch das Muttertier<br />

diese Sichtweise nicht gänzlich absurd erscheinen<br />

lassen (8, 126: hi sunt candida informisque<br />

caro, paulo muribus maior, sine oculis, sine pilo.<br />

ungues tantum prominent. hanc lambendo paulatim<br />

figurant):<br />

Doch auch in der Tierfabel treibt das Verhalten,<br />

das sich aus dem Streben nach Schönheit ergibt,<br />

z.T. seltsame Blüten: Am deutlichsten wird dies<br />

in Phaedrus‘ Graculus superbus et pavo, einem<br />

kurzen Text (1, 3 in der Sammlung), in dem sich<br />

eine eitle Dohle als Pfau verkleidet und am Ende<br />

von beiden Gruppen ausgestoßen wird:<br />

Geblieben ist der sprichwörtlich „eitle Pfau“, im<br />

reichen Fundus der Sprichwörter ebenso wie in<br />

der Literaturgeschichte. Aus dem Symboltier der<br />

Juno wurde ein auf seine Optik reduziertes Wesen,<br />

eine Art Gegenentwurf zu Hans Christian<br />

Andersens „hässlichem Entlein“, das sich erst<br />

einer Entwicklung, Entpuppung und Metamorphose<br />

unterziehen muss. Aber auch Plinius kennt<br />

ihn, wenn er 10, 43 über den Zusammenhang<br />

von forma, intellectus und gloria schreibt; recht<br />

ähnlich im übrigen auch bei der Taube 10, 108,<br />

die aufgrund ihres schillernden Gefieders über<br />

gloriae intellectus verfügt. Diese (Sing)vögel charakterisiert<br />

Plinius überdies als treu und schamhaft<br />

(104), während schöner Gesang und Lernfähigkeit<br />

typisch für die Nachtigall sind (81–83).<br />

In zahlreichen locus amoenus-Darstellungen dürfen<br />

(Sing)vögel nicht fehlen; solche idealen Landschaften<br />

konnten künstlich geschaffen werden;<br />

man denke nur an die sogenannte Villa der Livia,<br />

deren Nachbau im Museo Nazionale (inkl. beeindruckender<br />

Lichtspiele, die den Tagesverlauf<br />

simulieren) bestaunt werden kann:<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rom-Villa-Livia.jpg<br />

gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Villa_di_livia%2C_affreschi_di_giardino%2C_<br />

parete_corta_meridionale_<strong>01</strong>.jpg<br />

Die Sonderstellung des Plinius, die aus dem bisher<br />

Präsentierten deutlich geworden sein dürfte,<br />

erleichtert die Vergleichbarkeit mit anderen Autoren<br />

gleichsam „artverwandter“ Textsorten,<br />

nicht unbedingt – das betrifft Aelians Wundergeschichten<br />

ebenso wie Klassiker der landwirtschaftlichen<br />

Fachliteratur oder des Lehrgedichts.<br />

„Schönheit“ im eigentlichen Sinn ist – bis auf<br />

wenige, vernachlässigbare Ausnahmen; und die<br />

gibt es, weil auch Plinius zuweilen seinen allzu<br />

literarischen Quellen gefolgt ist – immer aus der<br />

menschlichen Sichtweise ein Thema: Ein Pferd<br />

– oder besser: das Pferd, nämlich Alexanders<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

19


Bukephalos ist schön, weil der Makedone es so<br />

empfindet; wie anders nehmen sich da die Pferde<br />

aus, die in der Veterinärmedizin in unterschiedlichsten<br />

Kulturkreisen als optische Lehrbehelfe in<br />

die Fachliteratur (Handschriften wie gedruckte<br />

Werke) Eingang fanden:<br />

https://www.facebook.com/354848418302544/posts/<br />

manchmal-wenn-ich-mich-so-auf-den-seiten-der-sozialennetzwerke-umsehe-erblicke-/369654126821973/<br />

