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LATEIN<br />
UND<br />
GRIECHISCH<br />
in Berlin und Brandenburg<br />
ISSN 0945-2257 JAHRGANG LXIV / HEFT 1-<strong>2020</strong><br />
©Musée du Louvre, Paris<br />
Säulen des Apollontempel in Side<br />
Mitteilungsblatt des Landesverbandes Berlin<br />
und Brandenburg im Deutschen<br />
Altphilologenverband (DAV) http://davbb.de<br />
Herausgeber:<br />
Der Vorstand des Landesverbandes<br />
1. Vorsitzender:<br />
Prof. Dr. Stefan Kipf<br />
stefan.kipf@staff.hu-berlin.de<br />
2. Vorsitzende:<br />
StR Gerlinde Lutter · g1lutter@aol.com<br />
Andrea Weiner<br />
Beisitzer:<br />
StR Wolf-Rüdiger Kirsch ∙ StD Dr. Josef Rabl<br />
Redaktion:<br />
StD Dr. Josef Rabl ∙ Josef.Rabl@t-online.de<br />
Kassenwart: Peggy Klausnitzer<br />
peggy.klausnitzer@t-online.de<br />
Verbandskonto:<br />
IBAN: DE51 1605 0000 3522 0069 75<br />
BIC: WELADED1PMB<br />
Mittelbrandenburgische Sparkasse<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht unbedingt mit der Meinung<br />
des Vorstandes übereinstimmen. Anfragen bitte nur an die Schriftführung<br />
des Landesverbandes. – Nichtmitgliedern des Landesverbandes<br />
bietet der Verlag ein Jahresabonnement und Einzelhefte an. <br />
www.ccbuchner.de<br />
INHALT<br />
■ Andreas Fritsch:<br />
Der junge Leibnitz würdigt Comenius<br />
mit einem Gedicht 3<br />
■ Mitteilungen und Veranstaltungen 13<br />
■ Sonja Schreiner:<br />
Gepaarte (A)symmetrie 15<br />
■ Josef Rabl:<br />
Auf der Jagd nach Bildern 24<br />
■ Klaus Bartels:<br />
Stichwort: Idee 32<br />
■ Friedrich Maier:<br />
Der Bürger zwischen<br />
Lebensmodellen 33<br />
■ Aglaia Rachel-Tsakona:<br />
2. Schülerwettbewerb der Griechischen<br />
Botschaft, Berlin <strong>2020</strong> 37<br />
■ Friedrich Hölderlin:<br />
Griechenland (1793/94) 40<br />
■ Josef Rabl:<br />
Von Gottfreid Semper lernen 41<br />
■ Josef Rabl:<br />
Schöne Bücher –<br />
Sechs Rezensionen 51<br />
■ Impressum 71<br />
C. C. BUCHNER VERLAG · BAMBERG
Ovid-Verlag<br />
Rudolf Henneböhl<br />
Im Morgenstern 4<br />
33<strong>01</strong>4 Bad Driburg<br />
Prof. Dr. Friedrich Maier<br />
„Imperium – von Augustus zum Algorithmus<br />
(Geschichte einer Ideologie)“<br />
224 Seiten [ISBN: 978-3-938952-36-8] – 10,- €<br />
Was hat Augustus mit dem Algorithmus gemein? Die Herrschaftsdoktrin ist es,<br />
die beide verbindet. Sie ist von den Römern „entdeckt“, begründet und praktiziert<br />
worden. Das Imperium Romanum verdankt dem – seit dem vorletzen Jahrhundert<br />
so genannten – „Imperialismus“ seine Entstehung und Größe und seine überragende<br />
Wirkmacht über die Jahrtausende hinweg.<br />
Die Ideologie des Imperium Romanum hat das antike Rom überdauert und ist<br />
in allen Formen von Herrschaft zum Tragen gekommen, weit über den Bereich<br />
der Politik hinaus. Sie ist gleichsam zu einem Herrschaftsmodell geworden auch<br />
für Religionsverbreitung, Industrialisierung, Naturbemächtigung, Wirtschaftsdominanz<br />
und technologische „Welteroberung“.<br />
Der Weg, den das imperialistische Herrschaftsmodell von der Antike über das<br />
Mittelalter und die Neuzeit bis in das moderne digitale Zeitalter genommen hat,<br />
wird in diesem Buch mithilfe einschlägiger, meist lateinischer (aber übersetzter)<br />
Texte erforscht und verständlich dargestellt. Die Geschichte Europas und<br />
der Welt wird unter solchem Vorzeichen in einer <strong>neu</strong>en Weise verlebendigt<br />
und zugleich hinterfragt. In Hinsicht auf die Zukunft ergibt sich die Frage: wie<br />
und inwieweit wird sich die allseits prognostizierte Herrschaft der „Maschine“,<br />
d. h. des Superroboters und der Künstlichen Intelligenz, am antiken Muster der<br />
Machtausübung orientieren und welche Folgen sind daraus zu erwarten?<br />
Prof. Dr. Friedrich Maier / Rudolf Henneböhl<br />
Das große Klausurenbuch zur Autoren-Lektüre (Prosa)<br />
214 Seiten, vollfarbig [ISBN: 978-3-938952-34-4] – 22,- €<br />
➢ 60 Klausurtexte zu 19 Autoren jeweils<br />
mit grammatischer Vorentlastung,<br />
Übungstext und Prüfungstext (Klausur).<br />
➢ Eine kurze Einführung zu allen Autoren.<br />
➢ Lösungen zu allen Texten u. Aufgaben.<br />
➢ Eine Übersicht zur Gundgrammatik<br />
(zum Nachschlagen und Lernen) und<br />
➢ ein Verzeichnis der Grammatik (zum<br />
gezielten Suchen nach Übungstexten).<br />
Das Buch ist gedacht als Materialsammlung<br />
für die Ausbildung in Schule und Universität.<br />
Es kann im Unterricht (Grammatikeinführung<br />
und -wiederholung) und als Vorbereitung<br />
auf die Klausur verwendet werden.<br />
Studium generale<br />
(16 Seiten, A4, vollfarbig)<br />
3,- €<br />
Grammatik und Vokabular<br />
(Grundlagen) als Lernbegleiter.<br />
Aufgrund des geringen<br />
Gewichtes können alle<br />
Schüler das Basiswissen jederzeit<br />
zur Hand haben.<br />
www.ovid-verlag.de<br />
info@ovid-verlag.de<br />
Tel.: 05253-9758-539<br />
Fax: 05253-9758-540<br />
Zur Einführung<br />
Imperium und Imperialismus<br />
Hauptteil<br />
1. Das Doppelgesicht der Herrschaft<br />
Der grauenvolle Akt am Anfang<br />
2. „Barbaren“ als Feindbild<br />
Ein Naturrecht auf Herrschaft?<br />
3. Herrschaft durch Sprache<br />
Propaganda zwischen den Zeilen<br />
4. „Die Räuber der Welt“<br />
Hetzreden gegen das Imperium<br />
5. Der göttliche Augustus<br />
und sein „blutiger Frieden“<br />
6. Dichter am Cäsaren-Hof<br />
Hofieren oder Verlieren<br />
7. Cäsarenwahn und „Pressefreiheit“<br />
„das Äußerste an Knechtschaft“<br />
8. „In diesem Zeichen wirst du siegen.“<br />
Allianz zw. Antike und Christentum<br />
9. „Gerechte Kriege“ für die Christenheit<br />
Politik „im Zeichen des Kreuzes“<br />
10. „Europa“ – Herrin der Welt<br />
Auf den Fundamenten der Antike<br />
11. Christsein ohne Herrschaftsanspruch?<br />
Der franziskanische Widerspruch<br />
12. Die Herrschaft über die Natur<br />
Ikarus – Symbol des Scheiterns<br />
13. „Die Macht des Algorithmus“<br />
Auf der Flucht ins Universum<br />
Nachbetrachtung<br />
Die Geschichte der Zukunft<br />
Warum interessiert die Vergangenheit?<br />
Der junge Leibniz<br />
würdigt Comenius<br />
mit einem Gedicht.<br />
Epicedium in obitum Comenii.<br />
Zum Tod des Comenius vor 350 Jahren (1670)<br />
In den Mitteilungsblättern des Altphilologenverbandes<br />
gab es in den letzten Jahrzehnten<br />
schon mehrmals Hinweise auf Johann Amos<br />
Comenius (1592–1670), da er nicht nur als<br />
Begründer der <strong>neu</strong>zeitlichen Pädagogik, sondern<br />
auch als bedeutender Sprachdidaktiker 1 gilt.<br />
Ein Großteil seiner Schriften ist in lateinischer<br />
Sprache abgefasst und darüber hinaus auch<br />
speziell dem Unterricht der lateinischen Sprache<br />
gewidmet. In seinem bedeutendsten sprachwissenschaftlichen<br />
und sprachdidaktischen Werk<br />
mit dem Titel Novissima Linguarum Methodus<br />
(„Die <strong>neu</strong>este Sprachenmethode”) behandelt er<br />
die lateinische Sprache geradezu als ein „Modell<br />
von Sprache”. 2 Die Lateinlehrer und -lehrerinnen<br />
als Vertreter des ältesten Faches der deutschen<br />
Schule haben Grund, ihn als kompetenten Vertreter<br />
ihres Faches zu verstehen, ja auf ihn stolz<br />
zu sein, zumal viele seiner methodischen Ideen<br />
und Anregungen, die für den modernen Schulunterricht<br />
und besonders den Fremdsprachenunterricht<br />
(z.B. auch die „direkte” Methode) von ihm<br />
„vorweggenommen”, sorgfältig formuliert und<br />
inzwischen selbstverständlich geworden sind. Zu<br />
seiner Zeit war Latein in Europa die lingua franca,<br />
damals schon seit über tausend Jahren zwar niemandes<br />
Muttersprache mehr, aber in vielen Ländern<br />
die Sekundärsprache, in der sich die Wissenschaftler,<br />
Politiker und Diplomaten verständigen<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
– Von Andreas Fritsch –<br />
konnten. Seine Vorschläge galten daher einer<br />
schnellen, angenehmen und sicheren Lehr- und<br />
Lernmethode dieser Sprache als eines Kommunikationsmittels<br />
im Alltag, in der Wissenschaft und<br />
überhaupt in der internationalen Verständigung.<br />
1 Vgl. z.B. „Zum 400. Geburtstag von Jan Amos Comenius”.<br />
In: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes<br />
(= MDAV) 34 (1991), S. 102–104. ·<br />
„Von Comenius zu Horaz”. In: MDAV 35 (1992),<br />
S. 145–148. · „350 Jahre Didactica Magna”. In: Forum<br />
Classicum (= FC) 49 (2006), S. 250. · „Comenius und<br />
Seneca”. In: Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg<br />
(= LGBB) 51 (2007), S. 10-17. · „Daniel Ernst<br />
Jablonski zum 350. Geburtstag geehrt”. [Jablonski war<br />
ein Enkel von Comenius und zusammen mit Leibniz Mitbegründer<br />
der „Sozietät der Wissenschaften“, die heute<br />
in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />
fortlebt.] In: FC 53 (2<strong>01</strong>0), S. 286-289. ·<br />
„Humanitas und Latinitas. Comenius als lateinischer<br />
Schriftsteller”. In: LGBB 59 (1/2<strong>01</strong>5), S. 3-22 (im<br />
Internet: http://mitteilungen.davbb.de/images/2<strong>01</strong>5/heft<br />
1/LGBB_<strong>01</strong>2<strong>01</strong>5_<strong>web</strong>.pdf).<br />
2 Vor einem halben Jahrhundert forderte der Erziehungswissenschaftler<br />
Theodor Wilhelm für die Schule „Latein<br />
plus eine moderne Fremdsprache“, als „unerlässlich,<br />
aber auch ausreichend“. Zwischen diesen beiden Sprachen<br />
seien die Funktionen ökonomisch zu verteilen.<br />
Latein sei besser als jede lebende Sprache geeignet<br />
(gerade weil es eine „tote“ Sprache sei), „Sprache als<br />
ein System sichtbar zu machen, als ein ‚Modell von<br />
Sprache überhaupt‘.“ Th. Wilhelm: Theorie der Schule.<br />
Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften.<br />
Stuttgart 1967, S. 369.<br />
3
In diesem Jahr <strong>2020</strong> gedenkt die bildungshistorisch<br />
interessierte Welt seines 350. Todestages.<br />
Er starb am 15. November 1670 in Amsterdam,<br />
im niederländischen Exil, da er bald nach Beginn<br />
des Dreißigjährigen Krieges aus seiner mährischböhmischen<br />
Heimat vertrieben worden war. Aus<br />
diesem Anlass wurden und werden noch mehrere<br />
z.T. internationale Konferenzen durchgeführt, die<br />
sein Lebenswerk in Erinnerung bringen, untersuchen<br />
und weiter auswerten sollen. In Berlin organisierten<br />
Mitglieder der Deutschen Comenius-<br />
Gesellschaft zusammen mit anderen Institutionen<br />
einen Comenius-Gedenktag am 29. Februar <strong>2020</strong>.<br />
Beteiligt waren auch der Altphilologenverband,<br />
der Förderkreis Bibliothek für Bildungsgeschichtliche<br />
Forschung, der Förderkreis Böhmisches Dorf<br />
und die Evangelische Brüdergemeinde der Herrnhuter<br />
in Berlin Neukölln, da Comenius bekanntlich<br />
nicht nur Pädagoge, Philosoph und Theologe,<br />
sondern vor allem auch der letzte Bischof<br />
der Böhmischen Brüderunität war. Daher fand<br />
die Veranstaltung auch im Kirchensaal der gastgebenden<br />
Brüdergemeine im Böhmischen Dorf<br />
in Berlin-Neukölln statt. Etwa hundert Besucher/<br />
innen fanden sich dazu ein. Vorträge hielten<br />
Theodor Clemens, Bischof der Brüderunität, der<br />
Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Lischewski<br />
und der Unterzeichnete. Es gab nach<br />
alternativen Führungen durch den Comeniusgarten<br />
bzw. im Museum des Böhmischen Dorfes<br />
ein Podiumsgespräch zwischen dem Theologen<br />
und Comeniusforscher Dr. Manfred Richter und<br />
dem Landesbischof i.R. der Ev. Kirche Berlin-<br />
Brandenburg und oberschlesische Lausitz Dr.<br />
Markus Dröge über Möglichkeiten der ökumenischen<br />
Verständigung und Zusammenarbeit<br />
zwischen den Kirchen zur Zeit des Comenius und<br />
heute. Eingerahmt wurde das Wortprogramm<br />
durch musikalische Darbietungen: Moritz Kayser,<br />
ein Jungstudent der Universität der Künste,<br />
spielte eine Cellosuite Solo von J.S. Bach, den<br />
Abschluss bildeten Lieder von Comenius und der<br />
3 Vgl. LGBB 59 (1/2<strong>01</strong>5), S. 14f. und 22.<br />
Das auf dem Foto wiedergegebene Ölgemälde von<br />
Comenius (92 x 72 cm) befindet sich heute im Museum der<br />
polnischen Stadt Leszno (Inv.-Nr. MLS 1493). Nach Angaben<br />
des Museums wurde es im Jahr 1835 von Ferdinand Gregor<br />
geschaffen. Als Geburtsjahr des Comenius (natus) wird unter<br />
dem Bild richtig 1592 genannt; als Todesjahr (defunctus)<br />
ist irrtümlich 1671 angegeben, vielleicht weil Leibniz erst<br />
geraume Zeit nach dem Todestag (15. November 1670) vom<br />
Tod des Comenius erfuhr und das Trauergedicht (Epicedium)<br />
erst im Jahr 1671 abschickte.<br />
Böhmischen Brüder, gesungen vom Chor der Brüdergemeine<br />
unter Leitung des Kantors Winfried<br />
Müller-Brandes.<br />
Da es sich um eine Gedenkveranstaltung anlässlich<br />
des Todes von Comenius vor 350 Jahren handelte,<br />
brachte ich in Abstimmung mit den beteiligten<br />
Veranstaltern das lateinische Trauergedicht<br />
von Leibniz in Erinnerung. Dieses Gedicht ist zwar<br />
in dieser Zeitschrift schon einmal kurz vorgestellt<br />
worden. 3 Diesmal konnte ich aber etwas ausführlicher<br />
auf den berühmten Autor Leibniz und<br />
seine Beziehung zu Comenius eingehen. Es folgt<br />
hier der Text meines Vortrags, wobei der Wortlaut<br />
weitestgehend beibehalten ist. Hinzugefügt<br />
wurden nur einige Anmerkungen und Literaturhinweise.<br />
Der Vortrag<br />
Meine Damen und Herren,<br />
liebe Comenius-Freunde,<br />
dass der berühmte Jurist, Mathematiker und Philosoph<br />
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)<br />
im Alter von vierundzwanzig Jahren ein lateinisches<br />
Gedicht zu Ehren des gerade verstorbenen<br />
78-jährigen Johann Amos Comenius verfasst hat,<br />
dürfte nicht jedem geläufig sein. Erst durch die<br />
jüngere Leibniz- und Comeniusforschung ist das<br />
mehr und mehr bekannt geworden. Das Leibniz-<br />
Archiv in Hannover besitzt davon sogar Originalhandschriften<br />
von Leibniz selbst. (Eine verkleinerte<br />
Kopie ist auf der Abbildung unten zu sehen.)<br />
Die Fotokopie dieser Originalhandschrift des Gedichts von<br />
Leibniz ist dem Aufsatz von Hartmut Hecht entnommen:<br />
„Der junge Leibniz über Johann Amos Comenius. Eine<br />
Laudatio in Versen”. In: Werner Korthaase, Sigurd Hauff,<br />
Andreas Fritsch (Hrsg.): Comenius und der Weltfriede.<br />
Comenius and World Peace. Berlin: Deutsche Comenius-<br />
Gesellschaft 2005, S. 377–390.<br />
Wer Comenius war, ist im Kreis der Anwesenden<br />
einigermaßen bekannt. Ich fasse seine Bedeutung<br />
für die Pädagogik schlagwortartig mit einer<br />
Formulierung aus einem modernen „Wörterbuch<br />
der Pädagogik” zusammen. Demnach gilt er als<br />
„erster großer Theoretiker einer systematischen<br />
und umfassenden Pädagogik”. 4 Seine ‘pansophische’<br />
Erziehungs- und Bildungslehre stellt nicht<br />
nur „den Höhepunkt der Barockpädagogik” dar,<br />
sondern sie hat viele Probleme der modernen Pädagogik<br />
„vorweggenommen”, wie z.B. Bildung<br />
für alle, Jungen und Mädchen aus allen Schichten,<br />
Chancengleichheit, Vorschulerziehung, Learning<br />
by Doing, lebenslanges Lernen, Erwachsenenbildung<br />
und viele andere Prinzpien, die heute<br />
vielleicht trivial und selbstverständlich erscheinen<br />
mögen, zu seiner Zeit aber und noch lange danach<br />
als „Utopische Träume” eingestuft wurden. 5<br />
Die Comeniusforschung entdeckt auch jetzt noch<br />
immer wieder <strong>neu</strong>e Aspekte seines etwa 250<br />
Titel umfassenden Gesamtwerks, 6 wobei die vielen<br />
zum Teil sehr umfangreichen Briefe noch gar<br />
nicht mitgezählt sind. Nach der Vertreibung aus<br />
seiner Heimat, dem heutigen Tschechien, wandte<br />
er sich mit seinen Reformvorschlägen für Politik,<br />
Pädagogik und Theologie nicht mehr nur an seine<br />
böhmisch-mährischen Landsleute, sondern an<br />
ganz Europa und benutzte dafür die lingua franca<br />
seiner Zeit, die lateinische Sprache. Etwa Dreiviertel<br />
seiner Werke sind in dieser Sprache abgefasst.<br />
Daher habe ich selbst einige Aufsätze<br />
zum Latein des Comenius verfasst und fühle mich<br />
befugt, hier ein lateinisches Gedicht vorzustellen,<br />
das Leibniz, der letzte Universalgelehrte Europas,<br />
als junger Mann auf Comenius verfasst hat.<br />
4 Winfried Böhm: Wörterbuch der Pädagogik. 14.,<br />
überarbeitete Aufl. Stuttgart: Kröner 1994, S. 151.<br />
5 Vgl. Johann Gottfried Herder, 57. Brief der Briefe zu<br />
Beförderung der Humanität. 124 Briefe in 10 Sammlungen.<br />
Ausgabe Riga 1793–97; der 57. Brief („über den<br />
menschenfreundlichen Comenius”) erschien 1795.<br />
Vgl. Reinhard Golz, Werner Korthaase, Erich Schäfer<br />
(Hg.): Comenius und unsere Zeit. Geschichtliches, Bedenkenswertes,<br />
Biographisches. Baltmannsweiler: Schneider<br />
Verlag Hohengehren 1996, S. 2<strong>01</strong>–214, hier 205.<br />
6 Vgl. Klaus Schaller: Johannes Amos Comenius. Ein pädagogisches<br />
Porträt. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz (UTB)<br />
2004, S. 13.<br />
4 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
5
Für die Wiederentdeckung, Veröffentlichung und<br />
Übersetzung dieses Gedichts ist mehreren Wissenschaftlern<br />
zu danken. Erstmals gedruckt wurde<br />
es offenbar erst 1847 in der Ausgabe von Georg<br />
Heinrich Pertz. 7 In jüngerer Zeit haben sich vor allem<br />
Hartmut Hecht (1993 und 2005) 8 und Konrad<br />
Moll (2004) 9 um die Bekanntmachung dieses Gedichts<br />
verdient gemacht. 10 Seit 2006 ist es auch<br />
in der kritischen Leibniz-Edition zu finden. 11 Es<br />
lagen seit 1892 einzelne deutsche Übersetzungen<br />
vor. 12 Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen<br />
Comenius-Gesellschaft, Werner Korthaase<br />
(1937–2008), bat mich seinerzeit um eine Neuübersetzung,<br />
die erstmals 1996 in dem von Golz,<br />
Korthaase und Schäfer herausgegebenen Band<br />
„Comenius und unsere Zeit” erschien. Meine<br />
Übersetzung verzichtete auf das antike Versmaß,<br />
7 G.W. Leibniz, Gesammelte Werke, hg. von G.H. Pertz,<br />
1. Folge, Bd. 4, Hannover 1847, S. 270.<br />
8 Hartmut Hecht: „Die Handschriften des Leibnizschen<br />
Gedichts auf Johann Amos Comenius“. In: Comenius-<br />
Jahrbuch 1, 1993, S. 83–90. – Ders.: „Der junge Leibniz<br />
über Johann Amos Comenius. Eine Laudatio in Versen”.<br />
In: Werner Korthaase, Sigurd Hauff, Andreas Fritsch<br />
(Hg.): Comenius und der Weltfriede. Comenius and<br />
World Peace. Berlin: Deutsche Comenius-Gesellschaft,<br />
2005, S. 377–390.<br />
9 Konrad Moll: „Leibniz, Comenius, Bisterfeld. Die Ambivalenz<br />
des Menschen zwischen Weltordnung und Chaos”.<br />
In: Comenius-Jahrbuch 9-10/20<strong>01</strong>-2002 (erschienen<br />
2004), S. 44–61.<br />
10 Milada Blekastad hat das lateinische Gedicht bereits<br />
1969 in ihrem Standardwerk (ohne Übersetzung) veröffentlicht:<br />
Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben,<br />
Werk und Schicksal des Jan Amos Komenský. Oslo:<br />
Universitetsforlaget / Praha: Academia, S. 678.<br />
11 Leibniz, Sämtliche Schriften, 2. Reihe Philosophischer<br />
Briefwechsel, 1. Band, Berlin: Akademie Verlag 2006, S.<br />
188 (= im PDF der Internet-Ausgabe auf S. 243): https://<br />
rep.adw-goe.de/bitstream/handle/11858/00-0<strong>01</strong>S-0000-<br />
0006-B8E3-4/Vollversion-II%2c1.pdf?sequence=1.<br />
12 Theodor Renaud: „An Johann Amos Comenius”. In:<br />
Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, 1. Jahrgang<br />
1892, S. 168 f. – Dietrich Mahnke: „Der Barock-Universalismus<br />
des Comenius“, 2. Teil. In: Zeitschrift für Geschichte<br />
der Erziehung und des Unterrichts, 22. Jg. 1932,<br />
S. 61–90 (Übers. auf S. 90). Im Internet: https://goobi<br />
<strong>web</strong>.bbf.dipf.de/viewer/object/025295241_0<strong>01</strong>7/3/.<br />
13 Albert Einstein: Mein Weltbild. Hrsg. von Carl Seelig.<br />
Frankfurt/M., Berlin: Ullstein 1964; bes. S. 19.<br />
bemühte sich aber um rhythmische Prosa; sie ist<br />
seitdem mehrmals an verschiedenen Stellen abgedruckt<br />
oder zitiert und auch in der genannten<br />
Leibniz-Edition erwähnt worden.<br />
Es stellen sich die Fragen: Warum ausgerechnet<br />
Leibniz das Gedicht verfasst hat, und warum hat<br />
er es in kunstvollen lateinischen Versen gestaltet,<br />
d.h. in klassischen Distichen, die jeweils aus<br />
einem Hexameter und einem Pentameter bestehen?<br />
Warum lateinisch?<br />
Diese Frage beantworte ich mit einem Zitat von<br />
Albert Einstein (1879–1955), dem großen Physiker<br />
des 20. Jahrhunderts. Er schrieb in einer Stellungnahme<br />
nach der Gründung des Völkerbundes<br />
(1919 in Genf) u.a.: „Noch im siebzehnten Jahrhundert<br />
sind die Wissenschaftler und Künstler<br />
von ganz Europa so fest durch ein gemeinsames<br />
idealistisches Band verbunden gewesen, daß ihre<br />
Zusammenarbeit durch die politischen Ereignisse<br />
kaum beeinflußt wurde. Der Allgemeingebrauch<br />
der lateinischen Sprache festigte noch die Gemeinschaft.<br />
Heute schauen wir auf diese Situation<br />
wie auf ein verlorenes Paradies.” 13 Somit gehören<br />
viele Schriften von Leibniz, der sonst auch deutsch<br />
und französisch schrieb, nach heutigem Verständnis<br />
zur sog. „<strong>neu</strong>lateinischen Literatur”. 14<br />
An Umfang übertrifft die Zahl <strong>neu</strong>lateinischer<br />
Werke die Zahl der aus der Antike überlieferten<br />
lateinischen Texte – nach Schätzung von Experten<br />
– „um das Hundert- bis Zehntausendfache”. 15<br />
Woher kannte der 24-jährige<br />
Leibniz den mit 78 Jahren<br />
verstorbenen Comenius?<br />
Hierzu veröffentlichte der Leibnizforscher Konrad<br />
Moll in einem Aufsatz für das Comenius-Jahrbuch<br />
detaillierte Informationen. 16 Die Frage, wie, wann<br />
und wo der junge Leibniz zu seinen Comeniuskentnissen<br />
kam, müsse zwar „offen bleiben”.<br />
Aber die Frage, was ihn prinzipiell schon in seiner<br />
Studentenzeit dem Comenius näherbrachte und<br />
ihn so sehr für ihn eingenommen hat, lasse sich<br />
„recht eindeutig beantworten.” (S. 46f.) Nach<br />
Molls Forschungen hatte Leibniz aber bereits als<br />
achtjähriges Kind Gelegenheit, „die Urform des<br />
Orbis sensualium pictus (das Lucidarium) von<br />
Comenius kennenzulernen und aus dieser Encyclopaediola<br />
sensualium zu lernen.” Schon das hat<br />
„sicher bei ihm Spuren hinterlassen”, zumal er<br />
sich später als junger Mann den Orbis sensualium<br />
pictus selbst gekauft hat (S. 47). Doch die eigentliche<br />
Verbindung von Leibniz zur Gedankenwelt<br />
des Comenius wurde (nach Molls Forschungen)<br />
durch die Schriften des reformierten Theologen<br />
und Philosophen Johann Heinrich Bisterfeld<br />
(1605–1655) hergestellt, der wie Comenius in der<br />
pansophisch ausgerichteten Hochschule im calvinistischen<br />
Herborn bei Johann Heinrich Alsted<br />
(1588–1638) seine geistige Heimat hatte (Moll,<br />
S. 47). Von Bisterfelds Philosophie übernahm<br />
Leibniz „die wichtigste Grundüberzeugung seines<br />
Lebens, die ,Harmonie’ alles Seienden”. Diese gemeinsame<br />
pansophische Verwurzelung lässt sich,<br />
wie Konrad Moll aufgezeigt hat, in Leibnizens früher<br />
Zeit „bis in biographische Einzelheiten hinein<br />
belegen” (S. 48).<br />
Bis heute gilt Leibniz als „Wunderkind”. 17 Die Berliner<br />
Philosophieprofessorin Katharina Kanthack<br />
(19<strong>01</strong>–1986) erzählt in ihrem Buch über „Leibniz.<br />
Ein Genius der Deutschen”: 18 „Er lernt als Achtjähriger<br />
ohne jede Unterweisung Latein, indem er<br />
die Bildunterschriften einer Liviusausgabe gleichsam<br />
als Fibel benutzt” (S. 7 f.) Er „durchrast”<br />
bald nach dem frühen Tod seines Vaters dessen<br />
Bibliothek, „schwelgt in Folianten, sättigt sich an<br />
klassischen Schriftstellern, an Cicero und Seneca,<br />
Plinius, Herodot, Plato und Xenophon. […] Mit<br />
zwölf Jahren genügt ihm ein Vormittag, um dreihundert<br />
lateinische Hexameter anzufertigen. Aber<br />
er entzieht sich schnell wieder den Schlingen der<br />
Poesie und fällt dafür in die der formalen Logik”<br />
(S. 8). Doch die Fähigkeit und die Bereitschaft, lateinische<br />
Verse zu dichten, bleiben ihm zeitlebens<br />
erhalten, nicht nur bis zu seinem 24. Lebensjahr,<br />
also bis zum Tod des Comenius; sondern auch 35<br />
Jahre später, als er zum Tod der preußischen Königin<br />
Sophie Charlotte (1705) ein noch längeres<br />
lateinisches Gedicht verfasste. Mit ihr hatte er<br />
intensiven freundschaftlichen Umgang, 19 und auf<br />
ihre Initiative gründete er bekanntlich zusammen<br />
14 Vgl. den Artikel „Neulatein” in: Der <strong>neu</strong>e Pauly.<br />
Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/4 (20<strong>01</strong>), Sp. 925–946.<br />
– Ferner: Jozef IJsewijn: Companion to Neo-Latin Studies.<br />
Amsterdam, New York, Oxford: North-Holland Publishing<br />
Company 1977, S. 125, 128, 139; auf S. 234 der<br />
Hinweis auf Joh. T. Roenickius, Recentiorum poetarum<br />
Germanorum carmina selectiora (2 vols.; Helmstedt,<br />
1749–1751). “Among the famous names included are<br />
the philosophers Leibniz and Baumgarten.” [Alexander<br />
Gottlieb Baumgarten (1714–1762) war ein deutscher<br />
Philosoph, der in der Tradition der Leibniz-Wolff’schen<br />
Aufklärungsphilosophie stand und die Ästhetik als<br />
philosophische Disziplin begründete.] – Martin Korenjak:<br />
Geschichte der <strong>neu</strong>lateinischen Literatur. Vom Humanismus<br />
bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 2<strong>01</strong>6, S.<br />
23, 87, 89, 148, 152, 159, 235; S. 77: Leibniz bezeichnete<br />
das Lateinische in seinem „Kurzen wohlgemeinten<br />
Bedenken zum Abgang der Studien und wie denenselben<br />
zu helfen” (1711) wegen seiner „Dauerhaftigkeit” im Gegensatz<br />
zu den lebenden Sprachen als „lingua Europaea<br />
universalis et durabilis ad posteritatem.” – Sehr wertvoll<br />
ist in diesem Zusammenhang der im Internet abrufbare<br />
Text „Klassische und Neulateinische Philologie. Probleme<br />
und Perspektiven” (http://www.rhm.uni-koeln.de/146/<br />
Ludwig.pdf). Die dort wiedergegebenen drei Referate<br />
von Walther Ludwig, Reinhold F. Glei und Jürgen<br />
Leonhardt wurden unter diesem Sammeltitel innerhalb<br />
der 27. Tagung der Mommsen-Gesellschaft, die am<br />
11.–14. Juni 2003 in Freiburg im Breisgau und in Sélestat/Schlettstadt<br />
unter dem Titel „Die Zukunft der Antike“<br />
stattfand, am 14. Juni in einerVeranstaltung im dortigen<br />
Institut Universitaire de Formation des Maîtres<br />
d’Alsace gehalten.<br />
15 Walther Ludwig: „Die <strong>neu</strong>lateinische Literatur seit der<br />
Renaissance“. In: Fritz Graf (Hg.): Einleitung in die lateinische<br />
Philologie. Stuttgart und Leipzig: B.G. Teubner<br />
1997. S. 323–356, hier 333.<br />
16 Siehe oben Anm. 9. Konrad Moll hatte zuvor (1978 bis<br />
1996) ein dreibändiges Werk Der junge Leibniz veröffentlicht<br />