https://www.google.com/search?q=das+fehlerpferd&<br />

client=firefox-b-d&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=<br />

ZaKoXjhLa2yf2M%253A%252C5rcsjUFiX3nVIM%252C_<br />

&vet=1&usg=AI4_-kRxMbV5DT8OIqZHU_j9WYLaT9o_<br />

Tw&sa=X&ved=2ahUKEwjfk56a6_7nAhWFPOwKHVJtAFs-<br />

Q9QEwAHoECAgQBA#imgrc=ZaKoXjhLa2yf2M:<br />

17 Cf. Gunda Mairbäurl, Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch<br />

für Kinder, lili-Sonderheft 2006 = Verborgenes Kulturerbe,<br />

24–32. Gunda Mairbäurl, Die grellste und bunteste<br />

Mischung der Gegenstände. Friedrich Justin Bertuch und<br />

die philanthropische Kinder- und Jugendliteratur in der<br />

Fideikommissbibliothek, lili-Sonderheft 2007 =<br />

Die Ästhetik des Unvollendeten, 80–99.<br />

Doch zurück zu Plinius; gleich im ersten Wort<br />

des siebenten Buches ist im Rückblick auf das<br />

bisher in der Enzyklopädie Abgehandelte von der<br />

Welt (und ihrem „Inhalt“) die Rede. Der terminus<br />

technicus ist mundus, weil das Gesamtgefüge<br />

als „schön“ empfunden wird (mit menschlichen<br />

Augen und typisch römischem Trend zur – oft<br />

falschen – Etymologie). Das, was der Leserschaft<br />

aus Ovids Metamorphosen vertraut ist, nämlich<br />

dass Io nach ihrer Verwandlung selbst als Kuh<br />

noch „schön“ ist (Met. 1, 612: bos quoque formosa<br />

est), ist bei Plinius keine Kategorie. Lediglich<br />

das verwendete Vokabular entstammt – er<br />

schreibt ja in derselben Sprache – zwangsläufig<br />

derselben Wortfamilie (forma, formosus). Genauso<br />

werden wir in der Naturalis historia vergeblich<br />

die Beschreibung eines Stieres suchen, dessen<br />

Schönheit so definiert ist wie diejenige des Göttervaters<br />

Iuppiter im Vorfeld der Entführung Europas:<br />

Denn wie charakterisiert Ovid diesen unvergleichlichen<br />

Stier: als dermaßen ansprechend<br />

für die tierliebende Königstochter, dass sie seinen<br />

geschickten Avancen, deren wahre Absicht sie<br />

nicht erkennen kann, nicht widersteht (Met. 2,<br />

850–872). Doch auch das Gegenteil finden wir<br />

bei Plinius nicht, ohne es in seiner naturwissenschaftlichen<br />

Darstellung zu vermissen: Die deformes<br />

phocae aus Ovids Sintflutschilderung (Met.<br />

1, 300) haben bei ihm nichts verloren, dienen sie<br />

doch auch im augusteischen Epos zum einen als<br />

eine Art Illustration in Worten und zum anderen<br />

als Abgrenzung von den graciles capellae, deren<br />

Habitat die Robben in dieser verkehrten Welt<br />

erobert haben. Symmetrie und Asymmetrie in<br />

unserem Sinn (oder im dichterischen Verständnis<br />

gemäß dem Prinzip ut pictura poesis) sind keine<br />

naturwissenschaftlichen Parameter, sie sind nicht<br />

objektiv. Nur im hochentwickelten Kinderbuch<br />

haben sie Platz, z.B. bei Friedrich Justin Bertuch<br />

(1747–1822), der neben vielen wissenschaftlichen<br />

Details, die es erforderlich machten, sein<br />

Bilderbuch für Kinder mit einem Hauslehrer oder<br />

einer Nanny zu lesen, durchaus auch Kategorien<br />

hat wie „Schöne Vögel“. 17 Erwachsene Leserinnen<br />

und Leser erwarten striktere, wissenschaftlichere<br />

Einteilungen, solche, die dem, was die<br />

Natur geschaffen hat, den gebührenden Respekt<br />

zollen. Doch vermittelt Schönheit überhaupt Respekt?<br />

Zumeist – zumindest kann man das Plinius‘<br />

Darstellung entnehmen – wird sie zum Nachteil:<br />

Menschen graben nach Bodenschätzen wie Gold<br />

und Silber und „vergewaltigen“ damit den Planeten<br />

(ein beherrschendes Thema in NH 33, 1–3).<br />

Menschen züchten Perlen und frönen dem Luxus.<br />

Was schon eher zutrifft, ist, dass vermeintlich<br />

„Unschönes“ Verachtung und diese „Bewertung“<br />

folgenschwere „Abwertung“ nach sich zieht: Die<br />

obgenannten Insekten sind ein gutes Beispiel dafür.<br />

Und was hätte der „Durchschnittsrömer“ wohl<br />

zu dem hier gesagt?<br />

Im 21. Jahrhundert angekommen, durfte dieser<br />

Kater allerdings ein gutes Leben führen – dank<br />

eines ambitionierten Tierarztes, der bereits dem<br />

Welpen eine Chance gab. Er wurde alt und hatte<br />

zwei Namen, Frank und Louie. Das Krankheitsbild<br />

heißt „Ianus-Syndrom“ – für jemand, der in<br />

der antiken Götterwelt heimisch ist, nicht unpassend.<br />

18<br />

Bemerkenswert ist überdies Plinius‘ wenn auch<br />

vorsichtige, aber erkennbare wiederholte Abgrenzung<br />

von Aristoteles: Folgenschwere Fehleinschätzungen<br />

wie die vom griechischen Naturphilosophen<br />

konstatierte mangelnde Intelligenz von<br />

Herdentieren, insbesondere von Schafen, 19 finden<br />

sich bei Plinius nicht, hatte er doch in seinem Umfeld<br />

immer wieder die Möglichkeit, auf Basis von<br />

Naturbeobachtung, von Autopsie im besten Sinn,<br />

zu erkennen, was Herdentrieb u.dgl.m. wirklich<br />

bedeutet. Als kritischer Zeitbeobachter und Liebhaber<br />

der Natur prangert er vielmehr Auswüchse<br />

an: z.B. eingefärbte Schafe, damit anspruchsvolle<br />

Kunden am lebenden Objekt sehen könne, wie<br />

der daraus zu <strong>web</strong>ende Stoff für Toga oder Palla<br />

wirken wird (8, 197). Wer nun der Meinung<br />

ist, dass es zumindest diesen dekadenten Trend<br />

nicht mehr gibt, der irrt: Einem „Modetrend“ aus<br />

dem asiatischen Raum folgend, werden Hunde<br />

als Tiger, Pandas etc. frisiert und gefärbt; von<br />

Qualzuchten, die brachyzephale „Schönheit“ auf<br />

Basis des Kindchenschemas bei Hunden und bei<br />

Katzen nach sich ziehen, gar nicht zu reden. Unweigerlich<br />

fühlt man sich an Properz erinnert: 4, 8<br />

fährt seine Freundin Cynthia mit einem unmännlich<br />

depilierten Beau in einem seidenbespannten<br />

Wägelchen, worüber er lieber schweigen möchte<br />

(v. 23: serica nam taceo vulsi carpenta nepotis),<br />

und noch dazu geschniegelten Ponys über Land<br />

(v. 15: huc mea detonsis avecta est Cynthia mannis),<br />

überdies begleitet von riesenhaften Molossern,<br />

die als Schoßhündchen „gestylt“ sind (v. 24:<br />

atque armillatos colla Molossa canis).<br />

Wenn Plinius von „Schönheit“ spricht, ist dies<br />

ein moralischer Wert – oft in untrennbarer Verbindung<br />

mit Ethos, aber auch mit sehr pragmatischem<br />

Nutzendenken: Ein schönes (!) Beispiel<br />

ist das Gnadenbrot für alte Jagdhunde, die, auch<br />

wenn sie nicht mehr sehen oder laufen können,<br />

immer noch mit Nasenarbeit dienlich sind. Bei<br />

genauer Lektüre sind es die Hunde, die die Führungsrolle<br />

übernehmen auf der Jagd. Und gleich<br />

einleitend (8, 142) heißt es, dass Hund und Pferd –<br />

denen mit 8, 142–166 ein auffällig langer Abschnitt<br />

gewidmet ist – die treuesten Begleiter sind<br />

(fidelissimumque ante omnia homini canes atque<br />

equus). Mit dieser Dankbarkeit für alte Wegbegleiter<br />

mutiert Plinius gleichsam zu einem Anti-<br />

Cato. D.h. er wendet sich von Überlegungen des<br />

Alten Cato ab, der explizite Ratschläge erteilte,<br />

wann alte und schwache und kranke Sklaven verkauft<br />

werden sollten, damit man nicht nur noch<br />

Kosten, aber keinerlei Nutzen mehr habe. In anderen<br />

Worten: Plinius steht wiederholt für eine<br />

positive Bewertung schönen, löblichen, ethisch<br />

richtigen und wertvollen Verhaltens. Er sensibilisiert<br />

für echte (und gleichzeitig verborgene)<br />

Schönheit. Dazu passt, dass er festhält, dass auch<br />

viele von den Tieren, quae nobiscum degunt, cognitu<br />

humano digna sunt (8, 142). Bei den Wildtieren<br />

ist der Delphin vielleicht das aussagekräftigste<br />

Beispiel für diese untypische Grundhaltung:<br />

Plinius‘ Delphine sind keine lieben „Flipper“, sie<br />

sehen aus wie Meeresmonster – wie ein missglückter<br />

Clon aus Wels und Saurier, der zudem an<br />

Morbus Basedow leidet (9, 20–34):<br />

18 Generell ist festzuhalten, dass in solch speziellen Zusammenhängen<br />

die antike Mythologie als gelehrter Fundus<br />

nie aus der Mode kam.<br />

19 Detailliert bei: Martin M. Meyer, Aristoteles über Anzeichen<br />

tierischer Klugheit, in: Antike Naturwissenschaft<br />

und ihre Rezeption 27 (hg. von Jochen Althoff, Sabine<br />

Föllinger & Georg Wöhrle), Trier 2<strong>01</strong>7, 141–162.<br />

20 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

21


Seine Schönheit liegt in den inneren Werten,<br />

seiner Beziehung zum Menschen, zur Musik und<br />

insbesondere zu seinen Artgenossen. Diese Familienbande<br />

und Mutterliebe sind wichtige Themen<br />

in der Naturalis historia, die immer wiederkehren:<br />

besonders am Beispiel von Affen, die ihre Jungtiere<br />

voller Stolz präsentieren (8, 216).<br />

Plinius, als früher Vorläufer von Ökologie, von<br />

Naturschutz, von einer ganzheitlichen Sicht auf<br />

die Natur, von Respekt für das, was später Evolution<br />

genannt wurde, war bestrebt, die facettenreiche<br />

Vielfalt der Schönheiten, die die Natur<br />

zu bieten hat, so farbenprächtig zu zeichnen,<br />

wie es ihm eben möglich war und damit seinen<br />

Rezipient*innen die Augen zu öffnen für das, worum<br />

es eigentlich geht: Solipsismus und Selbstzentriertheit<br />

hat mit Schönheit wenig gemein;<br />

diese Haltung bringt die Welt aus dem Gleichgewicht,<br />

sie zerstört die Symmetrie. Nicht zufällig<br />

bezeichnet er 7, 3 den Menschen als weinendes<br />

Lebewesen, das (trotzdem) allen anderen gebieten<br />

wird – und will (flens animal ceteris imperaturum).<br />

Würde Plinius, der altruistische Flottenadmiral<br />

und Naturforscher, heute leben, wäre er bei den<br />

Fridays for Future dabei und wahrscheinlich auch<br />

bei den Exstinction Rebels. Greta Thunberg würde<br />

er schätzen, ja, er würde sie verteidigen gegen<br />

all die untergriffige Kritik, der sie ausgesetzt ist<br />

– weil sie recht hat. Und Jane Goodall hätte ihn<br />

längst zu einem ihrer Ehrenbotschafter ernannt –<br />

bevor es nämlich zu spät ist, denn es gibt keinen<br />

Planeten B.<br />

Zukunft Antike:<br />

Latein und Griechisch<br />

in der digitalen Welt<br />

Einladung<br />

Leider<br />

abgesagt!<br />

BUNDESKONGRESS<br />

DES DEUTSCHEN<br />

ALTPHILOLOGEN<br />

VERBANDES<br />

<strong>2020</strong><br />

22 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

14.– 18. April <strong>2020</strong> | Julius-Maximilians-Universität Würzburg


Auf der Jagd nach Bildern.<br />

Tiermotive im Alten Museum Berlin<br />

– Von Josef Rabl –<br />

Sind Tiere immer<br />

realistisch und<br />

wirklichkeitsgetreu<br />

dargestellt?<br />

Welche Tierart begegnet<br />

dem Besucher am häufigsten?<br />

Sind es Pferde, Löwen, Eulen,<br />

Delphine, Haustiere, Adler,<br />

Schlangen oder Mischwesen?<br />

Welche Werte helfen<br />

Tiere zu repräsentieren:<br />

Sieg, Kraft, Macht,<br />

Religiosität, Schutz?<br />

24 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

25


Wo fungiert ein Tier<br />

als Begleiter eines<br />

Gottes oder<br />

einer Göttin?<br />

Welche Tiere sind<br />

beim Besuch im<br />

Antikenmuseum<br />

eigentlich zu erwarten?<br />

26 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

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27


Auf welchen Oberflächen/<br />

Materialien lassen sich Tiere<br />

finden? Sind es Vasen,<br />

Statuen, Reliefs, Mosaiken,<br />

Münzen, Porträts,<br />

Grabsteine, Sarkophage?<br />

28 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

29


Wofür stehen<br />

Tierbilder<br />

auf Münzen?<br />

Wer ist bei einem Tiermotiv<br />

mit dabei? Sind es Götter,<br />

Menschen, Heldengestalten<br />

oder andere?<br />

Alle Fotos: privat ...<br />

30 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

31


Stichwort »Idee«<br />

Die Ideen, die wir einfach so „haben“,<br />

sind ein flatterhaftes Völkchen, und<br />

der Sprachgebrauch bezeugt es: Sie<br />

kommen uns – wer weiss, woher? – ,<br />

sie fallen uns ein, und dann haben wir<br />

sie und können schauen, was sie taugen. Von den<br />

Ideen dieser Art, wie sie alljährlich vor dem Fest<br />

als „Geschenk-Ideen“ in den Einkaufsmeilen ausschwärmen,<br />

gibt es vielerlei: gute und schlechte,<br />

Glanzideen und Schnapsideen, tolle und total verrückte.<br />

Die besten, so scheint es, sind die originellen,<br />

die „ursprünglichen“, die sonst noch keiner<br />

hatte.<br />

Aber wie „ursprünglich“ auch immer: Vom Ursprung<br />

des Wortes sind alle diese Ideen eine<br />

lange Wortgeschichte weit entfernt. Am Anfang<br />

steht da eine griechische idéa, ein Spross der<br />

Wurzel vid-, „sehen“, der erstmals im 5. Jahrhundert<br />

v. Chr. erscheint und zunächst das „Aussehen“<br />

zumal eines schönen Menschen bezeichnet.<br />

So preist Pindar einen jungen Olympiasieger im<br />

Faustkampf als „in seiner idéa – von Angesicht –<br />

schön“; so rühmt Sokrates in Platons „Charmides“<br />

die hinreissende idéa des schönen Titelknaben;<br />

so beschreibt noch Matthäus Jahrhunderte<br />

später die Erscheinung des Engels vor dem leeren<br />

Grab Jesu: „Seine idéa war wie ein Blitz und sein<br />

Gewand weiss wie Schnee.“<br />

In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.<br />

hat Platon diese idéa von der leiblichen Sicht auf<br />

die geistige Sicht übertragen und mit seiner „Ideenlehre“<br />

das Wort in die höchsten Sphären der<br />

Philosophie aufsteigen lassen. Da steht hinter all<br />

den vielen mehr oder weniger kreisrunden Kreidekreisen<br />

die eine „Idee“ des Kreises, das eine<br />

Urbild des Kreises, das keinen noch so schmalen<br />

Kreidestrich breit ist, keine Grösse und keine<br />

– Von Klaus Bartels –<br />

Farbe hat und einzig mit dem geistigen Auge zu<br />

schauen ist.<br />

Und entsprechend steht da hinter all den vielerlei<br />

mehr oder weniger gerechten Handlungen und<br />

Ordnungen die eine „Idee“ der Gerechtigkeit,<br />

das eine Urbild der Gerechtigkeit, das kein besonderes<br />

Hier und Jetzt hat und wiederum einzig<br />

mit dem Auge des Geistes zu schauen ist. In der<br />

Philosophiegeschichte hat Platons „Ideenlehre“<br />

keine Fortsetzung gefunden. Aber in der Wortgeschichte<br />

hat sie der idéa den Weg von der<br />

leiblichen Schönheit zu den geistigen Werten und<br />

überhaupt zu den inneren Sichten gewiesen. Im<br />

klassischen Latein ist eine idea nicht heimisch<br />

geworden. Aber in der Neuzeit, im 17. und 18.<br />

Jahrhundert, hat das altgriechische Wort im <strong>neu</strong>sprachlichen<br />

Euro-Wortschatz wieder ein weitgefächertes<br />

Bedeutungsspektrum gefunden. In der<br />

Freiheits-Idee und mancherlei anderen solchen<br />

Werte-Ideen wie der Olympischen Idee oder der<br />

jungen Europa-Idee hat das Wort seinen von Platon<br />

her angestammten geistigen Rang bewahrt.<br />

Im Alphabet des „Grossen Duden“ reicht die lange<br />

Reihe der Ableitungen und Komposita von der<br />

„Idealbesetzung“ bis zu einem „Ideenwettbewerb“.<br />

Womit wir wieder bei jenen flatterhaften<br />

Ideen wären, die uns in dem einen Augenblick<br />

einfallen und im nächsten vielleicht schon wieder<br />

verworfen werden. Kann ein Wort tiefer abstürzen<br />

als von Platons „Idee des Guten“ bis zu der<br />

Idee, am Abend mal wieder ins Kino zu gehen? Es<br />

kann: bis zu der Mini-„Idee“, diesem Fast-Nichts,<br />

um das eine Hose zu lang oder zu kurz, eine Suppe<br />

zu stark oder zu schwach gesalzen ist. Warum<br />

die wohl so heisst?<br />

Der Bürger zwischen zwei<br />

Lebensmodellen.<br />

Vortrag beim Festakt der Bürgerehrung einer Stadt<br />

– Von Friedrich Maier –<br />

Wenn man jemandem zuruft „Genieße<br />

den Tag, genieße diese<br />

Stunden!“ (Carpe diem!), so<br />

nimmt er gewiss diesen Appell<br />

mit Freude entgegen. Weiß<br />

er aber auch, dass dieser Zuruf vor etwa zweieinhalb<br />

Jahrtausenden der Leitspruch einer Philosophie,<br />

eines philosophischen Lebensmodells<br />

gewesen ist? Deren oberster Grundsatz hieß:<br />

„Lebe im Verborgenen!“ Ziehe dich zurück in<br />

dein Haus, deinen Garten, hinter den Zaun aus<br />

Hecken, Brettern oder Steinen! Lebe dort für dich,<br />

im Kreis deiner Freunde! Kümmere dich nicht,<br />

was außerhalb dieses engen Zirkels in der großen<br />

Gesellschaft geschieht! Nicht dort, sondern hier<br />

erfüllt sich dein Glück, in der Intimität des eigenen<br />

Gartens, in dem die Lust (gr. hedoné) das höchste<br />

Lebensziel ist. Begründer dieser philosophischen<br />

Lebensform war ein gewisser Epikur. Über dem<br />

Eingang des sog. epikureischen Gartens stand geschrieben:<br />

„Fremder, hier wirst du gut verweilen,<br />

hier ist die Lust das höchste Gut.“ Solche Lustlehre,<br />

solcher „Hedonismus“ ist das Programm<br />

eines völlig apolitischen Lebens. „Man muss sich<br />

aus dem Gefängnis der Geschäfte und der Politik<br />

befreien.“ Ein Lebensauftrag, der jedes politische<br />

Engagement, jede Verantwortung für das Ganze<br />

ausschließt, der auch jeden Ehrendienst für die<br />

Gemeinschaft verbietet.<br />

Wie konnte eine solche apolitische Einstellung zur<br />

programmatischen Vorgabe einer ganzen Philosophie,<br />

der sog. „Gartenphilosophie“ werden?<br />

Und das in Athen? In jener Stadt, in der etwa 100<br />

Jahre vorher der größte Staatsmann der Antike,<br />

Perikles, die erste Demokratie auf Erden begründet<br />

hat? Wo durch Wahl alle vollwertigen Bürger<br />

in die Volksversammlung, in das „Parlament“ zur<br />

politischen Pflichterfüllung berufen wurden, wo<br />

für nahezu alle Formen von Kunst und Wissenschaft<br />

der Grundstein gelegt worden ist, wo geradezu<br />

die „Hochburg“ der europäischen Kultur<br />

entstand, eben jene Akropolis, die heute allen als<br />

Wahrzeichen der Stadt stets vor Augen steht. Diese<br />

„Hoch-Burg“ (Akropolis) erhebt sich mächtig<br />

über der Polis, in der sich der „polites“, der „Bürger“,<br />

als staatsgestaltende Größe etabliert hat,<br />

auch in politischer Verantwortung für einander.<br />

Sokrates etwa, der erste Philosoph Europas, stellte<br />

sich – ärmlich gekleidet – ganz in den Dienst<br />

der Gemeinschaft, in dem er der Jugend Athens<br />

angesichts einer zerfallenden öffentlichen Moral<br />

die Werte der Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit,<br />

der Frommheit und Mäßigung ins Herz zu pflanzen<br />

versuchte. Glück, so Sokrates, bestehe für ihn<br />

darin, nach Maßgabe des eigenen Gewissens das<br />

Gute zu tun.<br />

Doch das demokratische Athen hatte nicht lange<br />

Bestand. Es kam zum großen Krieg gegen den<br />

Militärstaat Sparta. Die Pest brach aus, der auch<br />

Perikles, „der erste Mann der Polis“, zum Opfer<br />

fiel. Zuvor hat er noch eine Rede gehalten, die<br />

man heute als das Hohe Lied auf die Demokratie<br />

nahezu in allen Geschichtsbüchern Europas<br />

abgedruckt findet. Darin stehen etwa Sätze wie:<br />

„Wir leben in einer Staatsverfassung, deren Namen<br />

Demokratie ist. … Vor dem Gesetz sind alle<br />

Bürger gleich. Das Ansehen des Bürgers richtet<br />

sich nicht nach Stand, sondern nach seiner per-<br />

32 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

33


sönlichen Leistung für den Staat. Auch den Armen<br />

ist der Weg zu solcher Leistung nicht versperrt.<br />

Denn in unserem Staatswesen herrschen<br />

Freiheit und Gleichheit.“<br />

Mit Perikles‘ Tod trug man auch die Demokratie<br />

zu Grabe. Die Balance zwischen Freiheit und<br />

Gleichheit wurde zuschanden gemacht, durch<br />

Autokraten, deren Machtrausch, deren narzisstische,<br />

massenbetörende Selbstinszenierung,<br />

deren rhetorische Aggressivität allen Gemeinschaftssinn<br />

rücksichtslos zerstörte – und damit<br />

Athen in den Abgrund stürzte. Die Stadt verlor<br />

den Krieg, wurde von 30 Tyrannen beherrscht. In<br />

diesen chaotischen Wirren, in diesem Kampf der<br />

Demokraten gegen die Tyrannen wurde Sokrates<br />

wegen oder trotz seines politischen Engagements<br />

angeklagt und hingerichtet. Die Demokratie hatte<br />

als Staatsmodell versagt. Athen lag im politischen<br />

Chaos. Es wurde zum „Schlachtfeld“ der Philosophen:<br />

Platon und Aristoteles, die Leuchttürme<br />

der europäischen Philosophie, sowie Epikur und<br />

die Stoa. Worum ging es? Vordringlich um das<br />

Verhältnis der Bürger zum Staat.<br />

Der Philosoph Platon, Sokrates‘ größter Schüler,<br />

nennt die Demokratie „einen buntscheckigen<br />

Hund“, „eine Krankheit“. Sie bringe den Bürgern<br />

kein Glück. Dieses Urteil versenkte die Staatsform<br />

der Demokratie für mehr als zwei Jahrtausende<br />

in den Untergrund der Geschichte. In dieser Zeit<br />

der völligen politischen Verunsicherung in Athen<br />

entstand jene „Gartenphilosophie“ des Epikur.<br />

Politische Arbeit wurde den Bürgern zu einem<br />

Gräuel, der Begriff „Politik“ war offensichtlich<br />

zu einem Unwort geworden. Aristoteles, Platons<br />

Schüler, versuchte grundsätzlich die „Politik“<br />

wieder auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.<br />

Staat ist für ihn die sog. „Politie“, „das Bürgersein“<br />

schlechthin. Eine solche „Politie“ ist ohne<br />

verantwortungsbewusste Politiker hoffnungslos<br />

verloren. Seine immer wieder zitierte Maxime:<br />

„Der Mensch ist von Natur ein Gemeinschaftswesen.“<br />

Es verwundert deshalb nicht, dass sich gegen<br />

den Epikureismus damals fast gleichzeitig und in<br />

voller Absicht ein philosophisches Gegenmodell<br />

entwickelte. Die Philosophie der Stoa, begründet<br />

von Zenon. Ihr oberstes Prinzip, ihr Motto konnte<br />

gegensätzlicher nicht sein. Es lautet:„Der Mensch<br />

ist nicht für sich allein geboren.“ Der Schwerpunkt<br />

ist hier auf den Anderen, auf die Anderen<br />

in der Bürgerschaft gerichtet. Stoischer Altruismus<br />

stellte sich bewusst gegen den Egoismus der<br />

Epikuräer. Das bedingt den Einsatz für die Gemeinschaft.<br />

Das politische Engagement wird zur<br />

programmatischen Vorgabe dieser Lebensform.<br />

Nicht in der Verborgenheit des Gartens findet<br />

der Mensch sein Glück, sondern in der großen<br />

Polis, im Einsatz für die Bürgerschaft. Diese Gemeinschaft<br />

ist nicht nur der eine Staat, in dem<br />

man lebt, sondern die ganze Welt. Die Stoiker<br />

sind die ersten Kosmopoliten, sie sind „Weltenbürger“.<br />

Die Grenzen der eigenen Nation werden<br />

überschritten. Fremde gibt es demnach nicht. Die<br />

Bürger sind alle gleich, sie sind Brüder. Auch die<br />

Sklaven, auch die, die am Rande der Gesellschaft<br />

leben. Die Stoiker haben nach heutiger Erkenntnis<br />

„die ideellen Grundlagen für die allgemeinen<br />

Menschenrechte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit<br />

gelegt“. So ein Rechtshistoriker.<br />

Der Philosoph Seneca, Roms größter Vertreter der<br />

Stoa, war beim Anblick der Gladiatoren im Kolosseum<br />

von Rom, deren Leben bei einer Niederlage<br />

vom „Daumen rauf“ oder „Daumen runter“ des<br />

Kaisers abhing, völlig entrüstet und prägte den<br />

über alle Zeiten hin gültigen und großartigen<br />

Satz: Homo homini res sacra. „Der Mensch ist<br />

dem Menschen etwas Heiliges“. Man muss jeden<br />

Menschen schätzen, behüten, retten, ihn als ein<br />

unantastbares und wertvolles Wesen respektieren,<br />

ihn in seiner Würde achten. Heute ist man<br />

überzeugt, dass Seneca mit dem Ideengut des Urchristentums<br />

vertraut gewesen ist, dass sich also<br />

in seiner Haltung stoisches und christliches Denken<br />

vereinigen, wie es etwa in den Worten des<br />

Apostels Paulus zum Ausdruck kommt: „Hier ist<br />

kein Jude noch Grieche, hier ist kein Sklave noch<br />

Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid<br />

allzumal einer in Christo Jesu.“ (Gal. 3, 28)<br />

Die Historiker stimmen überein und in allen Philosophiegeschichten<br />

steht es geschrieben: Die<br />

völlig gegensätzlichen Lebensmodelle, die sog.<br />

„Glücksmodelle“ Epikurs und der Stoa haben<br />

sich über die Jahrtausende hin bis in unser heutiges<br />

Bürgerleben erhalten und durchgesetzt.<br />

Jeder Staat, jede Stadt lebt und leidet unter der<br />

Spannung zwischen diesen beiden Lebensmodellen.<br />

Das ist das Dilemma unserer heutigen Gesellschaft<br />

schlechthin, es ist der Urgrund aller gesellschaftlichen<br />

Spaltung. Epikureer und Stoiker<br />

seien, so sagt man, Antipoden, „Gegenfüßler“.<br />

Unverhohlene Egomanie steht gegen couragierten<br />

Gemeinschaftssinn.<br />

Da sind auf der einen Seite die Bürger, die selbstbezogen<br />

auf die Wahrung ihres Besitzstandes,<br />

auf ihr Glück in der intimen Abgeschiedenheit<br />

ihres Gartens bedacht sind, die sich gegen alle<br />

Bedrängnisse von außen abschotten, die keinen<br />

Drang in sich verspüren nach politischer Verantwortung,<br />

nach einem sozialen Dienst für Andere,<br />

ob sie nun Mitbürger oder Fremde in Not sind,<br />

denen sie an den Grenzen ihres Landes hohe<br />

Mauern oder erhöhte Kontrollen entgegenstellen,<br />

real oder in ihrer Gesinnung. Unverkennbar ihr<br />

Lebensmotto: „Lebe im Verborgenen!“<br />

Da sind auf der anderen Seite die Bürger, denen<br />

jeder Mensch etwas Heiliges ist, die sich engagieren<br />

in politischen Ämtern, im Sozialdienst, im<br />

Einsatz innerhalb der Kirchen, bei Feuerwehr und<br />

Krankenpflege, in der Alten- und Flüchtlingsbetreuung,<br />

für die Integration von Fremden, für den<br />

Schutz der Umwelt, für die Armen in rückständigen<br />

Ländern der Welt, aber auch für das Kulturleben,<br />

die Schönheit, die Sauberkeit und die<br />

Harmonie ihrer Heimat, ihrer Bürgerschaft, ihrer<br />

Stadt. Ihr ehernes Gesetz lautet unverkennbar:<br />

„Der Mensch ist nicht für sich allein geboren.“<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