(Stuttgart: Frommann-Holzboog).<br />
17 Wilhelm Weischedel: Die philosophishe Hintertreppe.<br />
34 große Philosophen in Alltag und Denken (1966).<br />
München: dtv 1975, S. 142.<br />
18 Katharina Kanthack: Leibniz. Ein Genius der Deutschen.<br />
Berlin: Minerva 1956, S. 7.<br />
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7
mit dem Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, einem<br />
Enkel des Comenius, im Jahr 1700 in Berlin<br />
die preußische Sozietät der Wissenschaften,<br />
die heutige Berlin-Brandenburgische Akademie<br />
der Wissenschaften. Nach dem Tod der Königin<br />
Sophie Charlotte wurde die Stadt Lietzenburg in<br />
Charlottenburg umbenannt, wie der betreffende<br />
Berliner Stadtteil noch heute heißt. Von ihr angeregt<br />
veröffentlichte Leibniz seine „Theodizee”<br />
und widmete das Werk ihrem Andenken. 20<br />
19 Die in Berlin lebende Schriftstellerin Renate Feyl hat über<br />
die Begegnungen zwischen Leibniz und der Königin<br />
einen Roman verfasst: Aussicht auf bleibende Helle. Die<br />
Königin und der Philosoph (München 2008). Sie erzählt,<br />
wie Sophie Charlotte in Leibniz „einen Seelenverwandten<br />
und Gefährten ihrer Gedanken” findet, wie sie ihn „zu<br />
einer systematischen Ausarbeitung seiner Ideen” ermuntert<br />
und „ihn durch ihre Fragen immer wieder aufs<br />
Neue” herausfordert. So wird sie „zu seiner diva vitae,<br />
der Frau seines Lebens”.<br />
20 George MacDonald Ross: „Leibniz und Sophie Charlotte“.<br />
In: Sophie Charlotte und ihr Schloss: Ein Musenhof<br />
des Barock in Brandenburg-Preußen. Katalogbuch zur<br />
Ausstellung im Schloß Charlottenburg, Berlin, 6. November<br />
1999 bis 30. Januar 2000. München, London, New<br />
York: Prestel 1999, S. 95-105, hier 102.<br />
21 Wie Klaus Bartels über eine Hexameter-Maschine aus<br />
dem 19. Jahrhundert berichtet hat. Bartels erzählt von<br />
dem Buchdrucker John Clark, der 1845 in London eine<br />
Maschine vorführte, die in der Lage war, „über 26 Millionen<br />
metrisch korrekte lateinische Hexameter nachein<br />
ander herunterzuklappern”. Der Erfinder hat die Maschine<br />
1848 in einer Broschüre beschrieben: General History<br />
and Description of a Machine for Composing Latin Hexameter<br />
Verses. (K. Bartels: Zeit zum Nichtstun. Streiflichter<br />
aus der Antike. Paderborn, München, Wien, Zürich:<br />
Schöningh 1989, S. 176-178.)<br />
22 Herbert Meschkowski: Jeder nach seiner Façon. Berliner<br />
Geistesleben 1700–1810. München, Zürich: Piper 1986,<br />
S. 21. – Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften<br />
(BBAW) widmete „ihrem Gründer, dem Philosophen,<br />
Mathematiker, Physiker, Historiker; Diplomaten,<br />
Politiker und Bibliothekar” zum 370. Geburtstag<br />
am 1. Juli 2<strong>01</strong>6 eine Vortragsreihe mit dem Thema<br />
„Leibniz: Vision als Aufgabe”. Die Veranstaltungen<br />
sollten „Leibniz als visionären Denker” zeigen, „dessen<br />
multidisziplinäres Gesamtwerk bis heute Impulsgeber für<br />
Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist”,<br />
wie es auf einem Flyer der BBAW hieß.<br />
23 Meschkowski (s.o.), S. 22.<br />
24 „Die Firma Siemens hat Leibniz für seine Entdeckung<br />
durch eine Veröffentlichung im Jahre 1966, zu seinem<br />
250. Todestag, gedankt.” (Meschkowski, S. 23)<br />
Vom jungen Leibniz gibt es keine Porträts; berühmt sind<br />
aber einige Gemälde, die ihn als Diplomaten und Wissenschaftler<br />
und, wie es zu seiner Zeit modern war, mit üppiger<br />
Perücke darstellen. Hier eine Briefmarke aus dem Jahr 1980,<br />
die wohl eines der berühmten Porträts (von Christoph Bernhard<br />
Francke um 1700) zeitgemäß stilisiert. Den Entwurf<br />
dieser Briefmarke schuf Elisabeth von Janota-Bzowski.<br />
Die lateinische Verskunst setzt aber nicht nur poetische<br />
Phantasie, sondern auch gründliche Kenntnis<br />
der lateinischen Sprache und Literatur voraus,<br />
insbesondere die genaueste Beachtung der Längen<br />
und Kürzen der Silben. Die antike Metrik hat<br />
darüber hinaus wohl auch eine gewisse Nähe zur<br />
Mathematik und Technik. 21 Heute ist Leibniz, der ja<br />
eigentlich Jurist und Diplomat war, bekannt als der<br />
bedeutendste Mathematiker seiner Zeit. Er gilt als<br />
„der letzte Gelehrte” Europas, „der das gesamte<br />
Wissen seiner Zeit beherrschte”. 22 Leibniz (1646–<br />
1716) und Newton (1643–1727) haben in etwa<br />
zur selben Zeit, aber unabhängig voneinander,<br />
die Differenzial- und Integralrechnung entwickelt.<br />
Leibniz hat auch – was für uns alle und für die Entwicklung<br />
der Informatik bis heute von allergrößter<br />
Bedeutung ist – das binäre Zahlensystem oder Dualsystem<br />
erfunden; 23 auf dieser Grundlage baute<br />
er selbst eine mechanische Rechenmaschine. Zur<br />
vollen Geltung kam diese Leibnizsche Entdeckung<br />
aber erst im elektronischen Zeitalter. Jetzt konnte<br />
man Computer bauen und die Ziffer 1 „durch einen<br />
Stromstoß, die Null durch das Ausbleiben des<br />
Stroms vertreten lassen.” 24<br />
Unter den Büchern in der Bibliothek von Leibniz<br />
sind zwei kleine Werke von dem erwähnten Johann<br />
Heinrich Bisterfeld erhalten geblieben, „die<br />
er offenbar in seiner Studentenzeit in Leipzig oder<br />
in Jena gelesen hat. Sie haben seine geistige Biographie<br />
prägend mitbestimmt.” Darin finden sich<br />
Randnotizen von Leibniz, die, wie Moll schreibt,<br />
„unmittelbar ins Zentrum der späteren Leibnizschen<br />
Philosophie” führen (S. 48). Demnach hat<br />
die Universalharmonie (panharmonia) aller Dinge<br />
ihren Grund in der göttlichen Trinität (S.49 f.). 25<br />
In ihr liegen sowohl Quelle wie Maß und Ziel aller<br />
(Welt-)Ordnung. Der Mensch darf dem, was<br />
existiert, keine Gewalt antun, das kommt im<br />
Lebensmotto des Comenius zum Ausdruck, in<br />
dem von Comenius selbst geprägten lateinischen<br />
Hexameter: Omnia sponte fluant, absit violentia<br />
rebus. „Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne<br />
den Dingen.”<br />
Titelseite der Neuesten Sprachenmethode (1648/49)<br />
Er wiederholt oder interpretiert diesen Wahlspruch<br />
in mehreren Schriften, so auch in der zu<br />
seiner Lebenszeit nicht mehr veröffentlichten<br />
Pampaedia, dem Herzstück seines siebenbändigen<br />
Hauptwerks. 26 Auch in der „Großen Didaktik”<br />
(Didactica magna) betont er mehrfach das<br />
Prinzip der Gewaltlosigkeit.<br />
Der Spruch findet sich als Umschrift auf dem Emblem vieler<br />
Werke des Comenius, erstmals 1648 auf der Titelseite seiner<br />
„Neuesten Sprachenmethode” (Methodus Linguarum novissima).<br />
25 Vgl. Erwin Schadel: „‘Triunitas vox absurda est.‘<br />
Methodologische Beobachtungen zur sozinianischen<br />
Trinitätskritik“. In: Gerhard Banse u.a. (Hg.): Von<br />
Aufklärung bis Zweifel. Beiträge zu Philosophie, Geschichte<br />
und Philosophiegeschichte. Festschrift für<br />
Siegfried Wollgast. (Abhandlungen der Leibniz-Sozietät<br />
der Wissenschaften). Berlin: trafo Verlag 2008, S.<br />
293–324.<br />
26 Vgl. A. Fritsch: „Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne<br />
den Dingen. Das Emblem des Johann Amos Comenius”.<br />
In: Korthaase et al. 2005 (s.o. Anm. 8), S. 118–114;<br />
später auch in: Comenius, Opera didactica omnia, IV, 77:<br />
Latium redivivum § 8.<br />
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9
Nach dem Tod des Comenius meldete sich der<br />
Tübinger Professor Magnus Hesenthaler, (1621–<br />
1681), der mit Comenius befreundet war, bei Leibniz<br />
und bat ihn um ein lateinisches Trauergedicht<br />
auf den Verstorbenen für dessen Sohn Daniel Comenius<br />
(1646–1696). 27 In einem Brief an Hesenthaler<br />
schreibt Leibniz, dass er dadurch Anlass und<br />
Gelegenheit hatte, sich mit den Schriften des Comenius<br />
intensiv zu befassen, „in Comenii scriptis<br />
animi attentione versari”. Ausdrücklich schreibt<br />
Leibniz: „Seine didaktischen Schriften finde ich<br />
insgesamt gut” (Didactica ejus in summa probo)<br />
Das zeigt sich auch heute noch, für jeden erkennbar<br />
und anschaulich, an dem Kinder-, Bild- und<br />
Sprachlehrbuch des Comenius, dem Orbis sensualium<br />
pictus (1658), das man zu Recht zu den<br />
etwa 400 Büchern zählt, „die die Welt verändern”<br />
konnten. 29 Dieses Kinderbuch versucht – wie die<br />
pansophischen Schriften für die Erwachsenen, die<br />
Theologen, Philosophen und Politiker – von Vornherein<br />
in den Einzelheiten doch immer zugleich<br />
auch das Ganze ganzheitlich zu vermitteln (omnia<br />
omnino): „Weltall, Erde, Mensch”, 30 aber eben als<br />
Schöpfung Gottes.<br />
sei! 31 Die Bemühungen des Comenius um die Verständigung<br />
unter den christlichen Konfessionen<br />
und der Einsatz für den Frieden zwischen den<br />
europäischen Staaten sind durchaus mit den Anstrengungen<br />
Leibnizens vergleichbar. Am 25. August<br />
2<strong>01</strong>8 hat hier an dieser Stelle in der Gedenkveranstaltung<br />
für Werner Korthaase Herr<br />
Dr. Hartmut Rudolph darauf hingewiesen. 32 Von<br />
alldem findet sich in dem kleinen Gedicht, um das<br />
es hier geht, gewissermaßen in nuce eine Fülle<br />
von Anklängen und Andeutungen, und es ist in<br />
wenigen Minuten (bzw. auf beschränktem Raum)<br />
kaum möglich, die Vielzahl der literarischen, philosophischen<br />
und biografischen Anspielungen im<br />
Einzelnen aufzuzeigen und zu interpretieren. Einige<br />
Hinweise finden sich in der Anmerkung. 33<br />
Nun aber möchte ich zum Schluss das Gedicht<br />
von Leibniz im Original vortragen. Mit Hilfe des<br />
Handouts (hier nicht abgedruckt) haben Sie dann<br />
selbst zu Hause die Möglichkeit, die verschiedenen<br />
Übersetzungen auf ihre Treffsicherheit zu<br />
vergleichen. Wie ein Musikstück, das man hören,<br />
nicht nur lesen muss, soll auch das Leibniz-<br />
Gedicht auf Comenius hier im Original erklingen,<br />
bevor ich es in Prosa übersetze.<br />
Das erste Kapitel des Orbis sensualium pictus von 1658.<br />
und zur Janua linguarum reserata bekennt er:<br />
„Dem Comenius stimme ich also durchaus zu, dass<br />
das Tor zu den Sprachen (Janua linguarum) so etwas<br />
sein muss wie eine kleine Enzyklopädie” (vgl.<br />
Moll, S. 46): Comenio igitur prorsus assentior, Januam<br />
Linguarum et Encyclopaediolam debere esse<br />
idem. 28 Es geht also um das Unterrichtsprinzip,<br />
Sprach- und Sachinhalt aufs engste zu verknüpfen.<br />
Die große Bedeutung des Comenius für die<br />
Sprachwissenschaft kann hier nur nebenbei erwähnt<br />
werden. Die Linguistin Ulrike Haß-Zumkehr<br />
kam vor zehn Jahren (2<strong>01</strong>0) zu der verblüffenden<br />
Feststellung, dass Comenius mit dem Orbis pictus<br />
und der Janua linguarum und deren später<br />
bearbeiteten Auflagen „der einflussreichste Lexikograf<br />
aller Zeiten und ganz Europas” gewesen<br />
27 Daniel Comenius war das vierte Kind aus der zweiten Ehe mit Dorothea Cyrillová, die Comenius 1624 (nach dem Tod seiner<br />
ersten Frau 1622) geheiratet hat. Aus dieser Ehe gingen 1. Dorota Kristina, 2. Elisabeth, 3. Susana und 4. Daniel hervor Daniel<br />
stiftete die Grabplatte für seinen Vater in Naarden. Elisabeth (*1628) heiratete 1649 Peter Figulus Jablonský (1619–1670) und<br />
wurde die Mutter des späteren preußischen Hofpredigers Daniel Ernst Jablonský (1660–1741). Dieser war also ein Enkel von<br />
Jan Amos Comenius und war 1700 zusammen mit Leibniz Mitbegründer der Berliner Sozietät der Wissenschaften.<br />
28 Leibniz Werke, im Internet, N. 60b [Mai – Okober 1671], S. 189.<br />
29 John Carter und Percy H. Muir: Bücher, die die Welt verändern. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1968, Nr. 139, S. 267f.<br />
(Das englische Original erschien unter dem Titel Printing and the Mind of Man, London 1967. Herausgeber der deutschen<br />
Ausgabe: Kurt Busse.)<br />
30 „Weltall Erde Mensch” war ein in der DDR erschienenes Sammelwerk, das als das am weitesten verbreitete Druckwerk der<br />
DDR gilt und (nicht zuletzt wegen seiner antireligiösen Tendenz) meist zur Jugendweihe verschenkt wurde.<br />
31 Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprache und Kulturgeschichte. Berlin, New York:<br />
Walter de Gruyter (De-Gruyter-Studienbuch) 2<strong>01</strong>0, S. 303.<br />
32 Der Vortrag von Hartmut Rudolph hatte den Titel: „Leibniz’ (vielleicht gar nicht so inaktuelle) Ideen zu Frieden und Gerechtigkeit”.<br />
33 Hier nur einige Hinweise auf Andeutungen und Anspielungen. 1 Fortunate senex (Verg. ecl. 1,46; 1,51). – 2 incola mundi<br />
(Cic.Tusc. 5,108: totius mundi se incolam et civem arbitrabatur (Socrates). – 3 pictum spielt an auf den Titel des Orbis<br />
pictus (gemalt = dargestellt) – res humanas spielt an auf den Titel des Hauptwerks von Comenius: De emendatione<br />
rerum humanarum Consultatio catholica. – insanaque iurgia (Ovid, fasti 1,73f.). – 4 movere = moveris. – 5 Apicem Rerum:<br />
Spitze der Dinge = das Wesen des Weltalls. – 6 Der ganze 6. Vers wird später im Gedicht auf die verstorbene Königin wiederholt.<br />
– solo von sõlum: der Erdboden, hier: das irdische Leben. – Pansophia (im ionischen Dialekt sophië statt sophia) ist<br />
der Titel des 4. (= zentralen) Hauptteils der siebenbändigen Consultatio catholica. – 7 spem ne pone tuam (vgl. cf. Andrea<br />
Gabrieli, Komponist, ca. 1532–1585): Ne confide in forma generosa / Neque spem tuam pone / In volubilitate divitiarum. –<br />
Zu Vers 8–10 vgl.die von Comenius oft benutzte Metapher vom (gewaltfreien) Wachstum der Pflanzen, hier des Getreides.<br />
9 posteritas: Dass Leibniz an die Rezeption durch die „Nachwelt“ dachte, wird auch daran deutlich, dass er das Lateinische<br />
selbst benutzte. Das klingt m.E. auch im 7. Vers in Bezug auf die Schriften des Comenius an (superant tua carmina<br />
mortem). Dem exzellenten Leibnizkenner Dr. Hartmut Rudolph verdanke ich den Hinweis auf entsprechende Äußerungen<br />
von Leibniz, z.B. in „De re publica literaria“ (1681): „Contra quae latine scribuntur, eandem post multa secula gratiam<br />
laudemque habebunt.“ (A VI,4 S. 433 f.) – 1688 notiert Leibniz: „Was nun beständig bleiben und apud seram posteritatem<br />
mit applausu gelesen werden soll, muß billig in latein geschrieben seyn.“ (A IV,4 S. 37) – iam messis in herba est (cf. Ovid,<br />
her. 17,263 bzw. 265 = epist. Helenae). – 10 articulus: Gelenk, Knoten- oder Wedepunkt = entscheidender Augenblick. –<br />
11–12 felicibus una … esse licet: es ist (uns) möglich, gemeinsam glücklich zu sein. – conatus jungere: die (gemeinsamen)<br />
Versuche, Anstregungen verbinden = Andeutung der Friedensbemühungen; darüber hinaus ist conatus aber auch ein in der<br />
Philosophie der Neuzeit viel diskutierter Begriff. – 13 Tempus erit, quo ...: cf. Ovid. ars 3, 69; medic. 47. – turba bonorum<br />
(cf. Johannes Schosser, 1534–1585: De coniugio Thomae Matthiae et Ursulae Meienburgiae, Elegia III: Candida prosequitur<br />
te carmine turba bonorum, / Carmine, patrono fausta precante suo.) – 14 vota quoque ipsa (cf. Lucr. 4,508: vita<br />
quoque ipsa; 4, 554: verba quoque ipsa).<br />
10 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
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11
Gedicht: In Comenii obitum<br />
(Leibniz notierte hierzu: Versus, quos Hesenthalero misi.)<br />
Fortunate senex, veri novus incola mundi,<br />
Qvem pictum nobis jam tua cura dedit.<br />
Seu res humanas insanaqve jurgia, liber<br />
Despicis, et nostris usqve movere malis;<br />
Sive Apicem Rerum et mundi secreta tuenti,<br />
Interdicta solo, nunc data Pansophie;<br />
Spem ne pone tuam, superant tua carmina mortem,<br />
Sparsaqve non vanè semina servat humus.<br />
Posteritas non sera metet, jam messis in herba est,<br />
Articulos norunt fata tenere suos.<br />
Paulatim natura patet, felicibus unâ,<br />
Si modò conatûs jungimus, esse licet.<br />
Tempus erit qvo te, COMENI, turba bonorum,<br />
Factaqve, spesqve tuas, vota qvoqve ipsa, colet.<br />
Glückseliger Greis, <strong>neu</strong>er Bewohner der wahren Welt,<br />
von der uns deine Sorge (dein forschendes Mühen) schon jetzt ein Bild gegeben hat;<br />
ob du nun frei auf die menschlichen Verhältnisse und die heillosen Streitigkeiten<br />
herabblickst und noch immer von unseren Leiden (oder Übeln) berührt wirst,<br />
oder ob dir jetzt, da du das Wesen der Dinge und die Geheimnisse der Welt schaust,<br />
die Allweisheit (die Pansophie), die dem Erdenleben versagt ist, zuteil wurde,<br />
gib deine Hoffnung nicht auf, deine Werke überleben den Tod,<br />
und der Ackerboden bewahrt den nicht vergeblich ausgesäten Samen.<br />
Nicht allzu spät wird die Nachwelt ernten, schon reift die Ernte heran,<br />
das Schicksal weiß den rechten Zeitpunkt einzuhalten.<br />
Allmählich offenbart sich die Natur. Wir dürfen gemeinsam glücklich sein,<br />
wenn wir nur unsere Anstrengungen vereinen.<br />
Es wird die Zeit kommen, da eine Vielzahl guter Menschen, dich, Comenius, ehren,<br />
deine Werke und deine Hoffnungen schätzen, ja selbst deine innigsten Wünsche verwirklichen wird. 34<br />
5<br />
10<br />
Mitteilungen &<br />
Veranstaltungen<br />
9. Literaturwissenschaftliches<br />
Propädeutikum der<br />
Klassischen Gräzistik<br />
Die Klassische Gräzistik am Institut für Griechische<br />
und Lateinische Philologie lädt ab dem<br />
02.03. bis zum 30.03.<strong>2020</strong> in fünf Sitzungen jeweils<br />
montags, 18:15–19:45 Uhr, zum 9. Literaturwissenschaftlichen<br />
Propädeutikum ein.<br />
Das Thema lautet diesmal:<br />
Unterweltsmythen. Erzählungen über das<br />
Leben nach dem Tod in antiker Literatur<br />
Ob auf Fahrt in die Unterwelt über den Fluss Styx<br />
mit dem Fährmann Charon, vor dem Totengericht,<br />
bei den Frevlern im Tartaros oder bei den<br />
glücklichen Seelen im Elysion – Bilder und Mythen<br />
über ein Leben nach dem Tod begegnen uns<br />
immer wieder und in vielfältigen Formen in den<br />
Erzählungen der antiken Literatur. Sie sind Teil<br />
der Handlungen und Geschichten, die in Dichtungswerken<br />
erzählt werden. Doch sie haben<br />
auch darüber hinaus Bedeutung für die, die sie<br />
geschrieben und erzählt, gehört und gelesen haben.<br />
Manchmal als Spiegelung eines noch praktizierten<br />
Kultes oder einer religiösen Überzeugung,<br />
manchmal als Erinnerung an ferne Vergangenheiten<br />
der eigenen Kultur. Und auch uns erzählen die<br />
Unterweltsmythen etwas: Sie lassen das Verhältnis<br />
von Leben und Tod, von Handeln und Strafe,<br />
von Religion und Unsterblichkeitserwartung, wie<br />
es in den antiken Kulturen begegnete, lebendig<br />
werden.<br />
Mit diesem Gedicht und besonders mit den letzten Zeilen hat sich Leibniz schon in jungen Jahren als<br />
„visionärer Denker” 35 erwiesen, als der er auch heute noch in vieler Hinsicht gilt.<br />
34 Das letzte Wort des Gedichtes colet vom Verbum colĕre (von dem unser Wort Kultur abstammt) hat hier eine fast alle nur<br />
denkbaren Schattierungen umfassende Bedeutung: bebauen, bestellen, bearbeiten; hegen, pflegen, ausbilden; sorgfältig üben<br />
oder betreiben; Sorge tragen für etwas; hochhalten, verehren.<br />
35 Vgl. den Flyer der BBAW zum 370. Geburtstag 2<strong>01</strong>6, oben Anm. 22.<br />
Gesehen im Neuen Museum, Berlin Museumsinsel<br />
12 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 13<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV
Gepaarte (A)symmetrie.<br />
Schönheit und ihr Gegenteil<br />
als Entwicklungsfaktoren<br />
in der zoologischen Fachliteratur 1<br />
– Von Sonja Schreiner, Wien –<br />
Schönheit, so sagt man, liegt im Auge des<br />
Betrachters. Dies mag besonders für zwei<br />
dieser vier Hunde 2 in erhöhtem Maß zutreffend<br />
sein:<br />
Und es impliziert, dass für Symmetrie Ähnliches<br />
gilt – und folgerichtig auch für deren Gegenteil:<br />
Doch was tun mit scheinbar Unvereinbarem wie<br />
der Ästhetik des Hässlichen oder gar Kitsch?<br />
Kann und darf es reichen, auf ein strapaziertes<br />
Diktum zurückzugreifen und sich damit zu begnügen,<br />
dass sich über Geschmack sehr gut streiten<br />
lasse? Kitsch ist Kunst, 3 wie Plastiken von Jeff<br />
Koons, zu bestaunen in der Münchener Sammlung<br />
Brandhorst und im Amsterdamer Stedelijk<br />
Museum, 4 eindrücklich belegen:<br />
Raub der Persephone. Apulischer rotfiguriger Volutenkrater, um 340 v. Chr.<br />
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Unterweltvasen#/media/Datei:Persephone_krater_Antikensammlung_Berlin_1984.40.jpg<br />
Im diesjährigen Literaturwissenschaftlichen Propädeutikum<br />
setzen wir unsere Reihe zu Klassikern<br />
der antiken Literatur bzw. Philosophie fort<br />
und präsentieren in Vorträgen und Seminardiskussionen<br />
Erzählungen über ein Leben nach dem<br />
Tod in einigen der meistgelesenen Werke der Antike:<br />
von Homer über die griechische und römische<br />
Tragödie, den Unterweltsmythen bei Platon<br />
bis hin zu den Metamorphosen Ovids.<br />
Im Zuge der Maßnahmen der Freien Universität<br />
im Zusammenhang mit COVID 19 wurde<br />
entschieden, die Reihe des 9. Literaturwissenschafltichen<br />
Propädeutikums abzusagen.<br />
02.03.<strong>2020</strong> Prof. Dr. Gyburg Uhlmann,<br />
Unterwelt im Epos: Homer<br />
09.03.<strong>2020</strong> Sandra Erker,<br />
Unterwelt in der griechischen Tragödie:<br />
Euripides, Alkestis<br />
16.03.<strong>2020</strong> PD Dr. Michael Krewet,<br />
Unterwelt in der römischen Tragödie:<br />
Seneca, Thyest<br />
23.03.<strong>2020</strong> Dr. Christian Vogel,<br />
Unterweltsmythen bei Platon<br />
30.03.<strong>2020</strong> Prof. Dr. Melanie Möller,<br />
Unterwelt in Ovids Metamorphosen:<br />
Orpheus und Eurydike<br />
Oder wäre es an der Zeit, über menschliche Kategorisierungen<br />
etwas objektiver nachzudenken?<br />
1 Dem Beitrag liegt ein Referat beim internationalen<br />
Symposion Schönheit und Symmetrie zugrunde, das<br />
vom 17. bis zum 19. Oktober 2<strong>01</strong>9 am Institut für<br />
Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein der<br />
Universität Wien stattgefunden hat.<br />
2 Der Labrador auf dem linken Bild hat einen deformierten<br />
Schädel, der ihn im alltäglichen Leben ebenso wenig<br />
beeinträchtigt wie die massive Kieferfehlstellung des<br />
Mischlingsrüden Picasso (abgebildet gemeinsam<br />
mit seinem Bruder Pablo).<br />
3 Ute Dettmar & Thomas Küpper, Kitsch. Texte und<br />
Theorien, Stuttgart 2007.<br />
4 Links Amore, rechts Pig Angels.<br />
14 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
15
Doch Halt. All dies ist längst geschehen und hat –<br />
abhängig von der Textsorte – unterschiedlichen<br />
Einfluss hinterlassen. Fachliterarisch nachweislich<br />
weniger als in der Philosophie oder im weiten Bereich<br />
dessen, was die deutsche „Belletristik“ unzureichender<br />
abbildet als die französischen belles<br />
lettres. Schönheitsideale sind zeitabhängig: Für<br />
das 20. oder 21. Jahrhundert gelten andere Maßstäbe<br />
als für Rubens oder für das geschönte Kleopatra-Bild.<br />
Vergleichbares mag für fragwürdige<br />
Wettbewerbe gelten, in denen der hässlichste<br />
oder der schönste Hund der Welt 5 gekürt werden:<br />
5 Quasimodo (links) und Boo (rechts) stehen stellvertretend<br />
für eine Vielzahl von solchen „Preisträger*innen“.<br />
Während Boo zu einem multimedialen Star (und professionell<br />
vermarktet) wurde, hat Quasimodo von seinem<br />
Halter, einem Tierarzt aus Florida, der ihn aus einem<br />
Tierheim adoptierte, durch die Teilnahme am Wettbewerb<br />
eine Plattform bekommen, die breit dafür sensibilisieren<br />
sollte, dass jedes Lebewesen Aufmerksamkeit,<br />
Achtung und Zuneigung verdient. Die Präsentation dieser<br />
case study bei der Kinderuni Vet.med. führte zu emotionalen<br />
Reaktionen der Buben und Mädchen zwischen<br />
7 und 12 Jahren: Die meisten ergriffen schützend (und<br />
mit guten Argumenten) Partei für den vermeintlich<br />
unattraktiven Hund.<br />
6 Rezent idealtypisch gezeigt von Dominik Berrens,<br />
Soziale Insekten in der Antike. Ein Beitrag zu Naturkonzepten<br />
in der griechisch-römischen Antike.<br />
Göttingen 2<strong>01</strong>8 (Hypomnemata 205).<br />
7 Diese Schematik zeigt sich in Naturkundebüchern<br />
(z.B. bei Conrad Ges[s]ner, 1516–1565) ebenso wie in<br />
der didaktischen Literatur (z.B. Johann Amos Comenius,<br />
1592–1670) oder der Emblematik (z.B. Joachim Camerarius,<br />
1534–1598); für Details cf. Sonja Schreiner, Orbis<br />
pictus for Boys – Emblematics for Men: Some Remarks<br />
on Learning by Studying Pictures and Interpreting<br />
Riddles, in: Emblems and the Natural World (ed. by Karl<br />
A.E. Enenkel & Paul J. Smith), Leiden-Boston 2<strong>01</strong>7<br />
(Intersections 50), 629–653.<br />
8 Mehr dazu bei: Sonja Schreiner, Mitgeschöpfe auf der<br />
Werteskala? Plinius maior über Tiere und den Menschen,<br />
cursor 15 (2<strong>01</strong>9), 40-44.<br />
Doch das soll nicht das Thema sein, auch nicht,<br />
wie tierisches Streben nach Symmetrie (Bsp. Bienenwaben)<br />
oder Organisationstalent (Bsp. Ameisen),<br />
menschliche Wahrnehmung auf Basis von<br />
Analogien, Imitation oder Metaphorik beeinflusst<br />
haben. 6 Vielmehr geht es um eine Spurensuche<br />
außerhalb der Spezies Mensch, genauer: wie<br />
menschliche Beobachter*innen das, was nach<br />
unseren Kategorien – und als Menschen haben<br />
wir nur die – schön, hässlich, ponderiert, unausgewogen,<br />
aufeinander abgestimmt und einander<br />
ergänzend oder eben inkompatibel ist – oder<br />
mindestens so häufig: zu sein scheint.<br />
Insekten sind ein vielversprechender Beginn. Gemäß<br />
einer traditionsbildenden Kategorisierung 7<br />
stehen sie am Ende von Plinius‘ mehrbändiger<br />
Zoologie in der Naturalis historia. Am Beginn des<br />
elften Buches macht er deutlich, dass sie für ihn<br />
viel mehr sind als krabbelnde oder schwirrende<br />
Quälgeister, die lediglich der Systematik halber<br />
auch noch einer Behandlung bedürfen: Sie werden<br />
zu einem effektvollen Vehikel, um den Lesern,<br />
die genau das nicht erwarten, sondern die wohlvertraute<br />
Mischung aus Fakten (oder dem, was<br />
Plinius – insbesondere bei Reverenz an und Referenz<br />
auf Autoritäten – dafür hielt) und Wundererzählungen<br />
in immer <strong>neu</strong>er Zusammenstellung,<br />
ihre eigene Beschränktheit vor Augen zu führen.<br />
Der Durchschnittsmensch, so Plinius, hat Interesse<br />
an starken, großen, mächtigen Tieren; die Perfektion<br />
in Lebewesen en miniature übersieht er. 8<br />
Diese Haltung manifestiert sich auch in der Kunst;<br />
denn zumeist sind es stolze Pferde, treue Hunde<br />
oder prächtige Großkatzen, die in Portraits oder<br />
Plastiken verewigt sind. Am berühmtesten (und<br />
berührendsten) ist wahrscheinlich Martials Issa-<br />
Epigramm (1, 109), in dem zunächst die kleine<br />
Hundedame Issa (kolloquial für ipsa) gepriesen<br />
und dann das lebensechte Bild, das ihr Herrchen<br />