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Kaum etwas kann das Extrem dieser Gegensätze<br />

klarer vor Augen führen als zwei Bilder von heute.<br />

Auf der einen Seite das Mauerbild des Straßenmalers<br />

Pascal Dihé von 2008: es zeigt ein von<br />

dunklen schulterlangen Haaren bedecktes Gesicht,<br />

mit starr glotzenden Augen und einem breiten<br />

Mund, den die sich weit herausschiebende<br />

Zunge genüsslich nach oben abschleckt, mit dem<br />

Kommentar in Großbuchstaben daneben: „Welch<br />

ein feiner Epikureismus!“<br />

Auf der anderen Seite das Foto (Demo von Fridays<br />

for Future in Stockholm) zumal von jungen<br />

Menschen, die freudig lachend nach oben schauen<br />

auf die bunte Weltkugel, die sie gemeinsam<br />

schützend in Händen halten. Garten-Mentalität<br />

gegen Globus-Begeisterung. Was für ein frappierender<br />

Kontrast! Auf der einen Seite der Ausdruck<br />

einer eigensüchtigen Wohlbefindlichkeit im Jetzt<br />

– auf der anderen Seite der Ausdruck eines weltoffenen<br />

Gemeinschaftssinns in Rücksicht auf die<br />

Zukunft. Der Bürger zwischen zwei Lebensmodellen.<br />

Das ist die Diagnose der Gesellschaft heute,<br />

kaum anders als vor zweieinhalbtausend Jahren.<br />

Perikles, der große Staatsmann, der die erste<br />

Demokratie begründete, hat uns das Wort hinterlassen:<br />

„Wer an den Dingen der Stadt keinen<br />

Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter<br />

Bürger.“ Wer sich jedoch dafür engagiere, der<br />

stehe in hohen Ehren. Warum sollte das nicht<br />

auch heute gelten? Der Dienst von Bürgern für<br />

die Gemeinschaft ist ehrenhaft, ist anzuerkennen<br />

als Akt der Menschlichkeit, als Achtung der Menschenrechte,<br />

als Ausdruck politischer Verantwortung.<br />

Ihr Dienst ist zu allen Zeiten verdienstvoll.<br />

2. Wettbewerb der<br />

Griechischen Botschaft,<br />

Berlin <strong>2020</strong><br />

– Von Aglaia Rachel-Tsakona –<br />

Ein Wettbewerb der Griechischen Botschaft<br />

für Schülerinnen und Schüler an<br />

allen Schulen in Berlin, Brandenburg,<br />

Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,<br />

Sachsen und Thüringen, die am<br />

Fach Altgriechisch teilnehmen.<br />

„Das antike Griechenland und Hölderlin“<br />

<strong>2020</strong> wollen wir mit unserem Altgriechisch-Wettbewerb<br />

Hölderlins 250. Geburtstag mitfeiern. Für<br />

das ausgehende 18. Jahrhundert war das antike<br />

Griechenland ein Kulturideal, mit dem Hölderlin<br />

sich wie kein anderer identifizierte. Diese Aneignung<br />

machte er zur systematischen Aufgabe seiner<br />

Dichtung.<br />

Ihre Aufgabe besteht darin, sich als Gruppe auf<br />

die Spuren Hölderlins und der Antike zu begeben<br />

und ihr Arbeitsergebnis in Form eines Textes,<br />

Films, Bildes oder eines Plakats darzustellen.<br />

Teilnahmerecht sind alle Schüller/innen-Gruppen<br />

der altsprachlichen Gymnasien ab der 8. Klasse in<br />

Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, die in<br />

Altgriechisch unterrichtet werden.<br />

Athens, Olympeion Temple Of Olympian Zeus, 2651 ©photo: Y. Skoulas<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

37


Die Griechischlehrerinnen und -lehrer sind<br />

bei der Themenfindung gerne behilflich.<br />

Auch bei der Präsentationsform steht eine<br />

Fülle an Möglichkeiten offen. Denkbar sind<br />

eine Bildergeschichte, ein Hörspiel, ein Kurzfilm,<br />

ein Gemälde, eine Zeichnung, ein Gedicht<br />

oder ein Lied - das, womit Sie meinen,<br />

dass es die größte Wirkung auf junge Leute<br />

haben könnte.<br />

Prämierung:<br />

Der Preis der Gruppenarbeit (2–4 Schüler/<br />

innen) mit 1–2 begleitenden Lehrer/innen<br />

beinhaltet für alle jeweils einen Hin- und<br />

Rückflug von Berlin nach Athen oder Kreta<br />

und 3 Übernachtungen mit Frühstück und<br />

Halbpension in einem 4-Sterne Hotel sowie<br />

freien Eintritt in Museen und Archäologische<br />

Stätten. Weitere Kosten wie Transport usw.<br />

werden die Preisträger selber tragen müssen.<br />

Die Reise muss in der Zeit vom 05.10.20 bis<br />

30.10.20 (also während der Herbstferien des<br />

nächsten Schuljahres) stattfinden. Bis zum<br />

10.6.20 (Tag der Preisverleihung) sollen die<br />

teilnehmenden Personen und der Zeitraum<br />

festgelegt werden. Diese Reise wird von der<br />

Griechischen Zentrale für Fremdenverkehr<br />

gesponsert (www.visitgreece.gr).<br />

Für die Bewertung durch die Jury erwarten<br />

wir zunächst eine digitale Version der Arbeit<br />

(als pdf-Datei, Photos: jpeg, Video: mpeg4,<br />

Musik: mp3 oder youtube link oder in einem<br />

gängigen Bildformat. Bei einer größeren Datei<br />

als 6 MB senden Sie diese mit wetransfer.<br />

com).<br />

Kriterien für die Preiswürdigkeit:<br />

● Originalität des Beitrags<br />

● Eigenständigkeit der eingesandten Arbeit<br />

● Inhaltliche Überzeugungskraft<br />

● Visuelle Eindringlichkeit<br />

● Komprimiertheit und Vielschichtigkeit<br />

der Darstellung<br />

● Akzentuierung der Themenstellung<br />

● Professionalität der Ausführung<br />

● Verständlichkeit<br />

● Unterhaltsamkeit<br />

Teilnahmeberechtigte:<br />

Alle Schülerinnen und Schüler der altsprachlichen<br />

Gymnasien in Gruppengröße ab der 8.<br />

Klasse in den Ländern Berlin, Brandenburg,<br />

Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,<br />

Sachsen und Thüringen, die in Altgriechisch<br />

unterrichtet werden.<br />

Teilnahmemeldung:<br />

Bis zum 28. Februar <strong>2020</strong> an<br />

Frau Aglaia Rachel-Tsakona,<br />

Griechische Botschaft,<br />

Kurfürstendamm 185, 10707 Berlin.<br />

E-Mail: kultur@griechische-botschaft.de<br />

Einsendeschluss:<br />

Freitag, der 12. Mai <strong>2020</strong><br />

an die oben genannte Mailadresse.<br />

Jede Einsendung muss folgende<br />

Angaben enthalten:<br />

a. Name und Anschrift der Schule<br />

b. Bezeichnung der Lerngruppe/ Klasse und<br />

Angabe des Lernjahres.<br />

c. Liste der beteiligten Schülerinnen und<br />

Schüler (Gruppe von 2–4 Schüler/innen),<br />

Vorname und Name.<br />

d. Name der betreuenden Lehrkraft.<br />

Preisverleihung:<br />

Montag, der 10. Juni <strong>2020</strong>.<br />

Der Ort wird rechtzeitig bekannt gegeben.<br />

Die Jury behält sich eine Veröffentlichung<br />

eingesandter Schülerarbeiten vor. Die Bewertung<br />

der eingereichten Werke erfolgt<br />

durch unsere Juroren. Sie sind alle gleichermaßen<br />

stimmberechtigt. Das ausgezeichnete<br />

Werk wird veröffentlicht.<br />

Fragen zum Wettbewerb beantwortet:<br />

Frau Aglaia Rachel-Tsakona,<br />

Kulturattachée<br />

Griechische Botschaft<br />

Kurfürstendamm 185<br />

10707 Berlin.<br />

E-Mail: kultur@griechische-botschaft.de<br />

Attica, Sounio, Temple Of Poseidon, <strong>01</strong>3 photo: ©Y. Skoulas<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

39


Friedrich Hölderlin, 1770–1843<br />

Griechenland<br />

Hätt ich dich im Schatten der Platanen,<br />

Wo durch Blumen der Cephissus rann,<br />

Wo die Jünglinge sich Ruhm ersannen,<br />

Wo die Herzen Sokrates gewann,<br />

Wo Aspasia durch Myrten wallte,<br />

Wo der brüderlichen Freude Ruf<br />

Aus der lärmenden Agora schallte,<br />

Wo mein Plato Paradiese schuf,<br />

Wo den Frühling Festgesänge würzten,<br />

Wo die Ströme der Begeisterung<br />

Von Minervens heilgem Berge stürzten –<br />

Der Beschützerin zur Huldigung –<br />

Wo in tausend süßen Dichterstunden,<br />

Wie ein Göttertraum, das Alter schwand,<br />

Hätt ich da, Geliebter! dich gefunden,<br />

Wie vor Jahren dieses Herz dich fand,<br />

Ach! es hätt in jenen bessern Tagen<br />

Nicht umsonst so brüderlich und groß<br />

Für das Volk dein liebend Herz geschlagen,<br />

Dem so gern der Freude Zähre floß! –<br />

Harre nun! sie kömmt gewiß, die Stunde,<br />

Die das Göttliche vom Kerker trennt –<br />

Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,<br />

Edler Geist! umsonst dein Element.<br />

Attika, die Heldin, ist gefallen;<br />

Wo die alten Göttersöhne ruhn,<br />

Im Ruin der schönen Marmorhallen<br />

Steht der Kranich einsam trauernd nun;<br />

Lächelnd kehrt der holde Frühling nieder,<br />

Doch er findet seine Brüder nie<br />

In Ilissus heilgem Tale wieder –<br />

Unter Schutt und Dornen schlummern sie.<br />

Von Gottfried Semper lernen:<br />

Kunsthistorischen<br />

Deutungsangebote durch<br />

Nachbarschaft.<br />

Semperbau am Dresdner Zwinger öffnet seine Pforten<br />

„Platz für den großen Raffael!“ Das soll August<br />

III. ausgerufen haben, als die von ihm erworbene<br />

Sixtinische Madonna 1754 in seiner Residenzstadt<br />

Dresden eintraf, um in die kurfürstliche Kunstsammlung<br />

integriert zu werden: Der wohlbeleibte<br />

König machte sich klein vor dem von ihm langersehnten<br />

Ankauf. Hundert Jahre später malte kein<br />

Geringerer als Adolph Menzel die emblematische<br />

– Von Josef Rabl –<br />

Szene, in der August seinen Thron für das Bild zur<br />

Seite räumt. Da war die Sixtina längst zum berühmtesten<br />

Bild der Dresdner Galerie geworden,<br />

und das ist sie bis heute geblieben – als eines der<br />

wenigen Gemälde, die jeder erkennt. Den Platz,<br />

den August für sie einforderte, hat sie in den Herzen<br />

der ganzen Welt.<br />

(Andreas Platthaus, in: FAZ)<br />

Ach! wie anders hätt ich dich umschlungen! –<br />

Marathons Heroën sängst du mir,<br />

Und die schönste der Begeisterungen<br />

Lächelte vom trunknen Auge dir,<br />

Deine Brust verjüngten Siegsgefühle,<br />

Deinen Geist, vom Lorbeerzweig umspielt,<br />

Drückte nicht des Lebens stumpfe Schwüle,<br />

Die so karg der Hauch der Freude kühlt.<br />

Ist der Stern der Liebe dir verschwunden?<br />

Und der Jugend holdes Rosenlicht?<br />

Ach! umtanzt von Hellas goldnen Stunden,<br />

Fühltest du die Flucht der Jahre nicht,<br />

Ewig, wie der Vesta Flamme, glühte<br />

Mut und Liebe dort in jeder Brust,<br />

Wie die Frucht der Hesperiden, blühte<br />

Ewig dort der Jugend stolze Lust.<br />

Mich verlangt ins ferne Land hinüber<br />

Nach Alcäus und Anakreon,<br />

Und ich schlief' im engen Hause lieber,<br />

Bei den Heiligen in Marathon;<br />

Ach! es sei die letzte meiner Tränen,<br />

Die dem lieben Griechenlande rann,<br />

Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen,<br />

Denn mein Herz gehört den Toten an!<br />

Quelle:<br />

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1,<br />

Stuttgart 1946, S. 183–186.<br />

http://www.zeno.org/nid/20005103665<br />

Attica, Sounio, 9293, ©photo: Y. Skoulas<br />

Antikenhalle Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800<br />

© Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: H.C. Krass<br />

40 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 41<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV


Rund um Raffaels „Sixtinische Madonna“ erwartet<br />

das Publikum eine einzigartige Reise durch die<br />

europäische Kunstgeschichte. Die Konzeption der<br />

<strong>neu</strong>en Dauerausstellung folgt einer Unterteilung<br />

nach geografischen Schulen und Epochen und<br />

wird einzelne Hauptthemen der jeweiligen Zeit in<br />

den Blick nehmen. Meisterwerke wie Giorgiones<br />

„Schlummernde Venus“, Rembrandts „Ganymed“<br />

oder Bellottos Dresdner Veduten werden als<br />

Schlüsselwerke eindrucksvoll in Szene gesetzt.<br />

Nach sieben Jahren technischer Modernisierung<br />

und Restaurierung öffnete am Samstag, dem 29.<br />

Februar <strong>2020</strong>, der Semperbau am Zwinger wieder<br />

seine Türen – ganz planmäßig, was den Kostenrahmen<br />

angeht (fünfzig Millionen Euro) und immerhin<br />

fast planmäßig hinsichtlich des Termins.<br />

Ursprünglich wurde der Dezember 2<strong>01</strong>9 angepeilt,<br />

aber die Schwierigkeiten beim rechtzeitigen<br />

Abschluss der Arbeiten an den im benachbarten<br />

Schloss rekonstruierten Paraderäumen mögen<br />

Warnung gewesen sein. Und sonst hätte auch<br />

der Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe vom<br />

25. November die Eröffnung überschattet.<br />

Wegweisend für die vollständig überarbeitete<br />

Dauerausstellung ist allerdings die Integration<br />

der Skulpturensammlung: Die bedeutende Dresdner<br />

Antikensammlung wird nach zehn Jahren im<br />

Schaudepot des Albertinum nun imposant im<br />

Semperbau präsentiert. Sie findet ihr <strong>neu</strong>es Zuhause<br />

in der Antikenhalle, einer großen Halle im<br />

Erdgeschoss des Ostflügels, die ursprünglich für<br />

die historische Gipsabgusssammlung von Anton<br />

Raphael Mengs vorgesehen war. Plastiken und<br />

Skulpturen aus Renaissance und Barock sind im<br />

mit Tageslicht gefluteten Skulpturengang im ersten<br />

Obergeschoss <strong>neu</strong> installiert. Kleinbronzen,<br />

Büsten und Marmorwerke stehen im direkten<br />

Austausch zu ausgewählten Gemälden. „Nur”120<br />

Werke aus der Dresdner Skulpturensammlung<br />

stehen im Antikensaal. Eine ähnlich große Zahl<br />

von Werken ist auf die verschiedenen Räume der<br />

Gemäldegalerie in den beiden Obergeschossen<br />

verteilt. Im Deutschen Pavillon im Erdgeschoss ist<br />

eine Auswahl an Mengs‘schen Abgüssen zu sehen.<br />

Im Stockwerk darüber verbinden sich Kunstgenuss<br />

und Gaumenfreude im <strong>neu</strong> erschaffenen<br />

Café Algarotti, das zum Verweilen einlädt – es<br />

ist benannt nach dem italienischen Kunstagenten<br />

Augusts III.<br />

Experten aus verschiedenen Bereichen der Restaurierung<br />

wurden von Beginn an für konservatorische<br />

Fragen in die Bauplanung eingebunden,<br />

um bestmögliche Bedingungen für die Präsentation<br />

und Sicherheit aller Kunstwerke zu schaffen.<br />

Eine <strong>neu</strong>e Dreifach-Fensterverglasung mit hohem<br />

Farbwiedergabeindex ermöglicht jetzt natürliches<br />

Licht in den Räumen. Das vollkommen überarbeitete<br />

Lichtkonzept mit detailgenauer Akzentbeleuchtung<br />

und die farbigen Wandbespannungen<br />

lassen die Werke erstrahlen.<br />

In Hinblick auf die Wiedereröffnung wurden seit<br />

2<strong>01</strong>3 umfangreiche Restaurierungen durchgeführt.<br />

Etwa 45 Gemälde wurden grundlegend<br />

restauriert, weitere 162 Gemälde in kleinerem<br />

Umfang. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf der<br />

Konservierung von Gemälden auf Holz. Tafelbilder<br />

aus der Werkstatt von Cima da Conegliano,<br />

Lucas Cranach d. Ä. oder Giulio Romano konnten<br />

erforscht und umfassend bearbeitet werden.<br />

Dabei boten Kooperationen mit dem Getty-Institute<br />

in Los Angeles wichtige fachliche Unterstützung.<br />

Verschiedene großzügige Förderungen<br />

Blick in den Skulpturengang © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />

42 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

Antikenhalle, die drei sog. Herkulanerinnen © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

43


ermöglichten umfangreiche Restaurierungs- und<br />

Forschungsprojekte, wie die Restaurierung des<br />

Cuccina-Zyklus von Paolo Veronese. Mehrere Gemälde<br />

aus dem Depotbestand sind nach erfolgter<br />

Restaurierung nun ausstellungsfähig. Besonders<br />

wichtig war auch die Restaurierung der barocken<br />

Galerierahmen: Rund 310 Rahmenfassungen<br />

wurden überarbeitet und 33 fachgerechte Kopien<br />

nach Galerierahmen <strong>neu</strong> angefertigt. Dazu kamen<br />

140 Rahmenumbauten, Rahmenverstärkungen<br />

und Verglasungen. Für die Neupräsentation<br />

der Antikensammlung wurde jedes einzelne Objekt<br />

gereinigt, zahlreiche restauriert und mit <strong>neu</strong>en<br />

Sockeln versehen. Die Mengs’schen Abgüsse<br />

wurden ebenso gereinigt und stabilisiert.<br />

Die wohl grundlegendste Neuerung der Ausstellung<br />

beruht auf der plausiblen Entscheidung, die<br />

Werke ihrer weltberühmten Gemäldegalerie Alte<br />

Meister bis 1800 in Zukunft mit zahlreichen, bislang<br />

im Albertinum ausgestellten Skulpturen zu<br />

präsentieren.<br />

Der Architekt Gottfried Semper (1803–1879) hatte<br />

ursprünglich viel mehr im Sinn gehabt als ein<br />

normales Museum: eine Schule des Sehens, und<br />

dazu gehörte auch die Konfrontation des Publikums<br />

mit den Meisterwerken der antiken Bildhauerkunst,<br />

die für viele Gemälde der Renaissance<br />

und des Barocks wichtige Vorlagen abgegeben<br />

hatten. Architektur und Kunstschätze verschmolzen<br />

bei seinem Museumskonzept zu einer Einheit,<br />

wie sie selten zu sehen war. Deshalb wurde 1854<br />

im Erdgeschoss des Galeriegebäudes für sie ein<br />

eigener, von beiden Seiten lichtdurchfluteter Saal<br />

eingerichtet, auf dass die Plastizität der Standbilder<br />

durch Sonneneinfall belebt werde. Gefüllt<br />

wurde er dann mit der riesigen Gipsabgusssammlung<br />

von Anton Raphael Mengs, die der ehemalige<br />

Dresdner Oberhofmaler in der Mitte des achtzehnten<br />

Jahrhunderts zusammengetragen hatte.<br />

Doch diese Nutzung hatte nur bis 1881 Bestand.<br />

Nach 139 Jahren kehrt <strong>2020</strong> die Bildhauerkunst<br />

in die Sempergalerie zurück, und zwar dank des<br />

Außenansicht Semperbau am Zwinger Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800<br />

© Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Jürgen Lösel<br />

44 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

Raffael, Die Sixtinische Madonna, 1512/13 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

45


Ernst Julius Hähnel, Michelangelo Buonarotti, 1878 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />

46 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

Rembrandt, Ganymed in den Fängen des Adlers, 1635 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

47


Umzugs der Rüstkammer ins Residenzschloss genau<br />

an jenen Ort, für den sich Semper seine berückende<br />

Lichtregie hatte einfallen lassen. Diese<br />

kann man nun im <strong>neu</strong>benannten „Antikensaal“<br />

wieder genießen. Das<br />

mit dem Tagesverlauf<br />

wandernde Sonnenlicht,<br />

das am Nachmittag den<br />

Saal geradezu flutet, bescheint<br />

aber nicht mehr<br />

Gipsabgüsse – die werden<br />

alsbald, prachtvoll<br />

restauriert, im Erdgeschoss<br />

des angrenzenden<br />

„Deutschen Pavillons“<br />

ausgestellt –, sondern<br />

Originale: die überreiche<br />

Dresdner Antikensammlung,<br />

begründet durch<br />

August den Starken in<br />

den Jahren 1723 bis<br />

1733, als er die zwei römischen<br />

Kollektionen der<br />

Adelsfamilien Chigi und<br />

Alberti erwarb.<br />

Im ersten Raum steht die<br />

sogenannte Dresdner<br />

Symplegma im Zentrum.<br />

Ein Hermaphrodit und ein<br />

Satyr ringen miteinander,<br />

und es bleibt doch sehr<br />

zweifelhaft, ob die erotisch-akrobatische<br />

Verstrickung<br />

einvernehmlich<br />

ist. Im Kontrast dazu stehen<br />

die drei einst von<br />

Winckelmann so gerühmten<br />

Herkulanerinnen in vornehmer Ruhe in ihren<br />

vornehmen Gewändern und blicken auf das Geschehen.<br />

In der <strong>neu</strong>en Zusammenstellung von Bild<br />

und Skulptur zeigen sich mitunter überraschende<br />

Referenzen: Ein marmorner Kindskopf, der Hendrik<br />

de Keyser zugeschrieben wird, taucht in Rembrandts<br />

Gemälde Ganymed in den Fängen des Adlers<br />

wieder auf. Antike Skulpturen werden häufig<br />

als Vorbilder für Renaissance-Gemälde sichtbar.<br />

Der sächsische Reichtum mit seinen Handelsstädten<br />

und innovativen Manufakturen hatte es August<br />

dem Starken und seinem Sohn August III. ermöglicht,<br />

eine ungeheure Flut an Meisterwerken<br />

zu erwerben. Vor allem in der ersten Hälfte des<br />

18. Jahrhunderts war zeitweise ein regelrechtes<br />

Netz an Agenten und Kunsthändlern europaweit<br />

für die Dresdener Herrscher tätig, um Bilder von<br />

Tizian, Raffael, Correggio, Tintoretto, von Jan<br />

van Eyck, Rubens, Rembrandt, Vermeer, El Greco,<br />

Velázquez, von Tournier, Lorrain und Poussin<br />

herbeizuschaffen. In beispiellos kurzer Zeit, in nur<br />

vier, fünf Jahrzehnten, wurde eine Sammlung von<br />

Giorgione/Tizian, Schlummernde Venus, um 1508/10 © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />

Weltrang erstanden. Spätestens um 1800 war<br />

Dresden der Pilgerort schlechthin für Kunstbegeisterte.<br />

Vor allem romantische Schriftsteller,<br />

aber auch noch Dostojewski erstarrten regelrecht<br />

begeistert vor dem bis heute bekanntesten Gemälde<br />

der Sammlung: Raffaels Sixtinischer Madonna.<br />

Die zwei nachdenklich-lustigen Putten<br />

am unteren Bildrand sind zum profanen Postkarten-<br />

und Bettwäschemotiv geworden. Die Stadt<br />

verdankt August III kunsthistorisch noch mehr als<br />

seinem Vater. Er kaufte 1736 die bekanntesten<br />

Dresdner Antiken, die<br />

drei sogenannten Herkulanerinnen:<br />

drei 1711 in<br />

Hercula<strong>neu</strong>m ausgegrabene<br />

lebensgroße Frauenskulpturen<br />

aus dem<br />

ersten nachchristlichen<br />

Jahrhundert, deren Eleganz<br />

und Bearbeitungssorgfalt<br />

ihresgleichen<br />

suchen. Winckelmann<br />

schmolz vor ihnen dahin.<br />

Gemeinsam mit der<br />

Sixtinischen Madonna<br />

bilden sie das Quartett<br />

der schönsten Frauen<br />

von Dresden, und nun<br />

ist es erstmals auf Dauer<br />

im selben Haus vereint.<br />

Neue Sonderausstellungsflächen<br />

ermöglichen<br />

nun wechselnde<br />

Präsentationen von<br />

Kunstschätzen aus den<br />

Beständen sowie nationalen<br />

und internationalen<br />

Leihgaben. Das Winckelmann-Forum<br />

bietet<br />

eine große Wechselausstellungsfläche,<br />

die das<br />

gesamte Erdgeschoss<br />

des Westflügels umfasst.<br />

Ab 3. April <strong>2020</strong><br />

wird diese mit der Sonderausstellung „Raffael –<br />

Die Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre<br />

Nachwirkung“ eröffnet. Das Semper-Kabinett im<br />

ersten Obergeschoss bietet Gelegenheit, kleine<br />

und fokussierte Präsentationen zu sehen. Parallel<br />

zur Wiedereröffnung wird dort die Schau „Begegnung<br />

mit einem Gott. Der Dresdner Mars von<br />

48 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

49


Giambologna“ gezeigt, die der 2<strong>01</strong>8 geglückten<br />

Rückgewinnung der berühmten Kleinbronze gewidmet<br />

ist.<br />

Multimediale Vermittlungsformate ergänzen das<br />

Museumserlebnis. Künftig ist der Semperbau flächendeckend<br />

mit WLAN ausgestattet, darüber<br />

kann der <strong>neu</strong> konzipierte Multimediaguide aufgerufen<br />

werden. In Kooperation mit der Fakultät<br />

Informatik der Technischen Universität Dresden<br />

(TUD) sind zudem kostenlose barrierefreie Multimediaguides<br />

für die unterschiedlichen sensorischen<br />

und kognitiven Bedürfnisse der Besucherinnen<br />

und Besucher entstanden. Im Sinne einer<br />

inklusiven Gesellschaft bieten die Geräte interaktive<br />

Darstellungen der Exponate, beispielsweise<br />

in Gebärdensprache oder mittels auditiver Beschreibung.<br />

Die <strong>neu</strong>en Multimediaguides stehen<br />

ab 3. März <strong>2020</strong> zur Verfügung.<br />

Marion Ackermann, Generaldirektorin der<br />

Staatlichen Kunstsammlungen Dresden:<br />

„Die anregenden Gegenüberstellungen im Dresdner<br />

Semperbau lassen das Auge hin- und herspringen,<br />

ungekannte formale Analogien, Wechselbeziehungen<br />

und gegenseitige Beeinflussung<br />

zwischen Skulptur und Malerei entdecken. In<br />

gewisser Weise wird hiermit ein Geist wiederbelebt,<br />

dessen Ursprung in der Kunstkammer liegt:<br />

die dialogische Koexistenz von Kunstwerken und<br />

Artefakten über die Gattungsgrenzen hinweg.<br />

Inhaltliche Verdichtungen, die die Stärken der<br />

Sammlungen zelebrieren und eine durchkomponierte<br />

Wegeführung durch das komplexe Gebäude,<br />

lassen das Flanieren durch die geliebte<br />

Sammlung der Alten Meister zu höchstem Genuss<br />

werden, – unterbrochen von <strong>neu</strong> geschaffenen<br />

Ausstellungsräumen, die die unterschiedlichen<br />

Tempora eines lebendigen Museums wirksam<br />

werden lassen. Die Gemäldegalerie Alte Meister<br />

ist weltweit berühmt, viele ihrer Werke haben sich<br />

über die Jahrhunderte hinweg im Bildgedächtnis<br />

der Menschen verankert.“<br />

Zur Eröffnung erschienen folgende Bücher im<br />

Sandstein Verlag, herausgegeben von Stephan<br />

Koja: jeweils ein Museumsführer zu den ausgestellten<br />

Gemälden und Skulpturen (12,95 €), der<br />

Band „Restaurierte Meisterwerke“ (19,80 €) und<br />

ein <strong>neu</strong>er Katalog „Meisterwerke der Renaissance<br />

und des Barock“ (29,80 €) und „Glanzstücke.<br />

Gemäldegalerie Alte Meister. Skulpturensammlung<br />

bis 1800. (49,90 €), zudem der Band<br />

„Vorbild Antike. Die Abgusssammlung des Anton<br />

Raphael Mengs” (19,80 €).<br />

Zur Wiedereröffnung der Gemäldegalerie Alte<br />

Meister und Skulpturensammlung hat die F.A.Z.<br />

in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen<br />

Dresden ein Unterrichtsmaterial zur Reflexion<br />

der Epochen, des Menschenbildes und der<br />

Demokratiebildung in der Antike ausgearbeitet.<br />

Das Unterrichtsmaterial für den fachübergreifenden<br />

Unterricht ab Klasse 7. Sie können es kostenfrei<br />

auf FAZSCHULE.NET herunterladen.<br />

Zur Vorbereitung von Veranstaltungen<br />

für Schulklassen:<br />

https://prod.skd.museum/vermittlung/<br />

Quellen: Presseinformation der Staatlichen Kunstsammlungen<br />

Dresden<br />

https://www.skd.museum/besucherservice/presse/<br />

Dresdner Gemäldegalerie: Es werde licht!<br />

Von Andreas Platthaus. FAZ 26.02.<strong>2020</strong><br />

Gemäldegalerie im Dresdner Zwinger. Das <strong>neu</strong>e<br />

Licht der Alten Meister. Dresden feiert die Wiedereröffnung<br />

der Gemäldegalerie im Zwinger. Die<br />

Sammlung von Weltrang präsentiert 700 Bilder –<br />

und dazu nun auch 420 Skulpturen. Von Bernhard<br />

Schulz, Der Tagesspiegel, 27.02.<strong>2020</strong><br />

Wie von Zauberhand. Altvertraut und doch ganz<br />

anders: In Dresden sind die Alten Meister endlich<br />

wieder zu sehen. Von Adam Soboczynski. DIE<br />

ZEIT Nr. 10/<strong>2020</strong>, 27. Februar <strong>2020</strong><br />

Schöne<br />

Bücher<br />

im<br />

Frühjahr<br />

50 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 51<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV


Angelos Chaniotis: Die Öffnung der Welt.<br />

Eine Globalgeschichte des Hellenismus,<br />

Aus dem Englischen übersetzt von Martin<br />

Hallmannsecker, WBG Theiss, Darmstadt<br />

2<strong>01</strong>9, 544 Seiten, 38 sw Abbildungen,<br />

8 Karten, ISBN 978-3-8062-3993-5, 35.00 €<br />

Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück,<br />

die Angelos Chaniotis in den<br />

Jahren 20<strong>01</strong>–2006 an der Universität<br />

Heidelberg gehalten hat. Nach starker<br />

Überarbeitung erschienen diese 2<strong>01</strong>8<br />

bei Profile Books Ltd. London unter dem Titel Age<br />

of Conquests. The Greek World from Alexander<br />

to Hadrian (336 bc – ad 138). 2<strong>01</strong>9 kehrte das<br />

Buch quasi unter dem Titel Die Öffnung der Welt.<br />

Eine Globalgeschichte des Hellenismus wieder<br />

nach Deutschland zurück.<br />

Der Althistoriker Angelos Chaniotis hat nach Stationen<br />

an der New York University, der Universität<br />

Heidelberg und der Universität Oxford seit<br />

2<strong>01</strong>0 eine Professur am Institute for Advanced<br />

Study in Princeton inne. Chaniotis hat sich insbesondere<br />

auf die hellenistische Geschichte und die<br />

griechische Epigraphik spezialisiert und sich international<br />

einen Namen gemacht. Er wurde mehrfach<br />

ausgezeichnet, u. a. mit dem Phönix-Orden<br />

der griechischen Republik, dem Forschungspreis<br />

des Landes Baden-Württemberg und dem mit<br />

250.000 Euro dotierten Anneliese-Maier-Forschungspreis<br />

der Alexander von Humboldt Stiftung.<br />

Angelos Chaniotis erzählt in seinem Buch die<br />

Geschichte zweier Epochen, die sonst durchwegs<br />

getrennt voneinander behandelt werden: das<br />

hellenistische Zeitalter und die frühe römische<br />

Kaiserzeit. So zeigt er, wie sehr die Kultur der<br />

Griechen die darauf folgenden Epochen weit über<br />

die Zeit der altrömischen Kaiser hinaus prägte.<br />

Daraus zieht er nun den Schluss, dass man beide,<br />

bislang eher getrennt betrachteten Epochen<br />

deutlich stärker zusammen sehen müsse. Das<br />

hellenistische Zeitalter lässt man für gewöhnlich<br />

mit den Kriegszügen (ab 334 v. Chr.) oder dem<br />

Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) beginnen<br />

und mit dem Tod Kleopatras (30 v. Chr.)<br />

enden. Für die frühe römische Kaiserzeit dienen<br />

die Einrichtung der monarchischen Herrschaft des<br />

Augustus (27 v. Chr.) und der Tod Hadrians (138<br />

n. Chr.) als Markierungspunkte. Chaniotis betont,<br />

dass sich die Quellenlage im Lauf des 20. Jahrhunderts<br />

mit den Fortschritten der Archäologie,<br />

mit der Veröffentlichung von Inschriften und der<br />

Erforschung von Papyri und Münzen gravierend<br />

verändert habe. All dies spreche dafür, die Epochengrenzen<br />

<strong>neu</strong> zu iustieren.<br />

Chaniotis nennt die <strong>neu</strong> begrenzte Zeitspanne von<br />

Alexander bis Hadrian das „lange hellenistische<br />

Zeitalter“ (12). „Die verbindenden Elemente, die<br />

dieses auch von vorhergehenden Epochen unterscheiden,<br />

sind: Die Bedeutsamkeit monarchischer<br />

Herrschaftsformen; die starke imperialistische<br />

Tendenz als Kennzeichen der Politik sowohl hellenistischer<br />

Könige als auch des römischen Senats;<br />

die enge Verflechtung politischer Entwicklungen<br />

im Balkanraum, in Italien, in der Schwarzmeerregion,<br />

Kleinasien, im Nahen Osten und in Ägypten;<br />

die erhöhte Mobilität der Bevölkerung in diesen<br />

Gebieten; die Verbreitung städtischer Lebensformen<br />

und Kultur; technologische Fortschritte; und<br />

die allmähliche Homogenisierung von Sprache,<br />

Kultur, Religion und Institutionen. Die meisten der<br />

eben genannten Phänomene hatte es vor Alexanders<br />

Kriegszügen nicht in einem vergleichbaren<br />

Ausmaß gegeben. ... Viele (davon ...) finden eine<br />

Entsprechung in der modernen Welt, und unter<br />

anderem diese ‚Modernität‘ macht die Epoche so<br />

attraktiv“ (14).<br />

Chaniotis ist überzeugt davon, dass es irreführend<br />

wäre, die „Prozesse kultureller Konvergenz<br />

für die hellenistische Zeit als ‚Hellenisierung‘ und<br />

für die Kaiserzeit als ‚Romanisierung’ zu bezeichnen<br />

... Beide Begriffe implizieren eine einseitige<br />

Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie –<br />

die Entwicklung einer kulturellen koine (einer gemeinsamen<br />

Ausdrucksform) im ‚langen hellenistischen<br />

Zeitalter‘ war aber das Ergebnis längerer<br />

und weitaus komplexerer Prozesse. Ihre Protagonisten<br />

waren nicht nur Personen mit politischer<br />

Autorität, sondern auch Reisende, Künstler, Redner<br />

und Dichter, Soldaten und Sklaven sowie<br />

Magier und Traumdeuter, die sich über Grenzen<br />

hinwegbewegten. Es war also die erhöhte Mobilität<br />

in den multiethnischen Königreichen und im<br />

Römischen Reich, die eine solche kulturelle Konvergenz<br />

brachte; sie führte auch dazu, dass verschiedene<br />

religiöse Vorstellungen verschmolzen,<br />

was als ‚Synkretismus‘ bezeichnet wird“ (15f.).<br />

Mit seinen Eroberungen schuf Alexander zwar<br />

kein Weltreich von Dauer, dafür aber die Voraussetzungen<br />

für die Entstehung eines politischen,<br />

wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks, das<br />

buchstäblich die gesamte damals bekannte Welt<br />

umfasste. Die Entstehung von Metropolen, Weltbürgertum<br />

und Lokalpatriotismus, technologische<br />

Innovationen und <strong>neu</strong>e Religionen wie das<br />

Christentum, aber auch soziale Konflikte und<br />

Kriege gehören zu den Kennzeichen dieser Welt.<br />

Globalisierung, Mobilität und Multikulturalität –<br />

die Fragen, die die alten Griechen beschäftigten –<br />

sind auch heute von großer Bedeutung. Wer das<br />

Wesen der Globalisierung mit all seinen positiven<br />

und negativen Folgen verstehen will, der sollte<br />

mit diesem faktenreichen Sachbuch das erste<br />

Auftreten dieses Phänomens in der Alten Geschichte<br />

erkunden.<br />

Erfrischend bisweilen jene Passagen, in denen<br />

Angelos Chaniotis seinen Landsmann, den Dichter<br />

Konstantinos Kavafis aus Alexandria (1863–<br />

1933) und seine Gedichte (41, 144. 234. 267,<br />

458) zitiert.<br />

Eine Liste von Quellentexten, eine eher knappe<br />

Bibliographie sowie weiterführende Literatur, den<br />

16 Buchkapiteln zugeordnet, befördert vertiefte<br />

Recherche. Ein zwanzigseitiges Register erleichtert<br />

die gezielte Suche nach Namen, Orten und<br />

Begriffen beträchtlich.<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

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Elke Stein-Hölkeskamp, Die feinen<br />

Unterschiede. Kultur, Kunst und Konsum<br />

im Antiken Rom. Münchner Vorlesungen zu<br />

antiken Welten, Band 5. De Gruyter Verlag<br />

Berlin/Boston, 137 Seiten, 2<strong>01</strong>9,<br />

ISBN 978-3-11-061408-4, € 69.95<br />

Bei der Erforschung der römischen Eliten<br />

stand bislang ihr ebenso intensives<br />

wie alternativloses Engagement<br />

in Politik und Militär im Mittelpunkt;<br />

Stichwort Cursus honorum. Die Autorin<br />

hinterfragt in ihrem Buch, einer Sammlung<br />

von sechs Vorlesungen, die sie im Herbst 2<strong>01</strong>4<br />

auf Einladung auf die Münchner Gastprofessur<br />

für Antike Kulturgeschichte hielt, die anhaltende<br />

Exklusivität dieses Lebensmodells und wirft einen<br />

erweiterten Blick auf die aristokratischen Lebenswelten.<br />

Senatoren und Ritter, so hat das Studium<br />

der Texte aller möglichen literarischen Gattungen<br />

gezeigt, erschlossen sich schon in der späten Republik<br />

eine Reihe alternativer Handlungsfelder<br />

(Vorlesung 2: Einheit oder Vielfalt? Lebensziele<br />

und Lebensentwürfe der römischen Aristokratie<br />

im Wandel, 14–34), und diese Entwicklung<br />

erhielt mit der Etablierung der Monarchie noch<br />

einmal eine <strong>neu</strong>e Dynamik. Sie beteiligten sich als<br />

Autoren und Patrone an dem lebhaften literarischen<br />

Leben (Vorlesung 3: Epos oder Elegie? Die<br />

Dichtung als Weg zum ewigen Ruhm, 35–51). Sie<br />

sammelten Kunstwerke und Bücher und stellten<br />

diese Objekte in den Pinakotheken und Bibliotheken<br />

ihrer Villen in einem idealen Ambiente aus<br />

(Vorlesung 4: Mars oder die Musen? Kunstsammler<br />

und Kunstkenner im republikanischen und<br />

kaiserzeitlichen Rom, 52–70). Und nicht zuletzt<br />

intensivierten sie in den demonstrativen Konsum<br />

(Vorlesung 5: Toga oder Chlamys? Dresscodes<br />

und Habitus der spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen<br />

Aristokraten, 71–92) aller Arten von<br />

Luxusgütern, mit denen sie ihren Reichtum und<br />

ihre Fähigkeit zur Distinktion zur Schau stellten<br />

(Vorlesung 6: Luxus oder Dekadenz? Konsum und<br />

Konkurrenz beim römischen Gastmahl, 93–116).<br />

Der vorherrschende Handlungsmodus dieser Elite<br />

blieb dabei die Konkurrenz. Doch im Streben nach<br />

Vorrang konnte der kultivierte Connaisseur nun<br />

den bewährten Consular überbieten.<br />

Wurden die gesellschaftlichen Entwicklungen<br />

zum Ende der Republik und im ersten Jahrhundert<br />

der römischen Kaiserzeit unter dem Oberbegriff<br />

„Privatleben römischer Kaiser“ als Sittenverfall,<br />

Erosion von Anstand und Moral, als zunehmende<br />

Dekadenz, Lust an Luxus und Laster sowie Streben<br />

nach Prunk und Pracht deklariert, so sieht<br />

die Autorin in gut nachvollziehbarer Weise diese<br />

gesellschaftlichen Entwicklungen völlig <strong>neu</strong>. Ein<br />

Glück ist die günstige Quellenlage.<br />

„Für die ‚dichte Beschreibung‘ der Lebensziele<br />

und Lebensentwürfe römischer Aristokraten<br />

bietet die Epoche von Cicero bis zum jüngeren<br />

Plinius vielfältiges und hervorragendes Material.<br />

Historiographische und epigraphische Quellen<br />

ermöglichen die Rekonstruktion der höchst individuellen<br />

Lebensläufe einer großen Zahl von Persönlichkeiten.<br />

Literarische Quellen unterschiedlicher<br />

Genres spiegeln die intensive Reflexion und<br />

den lebhaften Diskurs über die Frage nach einer<br />

sinnvollen Lebensgestaltung wider. Dabei zeigen<br />

die Zeugnisse insgesamt eine Welt im Wandel, in<br />

der die Angehörigen der Elite sich intensiv an den<br />

alten republikanischen Idealen abarbeiten und<br />

sich durch Alternative Lebensentwürfe <strong>neu</strong> zu<br />

positionieren versuchen“ (14).<br />

Silius Italicus etwa entschied sich nach seiner<br />

Rückkehr als Proconsul in der Provinz Asia im<br />

Jahr 77 für ein Leben der „lobenswerten Zurückgezogenheit“,<br />

das er in einem angemessenen<br />

Ambiente verbrachte, er kaufte eine Reihe eleganter<br />

Landhäuser in Kampanien (14f.). Auch für<br />

Lukrez stellt die politische Karriere, der sukzessive<br />

Aufstieg über die streng regulierte Stufenleiter<br />

des cursus honorum, nicht mehr das alternative<br />

ultimative Ziel menschlichen Strebens dar. Er<br />

vergleicht die Kandidatur um politische Ämter<br />

mit den ebenso end- wie sinnlosen Quälen des<br />

Sisyphos (22). Dem jüngeren Seneca erscheint<br />

der Eintritt in eine militärisch-politische Karriere<br />

dem Eintreten in einen Strudel ähnlich, aus<br />

dem es kein Entrinnen gebe (23). Horaz betont<br />

immer wieder, dass der auf dem Forum und dem<br />

Marsfeld erworbene Ruhm über den Tag hinaus<br />

keinen Bestand habe. „Er formuliert daher eine<br />

vollständige Umkehr der republikanischen Ideologie,<br />

nach der nur jene Leistungen als erinnerungswürdig<br />

und damit dauerhaft galten, die<br />

in ebendiesen Bereichen, nämlich in Politik und<br />

Krieg, erbracht worden waren. ... Und wie später<br />

Seneca wußte auch schon Horaz, dass Politik allein<br />

nicht glücklich macht – jedenfalls dann nicht,<br />

wenn man Glück als etwas betrachte, das mit<br />

Seelenruhe, dem Vernünftigen und dem sittlich<br />

Vollkommenen in Einklang stehe“ (24f.). Plinius<br />

konnte seinen Traum vom Ausstieg aus den Mühen<br />

des politischen Alltags bekanntlich nicht realisieren<br />

und stand bis zu seinem Tod im Dienst<br />

des Kaisers, hatte aber durchaus Verständnis, ja<br />

Sympathie für jene Männer, die bereits zu einem<br />

deutlich früheren Zeitpunkt aus dem öffentlichen<br />

Leben ausscheiden oder sogar von vornherein<br />

ganz bewußt auf eine Karriere in Politik, Militär<br />

und Reichsverwaltung verzichten (28). Die Autorin<br />

lässt noch zahlreiche weitere Aussteiger zu<br />

Wort kommen, bevor sie als Fazit festhält:<br />

„Das Bild des umtriebigen republikanischen Politikers,<br />

der alle seine Möglichkeiten einsetzte, um<br />

die Leistungen der maiores noch zu übertreffen,<br />

den cursus honorum optimal zu durchlaufen, das<br />

höchste Amt und vielleicht sogar einen Triumph<br />

zu erreichen, um dann als einer der Ersten des<br />

Senats die Meinungsbildung dort mitzubestimmen,<br />

ist in der Literatur der Prinzipatszeit durchaus<br />

noch präsent. ... Doch dieser Katalog von<br />

Vorzügen und Zielen, die es allein anzustreben<br />

galt, hatte jetzt seine zuvor jahrhundertelang<br />

unumstrittene Verbindlichkeit verloren. Das sich<br />

darin manifestierende Leistungsideal war jetzt<br />

zu einer Folie geworden, die den kaiserzeitlichen<br />

Autoren zur kritischen Auseinandersetzung und<br />

zur Formulierung <strong>neu</strong>er, alternativer Ideale diente“<br />

(33f.).<br />

In den folgenden Kapiteln bzw. Vorlesungen<br />

stellt Elke Stein-Hölkeskamp exemplarisch einige<br />

Handlungsfelder vor, die für die Konkurrenz um<br />

Geltungschancen und Prominenzrollen immer<br />

wichtiger wurden und zugleich die optimalen<br />

Strategien zur Wahrnehmung dieser Chancen<br />

deutlich erkennen lassen. So treten literarisches<br />

Talent und rhetorische Fähigkeiten, individuelle<br />

Sensibilität und verfeinerter Kunstsinn sowie<br />

die Fähigkeit zu einer urbanen und gebildeten<br />

Kommunikation neben die traditionellen Kompetenzen<br />

des Feldherrn und Politikers. Die hergebrachten<br />

Rollen wurden durch <strong>neu</strong>e Prominenzrollen<br />

etwa als Redner, Literat und Protagonist<br />

eines kultivierten Lebensstils teils ergänzt, teils<br />

ersetzt (50f.). Individuelle Lebensläufe und ideale<br />

Lebensentwürfe zeichneten sich jetzt zunehmend<br />

durch Pluralität und Heterogenität aus.<br />

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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