von ihr anfertigen hat lassen, präsentiert wird. 9<br />
Sollte einem Kerbtier künstlerische Betrachtung<br />
gelingen, ist es parodistisch, wie im Culex, oder<br />
metaphorisch, wie im Bild der Biene(n) als Begleiterin(nen)<br />
von Dichtern. Eine interessante,<br />
aber erste wenige Jahre alte Ausnahme ist Diane<br />
Middlebrooks Vorstellung von Ovids Fresken in<br />
seiner domus, die Szenen aus den Metamorphosen<br />
zeigen: darunter auch eine klitzekleine Spinne,<br />
das spätere Ich der Arachne. 10<br />
Plinius‘ Plädoyer für den Sinn, den die schöpferische<br />
Natur in Insekten sieht, ist hingegen die<br />
Quelle des für bis Carl von Linné (1707–1778) 11<br />
und weit über ihn hinaus geltenden Leitspruchs<br />
natura nil agit frustra – erwachsen aus dem Wissen,<br />
dass (wenn auch topisch) Autoapologetik<br />
zum Einsatz kommen muss, weil nicht alle Rezipienten<br />
die Wichtigkeit des Gegenstands erkennen<br />
(11, 4: in contemplatione naturae nihil possit<br />
videri supervacuum): Nach zehn Büchern seiner<br />
naturkundlichen Enzyklopädie – darunter eines<br />
zur Anthropologie 12 (Buch 7) und drei weitere zur<br />
Zoologie (Bücher 8–10) – konnte Plinius jedoch<br />
selbstbewusst genug auftreten, war man doch<br />
schon seit seiner Einstufung des Menschen zugleich<br />
als – anachronistisch gesprochen – „Krone<br />
der Schöpfung“ und Mängelwesen daran<br />
gewöhnt, keine eindimensionalen Bilder präsentiert<br />
zu bekommen (7, 1–3 = praef. 7). Wer<br />
Ganzheitlichkeit und Respekt vor „Mutter Natur“<br />
einforderte, Wohlverhalten gegenüber der<br />
schöpfenden Macht, der er am Ende der Naturalis<br />
historia (37, 205) ein hymnisches Gebet widmen<br />
wird, hatte auch das Recht, wenn nicht sogar die<br />
Pflicht, auch über Spezies zu schreiben, die in der<br />
Wertschätzung der Allgemeinheit sowieso, aber<br />
auch mancher Fachvertreter tiefer standen.<br />
Gleichzeitig ist es interessant zu sehen, dass Plinius<br />
in seiner Bewertung nicht selten genau das widerfährt,<br />
vor dem auch Verhaltensforscher*innen und<br />
Kognitionsbiolog*innen unserer Tage zuweilen<br />
nicht gefeit sind: Menschen vermenschlichen gerne.<br />
13 So ist 8, 13–14 die Rede der Liebe von Elefanten<br />
zu Menschen, wobei das Konstatieren von<br />
Interspeziesfreundschaften durchaus legitim, hier<br />
aber nicht gemeint ist (zumindest nicht vorrangig):<br />
9 Verblüffende Lebensnähe ist nicht nur bei Tieren ein<br />
Thema, auch bei Gegenständen und Menschen (cf. den<br />
täuschend echt gemalten Vorhang bei Plinius, NH 35,<br />
64, und die Pygmalion-Episode bei Ovid: Met. 10,<br />
245–289).<br />
10 Diane Middlebrook, Der junge Ovid. Eine unvollendete<br />
Biographie. Mit einem Vorwort von Carl Djerassi und<br />
einem Nachwort von Maurice Biriotti. Aus dem Amerikan.<br />
von Barbara von Bechtolsheim, Salzburg-Wien<br />
2<strong>01</strong>1, 133: Wie im Garten, so hat er auch die Ausstattung<br />
im Inneren selber beaufsichtigt, und besonders<br />
stolz ist er auf sein Speisezimmer mit den Fresken an den<br />
Wänden, die Darstellungen aus seiner geliebten Mythologie<br />
zeigen. An der größten Wand bleibt er stehen. Sie<br />
zeigt den künstlerischen Wettstreit zwischen der Göttin<br />
Minerva und dem trotzigen Mädchen Arachne. Im Mittelteil<br />
sitzen die beiden im Halbprofil einander gegenüber<br />
und arbeiten konzentriert an ihren Webstühlen. Unten<br />
sind die bereits fertigen Teile der Teppiche sichtbar.<br />
Arachnes schreckliches Ende, ihre Verwandlung in eine<br />
Spinne, hat Ovid bei dem Freskenmaler nicht in Auftrag<br />
gegeben. Die Kunst sollte bei der Geschichte im Mittelpunkt<br />
stehen: Sie endet mit den zwei so verschiedenartigen<br />
Tapisserien, die je eine Wand einnehmen. Nur<br />
wenn man genau hinschaut, entdeckt man in den netzförmigen<br />
Ornamenten eine kleine Spinne, die da herabhängt.<br />
11 Cf. Sonja Schreiner, Von Uppsala nach Graz. Linnés<br />
Amoenitates academicae in einer österreichischen Auswahledition,<br />
in: Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis.<br />
Proceedings of the Fourteenth International Congress of<br />
Neo-Latin Studies (Uppsala 2009), general editor: Astrid<br />
Steiner-Weber; editors: Alejandro Coroleu, Domenico de<br />
Filippis, Roger Green, Fidel Rädle, Valery Rees, Dirk<br />
Sacré, Marjorie Woods & Christine Wulf, Leiden-Boston<br />
2<strong>01</strong>2, 965–975.<br />
12 Eine grundlegende Aufbaustudie liefert: Franz Römer, Die<br />
plinianische „Anthropologie“ und der Aufbau der Naturalis<br />
historia, Wiener Studien 96 (1983), 104–108.<br />
13 Dem gegenüber steht das entwickelte Konzept von Mark<br />
Rowlands, der das System „Affe & Mensch“ philosophisch<br />
gegen das von Wolf und Hund führt: The Philosopher<br />
and the Wolf. Lessons from the Wild on Love,<br />
Death and Happiness, London 2008 = Der Philosoph und<br />
der Wolf. Was ein wildes Tier uns lehrt, Berlin 2009.<br />
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Vielmehr wird der Elefant zu einem dem Menschen<br />
nahestehenden, hochintelligenten und –<br />
wie man an einigen Epigrammen Martials (z.B.<br />
spect. 20 = 17 Shackleton Bailey) sehen kann –<br />
panegyrisch idealtypisch auswertbaren Lebewesen.<br />
Solch bewährte und beliebte Motive wurden<br />
genos- und epochenübergreifend immer wieder<br />
aufgegriffen: selbst im Kinderbuch, in antikisierender<br />
Manier 14 und ganz modern. 15 Wenn wir<br />
den Blick wieder auf Plinius lenken, fällt auf, dass<br />
diese hohe Wertigkeit auch Fehleinschätzungen<br />
bedingt: So ist die behauptete Schamhaftigkeit<br />
der Elefanten bei der Paarung (8, 12) nicht zutreffend,<br />
sondern dem Umlegen menschlichen Wohlverhaltens<br />
auf ein in hohem Ansehen stehendes<br />
Säugetier geschuldet.<br />
Im Gegensatz dazu gehört anderes in den Bereich<br />
der auf Autoritätsgläubigkeit fußenden Wundererzählungen,<br />
z.B. die Unterscheidung von reinrassigen<br />
Löwen (8, 42) und Verpaarungen über<br />
Artgrenzen hinweg (8, 43 und 107: mit einer<br />
Hyäne, die, wie 8, 105 nachzulesen ist, auch ihr<br />
Geschlecht zu wechseln imstande sein soll; oder<br />
148, wo erst der dritte Wurf nach einer Paarung<br />
von Hund und Tiger Welpen mit Charakterzügen<br />
ergibt, die für den Menschen brauchbar sind, also<br />
keine Gefahr mehr darstellen). Dass sich dominante<br />
Hündinnen, somit Alphatiere, mit Wölfen<br />
und Tigern lieber paaren als mit Artgenossen,<br />
kennt man aus Grattius‘ fragmentarisch erhaltenem<br />
Lehrgedicht Cynegetica – einem Text, der<br />
abgesehen davon recht brauchbare, aber auch<br />
ethisch verwerfliche Ratschläge zur Hundezucht<br />
14 Ein Kriegselefant wird zum „Lebenstier“ bei Hans<br />
Baumann, Ich zog mit Hannibal, München 32 2<strong>01</strong>6.<br />
15 Besonders eingängig geschildert in den Hunderomanen<br />
einer österreichischen Autorin der 1950-er bis 1980-er-<br />
Jahre; cf. Sonja Schreiner, Vroneli und Ihr bester Freund.<br />
Zwei zu Unrecht vergessene Bücher von Helene Weilen,<br />
libri liberorum 13/40 (2<strong>01</strong>2), 15–22.<br />
16 Mehr zu irreführenden Analogieschlüssen bei Gabriela<br />
Kompatscher Gufler, Franz Römer & Sonja Schreiner:<br />
Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen<br />
der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen<br />
Texten, Wien 2<strong>01</strong>4.<br />
enthält (und den Ovid – allerdings mit deutlicher<br />
Schwerpunktsetzung auf dem jagdlichen Aspekt<br />
– lobt: ex Pont. 4, 16, 34: aptaque venanti Grattius<br />
arma daret). Die naturgegebene Feindschaft<br />
zwischen Hyänen und Löwen dürfte Plinius nicht<br />
bekannt gewesen sein, wiewohl er dem Irrglauben<br />
aufsaß, dass Pferde und Kamele sich nicht<br />
vertragen. 16<br />
Fortpflanzung, auch durch den Menschen gesteuerte,<br />
ist für Plinius generell von Interesse (und<br />
entspricht dem römischen Nutzendenken): 8, 164<br />
behauptet er, Pferdestuten würden nach dem Abschneiden<br />
ihrer Mähne ihre Libido verlieren, was<br />
ihm einen nahtlosen Übergang zur Maultier- und<br />
-eselzucht (ab 171) ermöglicht. Ausgangspunkt<br />
ist die abgeschnittene Mähne an einer weiteren<br />
Stelle (10, 180) noch für Weitreichenderes: Esel<br />
als Paarungspartner werden nur nach dem Verlust<br />
der Haarpracht akzeptiert (comantes enim<br />
gloria superbire): Die sich nicht mehr als attraktiv<br />
empfindende equa ist weniger anspruchsvoll geworden.<br />
Diese Sichtweise hängt mit dem Stichwort<br />
generositas zusammen. Mit Vorliebe schildert<br />
Plinius, welche optischen Kriterien – welche<br />
Zuchtnorm? – Tiere unterschiedlichster Artzugehörigkeit<br />
erfüllen müssen, um edel zu sein: Bei<br />
den Haustieren ist das z.B. das Zuchthuhn, dessen<br />
generositas 10, 156 beschrieben wird. Doch<br />
auch im Bereich der Wildtiere ist es nicht anders:<br />
Dies gilt für den Löwen ebenso, wenn er eine<br />
Mähne hat, die Hals und Schultern bedeckt wie<br />
– zurück im vertrauteren Bereich – für den Stier<br />
(181) oder das Schaf (198). Der Nutzenaspekt<br />
schwingt auch hier immer mit; wie sonst wäre<br />
es zu erklären, dass Hybridkreuzungen nicht nur<br />
bei Maultieren und -eseln besondere Bedeutung<br />
zukommt, sondern auch bei Verpaarungen von<br />
Haus- und Wildschweinen? Besonderheiten beim<br />
Paarungsakt stehen bei Bären (noch in Buch 8)<br />
und dann schon in Buch 9 bei Robben, Hunden,<br />
Schildkröten und Seetieren er<strong>neu</strong>t im Fokus des<br />
Interesses. Hervorzuheben ist insbesondere die<br />
etwas verquere Behauptung, <strong>neu</strong>geborene Bären<br />
seien formlose Fleischklumpen, die von ihrer<br />
Mutter erst in die endgültige Form geleckt, also<br />
erst „schön“ gemacht werden – wenngleich der<br />
Anblick von Bärenjungen und die das Immunsystem<br />
aktivierende Pflege durch das Muttertier<br />
diese Sichtweise nicht gänzlich absurd erscheinen<br />
lassen (8, 126: hi sunt candida informisque<br />
caro, paulo muribus maior, sine oculis, sine pilo.<br />
ungues tantum prominent. hanc lambendo paulatim<br />
figurant):<br />
Doch auch in der Tierfabel treibt das Verhalten,<br />
das sich aus dem Streben nach Schönheit ergibt,<br />
z.T. seltsame Blüten: Am deutlichsten wird dies<br />
in Phaedrus‘ Graculus superbus et pavo, einem<br />
kurzen Text (1, 3 in der Sammlung), in dem sich<br />
eine eitle Dohle als Pfau verkleidet und am Ende<br />
von beiden Gruppen ausgestoßen wird:<br />
Geblieben ist der sprichwörtlich „eitle Pfau“, im<br />
reichen Fundus der Sprichwörter ebenso wie in<br />
der Literaturgeschichte. Aus dem Symboltier der<br />
Juno wurde ein auf seine Optik reduziertes Wesen,<br />
eine Art Gegenentwurf zu Hans Christian<br />
Andersens „hässlichem Entlein“, das sich erst<br />
einer Entwicklung, Entpuppung und Metamorphose<br />
unterziehen muss. Aber auch Plinius kennt<br />
ihn, wenn er 10, 43 über den Zusammenhang<br />
von forma, intellectus und gloria schreibt; recht<br />
ähnlich im übrigen auch bei der Taube 10, 108,<br />
die aufgrund ihres schillernden Gefieders über<br />
gloriae intellectus verfügt. Diese (Sing)vögel charakterisiert<br />
Plinius überdies als treu und schamhaft<br />
(104), während schöner Gesang und Lernfähigkeit<br />
typisch für die Nachtigall sind (81–83).<br />
In zahlreichen locus amoenus-Darstellungen dürfen<br />
(Sing)vögel nicht fehlen; solche idealen Landschaften<br />
konnten künstlich geschaffen werden;<br />
man denke nur an die sogenannte Villa der Livia,<br />
deren Nachbau im Museo Nazionale (inkl. beeindruckender<br />
Lichtspiele, die den Tagesverlauf<br />
simulieren) bestaunt werden kann:<br />
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rom-Villa-Livia.jpg<br />
gemeinfrei: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Villa_di_livia%2C_affreschi_di_giardino%2C_<br />
parete_corta_meridionale_<strong>01</strong>.jpg<br />
Die Sonderstellung des Plinius, die aus dem bisher<br />
Präsentierten deutlich geworden sein dürfte,<br />
erleichtert die Vergleichbarkeit mit anderen Autoren<br />
gleichsam „artverwandter“ Textsorten,<br />
nicht unbedingt – das betrifft Aelians Wundergeschichten<br />
ebenso wie Klassiker der landwirtschaftlichen<br />
Fachliteratur oder des Lehrgedichts.<br />
„Schönheit“ im eigentlichen Sinn ist – bis auf<br />
wenige, vernachlässigbare Ausnahmen; und die<br />
gibt es, weil auch Plinius zuweilen seinen allzu<br />
literarischen Quellen gefolgt ist – immer aus der<br />
menschlichen Sichtweise ein Thema: Ein Pferd<br />
– oder besser: das Pferd, nämlich Alexanders<br />
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Bukephalos ist schön, weil der Makedone es so<br />
empfindet; wie anders nehmen sich da die Pferde<br />
aus, die in der Veterinärmedizin in unterschiedlichsten<br />
Kulturkreisen als optische Lehrbehelfe in<br />
die Fachliteratur (Handschriften wie gedruckte<br />
Werke) Eingang fanden:<br />
https://www.facebook.com/354848418302544/posts/<br />
manchmal-wenn-ich-mich-so-auf-den-seiten-der-sozialennetzwerke-umsehe-erblicke-/369654126821973/<br />
https://www.google.com/search?q=das+fehlerpferd&<br />
client=firefox-b-d&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=<br />
ZaKoXjhLa2yf2M%253A%252C5rcsjUFiX3nVIM%252C_<br />
&vet=1&usg=AI4_-kRxMbV5DT8OIqZHU_j9WYLaT9o_<br />
Tw&sa=X&ved=2ahUKEwjfk56a6_7nAhWFPOwKHVJtAFs-<br />
Q9QEwAHoECAgQBA#imgrc=ZaKoXjhLa2yf2M:<br />
17 Cf. Gunda Mairbäurl, Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch<br />
für Kinder, lili-Sonderheft 2006 = Verborgenes Kulturerbe,<br />
24–32. Gunda Mairbäurl, Die grellste und bunteste<br />
Mischung der Gegenstände. Friedrich Justin Bertuch und<br />
die philanthropische Kinder- und Jugendliteratur in der<br />
Fideikommissbibliothek, lili-Sonderheft 2007 =<br />
Die Ästhetik des Unvollendeten, 80–99.<br />
Doch zurück zu Plinius; gleich im ersten Wort<br />
des siebenten Buches ist im Rückblick auf das<br />
bisher in der Enzyklopädie Abgehandelte von der<br />
Welt (und ihrem „Inhalt“) die Rede. Der terminus<br />
technicus ist mundus, weil das Gesamtgefüge<br />
als „schön“ empfunden wird (mit menschlichen<br />
Augen und typisch römischem Trend zur – oft<br />
falschen – Etymologie). Das, was der Leserschaft<br />
aus Ovids Metamorphosen vertraut ist, nämlich<br />
dass Io nach ihrer Verwandlung selbst als Kuh<br />
noch „schön“ ist (Met. 1, 612: bos quoque formosa<br />
est), ist bei Plinius keine Kategorie. Lediglich<br />
das verwendete Vokabular entstammt – er<br />
schreibt ja in derselben Sprache – zwangsläufig<br />
derselben Wortfamilie (forma, formosus). Genauso<br />
werden wir in der Naturalis historia vergeblich<br />
die Beschreibung eines Stieres suchen, dessen<br />
Schönheit so definiert ist wie diejenige des Göttervaters<br />
Iuppiter im Vorfeld der Entführung Europas:<br />
Denn wie charakterisiert Ovid diesen unvergleichlichen<br />
Stier: als dermaßen ansprechend<br />
für die tierliebende Königstochter, dass sie seinen<br />
geschickten Avancen, deren wahre Absicht sie<br />
nicht erkennen kann, nicht widersteht (Met. 2,<br />
850–872). Doch auch das Gegenteil finden wir<br />
bei Plinius nicht, ohne es in seiner naturwissenschaftlichen<br />
Darstellung zu vermissen: Die deformes<br />
phocae aus Ovids Sintflutschilderung (Met.<br />
1, 300) haben bei ihm nichts verloren, dienen sie<br />
doch auch im augusteischen Epos zum einen als<br />
eine Art Illustration in Worten und zum anderen<br />
als Abgrenzung von den graciles capellae, deren<br />
Habitat die Robben in dieser verkehrten Welt<br />
erobert haben. Symmetrie und Asymmetrie in<br />
unserem Sinn (oder im dichterischen Verständnis<br />
gemäß dem Prinzip ut pictura poesis) sind keine<br />
naturwissenschaftlichen Parameter, sie sind nicht<br />
objektiv. Nur im hochentwickelten Kinderbuch<br />
haben sie Platz, z.B. bei Friedrich Justin Bertuch<br />
(1747–1822), der neben vielen wissenschaftlichen<br />
Details, die es erforderlich machten, sein<br />
Bilderbuch für Kinder mit einem Hauslehrer oder<br />
einer Nanny zu lesen, durchaus auch Kategorien<br />
hat wie „Schöne Vögel“. 17 Erwachsene Leserinnen<br />
und Leser erwarten striktere, wissenschaftlichere<br />
Einteilungen, solche, die dem, was die<br />
Natur geschaffen hat, den gebührenden Respekt<br />
zollen. Doch vermittelt Schönheit überhaupt Respekt?<br />
Zumeist – zumindest kann man das Plinius‘<br />
Darstellung entnehmen – wird sie zum Nachteil:<br />
Menschen graben nach Bodenschätzen wie Gold<br />
und Silber und „vergewaltigen“ damit den Planeten<br />
(ein beherrschendes Thema in NH 33, 1–3).<br />
Menschen züchten Perlen und frönen dem Luxus.<br />
Was schon eher zutrifft, ist, dass vermeintlich<br />
„Unschönes“ Verachtung und diese „Bewertung“<br />
folgenschwere „Abwertung“ nach sich zieht: Die<br />
obgenannten Insekten sind ein gutes Beispiel dafür.<br />
Und was hätte der „Durchschnittsrömer“ wohl<br />
zu dem hier gesagt?<br />
Im 21. Jahrhundert angekommen, durfte dieser<br />
Kater allerdings ein gutes Leben führen – dank<br />
eines ambitionierten Tierarztes, der bereits dem<br />
Welpen eine Chance gab. Er wurde alt und hatte<br />
zwei Namen, Frank und Louie. Das Krankheitsbild<br />
heißt „Ianus-Syndrom“ – für jemand, der in<br />
der antiken Götterwelt heimisch ist, nicht unpassend.<br />
18<br />
Bemerkenswert ist überdies Plinius‘ wenn auch<br />
vorsichtige, aber erkennbare wiederholte Abgrenzung<br />
von Aristoteles: Folgenschwere Fehleinschätzungen<br />
wie die vom griechischen Naturphilosophen<br />
konstatierte mangelnde Intelligenz von<br />
Herdentieren, insbesondere von Schafen, 19 finden<br />
sich bei Plinius nicht, hatte er doch in seinem Umfeld<br />
immer wieder die Möglichkeit, auf Basis von<br />
Naturbeobachtung, von Autopsie im besten Sinn,<br />
zu erkennen, was Herdentrieb u.dgl.m. wirklich<br />
bedeutet. Als kritischer Zeitbeobachter und Liebhaber<br />
der Natur prangert er vielmehr Auswüchse<br />
an: z.B. eingefärbte Schafe, damit anspruchsvolle<br />
Kunden am lebenden Objekt sehen könne, wie<br />
der daraus zu <strong>web</strong>ende Stoff für Toga oder Palla<br />
wirken wird (8, 197). Wer nun der Meinung<br />
ist, dass es zumindest diesen dekadenten Trend<br />
nicht mehr gibt, der irrt: Einem „Modetrend“ aus<br />
dem asiatischen Raum folgend, werden Hunde<br />
als Tiger, Pandas etc. frisiert und gefärbt; von<br />
Qualzuchten, die brachyzephale „Schönheit“ auf<br />
Basis des Kindchenschemas bei Hunden und bei<br />
Katzen nach sich ziehen, gar nicht zu reden. Unweigerlich<br />
fühlt man sich an Properz erinnert: 4, 8<br />
fährt seine Freundin Cynthia mit einem unmännlich<br />
depilierten Beau in einem seidenbespannten<br />
Wägelchen, worüber er lieber schweigen möchte<br />
(v. 23: serica nam taceo vulsi carpenta nepotis),<br />
und noch dazu geschniegelten Ponys über Land<br />
(v. 15: huc mea detonsis avecta est Cynthia mannis),<br />
überdies begleitet von riesenhaften Molossern,<br />
die als Schoßhündchen „gestylt“ sind (v. 24:<br />
atque armillatos colla Molossa canis).<br />
Wenn Plinius von „Schönheit“ spricht, ist dies<br />
ein moralischer Wert – oft in untrennbarer Verbindung<br />
mit Ethos, aber auch mit sehr pragmatischem<br />
Nutzendenken: Ein schönes (!) Beispiel<br />
ist das Gnadenbrot für alte Jagdhunde, die, auch<br />
wenn sie nicht mehr sehen oder laufen können,<br />
immer noch mit Nasenarbeit dienlich sind. Bei<br />
genauer Lektüre sind es die Hunde, die die Führungsrolle<br />
übernehmen auf der Jagd. Und gleich<br />
einleitend (8, 142) heißt es, dass Hund und Pferd –<br />
denen mit 8, 142–166 ein auffällig langer Abschnitt<br />
gewidmet ist – die treuesten Begleiter sind<br />
(fidelissimumque ante omnia homini canes atque<br />
equus). Mit dieser Dankbarkeit für alte Wegbegleiter<br />
mutiert Plinius gleichsam zu einem Anti-<br />
Cato. D.h. er wendet sich von Überlegungen des<br />
Alten Cato ab, der explizite Ratschläge erteilte,<br />
wann alte und schwache und kranke Sklaven verkauft<br />
werden sollten, damit man nicht nur noch<br />
Kosten, aber keinerlei Nutzen mehr habe. In anderen<br />
Worten: Plinius steht wiederholt für eine<br />
positive Bewertung schönen, löblichen, ethisch<br />
richtigen und wertvollen Verhaltens. Er sensibilisiert<br />
für echte (und gleichzeitig verborgene)<br />
Schönheit. Dazu passt, dass er festhält, dass auch<br />
viele von den Tieren, quae nobiscum degunt, cognitu<br />
humano digna sunt (8, 142). Bei den Wildtieren<br />
ist der Delphin vielleicht das aussagekräftigste<br />
Beispiel für diese untypische Grundhaltung:<br />
Plinius‘ Delphine sind keine lieben „Flipper“, sie<br />
sehen aus wie Meeresmonster – wie ein missglückter<br />
Clon aus Wels und Saurier, der zudem an<br />
Morbus Basedow leidet (9, 20–34):<br />
18 Generell ist festzuhalten, dass in solch speziellen Zusammenhängen<br />
die antike Mythologie als gelehrter Fundus<br />
nie aus der Mode kam.<br />
19 Detailliert bei: Martin M. Meyer, Aristoteles über Anzeichen<br />
tierischer Klugheit, in: Antike Naturwissenschaft<br />
und ihre Rezeption 27 (hg. von Jochen Althoff, Sabine<br />
Föllinger & Georg Wöhrle), Trier 2<strong>01</strong>7, 141–162.<br />
20 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
21
Seine Schönheit liegt in den inneren Werten,<br />
seiner Beziehung zum Menschen, zur Musik und<br />
insbesondere zu seinen Artgenossen. Diese Familienbande<br />
und Mutterliebe sind wichtige Themen<br />
in der Naturalis historia, die immer wiederkehren:<br />
besonders am Beispiel von Affen, die ihre Jungtiere<br />
voller Stolz präsentieren (8, 216).<br />
Plinius, als früher Vorläufer von Ökologie, von<br />
Naturschutz, von einer ganzheitlichen Sicht auf<br />
die Natur, von Respekt für das, was später Evolution<br />
genannt wurde, war bestrebt, die facettenreiche<br />
Vielfalt der Schönheiten, die die Natur<br />
zu bieten hat, so farbenprächtig zu zeichnen,<br />
wie es ihm eben möglich war und damit seinen<br />
Rezipient*innen die Augen zu öffnen für das, worum<br />
es eigentlich geht: Solipsismus und Selbstzentriertheit<br />
hat mit Schönheit wenig gemein;<br />
diese Haltung bringt die Welt aus dem Gleichgewicht,<br />
sie zerstört die Symmetrie. Nicht zufällig<br />
bezeichnet er 7, 3 den Menschen als weinendes<br />
Lebewesen, das (trotzdem) allen anderen gebieten<br />
wird – und will (flens animal ceteris imperaturum).<br />
Würde Plinius, der altruistische Flottenadmiral<br />
und Naturforscher, heute leben, wäre er bei den<br />
Fridays for Future dabei und wahrscheinlich auch<br />
bei den Exstinction Rebels. Greta Thunberg würde<br />
er schätzen, ja, er würde sie verteidigen gegen<br />
all die untergriffige Kritik, der sie ausgesetzt ist<br />
– weil sie recht hat. Und Jane Goodall hätte ihn<br />
längst zu einem ihrer Ehrenbotschafter ernannt –<br />
bevor es nämlich zu spät ist, denn es gibt keinen<br />
Planeten B.<br />
Zukunft Antike:<br />
Latein und Griechisch<br />
in der digitalen Welt<br />
Einladung<br />
Leider<br />
abgesagt!<br />
BUNDESKONGRESS<br />
DES DEUTSCHEN<br />
ALTPHILOLOGEN<br />
VERBANDES<br />
<strong>2020</strong><br />
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14.– 18. April <strong>2020</strong> | Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Auf der Jagd nach Bildern.<br />
Tiermotive im Alten Museum Berlin<br />
– Von Josef Rabl –<br />
Sind Tiere immer<br />
realistisch und<br />
wirklichkeitsgetreu<br />
dargestellt?<br />
Welche Tierart begegnet<br />
dem Besucher am häufigsten?<br />
Sind es Pferde, Löwen, Eulen,<br />
Delphine, Haustiere, Adler,<br />
Schlangen oder Mischwesen?<br />
Welche Werte helfen<br />
Tiere zu repräsentieren:<br />
Sieg, Kraft, Macht,<br />
Religiosität, Schutz?<br />
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25
Wo fungiert ein Tier<br />
als Begleiter eines<br />
Gottes oder<br />
einer Göttin?<br />
Welche Tiere sind<br />
beim Besuch im<br />
Antikenmuseum<br />
eigentlich zu erwarten?<br />
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27
Auf welchen Oberflächen/<br />
Materialien lassen sich Tiere<br />
finden? Sind es Vasen,<br />
Statuen, Reliefs, Mosaiken,<br />
Münzen, Porträts,<br />
Grabsteine, Sarkophage?<br />
28 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
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29
Wofür stehen<br />
Tierbilder<br />
auf Münzen?<br />
Wer ist bei einem Tiermotiv<br />
mit dabei? Sind es Götter,<br />
Menschen, Heldengestalten<br />
oder andere?<br />
Alle Fotos: privat ...<br />
30 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
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31
Stichwort »Idee«<br />
Die Ideen, die wir einfach so „haben“,<br />
sind ein flatterhaftes Völkchen, und<br />
der Sprachgebrauch bezeugt es: Sie<br />
kommen uns – wer weiss, woher? – ,<br />
sie fallen uns ein, und dann haben wir<br />
sie und können schauen, was sie taugen. Von den<br />
Ideen dieser Art, wie sie alljährlich vor dem Fest<br />
als „Geschenk-Ideen“ in den Einkaufsmeilen ausschwärmen,<br />
gibt es vielerlei: gute und schlechte,<br />
Glanzideen und Schnapsideen, tolle und total verrückte.<br />
Die besten, so scheint es, sind die originellen,<br />
die „ursprünglichen“, die sonst noch keiner<br />
hatte.<br />
Aber wie „ursprünglich“ auch immer: Vom Ursprung<br />
des Wortes sind alle diese Ideen eine<br />
lange Wortgeschichte weit entfernt. Am Anfang<br />
steht da eine griechische idéa, ein Spross der<br />
Wurzel vid-, „sehen“, der erstmals im 5. Jahrhundert<br />
v. Chr. erscheint und zunächst das „Aussehen“<br />
zumal eines schönen Menschen bezeichnet.<br />
So preist Pindar einen jungen Olympiasieger im<br />
Faustkampf als „in seiner idéa – von Angesicht –<br />
schön“; so rühmt Sokrates in Platons „Charmides“<br />
die hinreissende idéa des schönen Titelknaben;<br />
so beschreibt noch Matthäus Jahrhunderte<br />
später die Erscheinung des Engels vor dem leeren<br />
Grab Jesu: „Seine idéa war wie ein Blitz und sein<br />
Gewand weiss wie Schnee.“<br />
In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.<br />
hat Platon diese idéa von der leiblichen Sicht auf<br />
die geistige Sicht übertragen und mit seiner „Ideenlehre“<br />
das Wort in die höchsten Sphären der<br />
Philosophie aufsteigen lassen. Da steht hinter all<br />
den vielen mehr oder weniger kreisrunden Kreidekreisen<br />
die eine „Idee“ des Kreises, das eine<br />
Urbild des Kreises, das keinen noch so schmalen<br />
Kreidestrich breit ist, keine Grösse und keine<br />
– Von Klaus Bartels –<br />
Farbe hat und einzig mit dem geistigen Auge zu<br />
schauen ist.<br />
Und entsprechend steht da hinter all den vielerlei<br />
mehr oder weniger gerechten Handlungen und<br />
Ordnungen die eine „Idee“ der Gerechtigkeit,<br />
das eine Urbild der Gerechtigkeit, das kein besonderes<br />
Hier und Jetzt hat und wiederum einzig<br />