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Als Kunstsammler von ganz besonderem Format<br />

gilt Lucius Licinius Lucullus. Er hatte eine Schwäche<br />

für tiefschwarze Marmorsäulen von der Insel<br />

Melos und andere kostbare Baumaterialien, er<br />

widmete seinen Pinakotheken besondere Aufmerksamkeit,<br />

sammelte Gemälde, Stauen, Bücher<br />

und prächtiges Hausgerät vornehmlich von<br />

griechischer Provenienz. Nach ihm strebten viele<br />

Sammler des ersten nachchristlichen Jahrhunderts<br />

danach, eine Vielzahl von unterschiedlichen<br />

Objekten in ihren Besitz zu bringen. Diese Kunstwerke<br />

wurden aus ihrem ursprünglichen kulturellen<br />

Kontext herausgelöst und erhielten durch ihre<br />

Aufstellung in den Sammlungen der Römer eine<br />

<strong>neu</strong>e soziale Bedeutung Sie trugen zur Selbstkonstruktion<br />

der persona ihres Besitzers bei und<br />

fungierten als Indikatoren für seinen Rang und<br />

sein Prestige. „Die Sammler mussten selbstverständlich<br />

über die entsprechenden Ressourcen<br />

verfügen, um die Objekte zu erwerben – aber das<br />

war nur die notwendige, aber keineswegs schon<br />

hinreichende Voraussetzung. Weitaus wichtiger<br />

war ihre umfassende Bildung, ihre Kenntnis der<br />

griechischen Sprache, Mythologie und Literatur,<br />

die es Ihnen gestattete, die Bedeutung der Objekte<br />

zu erkennen und sie dementsprechend zu<br />

präsentieren. ... Nur wer dem Ideal des umfassend<br />

gebildeten Kunstkonsumenten und literarisch<br />

aktiven Kulturproduzenten in jeder Hinsicht<br />

entsprach, könnte das erhebliche distinktive Potenzial<br />

der Sammlungen völlig ausschöpfen und<br />

sich damit als akzeptiertes und angesehenes Mitglied<br />

der gesellschaftlichen und kulturellen Elite<br />

profilieren“ (70).<br />

Die beiden noch verbleibenden Kapitel über<br />

„Dresscodes und Habitus ...“ sowie über „Konsum<br />

und Konkurrenz beim römischen Gastmahl“<br />

sind nicht weniger spannend zu lesen, weil sehr<br />

detailreich, an den Quellen orientiert, beispielhaft<br />

an bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten<br />

in kontrastierender Weise in Szene gesetzt,<br />

durchaus mit Unterhaltungswert dargestellt und<br />

kompetent interpretiert.<br />

Wer sich mit historischen Persönlichkeiten der<br />

hier in den Blick genommenen Jahrhunderte beschäftigt<br />

und es sind die zentralen Figuren des<br />

klassischen Lateinunterrichts, wer sich mit zentralen<br />

Themen und Problemen jener Zeit beschäftigt,<br />

von Kunstbetrieb, Kleidung, Schuhwerk, Gastmahl,<br />

Gemälde, Kunstmarkt, Verschwendung,<br />

Villen, Ämterlaufbahn u.v.m., der wird diesen<br />

schmalen Band mit größtem Gewinn lesen, sich<br />

auf Stellensuche bei den lateinischen Autoren<br />

machen (Primärquellen sind exakt angegeben,<br />

ebenso eine Fülle an Sekundärtiteln), und seinen<br />

Unterricht prima vorbereiten und einen anregenden<br />

Unterricht ermöglichen.<br />

Alois Schmid, Johannes Aventinus<br />

(1477–1534). Werdegang – Werke –<br />

Wirkung. Eine Biographie, Verlag Schnell &<br />

Steiner, Regensburg, 288 Seiten,<br />

28,00 EUR, ISBN 978-3-7954-3463-2<br />

Als bairischer Herodot wurde er angesehen,<br />

da er mit genauer Beobachtungsgabe,<br />

Sprachgewalt und kritischer<br />

Distanz in seiner „Baierischen<br />

Chronik/Annales Boiorum” aufschrieb,<br />

„was der Baiern Herkommen, Bräuche<br />

und ehrliche Thaten” sind. Sein Haus in Abensberg,<br />

in das er sich regelmäßig zur literarischen<br />

Tätigkeit zurückzog und von wo aus er mit aller<br />

Welt korrespondierte, wurde zum bayrischen Tusculum.<br />

Wenn Melanchthon der praeceptor Germaniae<br />

war, der Lehrmeister Deutschlands, dann<br />

war Aventinus der praeceptor Bavariae. Er ist unbestritten<br />

eine der bedeutendsten Gestalten der<br />

bayerischen Geschichte.<br />

Diesem Mann widmet Alois Schmid – Studium in<br />

Regensburg, Promotion dort bei Andreas Kraus,<br />

nach Stationen an den Universitäten Eichstätt-Ingolstadt<br />

und Erlangen-Nürnberg von 1998 bis zu<br />

seiner Emeritierung 2<strong>01</strong>0 Professor für Bayerische<br />

Geschichte und vergleichende Landesgeschichte<br />

mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters<br />

an der Ludwig-Maximilians-Universität München –<br />

eine wissenschaftlich fundierte und doch allgemein<br />

verständlich geschriebene Untersuchung<br />

über Aventins Leben und dessen umfangreiches<br />

Schaffen. Schmid ist einer der bedeutendsten<br />

Kenner Aventins im 20. und 21. Jahrhundert. Sein<br />

Buch gilt als (auch verlagstechnisch sehr sorgfältig<br />

konzipiertes) Standardwerk, das die jüngsten<br />

Erkenntnisse der Spezialforschung in vielen Teilbereichen<br />

der Kulturwissenschaft zusammenfasst<br />

und zu einem zeitgemäßen Bild verarbeitet. Besonderer<br />

Nachdruck wird auf die einzigartige<br />

Rezeptionsgeschichte seiner Schriften gelegt, die<br />

den Humanisten Aventinus – so sein Resümee,<br />

S. 267 – zu einer der wirkmächtigsten Persönlichkeiten<br />

der bayerischen Geschichte überhaupt<br />

macht.<br />

Aufgewachsen ist Johannes Turmaier, eines von<br />

fünf Kindern des Weintavernen-Betreibers Peter<br />

Turmair, im Städtchen Abensberg (gelegen auf<br />

halber Strecke zwischen Regensburg und Ingolstadt),<br />

wo er wohl im Kloster der Karmeliten<br />

die Elementarschulbildung erhielt, nur wenige<br />

Schritte von der elterlichen Gaststätte entfernt.<br />

Die Patres unterhielten dort auch eine Klosterbibliothek,<br />

die mit ihrem bemerkenswerten Bestand<br />

an Handschriften und Inkunabeln für eine<br />

Niederlassung der Medikanten in einer Landstadt<br />

ein beachtliches Niveau erreichte. Wo sein Bildungsgang<br />

in Grammatik und Rhetorik der Lateinischen<br />

Sprache fortgesetzt wurde, ist nicht belegt.<br />

es könnte in der nahen Reichsstadt gewesen<br />

sein, wo die Domschule für kurze Zeit (1492) vom<br />

angesehenen Humanisten Konrad Celtis (1459–<br />

1508) geleitet wurde.<br />

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Aventins Karte von Bayern MDXXIII, Nachdruck der Ausgabe Landshut, 1523, München, 1899, Bayerische Staats-<br />

Bibliothek, Originalgröße: 48 x 40 cm<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1523_Aventins_Karte_von_Bayern.jpg?uselang=de<br />

Am 21. Juni 1495 schrieb sich der zwischenzeitlich<br />

fast Achtzehnjährige als Iohannes Turmair ex<br />

Abensperg an der nahegelegenen bayerischen<br />

Landesuniversität als ordentlicher Studierender<br />

der Artistischen Fakultät ein. Ihm und später<br />

seinem Bruder wurde die Einschreibegebühr von<br />

sechs Groschen nicht erlassen, was wohl bedeutet,<br />

dass sich die Familie Turmair eine auch damals<br />

aufwändige akademische Ausbildung von<br />

zwei Kindern leisten wollte und konnte.<br />

„Die bayrische Landesuniversität hatte sich bereits<br />

auf den Weg begeben, zu einer der wichtigsten<br />

Pflegestätten der humanistischen Studien<br />

in Deutschland zu werden. Es gelang, herausragende<br />

Gelehrte zu berufen. Vor allem konnte der<br />

deutsche Erzhumanist Konrad Celtis gewonnen<br />

werden ... Nach seiner Festanstellung 1494 waren<br />

es vor allem seine vielgerühmten Vorlesungen<br />

über die Geisteswelt und die Literatur der Römer,<br />

die den jungen Johann Turmair in ihren Bann zogen.<br />

Besonders faszinierte ihn die Verbindung,<br />

die der begeisternde Lehrer, in der Nachahmung<br />

Petrarcas, zwischen dem Gedankengebäude des<br />

Humanismus und der Welt der Deutschen herstellte.<br />

Sie machte Celtis zu einem Hauptvertreter<br />

des frühen deutschen Humanistenpatriotismus.<br />

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Die in ebendiesen Jahren in Deutschland nach der<br />

Wiederentdeckung um die Mitte des 15. Jahrhunderts<br />

und den Erstdrucken zu Venedig 1470 und<br />

Nürnberg 1473 bekannt werdende Germania des<br />

Tacitus lieferte dafür die euphorisch aufgegriffene<br />

Grundlage. Konrad Celtis war die wichtigste<br />

Professorengestalt, die dem Studiosen prägende<br />

Eindrücke vermittelte” (43).<br />

Conrad Celtis: Gedächtnisbild von Hans Burgkmair dem<br />

Älteren, 1507<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/22/<br />

Johannes_aventin.jpg<br />

Unbekannt – aus dem Buch Zweihundert deutsche Männer in<br />

Bildnissen und Lebensbeschreibungen, Leipzig 1854, herausgegeben<br />

von Ludwig Bechstein, vergleiche Zweihundert<br />

deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen<br />

(Visual Library); Foto von portrait.kaar.at<br />

Der wortgewaltige Philologe Celtis – ihn verehrt<br />

Turmair als deutschen Homer/Homerus germanicus<br />

– begeistert den jungen Studenten so sehr,<br />

dass er im Wintersemester 1498 in dessen Gefolge<br />

Ingolstadt verließ. Der Baccalaureus folgte<br />

seinem Lehrer ins kaiserliche Wien; Celtis hatte<br />

im Collegium poetarum et mathematicorum verbesserte<br />

Wirkungsmöglichkeiten. Turmair wurde<br />

dort sogar in dessen Hausgemeinschaft aufgenommen<br />

und gehörte zum angesehenen Celtis-<br />

Kreis. Drei Wiener Jahre haben dem Studiosus<br />

Verbindungen zu echten Größen des deutschen<br />

Humanismus verschafft. Von Wien aus bezog er<br />

im Sommersemester 15<strong>01</strong> die Hohe Schule zu<br />

Krakau, die nach Prag zweitälteste mitteleuropäische<br />

Universität. Diese Universität galt damals<br />

als Vorort der Naturwissenschaften im ganzen<br />

Abendland. (Mitte der 1490-er Jahre studierte<br />

dort übrigens Nikolaus Kopernikus Mathematik<br />

und Astronomie). Den Schlusspunkt seiner Studien<br />

setzte der Abensberger ab Februar 1503 in<br />

Paris an der Sorbonne, die namhafteste unter den<br />

Universitäten Europas, wo er sich mit den Schriften<br />

von Platon und Aristoteles auseinandersetzte.<br />

Am 27. März 1504 schloss er mit dem Magister-<br />

Examen ab.<br />

Eine solche fast ein Jahrzehnt dauernde peregrinatio<br />

academica (1495–1504) war ein beliebter<br />

Bestandteil der Akademikerausbildung im<br />

spätmittelalterlich-früh<strong>neu</strong>zeitlichen Europa. Erst<br />

59


die Beschränkungen des Konfessionalismus und<br />

Absolutismus haben den Lebenskreisen der Studentenschaft<br />

dann engere Grenzen gesetzt. Für<br />

den Wirtssohn aus einer kleinen Landstadt im<br />

Bauernland Bayern war ein derartiger Bildungsweg<br />

sicherlich außergewöhnlich. Vor allem das<br />

Lizentiatendiplom der Sorbonne verschaffte ihm<br />

innerhalb der oberdeutschen Universitätsabsolventen<br />

einen deutlichen Vorrang.<br />

Mit der Aufnahme der ersten beruflichen Tätigkeit<br />

– er hält an der Landesuniversität Ingolstadt<br />

Lehrveranstaltungen über Römische Autoren wie<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Johannes_<br />

Aventinus?uselang=de#/media/File:Ioannes_Aventinus_-_<br />

dedicatio_Annalium_Boiorum.jpg<br />

Postumes Bildnis von Hans Sebald Lautensack, Widmung<br />

für Johannes Aventinus im Buch „Annalium Boiorum libri<br />

septem“, das 1554 bei Alexander und Samuel Weißenhorn<br />

in Ingolstadt erschien. Laut Beschreibung im Bildindex soll<br />

es die Titelseite sein, aber vergleiche die Version im Internet<br />

Archive, dort ist es Seite 15: Annalium Boiorum libri septem<br />

Ioanne Auentino autore, p. 15; Link zur Titelseite: Annalium<br />

Boiorum libri septem Ioanne Auentino autore.<br />

Ciceros Somnium Scipionis und De officiis oder<br />

die Rhetorica ad Herennium sowie Themen der<br />

Mathematik und Astronomie – verändert er in<br />

humanistischer Manier seinen Namen in Aventinus.<br />

Anders als Melanchthon verwendet er dazu<br />

nicht die griechische Sprache, sondern gebraucht<br />

in Übereinstimmung mit vielen Zeitgenossen das<br />

Lateinische. „Er brachte seinen Geburtsort Abensberg<br />

(benannt nach dem Flüsschen Abens, das<br />

wenige Kilometer weiter in die Donau mündet)<br />

mit demjenigen der sieben Hügel der Ewigen<br />

Stadt in Zusammenhang, der seine ursprüngliche<br />

Besiedlung den Plebejern verdankte; der Name<br />

deckt sich mit seinem Selbstverständnis als Aufsteiger<br />

aus einer unteren Gesellschaftsschicht. Da<br />

der Name dieses südlichen der sieben Stadthügel<br />

von einem sagenhaften italischen Urkönig gleichen<br />

Namens hergeleitet wurde, der wiederum<br />

als Sohn Noahs galt, verschaffte er zugleich eine<br />

königliche Aura. Der Wirtssohn Johann Turmair<br />

aus Abensberg stellte mit seinem humanisierten<br />

Latinistennamen eine direkte Verbindung nach<br />

Rom und darüber hinaus zu den biblischen Anfängen<br />

der Menschheit her (48).<br />

Weitere Stationen sind das Amt des Prinzenerziehers,<br />

eine <strong>neu</strong>e Funktionsstelle an den deutschen<br />

Fürstenresidenzen dieser Zeit. Es folgten<br />

Verwaltungsaufgaben an der Landesuniversität<br />

Ingolstadt. 1517 wurde er zum ersten amtlichen<br />

Landesgeschichtsschreiber Bayerns ernannt, Im<br />

Jahrzehnt zwischen 1517 und 1528 erreichte<br />

Aventins Lebensbahn ihren Höhepunkt; damals<br />

entstanden seine Hauptwerke.<br />

Diese Hauptwerke stellt Alois Schmid auf 25 Seiten<br />

vor, gegliedert nach pädagogischen, poetischen<br />

und historischen Werken; hinzu kommt<br />

der handschriftliche Nachlass. Zu den Paedagogica<br />

zählen verschiedene Fassungen der lateinischen<br />

Grammatik, die aus dem Sprachunterricht<br />

mit seinen Zöglingen erwachsen sind und durch<br />

Fakultätsbeschluss vom 13. August 1516 sogar<br />

dem akademischen Lehrbetrieb in Ingolstadt<br />

zugrunde gelegt wurden. Herzog Ernst – ehemaliger<br />

Schüler des Prinzenerziehers Aventinus –<br />

steuerte gar eine Adhortatio für die Lehrenden<br />

bei: hortor, admoneo atque a vobis postulo, ut<br />

grammaticam Ioannis Aventini, praeceptoris nostri<br />

fidelissimi, legatis ac doceatis, ... ex nulla tam<br />

facile et breviter et absque omni verbere ... didici<br />

(93). Die lateinischen Grammatiken bilden Aventins<br />

erfolgreichste Buchveröffentlichungen. Er gilt<br />

als ein Wegbereiter der klassischen Philologie in<br />

Deutschland. Die beiden großen Chroniken der<br />

Geschichte Bayerns stellen seine Hauptleistungen<br />

dar, auf denen sein Nachruhm beruht (1<strong>01</strong>ff).<br />

Zu erwähnen ist unbedingt noch eine der ersten<br />

Landkarten von Bayern, die als Erläuterung und<br />

Veranschaulichung zu den großen Landeschroniken<br />

gedacht war (vgl. 107ff).<br />

Alois Schmid zum literarischen Werk Aventins:<br />

„Seine schriftliche Hinterlassenschaft ist bemerkenswert<br />

umfassend und von ungewöhnlicher<br />

Reichhaltigkeit. Es kommen vielfältige Themen<br />

in wechselnden literarischen Gattungen und<br />

sehr unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad zur<br />

Behandlung ... Die aus dem Grundsatz ,Nur wer<br />

schreibt, der bleibt’ gespeiste Schreibfreudigkeit,<br />

die die Humanisten im Allgemeinen kennzeichnet,<br />

war auch bei Aventin ausgesprägt. Das Diktum<br />

seines hochverehrten Lehrers Konrad Celtis, dass<br />

die gefräßige Zeit alles verschlinge, außer die Tugend<br />

und die Literatur, hatte in seinem Bewußtsein<br />

besonders tiefe Wurzeln geschlagen” (113).<br />

Richtig spannend lesen sich die folgenden Kapitel,<br />

in denen A. Schmid zeigt, wie Aventinus in<br />

die Tradition der bayerischen Landesgeschichtsschreibung<br />

die Neuerungen des humanistischen<br />

Wissenschaftsbetriebes einführt (117ff). Aus<br />

heutiger Sicht unglaublich ist (für mich) folgende<br />

Notiz: Als erster erkannte Aventin die römische<br />

Vergangenheit der Stadt Regensburg. „Bisher<br />

wurde sie als Gründung Karls des Großen angesehen.<br />

Aus den römischen Überresten leitete<br />

Aventin in einer eigenen Abhandlung den zutreffenden<br />

Schluss ab, dass die Stadt älter sein<br />

müsse. Erstmals Aventin bezeichnete Regensburg<br />

als Römerstadt. Die Studie über das „Herkomen<br />

Aventinus-Grabplatte St. Emmeram Regensburg<br />

Stadt Regensburg, Vorhof der Klosterkirche St. Emmeram,<br />

Grabplatte von Aventinus (Johannes Turmair), dem Vater der<br />

Bayerischen Geschichtsschreibung.<br />

https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Aventinus#/media/<br />

Datei:Aventinus-Grabplatte_St_Emmeram_Regensburg.jpg<br />

der statt Regenspurg” gehört in seine Spätzeit.<br />

Nun beschreibt er die Römerfunde nicht nur,<br />

sondern zieht sie zur Begründung seiner Aussagen<br />

heran. Damals begann er, die Realien zur<br />

Beweisführung einzusetzen. Aus aufgefundenen<br />

Inschriftensteinen leitet er die Stationierung der<br />

Vierten italischen Legion in der Stadt und einen<br />

Germaneneinfall des Jahres 82 n. Chr. ab. „Das<br />

sind entscheidende methodische Fortschritte”<br />

(141; 143).<br />

Ausgesprochen informativ die Passagen über<br />

die sprachlichen Kompetenzen und Ansprüche<br />

des Historiographen (151ff.); Sprachbildung ist<br />

für ihn Kern aller Menschenbildung. Mit Recht<br />

konnte er für sich in Anspruch nehmen, sich als<br />

homo trilinguus das humanistische Ideal der Dreisprachigkeit<br />

(die drei edeln sprachen, lateinisch,<br />

kriechisch, hebreisch, Anm. 496) angeeignet zu<br />

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haben. Im Zentrum stand eindeutig das Lateinische.<br />

Festzuhalten ist aber auch, dass eine Reihe<br />

von Werken in deutscher Sprache abgefasst ist,<br />

er sich also von der Grundmaxime des Humanismus<br />

entfernte, dass sich die Kulturschaffenden in<br />

erster Linie des Lateinischen bedienen sollten. Er<br />

wies also den Weg zu den Nationalsprachen.<br />

Dass und wie und warum der Name Aventinus<br />

im römischen Index der verbotenen Bücher anzutreffen<br />

ist, erfährt der Leser 221 ff., ebenso auch,<br />

dass Aventinus Schriften, wie die Bücherkataloge<br />

zahlreicher Klöster belegen, noch heute in Erstausgaben<br />

vielerorts gut greifbar sind. Amüsant<br />

zu lesen, wo überall Aventinus „im Tätigkeitsbereich<br />

historisch orientierter Fachkreise nach<br />

wie vor präsent ist” (245), „noch stärker gilt das<br />

für den außerwissenschaftlichen Bereich” (246),<br />

Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung,<br />

Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, 28.00 €,<br />

ISBN: 978-3-7371-0047-2<br />

Zeitungsleser kennen Jan Roß. Er war<br />

Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung und der Berliner Zeitung<br />

und gehört heute zum politischen<br />

Ressort der ZEIT, für die er von 2<strong>01</strong>3 bis<br />

2<strong>01</strong>8 Korrespondent in Indien war. Jan Roß, 1965<br />

in Hamburg geboren, studierte Klassische Philologie,<br />

Philosophie und Rhetorik in Hamburg und<br />

Tübingen, u.a. bei Walter Jens.<br />

etwa als Namensgeber von Straßen, Plätzen,<br />

Schulen, Apotheken usw.<br />

Der Verfasser, der nach einem Gelehrtenleben<br />

den Leser dieser Buches tief in die Vergangenheit<br />

und tief in die Gegenwart führt, tut das aus<br />

der Überzeugung, dass es an der Zeit sei für eine<br />

Biografie seines Ahnen in der Geschichtswissenschaft.<br />

R. Neumaier schrieb in der Süddeutschen<br />

Zeitung vom 11.2.<strong>2020</strong>: „Wenn Historiker wie<br />

Schmid über Historiker wie Aventin schreiben, hat<br />

das etwas Programmatisches. Als Vorsitzender<br />

der Kommission für bayerische Landesgeschichte<br />

an der Akademie der Wissenschaften war Schmid<br />

so etwas wie ein Nachfolger im Amt des Oberhistorikers<br />

im Freistaat. Seine großartige Aventin-<br />

Monografie, die auch das Werk und die lange<br />

und wechselvolle Rezeption ausleuchtet, kann<br />

man als Verneigung vor dem Humanismus lesen.”<br />

Anders als Jürgen Kaube (Ist die Schule zu blöd<br />

für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 2<strong>01</strong>9, 336 Seiten,<br />

22.00 €), Herausgeber und Bildungsexperte<br />

der FAZ, hat Jan Roß in seinem Buch Bildung.<br />

Eine Anleitung die aktuelle Schule und die Niederungen<br />

des Alltags nicht fortwährend im Blick. Er<br />

stellt sich die Frage: „Wie wird man ein gebildeter<br />

Mensch?“ und konstatiert: „Bildung ist mehr als<br />

Information und Wissen, sie verspricht Orientierung<br />

und Dauerhaftigkeit: das, was wirklich Bestand<br />

hat und lohnt.“<br />

Bei der Lektüre des Buches von Jan Ross habe ich<br />

mir zwei jüngst erschienene Titel von Konrad Paul<br />

Liessmann, (Professor emeritus für Philosophie<br />

an der Universität Wien; Essayist und Kulturpublizist),<br />

nämlich Bildung als Provokation, 2<strong>01</strong>7,<br />

und Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung.<br />

Eine Streitschrift, 2<strong>01</strong>4 (beide Paul Zolnay Verlag<br />

Wien), aus dem Regal geholt und parallel gelesen.<br />

Liessmann schreibt: „Uns fehlt mittlerweile jede<br />

Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben<br />

könnte, die Wert und Interesse für sich selber<br />

haben und deshalb der entscheidende Stoff, die<br />

entscheidende Nahrung für die Entwicklung eines<br />

jungen Menschen sein müssen. Wissen ist heute<br />

ergebnisorientiert und anlassbezogen, es soll sich<br />

entweder an den Bedürfnissen der jungen Menschen,<br />

an den Wünschen der Arbeitgeber oder an<br />

den Herausforderungen der Zukunft, die keiner<br />

kennt, orientieren“, 2<strong>01</strong>4,56. – An anderer Stelle:<br />

„Bildung erscheint längst nicht mehr als Ausdruck<br />

einer eigenen und zunehmend selbstverantwortlich<br />

organisierten Anstrengung, sondern als das<br />

Konsumieren eines Produkts, das von einem Konsortium<br />

von Pädagogen und ihren Beratern maßgeschneidert<br />

angeboten werden muss“, 2<strong>01</strong>4,<br />

114. Schließlich: „… Schule wird immer weniger<br />

als Ort des Lernens und des Wissens, als Raum<br />

der Bildung, sondern als sozialpädagogische Anstalt<br />

zur Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen<br />

aufgefasst, weil man nicht weiß, was man<br />

sonst mit Ihnen machen sollte“, 2<strong>01</strong>4, 100.<br />

Vieles, was Liessmann als Gravamina des heutigen<br />

Schulbetriebs deklariert („niemand ist <strong>neu</strong>gierig<br />

darauf, eine Kompetenz zu entwickeln“,<br />

2<strong>01</strong>4, 76; „wem es nur darum geht, die Lesekompetenz<br />

seiner Schüler zu fördern, für den ist das,<br />

was gelesen wird, kein Wert mehr an sich; wenn<br />

der Inhalt als Aufgabe, Rätsel, Herausforderung,<br />

Provokation verschwindet aber das, von dem<br />

noch Aristoteles glaubte, dass es konstitutiv für<br />

den Menschen sei: sein Streben nach Wissen, seine<br />

Neugier: ´Bildung beginnt mit Neugierde. Man<br />

töte in jemandem die Neugierde ab, und man<br />

stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden“, 2<strong>01</strong>4,75.<br />

In diesen Punkten wäre Jan Roß mit Konrad Paul<br />

Liessmann völlig d’accord. Auch in der Bestimmung<br />

des Begriffs Bildung, Liessmann orientiert<br />

sich hier an einer Beschreibung des Berliner Philosophen<br />

Peter Bieri: „Bildung ist etwas, das Menschen<br />

mit sich und für sich machen. Man bildet<br />

sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann<br />

sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel.<br />

Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz<br />

anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung<br />

durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können.<br />

Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir<br />

daran, etwas zu werden – wir streben danach,<br />

auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu<br />

sein“ 2<strong>01</strong>4,128; Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet<br />

zu sein, in: Heiner Hastede, Hg., Was ist Bildung?<br />

Eine Textanthologie, Stuttgart 2<strong>01</strong>2,228.<br />

Jan Roß bestimmt Bildung folgendermaßen:<br />

„Gebildet ist gerade nicht, wer ‚mit beiden Beinen<br />

auf der Erde steht‘, der Durchblicker und<br />

Bescheidwisser, der unerschütterliche Realist.<br />

Man braucht einen Rest an Naivität, um mit<br />

Dichtung und Kunst, mit den großen Geschichten<br />

der Menschheit etwas anfangen zu können. Und<br />

nicht nur mit den großen Geschichten, auch mit<br />

den großen Gedanken. Die Philosophie, wußten<br />

die Griechen, fängt mit dem Staunen an, damit,<br />

dass man die Dinge nicht für selbstverständlich<br />

hält. Man muss sich erst einmal wundern, bevor<br />

man für das Verwunderliche, für das Wunderbare<br />

Erklärungen suchen und finden kann“, <strong>2020</strong>, 61.<br />

Das Buch beginnt mit einer fesselnden Einleitung,<br />

einer Bildungserfahrung in Indien im Gespräch<br />

mit einem Filmemacher: Unsere unsichtbaren<br />

Helfer (9ff.). –> Lesen Sie bitte auf Seite 66 weiter<br />

62 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

63


Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein,<br />

als ich zum ersten Mal die Akropolis in Athen gesehen habe.<br />

Meine Eltern hatten mich auf eine Griechenlandreise<br />

mitgenommen, und als wir den Weg zum antiken Burgberg mit<br />

seinen Tempeln hinaufstiegen, passierte etwas Seltsames,<br />

das ich damals als Frühjugendlicher, mäßig sensibel<br />

für die Gefühlswelt der Erwachsenen, nicht recht verstanden habe.<br />

Mein Vater wurde plötzlich blass, ihm blieb die Sprache und<br />

beinahe der Atem weg, und er musste sich mit weichen Knien auf<br />

einen der mehrtausendjährigen Steine niedersetzen, die überall<br />

herumlagen. Der Schwächeanfall hatte nichts mit Erschöpfung zu<br />

tun. Mein Vater war matt-gesetzt von der Schönheit der<br />

Marmorruinen, die da vor ihm auftauchten. Aber es war noch<br />

etwas anderes im Spiel. In dem altsprachlichen Gymnasium, das<br />

meine Mutter und er dreißig Jahre vorher besucht hatten, war von<br />

der Kultur des Altertums stets in den höchsten Tönen die Rede<br />

gewesen: von den Staatsmännern, Dichtern, Künstlern und<br />

Denkern Athens und ihren unsterblichen Werken, die angeblich den<br />

Gipfel menschlicher Zivilisation darstellten und für alle Zeiten<br />

unerreichte Vorbilder sein sollten. Doch diese ganze Schulantike<br />

war irgendwie unwirklich gewesen, etwas, das bloß in Büchern<br />

stand, eine Legende, wie die Geschichten von König Artus<br />

und den Rittern der Tafelrunde oder die klassischen Götter- und<br />

Heldensagen von Gustav Schwab. Der Gymnasialhumanismus<br />

hatte keinen Bezug zur Realität; unvorstellbar, dass man eines<br />

Tages tatsächlich vor den<br />

Überresten dieser Kultur stehen, sie mit eigenen Augen<br />

anschauen und mit den Händen anfassen würde. Jetzt kam, mit der<br />

Wucht eines Schocks, das Bewusstsein: Das alles, wovon sie uns<br />

immer erzählt haben, gibt es also wirklich. Als hätte der<br />

Zollbeamte des Feenlandes einem gerade den Pass<br />

gestempelt und den Schlagbaum zur Weiterfahrt geöffnet – und<br />

würde ein bisschen ungeduldig darauf warten, dass man endlich<br />

den Zündschlüssel umdreht und den Motor anlässt.<br />

Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29<br />

64 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong>


Doch am stärksten im Gedächtnis geblieben sind mir von<br />

diesem Tag acht Worte, die wir nur zufällig mitbekamen.<br />

Im Museum auf dem Akropolisfelsen, in dem die wichtigsten Funde<br />

der Ausgrabungen ausgestellt sind, trafen wir eine englischsprachige<br />

Besuchergruppe mit einem griechischen Führer, der die<br />

Exponate ziemlich redselig erläuterte.<br />

Nach einem längeren Rundgang kamen die Leute zu einem Marmorrelief<br />

aus der Zeit um 460 vor Christus, das oft<br />

»die trauernde Athene« genannt wird.<br />

Es zeigt die Schutzpatronin Athens, die Göttin des Krieges und der<br />

Weisheit, stehend, im Profil, den Helm auf dem Kopf,<br />

leicht vorgeneigt, auf ihren Speer gestützt, den Blick gesenkt.<br />

Schwer zu sagen, ob sie wirklich trauert oder eher<br />

nachdenklich ist.<br />

Das Bild ist jedenfalls ein Musterbeispiel für das, was man<br />

»klassisch« nennt: weder karg noch üppig, weder kalt noch<br />

gefühlig, sondern in einer vollkommenen Balance – in einer Mitte<br />

nicht zwischen den Extremen, sondern über ihnen.<br />

Vor diesem Steinrelief nun hielt der wortreiche Führer an, stoppte<br />

seinen bisherigen Redefluss, startete keinerlei<br />

Erläuterungsversuche, wie ich sie eben gerade gemacht habe,<br />

sondern wandte sich an seine Gruppe mit einem einzigen Satz:<br />

»Look at it and keep it in mind.«<br />

Und dann kam nichts mehr.<br />

Die acht Worte sind in unserer Familie zu einem geflügelten Wort<br />

für den Respekt vor dem Schönen und Großen geworden. Und eine<br />

Gipskopie der «trauernden Athene» hängt bis heute in der Wohnung<br />

meiner Eltern an der Wand<br />

über dem Kachelofen.<br />

Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29<br />

Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Acropole_Mus%C3%A9e_Ath%C3%A9na_pensante.JPG<br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