mit dem Auge des Geistes zu schauen ist. In der<br />
Philosophiegeschichte hat Platons „Ideenlehre“<br />
keine Fortsetzung gefunden. Aber in der Wortgeschichte<br />
hat sie der idéa den Weg von der<br />
leiblichen Schönheit zu den geistigen Werten und<br />
überhaupt zu den inneren Sichten gewiesen. Im<br />
klassischen Latein ist eine idea nicht heimisch<br />
geworden. Aber in der Neuzeit, im 17. und 18.<br />
Jahrhundert, hat das altgriechische Wort im <strong>neu</strong>sprachlichen<br />
Euro-Wortschatz wieder ein weitgefächertes<br />
Bedeutungsspektrum gefunden. In der<br />
Freiheits-Idee und mancherlei anderen solchen<br />
Werte-Ideen wie der Olympischen Idee oder der<br />
jungen Europa-Idee hat das Wort seinen von Platon<br />
her angestammten geistigen Rang bewahrt.<br />
Im Alphabet des „Grossen Duden“ reicht die lange<br />
Reihe der Ableitungen und Komposita von der<br />
„Idealbesetzung“ bis zu einem „Ideenwettbewerb“.<br />
Womit wir wieder bei jenen flatterhaften<br />
Ideen wären, die uns in dem einen Augenblick<br />
einfallen und im nächsten vielleicht schon wieder<br />
verworfen werden. Kann ein Wort tiefer abstürzen<br />
als von Platons „Idee des Guten“ bis zu der<br />
Idee, am Abend mal wieder ins Kino zu gehen? Es<br />
kann: bis zu der Mini-„Idee“, diesem Fast-Nichts,<br />
um das eine Hose zu lang oder zu kurz, eine Suppe<br />
zu stark oder zu schwach gesalzen ist. Warum<br />
die wohl so heisst?<br />
Der Bürger zwischen zwei<br />
Lebensmodellen.<br />
Vortrag beim Festakt der Bürgerehrung einer Stadt<br />
– Von Friedrich Maier –<br />
Wenn man jemandem zuruft „Genieße<br />
den Tag, genieße diese<br />
Stunden!“ (Carpe diem!), so<br />
nimmt er gewiss diesen Appell<br />
mit Freude entgegen. Weiß<br />
er aber auch, dass dieser Zuruf vor etwa zweieinhalb<br />
Jahrtausenden der Leitspruch einer Philosophie,<br />
eines philosophischen Lebensmodells<br />
gewesen ist? Deren oberster Grundsatz hieß:<br />
„Lebe im Verborgenen!“ Ziehe dich zurück in<br />
dein Haus, deinen Garten, hinter den Zaun aus<br />
Hecken, Brettern oder Steinen! Lebe dort für dich,<br />
im Kreis deiner Freunde! Kümmere dich nicht,<br />
was außerhalb dieses engen Zirkels in der großen<br />
Gesellschaft geschieht! Nicht dort, sondern hier<br />
erfüllt sich dein Glück, in der Intimität des eigenen<br />
Gartens, in dem die Lust (gr. hedoné) das höchste<br />
Lebensziel ist. Begründer dieser philosophischen<br />
Lebensform war ein gewisser Epikur. Über dem<br />
Eingang des sog. epikureischen Gartens stand geschrieben:<br />
„Fremder, hier wirst du gut verweilen,<br />
hier ist die Lust das höchste Gut.“ Solche Lustlehre,<br />
solcher „Hedonismus“ ist das Programm<br />
eines völlig apolitischen Lebens. „Man muss sich<br />
aus dem Gefängnis der Geschäfte und der Politik<br />
befreien.“ Ein Lebensauftrag, der jedes politische<br />
Engagement, jede Verantwortung für das Ganze<br />
ausschließt, der auch jeden Ehrendienst für die<br />
Gemeinschaft verbietet.<br />
Wie konnte eine solche apolitische Einstellung zur<br />
programmatischen Vorgabe einer ganzen Philosophie,<br />
der sog. „Gartenphilosophie“ werden?<br />
Und das in Athen? In jener Stadt, in der etwa 100<br />
Jahre vorher der größte Staatsmann der Antike,<br />
Perikles, die erste Demokratie auf Erden begründet<br />
hat? Wo durch Wahl alle vollwertigen Bürger<br />
in die Volksversammlung, in das „Parlament“ zur<br />
politischen Pflichterfüllung berufen wurden, wo<br />
für nahezu alle Formen von Kunst und Wissenschaft<br />
der Grundstein gelegt worden ist, wo geradezu<br />
die „Hochburg“ der europäischen Kultur<br />
entstand, eben jene Akropolis, die heute allen als<br />
Wahrzeichen der Stadt stets vor Augen steht. Diese<br />
„Hoch-Burg“ (Akropolis) erhebt sich mächtig<br />
über der Polis, in der sich der „polites“, der „Bürger“,<br />
als staatsgestaltende Größe etabliert hat,<br />
auch in politischer Verantwortung für einander.<br />
Sokrates etwa, der erste Philosoph Europas, stellte<br />
sich – ärmlich gekleidet – ganz in den Dienst<br />
der Gemeinschaft, in dem er der Jugend Athens<br />
angesichts einer zerfallenden öffentlichen Moral<br />
die Werte der Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit,<br />
der Frommheit und Mäßigung ins Herz zu pflanzen<br />
versuchte. Glück, so Sokrates, bestehe für ihn<br />
darin, nach Maßgabe des eigenen Gewissens das<br />
Gute zu tun.<br />
Doch das demokratische Athen hatte nicht lange<br />
Bestand. Es kam zum großen Krieg gegen den<br />
Militärstaat Sparta. Die Pest brach aus, der auch<br />
Perikles, „der erste Mann der Polis“, zum Opfer<br />
fiel. Zuvor hat er noch eine Rede gehalten, die<br />
man heute als das Hohe Lied auf die Demokratie<br />
nahezu in allen Geschichtsbüchern Europas<br />
abgedruckt findet. Darin stehen etwa Sätze wie:<br />
„Wir leben in einer Staatsverfassung, deren Namen<br />
Demokratie ist. … Vor dem Gesetz sind alle<br />
Bürger gleich. Das Ansehen des Bürgers richtet<br />
sich nicht nach Stand, sondern nach seiner per-<br />
32 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
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sönlichen Leistung für den Staat. Auch den Armen<br />
ist der Weg zu solcher Leistung nicht versperrt.<br />
Denn in unserem Staatswesen herrschen<br />
Freiheit und Gleichheit.“<br />
Mit Perikles‘ Tod trug man auch die Demokratie<br />
zu Grabe. Die Balance zwischen Freiheit und<br />
Gleichheit wurde zuschanden gemacht, durch<br />
Autokraten, deren Machtrausch, deren narzisstische,<br />
massenbetörende Selbstinszenierung,<br />
deren rhetorische Aggressivität allen Gemeinschaftssinn<br />
rücksichtslos zerstörte – und damit<br />
Athen in den Abgrund stürzte. Die Stadt verlor<br />
den Krieg, wurde von 30 Tyrannen beherrscht. In<br />
diesen chaotischen Wirren, in diesem Kampf der<br />
Demokraten gegen die Tyrannen wurde Sokrates<br />
wegen oder trotz seines politischen Engagements<br />
angeklagt und hingerichtet. Die Demokratie hatte<br />
als Staatsmodell versagt. Athen lag im politischen<br />
Chaos. Es wurde zum „Schlachtfeld“ der Philosophen:<br />
Platon und Aristoteles, die Leuchttürme<br />
der europäischen Philosophie, sowie Epikur und<br />
die Stoa. Worum ging es? Vordringlich um das<br />
Verhältnis der Bürger zum Staat.<br />
Der Philosoph Platon, Sokrates‘ größter Schüler,<br />
nennt die Demokratie „einen buntscheckigen<br />
Hund“, „eine Krankheit“. Sie bringe den Bürgern<br />
kein Glück. Dieses Urteil versenkte die Staatsform<br />
der Demokratie für mehr als zwei Jahrtausende<br />
in den Untergrund der Geschichte. In dieser Zeit<br />
der völligen politischen Verunsicherung in Athen<br />
entstand jene „Gartenphilosophie“ des Epikur.<br />
Politische Arbeit wurde den Bürgern zu einem<br />
Gräuel, der Begriff „Politik“ war offensichtlich<br />
zu einem Unwort geworden. Aristoteles, Platons<br />
Schüler, versuchte grundsätzlich die „Politik“<br />
wieder auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.<br />
Staat ist für ihn die sog. „Politie“, „das Bürgersein“<br />
schlechthin. Eine solche „Politie“ ist ohne<br />
verantwortungsbewusste Politiker hoffnungslos<br />
verloren. Seine immer wieder zitierte Maxime:<br />
„Der Mensch ist von Natur ein Gemeinschaftswesen.“<br />
Es verwundert deshalb nicht, dass sich gegen<br />
den Epikureismus damals fast gleichzeitig und in<br />
voller Absicht ein philosophisches Gegenmodell<br />
entwickelte. Die Philosophie der Stoa, begründet<br />
von Zenon. Ihr oberstes Prinzip, ihr Motto konnte<br />
gegensätzlicher nicht sein. Es lautet:„Der Mensch<br />
ist nicht für sich allein geboren.“ Der Schwerpunkt<br />
ist hier auf den Anderen, auf die Anderen<br />
in der Bürgerschaft gerichtet. Stoischer Altruismus<br />
stellte sich bewusst gegen den Egoismus der<br />
Epikuräer. Das bedingt den Einsatz für die Gemeinschaft.<br />
Das politische Engagement wird zur<br />
programmatischen Vorgabe dieser Lebensform.<br />
Nicht in der Verborgenheit des Gartens findet<br />
der Mensch sein Glück, sondern in der großen<br />
Polis, im Einsatz für die Bürgerschaft. Diese Gemeinschaft<br />
ist nicht nur der eine Staat, in dem<br />
man lebt, sondern die ganze Welt. Die Stoiker<br />
sind die ersten Kosmopoliten, sie sind „Weltenbürger“.<br />
Die Grenzen der eigenen Nation werden<br />
überschritten. Fremde gibt es demnach nicht. Die<br />
Bürger sind alle gleich, sie sind Brüder. Auch die<br />
Sklaven, auch die, die am Rande der Gesellschaft<br />
leben. Die Stoiker haben nach heutiger Erkenntnis<br />
„die ideellen Grundlagen für die allgemeinen<br />
Menschenrechte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit<br />
gelegt“. So ein Rechtshistoriker.<br />
Der Philosoph Seneca, Roms größter Vertreter der<br />
Stoa, war beim Anblick der Gladiatoren im Kolosseum<br />
von Rom, deren Leben bei einer Niederlage<br />
vom „Daumen rauf“ oder „Daumen runter“ des<br />
Kaisers abhing, völlig entrüstet und prägte den<br />
über alle Zeiten hin gültigen und großartigen<br />
Satz: Homo homini res sacra. „Der Mensch ist<br />
dem Menschen etwas Heiliges“. Man muss jeden<br />
Menschen schätzen, behüten, retten, ihn als ein<br />
unantastbares und wertvolles Wesen respektieren,<br />
ihn in seiner Würde achten. Heute ist man<br />
überzeugt, dass Seneca mit dem Ideengut des Urchristentums<br />
vertraut gewesen ist, dass sich also<br />
in seiner Haltung stoisches und christliches Denken<br />
vereinigen, wie es etwa in den Worten des<br />
Apostels Paulus zum Ausdruck kommt: „Hier ist<br />
kein Jude noch Grieche, hier ist kein Sklave noch<br />
Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid<br />
allzumal einer in Christo Jesu.“ (Gal. 3, 28)<br />
Die Historiker stimmen überein und in allen Philosophiegeschichten<br />
steht es geschrieben: Die<br />
völlig gegensätzlichen Lebensmodelle, die sog.<br />
„Glücksmodelle“ Epikurs und der Stoa haben<br />
sich über die Jahrtausende hin bis in unser heutiges<br />
Bürgerleben erhalten und durchgesetzt.<br />
Jeder Staat, jede Stadt lebt und leidet unter der<br />
Spannung zwischen diesen beiden Lebensmodellen.<br />
Das ist das Dilemma unserer heutigen Gesellschaft<br />
schlechthin, es ist der Urgrund aller gesellschaftlichen<br />
Spaltung. Epikureer und Stoiker<br />
seien, so sagt man, Antipoden, „Gegenfüßler“.<br />
Unverhohlene Egomanie steht gegen couragierten<br />
Gemeinschaftssinn.<br />
Da sind auf der einen Seite die Bürger, die selbstbezogen<br />
auf die Wahrung ihres Besitzstandes,<br />
auf ihr Glück in der intimen Abgeschiedenheit<br />
ihres Gartens bedacht sind, die sich gegen alle<br />
Bedrängnisse von außen abschotten, die keinen<br />
Drang in sich verspüren nach politischer Verantwortung,<br />
nach einem sozialen Dienst für Andere,<br />
ob sie nun Mitbürger oder Fremde in Not sind,<br />
denen sie an den Grenzen ihres Landes hohe<br />
Mauern oder erhöhte Kontrollen entgegenstellen,<br />
real oder in ihrer Gesinnung. Unverkennbar ihr<br />
Lebensmotto: „Lebe im Verborgenen!“<br />
Da sind auf der anderen Seite die Bürger, denen<br />
jeder Mensch etwas Heiliges ist, die sich engagieren<br />
in politischen Ämtern, im Sozialdienst, im<br />
Einsatz innerhalb der Kirchen, bei Feuerwehr und<br />
Krankenpflege, in der Alten- und Flüchtlingsbetreuung,<br />
für die Integration von Fremden, für den<br />
Schutz der Umwelt, für die Armen in rückständigen<br />
Ländern der Welt, aber auch für das Kulturleben,<br />
die Schönheit, die Sauberkeit und die<br />
Harmonie ihrer Heimat, ihrer Bürgerschaft, ihrer<br />
Stadt. Ihr ehernes Gesetz lautet unverkennbar:<br />
„Der Mensch ist nicht für sich allein geboren.“<br />
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Kaum etwas kann das Extrem dieser Gegensätze<br />
klarer vor Augen führen als zwei Bilder von heute.<br />
Auf der einen Seite das Mauerbild des Straßenmalers<br />
Pascal Dihé von 2008: es zeigt ein von<br />
dunklen schulterlangen Haaren bedecktes Gesicht,<br />
mit starr glotzenden Augen und einem breiten<br />
Mund, den die sich weit herausschiebende<br />
Zunge genüsslich nach oben abschleckt, mit dem<br />
Kommentar in Großbuchstaben daneben: „Welch<br />
ein feiner Epikureismus!“<br />
Auf der anderen Seite das Foto (Demo von Fridays<br />
for Future in Stockholm) zumal von jungen<br />
Menschen, die freudig lachend nach oben schauen<br />
auf die bunte Weltkugel, die sie gemeinsam<br />
schützend in Händen halten. Garten-Mentalität<br />
gegen Globus-Begeisterung. Was für ein frappierender<br />
Kontrast! Auf der einen Seite der Ausdruck<br />
einer eigensüchtigen Wohlbefindlichkeit im Jetzt<br />
– auf der anderen Seite der Ausdruck eines weltoffenen<br />
Gemeinschaftssinns in Rücksicht auf die<br />
Zukunft. Der Bürger zwischen zwei Lebensmodellen.<br />
Das ist die Diagnose der Gesellschaft heute,<br />
kaum anders als vor zweieinhalbtausend Jahren.<br />
Perikles, der große Staatsmann, der die erste<br />
Demokratie begründete, hat uns das Wort hinterlassen:<br />
„Wer an den Dingen der Stadt keinen<br />
Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter<br />
Bürger.“ Wer sich jedoch dafür engagiere, der<br />
stehe in hohen Ehren. Warum sollte das nicht<br />
auch heute gelten? Der Dienst von Bürgern für<br />
die Gemeinschaft ist ehrenhaft, ist anzuerkennen<br />
als Akt der Menschlichkeit, als Achtung der Menschenrechte,<br />
als Ausdruck politischer Verantwortung.<br />