67


Fortsetzung von Seite 61<br />

Das erste Kapitel ist nicht nur für Gräzisten sehr<br />

anregend: Die alten Griechen. Die Entdeckung<br />

des Eigentlichen (27ff.). – Es folgen diese Kapitel:<br />

Geschichten. Von der Wahrheit erfundener<br />

Welten (54ff.). – Die Bibel. Der Entwicklungsroman<br />

der Menschheit (71ff.) – Lesen: Wie Bücher<br />

zu Freunden werden (99ff.). – Wissenschaft und<br />

Philosophie: Wie man die Welt auf den Kopf stellt<br />

(118ff.). – Bildende Kunst: Zweite Schöpfung aus<br />

Menschenhand (155ff.). – Bewunderung: Die<br />

Provokation des Schönen und Guten (175ff.).<br />

– Staatsbürgerkunde: Freiheit lernen (194ff.). –<br />

Zugang: Wie man die Hürden vor der Bildung<br />

nimmt (221ff.). – Tradition und Gegentradition:<br />

Die Klassiker der Rebellion (237ff.). – Erinnerung:<br />

Was dem Leben wahre Tiefe gibt (267ff.). – Musik:<br />

Der direkteste Weg in die Seele (287ff.). – Das<br />

Schlusskapitel: Macht uns Bildung zu besseren<br />

Menschen? (311ff.).<br />

In den einzelnen Kapiteln präsentiert Jan Roß<br />

Themen und Texte aus Wissenschaft und Literatur,<br />

mit denen die Beschäftigung sich lohnt,<br />

er sucht nach ihrer Bildungsbedeutung und beschränkt<br />

sich – gerade nach einem mehrjährigen<br />

Aufenthalt als Korrespondent in Indien – nicht<br />

nur auf solche europäischer Provenienz. In der<br />

Einleitung schildert er die Gespräche mit dem<br />

Drehbuchautor Basharat Peer, der ihm erzählt, er<br />

habe in Shakespeares Tragödie Hamlet die Tragödie<br />

seiner eigenen Heimat wiedergefunden. Bald<br />

wird Jan Roß bewußt, dass der Hamlet „mir mehr<br />

über Kaschmir (verriet) als alle politischen Studien<br />

und Artikel, die ich darüber gelesen hatte“ (11).<br />

Jan Roß erzählt recht amüsant von Schulerlebnissen,<br />

die ihm besonders präsent sind: von einer<br />

Klassenfahrt nach Rom (167ff.), der Platonlektüre<br />

im Griechischunterricht (145ff.). Er erzählt<br />

vom Akropolisbesuch mit seinen Eltern und dem<br />

Moment, in dem er vor der Paradiestür Lorenzo<br />

Ghibertis in Florenz stand (170ff.). Er läßt immer<br />

wieder einfließen, welche Bildungsbemühungen<br />

er bei seinen beiden Kindern anstrengte. Mit Humor<br />

relativiert er dabei seine Neigung zum kulturellen<br />

Traditionalismus, seinen Antikefimmel und<br />

seine Klassikmanie (156).<br />

Amüsant zu lesen ist, wenn er berichtet, wie<br />

sein FAZ-Kollege vom Feuilleton, Henning Ritter,<br />

ihm den Darwinismus erklärt (131ff.), was<br />

zur Erkenntnis führt, dass in der Schwerverdaulichkeit<br />

der Bildungswert der Wissenschaft liege<br />

(137; 145). Der brillante Theaterkritiker der FAZ,<br />

Gerhard Stadelmaier, habe ihn entdecken lassen,<br />

dass das Kritische ein wichtiges Element der Bildung<br />

sei, aber nicht ihre Seele, ihre treibende<br />

Kraft. „Bloß mit der Idee des In-Frage-Stellens im<br />

Kopf würde kein Mensch je ein Buch aufschlagen,<br />

sein Musikinstrument aus dem Schrank holen<br />

oder eine Opernkarte kaufen. Die Zeit und Mühe,<br />

die das alles kostet, bringt man nicht ohne die<br />

Annahme auf, dass es am Ende der Anstrengung<br />

etwas Großartiges und Einmaliges zu entdecken<br />

gibt“ (180).<br />

Wie wird man ein gebildeter Mensch? Jan Roß<br />

zeigt, wie man zu dieser scheinbar schwierigen<br />

und verschlossenen Welt Zugang findet. Es gibt –<br />

so seine Überzeugung – keinen Grund, sich von<br />

der Tradition einschüchtern zu lassen. Bildung, so<br />

Roß, heißt letztlich etwas sehr Einfaches – dass<br />

wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu<br />

meistern und die Welt zu verstehen. Wie man<br />

dieser Gemeinschaft beitritt und wie man in ihr<br />

heimisch wird – davon handelt sein Buch. Es begleitet<br />

die Leserin und den Leser auf die Akropolis<br />

und nach Rom, zu Shakespeare, Kant und Dostojewski,<br />

aber auch zu Wissenschaftlern wie Darwin<br />

oder Revolutionären wie Rosa Luxemburg:<br />

Ein Plädoyer für die welterschließende, phantastische,<br />

subversive Macht von Literatur und Musik,<br />

Kunst und Wissenschaft.<br />

Dennis Gressel, 33 Ideen Digitale Medien<br />

Latein, SEK I + II, Step-by-step erklärt, einfach<br />

umgesetzt – das kann jeder! 72 Seiten,<br />

Auer-Verlag Augsburg, 2<strong>01</strong>9,<br />

ISBN 978-3-403-8295-8, 18.40 €<br />

Moderner Unterricht soll digitale<br />

Medien berücksichtigen – auch im<br />

Lateinunterricht. Nur wie soll das<br />

funktionieren, ohne nennenswerte<br />

Vorkenntnisse? Der vorliegende<br />

Band erhebt den Anspruch, uns zu zeigen, wie es<br />

geht! Die Broschüre im DIN A4-Format enthält 33<br />

praxiserprobte Ideen zum Einsatz digitaler Medien<br />

im Lateinunterricht, die auf einer Doppelseite jeweils<br />

einfach und Schritt für Schritt erklärt werden.<br />

Zusätzlich wird das Vorgehen an einem konkreten<br />

Beispiel verdeutlicht. Angaben zu Klassenstufe,<br />

Material, technischen Voraussetzungen etc. erleichtern<br />

die Umsetzung.<br />

Thematisch ist der Band in vier Abschnitte gegliedert:<br />

Antike Texte bearbeiten und kreativ umsetzen<br />

| Antike Kultur erfahrbar machen | Wortschatz und<br />

Grammatik visualisieren | Digitale Unterrichtsprojekte<br />

realisieren. Jede Unterrichtsideen kann einer<br />

oder mehreren Unterrichtsphasen zugeordnet werden<br />

und zwar zu den Phasen Einstieg, Erarbeitung,<br />

Ergebnissicherung, Vertiefung, Wiederholung,<br />

Übung, Anwendung und Projekt.<br />

Die Strukturelle Anlage jeder Doppelseite weckt Vertrauen.<br />

Nach Basisangaben zum zeitlichen Umfang,<br />

Unterrichtsphase und Thema folgt eine Kurzbeschreibung<br />

der jeweiligen digitalen Idee, Angaben zu benötigten<br />

Materialien und technischen Voraussetzungen,<br />

Notizen zu Ablauf und Methode an einem<br />

konkreten Beispiel, Hinweise auf mögliche Fallstricke<br />

und Tipps, eine analoge Alternative (wenn alles<br />

notfalls ohne Computer oder Tablet gehen soll) sowie<br />

Materialhinweise und Infoseiten, sprich Links<br />

zu Suchmaschinen, Beispielseiten, Erklärvideos,<br />

allgemeinen Informationen und Hilfsprogrammen.<br />

Natürlich kann man solch eine Broschüre nicht abarbeiten,<br />

aber die ein oder andere der 33 Ideen gut<br />

und nachahmenswert zu finden, das sollte schon<br />

möglich sein. Ich räume gerne ein, dass ich mir im<br />

Einzelfall im Vorfeld Hilfe suche würde, etwa beim<br />

Vorinstallieren von Programmen und dem Ausloten<br />

von deren Möglichkeiten, dass ich eine Fachkonferenz<br />

ansetzen oder eine kleine Arbeitsgruppe organisieren<br />

würde, um einen Eindruck zu gewinnen,<br />

was geht, dass ich den ein oder anderen Schüler<br />

anspitzen würde, mir auf die Sprünge zu helfen.<br />

Selbstverständlich gibt es Ideen für den Einsatz digitaler<br />

Medien in dieser Broschüre, die ich sofort<br />

realisieren könnte, etwa Texte digital zu erschließen<br />

(S. 18f), eigene Textausgaben zu erstellen (S.<br />

14f.), einen virtuellen Stadtrundgang zu erstellen<br />

(S. 22f.), Rezeptionsdokumente zu erstellen (S.<br />

28f.), eine Exkursion vorzubereiten (S. 30f.), einen<br />

virtuellen Museumsrundgang zu erstellen (S. 34f.).<br />

Wie sagte doch Aristoteles: Der Anfang ist die<br />

Hälfte vom Ganzen. Auch der Lateiner D. Magnus<br />

Ausonius ist überzeugt: Die Hälfte der Tat besteht<br />

darin, angefangen zu haben.<br />

68 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

69


Jana Abandowitz, Ulrike Wodka,<br />

55 Stundeneinstiege Latein. Einfach, kreativ,<br />

motivierend. Auer Verlag Augsburg,<br />

3. Auflage 2<strong>01</strong>8, 68 Seiten,<br />

ISBN 978-3-403-07694-0. 17.90 €<br />

Dieses Büchlein von 68 Seiten sollte bei<br />

jedem Lateinlehrer, bei jeder Lateinlehrerin<br />

vom Schreibtisch aus greifbar<br />

im Regal stehen, egal ob Anfänger im<br />

Unterrichten oder weit Fortgeschrittener<br />

in der Unterrichtspraxis. Beide werden Ihren<br />

Fundus an Ideen erweitern und ergänzen wollen<br />

und <strong>neu</strong>en Ideen gegenüber aufgeschlossen sein.<br />

Und an der Tatsache, dass ein gelungener Stundeneinstieg<br />

quasi die halbe Miete darstellt, dürften<br />

die Zweifel gering sein.<br />

Schülerinnen und Schüler müssen zu Stundenbeginn<br />

im Lateinunterricht ankommen, aufmerksam<br />

gemacht und darauf vorbereitet werden, was<br />

im weiteren Verlauf erarbeitet werden soll. Das<br />

verlangt ein bißchen Planung, Abwechslung und<br />

Zielgerichtetheit. Die beiden Autorinnen schütten<br />

dazu die Füllhörner Ihrer Praxiserfahrenheit<br />

aus und präsentieren 55 Stundeneinstiege – allesamt<br />

in der Schulwirklichkeit erprobt, maximal<br />

10 Minuten Zeit in Anspruch nehmend, nach drei<br />

Anforderungsniveaus sortiert und eingeteilt in<br />

die fünf Kategorien Wortschatz, Grammatik, Umgang<br />

mit Texten, Hintergrundwissen und Quid ad<br />

nos?<br />

In aller Kürze werden die Voraussetzungen eines<br />

Einstiegs genannt (Sch kennen die verwendeten<br />

Vokabeln / Sch kennen mehrere unregelmäßig<br />

gebildete Stammforen / Besonders im Kontext<br />

Philosophie geeignet u. ä.) und das ggf. erforderliche<br />

Material angegeben (z. B. Weißes Papier<br />

und Stifte / Vorbereitete Folie zum Thema /<br />

Vorbereiteter lateinischer Dialog auf Arbeitsblatt<br />

/ Schülerhefte für Notizen usw.). Entscheidend<br />

positiv ist, dass man nicht das halbe Buch lesen<br />

muss, um einen geeigneten Einstieg zu finden.<br />

Natürlich wird man auch nicht mit allen 55<br />

Vorschlägen in gleicher Weise zurecht kommen.<br />

Was hätte ich in meinen Anfangsjahren als Lateinlehrer<br />

dafür gegeben, auf solch ein Kompendium<br />

zurückgreifen zu können. Wie oft habe ich<br />

meine Kollegen in den modernen Fremdsprachen,<br />

in Deutsch, Geschichte, Politik oder Geographie<br />

beneidet, dass Verlage Ihnen solches Material als<br />

Ideenbörse anboten. Für die alten Sprachen gab<br />

es das nicht, bislang musste man jedenfalls lange<br />

danach suchen.<br />

Natürlich ist das Thema Stundeneinstieg ein<br />

Pflichtthema in jedem Fachseminar und in der Referendarszeit.<br />

Selbstverständlich sind nicht alle Einstiege<br />

<strong>neu</strong> und frisch erfunden. Die Wörterschlange<br />

/ Serpens verborum, der Buchstabenquark,<br />

der Vokabelfußball / Certamen pediludicum, das<br />

Kreuzworträtsel, das Formentelefon, das Elfchen,<br />

das Chronogramm und die Nuntii Latini habe ich<br />

als Lehrer über die Jahre meist in <strong>neu</strong>en Lehrbüchern<br />

kennen und schätzen gelernt. Gerne verwenden<br />

würde ich die Wortwolke (S. 52, erstellt<br />

mit dem Programm www.wordle.net) oder Tangite<br />

– Realien aus der Antike (S. 63) oder die Oratio<br />

brevissima (S. 58) oder Fragmente (S. 49, einen<br />

zerstückelten Text in die richtige Reihenfolge<br />

sortieren), Schnipselsätze (S. 36), Stammformenchaostheorie<br />

(S. 31, aus einem Buchstabenchaos<br />

die lateinische Stammform herauszufinden und<br />

die fehlenden Formen zu ergänzen) oder Bingo,<br />

Activity oder Tabu (S. 22ff.)<br />

Ein interessanter Stundeneinstieg – eine Binsenweisheit<br />

– kann einen großen Beitrag zur Aufrechterhaltung<br />

der Motivation und Anstrengungsbereitschaft<br />

der Schüler leisten. Lateinlehrkräfte<br />

Impressum ISSN 0945-2257<br />

wissen das und die 3. Auflage dieses Büchleins<br />

ist der Beweis.<br />

Im Auer Verlag gibt es noch weitere Titel für experimentier-<br />

und Innovationsfreudige Kollegen,<br />

etwa 55 Methoden Latein (von Florian Bartl),<br />

66 und XV Spielideen Latein, 44 kreative Wege<br />

zur mündlichen Note Latein, Die schnelle Stunde<br />

Latein (von Julia Umschaden) und 44 x Einführung<br />

Grundlagengrammatik Latein (von Christian<br />

Schöffel).<br />

Mehr Informationen unter www.lehrerwelt.de<br />

und www.auer-Verlag.de<br />

Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg erscheint vierteljährlich und wird herausgegeben vom<br />

Vorstand des Landesverbandes Berlin und Brandenburg im Deutschen Altphilologenverband (DAV)<br />

www.davbb.de<br />

1. Vorsitzender: Prof. Dr. Stefan Kipf Humboldt Universität zu Berlin<br />

Didaktik Griechisch und Latein · Unter den Linden 6 · 10099 Berlin<br />

stefan.kipf@staff.hu-berlin.de<br />

2. Vorsitzende: StR Gerlinde Lutter Tagore-Schule/Gymnasium, Berlin · g1lutter@aol.com<br />

Andrea Weiner Alexander von Humboldt Gymnasium, Eberswalde<br />

Schriftleitung des StD Dr. Josef Rabl<br />

Mitteilungsblattes: Kühler Weg 6a ∙ 14055 Berlin ∙ Josef.Rabl@t-online.de<br />

Kassenwartin:<br />

Beisitzer:<br />

Grafik / Layout:<br />

StR Peggy Klausnitzer<br />

peggy.klausnitzer@t-online.de<br />

StR Wolf-Rüdiger Kirsch ∙ StD Dr. Josef Rabl<br />

Fabian Ehlers Karlsruher Straße 12 · 10711 Berlin · fabian.ehlers@<strong>web</strong>.de<br />

IMPRESSUM<br />

70 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />

LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />

71


NEU<br />

adeo 500<br />

Illustrierter Grundwortschatz nach Sachgruppen<br />

ISBN 978-3-7661-5274-9, ca. € 12,90<br />

Erscheint im April <strong>2020</strong><br />

adeo 500 bietet einen <strong>neu</strong>en und einzigartigen<br />

Zugang zu den 500 wichtigsten Wörtern des<br />

Bamberger Wortschatzes. Mithilfe von kleinen<br />

Skizzen, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten,<br />

ergänzen und kolorieren können, sowie<br />

Platz für den Eintrag eigener „Eselsbrücken“<br />

lassen sich die Wortbedeutungen spielerisch<br />

visualisieren und wesentlich besser einprägen.<br />

1<br />

GEFÜHL UND ABSICHT<br />

miser<br />

misera<br />

miserum<br />

GEFÜHL UND ABSICHT<br />

arm<br />

erbärmlich<br />

unglücklich<br />

1<br />

amor amōris m die Liebe<br />

placēre<br />

placeō<br />

placuī<br />

placitum<br />

(jdm.) gefallen<br />

Senātōrī placet …<br />

Der Senator beschließt …<br />

m. Dat. beschließen<br />

cūra cūrae f die Sorge<br />

die Pflege<br />

sentīre<br />

sentiō<br />

sēnsī<br />

sēnsum<br />

fühlen<br />

meinen<br />

wahrnehmen<br />

dolor dolōris m der Schmerz<br />

das Leid<br />

timēre<br />

timeō<br />

timuī<br />

(etwas) fürchten<br />

Angst haben vor<br />

Timeō, nē cadam.<br />

Ich fürchte, dass ich falle.<br />

invidia invidiae f der Neid<br />

velle<br />

volō<br />

voluī<br />

wollen<br />

lacrima lacrimae f die Träne<br />

nōlle<br />

nōlō<br />

nōluī<br />

nicht wollen<br />

Nōlī timēre!<br />

Hab keine Angst!<br />

metus metūs m die Angst<br />

die Furcht<br />

imperāre<br />

imperō<br />

imperāvī<br />

imperātum m. Dat.<br />

befehlen<br />

herrschen (über)<br />

metus Rōmānōrum<br />

die Furcht der Römer<br />

die Furcht vor den Römern<br />

Rēx populō imperat.<br />

Der König herrscht über sein Volk.<br />

10<br />

11<br />

(verkleinerte Musterseiten aus adeo 500)<br />

Mehr Informationen auf<br />

www.ccbuchner.de.<br />

C.C.Buchner Verlag GmbH & Co. KG<br />

www.ccbuchner.de | www.facebook.com/ccbuchner<br />

72 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong>

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