Ihr Dienst ist zu allen Zeiten verdienstvoll.<br />
2. Wettbewerb der<br />
Griechischen Botschaft,<br />
Berlin <strong>2020</strong><br />
– Von Aglaia Rachel-Tsakona –<br />
Ein Wettbewerb der Griechischen Botschaft<br />
für Schülerinnen und Schüler an<br />
allen Schulen in Berlin, Brandenburg,<br />
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,<br />
Sachsen und Thüringen, die am<br />
Fach Altgriechisch teilnehmen.<br />
„Das antike Griechenland und Hölderlin“<br />
<strong>2020</strong> wollen wir mit unserem Altgriechisch-Wettbewerb<br />
Hölderlins 250. Geburtstag mitfeiern. Für<br />
das ausgehende 18. Jahrhundert war das antike<br />
Griechenland ein Kulturideal, mit dem Hölderlin<br />
sich wie kein anderer identifizierte. Diese Aneignung<br />
machte er zur systematischen Aufgabe seiner<br />
Dichtung.<br />
Ihre Aufgabe besteht darin, sich als Gruppe auf<br />
die Spuren Hölderlins und der Antike zu begeben<br />
und ihr Arbeitsergebnis in Form eines Textes,<br />
Films, Bildes oder eines Plakats darzustellen.<br />
Teilnahmerecht sind alle Schüller/innen-Gruppen<br />
der altsprachlichen Gymnasien ab der 8. Klasse in<br />
Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,<br />
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, die in<br />
Altgriechisch unterrichtet werden.<br />
Athens, Olympeion Temple Of Olympian Zeus, 2651 ©photo: Y. Skoulas<br />
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Die Griechischlehrerinnen und -lehrer sind<br />
bei der Themenfindung gerne behilflich.<br />
Auch bei der Präsentationsform steht eine<br />
Fülle an Möglichkeiten offen. Denkbar sind<br />
eine Bildergeschichte, ein Hörspiel, ein Kurzfilm,<br />
ein Gemälde, eine Zeichnung, ein Gedicht<br />
oder ein Lied - das, womit Sie meinen,<br />
dass es die größte Wirkung auf junge Leute<br />
haben könnte.<br />
Prämierung:<br />
Der Preis der Gruppenarbeit (2–4 Schüler/<br />
innen) mit 1–2 begleitenden Lehrer/innen<br />
beinhaltet für alle jeweils einen Hin- und<br />
Rückflug von Berlin nach Athen oder Kreta<br />
und 3 Übernachtungen mit Frühstück und<br />
Halbpension in einem 4-Sterne Hotel sowie<br />
freien Eintritt in Museen und Archäologische<br />
Stätten. Weitere Kosten wie Transport usw.<br />
werden die Preisträger selber tragen müssen.<br />
Die Reise muss in der Zeit vom 05.10.20 bis<br />
30.10.20 (also während der Herbstferien des<br />
nächsten Schuljahres) stattfinden. Bis zum<br />
10.6.20 (Tag der Preisverleihung) sollen die<br />
teilnehmenden Personen und der Zeitraum<br />
festgelegt werden. Diese Reise wird von der<br />
Griechischen Zentrale für Fremdenverkehr<br />
gesponsert (www.visitgreece.gr).<br />
Für die Bewertung durch die Jury erwarten<br />
wir zunächst eine digitale Version der Arbeit<br />
(als pdf-Datei, Photos: jpeg, Video: mpeg4,<br />
Musik: mp3 oder youtube link oder in einem<br />
gängigen Bildformat. Bei einer größeren Datei<br />
als 6 MB senden Sie diese mit wetransfer.<br />
com).<br />
Kriterien für die Preiswürdigkeit:<br />
● Originalität des Beitrags<br />
● Eigenständigkeit der eingesandten Arbeit<br />
● Inhaltliche Überzeugungskraft<br />
● Visuelle Eindringlichkeit<br />
● Komprimiertheit und Vielschichtigkeit<br />
der Darstellung<br />
● Akzentuierung der Themenstellung<br />
● Professionalität der Ausführung<br />
● Verständlichkeit<br />
● Unterhaltsamkeit<br />
Teilnahmeberechtigte:<br />
Alle Schülerinnen und Schüler der altsprachlichen<br />
Gymnasien in Gruppengröße ab der 8.<br />
Klasse in den Ländern Berlin, Brandenburg,<br />
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt,<br />
Sachsen und Thüringen, die in Altgriechisch<br />
unterrichtet werden.<br />
Teilnahmemeldung:<br />
Bis zum 28. Februar <strong>2020</strong> an<br />
Frau Aglaia Rachel-Tsakona,<br />
Griechische Botschaft,<br />
Kurfürstendamm 185, 10707 Berlin.<br />
E-Mail: kultur@griechische-botschaft.de<br />
Einsendeschluss:<br />
Freitag, der 12. Mai <strong>2020</strong><br />
an die oben genannte Mailadresse.<br />
Jede Einsendung muss folgende<br />
Angaben enthalten:<br />
a. Name und Anschrift der Schule<br />
b. Bezeichnung der Lerngruppe/ Klasse und<br />
Angabe des Lernjahres.<br />
c. Liste der beteiligten Schülerinnen und<br />
Schüler (Gruppe von 2–4 Schüler/innen),<br />
Vorname und Name.<br />
d. Name der betreuenden Lehrkraft.<br />
Preisverleihung:<br />
Montag, der 10. Juni <strong>2020</strong>.<br />
Der Ort wird rechtzeitig bekannt gegeben.<br />
Die Jury behält sich eine Veröffentlichung<br />
eingesandter Schülerarbeiten vor. Die Bewertung<br />
der eingereichten Werke erfolgt<br />
durch unsere Juroren. Sie sind alle gleichermaßen<br />
stimmberechtigt. Das ausgezeichnete<br />
Werk wird veröffentlicht.<br />
Fragen zum Wettbewerb beantwortet:<br />
Frau Aglaia Rachel-Tsakona,<br />
Kulturattachée<br />
Griechische Botschaft<br />
Kurfürstendamm 185<br />
10707 Berlin.<br />
E-Mail: kultur@griechische-botschaft.de<br />
Attica, Sounio, Temple Of Poseidon, <strong>01</strong>3 photo: ©Y. Skoulas<br />
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39
Friedrich Hölderlin, 1770–1843<br />
Griechenland<br />
Hätt ich dich im Schatten der Platanen,<br />
Wo durch Blumen der Cephissus rann,<br />
Wo die Jünglinge sich Ruhm ersannen,<br />
Wo die Herzen Sokrates gewann,<br />
Wo Aspasia durch Myrten wallte,<br />
Wo der brüderlichen Freude Ruf<br />
Aus der lärmenden Agora schallte,<br />
Wo mein Plato Paradiese schuf,<br />
Wo den Frühling Festgesänge würzten,<br />
Wo die Ströme der Begeisterung<br />
Von Minervens heilgem Berge stürzten –<br />
Der Beschützerin zur Huldigung –<br />
Wo in tausend süßen Dichterstunden,<br />
Wie ein Göttertraum, das Alter schwand,<br />
Hätt ich da, Geliebter! dich gefunden,<br />
Wie vor Jahren dieses Herz dich fand,<br />
Ach! es hätt in jenen bessern Tagen<br />
Nicht umsonst so brüderlich und groß<br />
Für das Volk dein liebend Herz geschlagen,<br />
Dem so gern der Freude Zähre floß! –<br />
Harre nun! sie kömmt gewiß, die Stunde,<br />
Die das Göttliche vom Kerker trennt –<br />
Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,<br />
Edler Geist! umsonst dein Element.<br />
Attika, die Heldin, ist gefallen;<br />
Wo die alten Göttersöhne ruhn,<br />
Im Ruin der schönen Marmorhallen<br />
Steht der Kranich einsam trauernd nun;<br />
Lächelnd kehrt der holde Frühling nieder,<br />
Doch er findet seine Brüder nie<br />
In Ilissus heilgem Tale wieder –<br />
Unter Schutt und Dornen schlummern sie.<br />
Von Gottfried Semper lernen:<br />
Kunsthistorischen<br />
Deutungsangebote durch<br />
Nachbarschaft.<br />
Semperbau am Dresdner Zwinger öffnet seine Pforten<br />
„Platz für den großen Raffael!“ Das soll August<br />
III. ausgerufen haben, als die von ihm erworbene<br />
Sixtinische Madonna 1754 in seiner Residenzstadt<br />
Dresden eintraf, um in die kurfürstliche Kunstsammlung<br />
integriert zu werden: Der wohlbeleibte<br />
König machte sich klein vor dem von ihm langersehnten<br />
Ankauf. Hundert Jahre später malte kein<br />
Geringerer als Adolph Menzel die emblematische<br />
– Von Josef Rabl –<br />
Szene, in der August seinen Thron für das Bild zur<br />
Seite räumt. Da war die Sixtina längst zum berühmtesten<br />
Bild der Dresdner Galerie geworden,<br />
und das ist sie bis heute geblieben – als eines der<br />
wenigen Gemälde, die jeder erkennt. Den Platz,<br />
den August für sie einforderte, hat sie in den Herzen<br />
der ganzen Welt.<br />
(Andreas Platthaus, in: FAZ)<br />
Ach! wie anders hätt ich dich umschlungen! –<br />
Marathons Heroën sängst du mir,<br />
Und die schönste der Begeisterungen<br />
Lächelte vom trunknen Auge dir,<br />
Deine Brust verjüngten Siegsgefühle,<br />
Deinen Geist, vom Lorbeerzweig umspielt,<br />
Drückte nicht des Lebens stumpfe Schwüle,<br />
Die so karg der Hauch der Freude kühlt.<br />
Ist der Stern der Liebe dir verschwunden?<br />
Und der Jugend holdes Rosenlicht?<br />
Ach! umtanzt von Hellas goldnen Stunden,<br />
Fühltest du die Flucht der Jahre nicht,<br />
Ewig, wie der Vesta Flamme, glühte<br />
Mut und Liebe dort in jeder Brust,<br />
Wie die Frucht der Hesperiden, blühte<br />
Ewig dort der Jugend stolze Lust.<br />
Mich verlangt ins ferne Land hinüber<br />
Nach Alcäus und Anakreon,<br />
Und ich schlief' im engen Hause lieber,<br />
Bei den Heiligen in Marathon;<br />
Ach! es sei die letzte meiner Tränen,<br />
Die dem lieben Griechenlande rann,<br />
Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen,<br />
Denn mein Herz gehört den Toten an!<br />
Quelle:<br />
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1,<br />
Stuttgart 1946, S. 183–186.<br />
http://www.zeno.org/nid/20005103665<br />
Attica, Sounio, 9293, ©photo: Y. Skoulas<br />
Antikenhalle Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800<br />
© Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: H.C. Krass<br />
40 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 41<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV
Rund um Raffaels „Sixtinische Madonna“ erwartet<br />
das Publikum eine einzigartige Reise durch die<br />
europäische Kunstgeschichte. Die Konzeption der<br />
<strong>neu</strong>en Dauerausstellung folgt einer Unterteilung<br />
nach geografischen Schulen und Epochen und<br />
wird einzelne Hauptthemen der jeweiligen Zeit in<br />
den Blick nehmen. Meisterwerke wie Giorgiones<br />
„Schlummernde Venus“, Rembrandts „Ganymed“<br />
oder Bellottos Dresdner Veduten werden als<br />
Schlüsselwerke eindrucksvoll in Szene gesetzt.<br />
Nach sieben Jahren technischer Modernisierung<br />
und Restaurierung öffnete am Samstag, dem 29.<br />
Februar <strong>2020</strong>, der Semperbau am Zwinger wieder<br />
seine Türen – ganz planmäßig, was den Kostenrahmen<br />
angeht (fünfzig Millionen Euro) und immerhin<br />
fast planmäßig hinsichtlich des Termins.<br />
Ursprünglich wurde der Dezember 2<strong>01</strong>9 angepeilt,<br />
aber die Schwierigkeiten beim rechtzeitigen<br />
Abschluss der Arbeiten an den im benachbarten<br />
Schloss rekonstruierten Paraderäumen mögen<br />
Warnung gewesen sein. Und sonst hätte auch<br />
der Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe vom<br />
25. November die Eröffnung überschattet.<br />
Wegweisend für die vollständig überarbeitete<br />
Dauerausstellung ist allerdings die Integration<br />
der Skulpturensammlung: Die bedeutende Dresdner<br />
Antikensammlung wird nach zehn Jahren im<br />
Schaudepot des Albertinum nun imposant im<br />
Semperbau präsentiert. Sie findet ihr <strong>neu</strong>es Zuhause<br />
in der Antikenhalle, einer großen Halle im<br />
Erdgeschoss des Ostflügels, die ursprünglich für<br />
die historische Gipsabgusssammlung von Anton<br />
Raphael Mengs vorgesehen war. Plastiken und<br />
Skulpturen aus Renaissance und Barock sind im<br />
mit Tageslicht gefluteten Skulpturengang im ersten<br />
Obergeschoss <strong>neu</strong> installiert. Kleinbronzen,<br />
Büsten und Marmorwerke stehen im direkten<br />
Austausch zu ausgewählten Gemälden. „Nur”120<br />
Werke aus der Dresdner Skulpturensammlung<br />
stehen im Antikensaal. Eine ähnlich große Zahl<br />
von Werken ist auf die verschiedenen Räume der<br />
Gemäldegalerie in den beiden Obergeschossen<br />
verteilt. Im Deutschen Pavillon im Erdgeschoss ist<br />
eine Auswahl an Mengs‘schen Abgüssen zu sehen.<br />
Im Stockwerk darüber verbinden sich Kunstgenuss<br />
und Gaumenfreude im <strong>neu</strong> erschaffenen<br />
Café Algarotti, das zum Verweilen einlädt – es<br />
ist benannt nach dem italienischen Kunstagenten<br />
Augusts III.<br />
Experten aus verschiedenen Bereichen der Restaurierung<br />
wurden von Beginn an für konservatorische<br />
Fragen in die Bauplanung eingebunden,<br />
um bestmögliche Bedingungen für die Präsentation<br />
und Sicherheit aller Kunstwerke zu schaffen.<br />
Eine <strong>neu</strong>e Dreifach-Fensterverglasung mit hohem<br />
Farbwiedergabeindex ermöglicht jetzt natürliches<br />
Licht in den Räumen. Das vollkommen überarbeitete<br />
Lichtkonzept mit detailgenauer Akzentbeleuchtung<br />
und die farbigen Wandbespannungen<br />
lassen die Werke erstrahlen.<br />
In Hinblick auf die Wiedereröffnung wurden seit<br />
2<strong>01</strong>3 umfangreiche Restaurierungen durchgeführt.<br />
Etwa 45 Gemälde wurden grundlegend<br />
restauriert, weitere 162 Gemälde in kleinerem<br />
Umfang. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf der<br />
Konservierung von Gemälden auf Holz. Tafelbilder<br />
aus der Werkstatt von Cima da Conegliano,<br />
Lucas Cranach d. Ä. oder Giulio Romano konnten<br />
erforscht und umfassend bearbeitet werden.<br />
Dabei boten Kooperationen mit dem Getty-Institute<br />
in Los Angeles wichtige fachliche Unterstützung.<br />
Verschiedene großzügige Förderungen<br />
Blick in den Skulpturengang © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />
42 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
Antikenhalle, die drei sog. Herkulanerinnen © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
43
ermöglichten umfangreiche Restaurierungs- und<br />
Forschungsprojekte, wie die Restaurierung des<br />
Cuccina-Zyklus von Paolo Veronese. Mehrere Gemälde<br />
aus dem Depotbestand sind nach erfolgter<br />
Restaurierung nun ausstellungsfähig. Besonders<br />
wichtig war auch die Restaurierung der barocken<br />
Galerierahmen: Rund 310 Rahmenfassungen<br />
wurden überarbeitet und 33 fachgerechte Kopien<br />
nach Galerierahmen <strong>neu</strong> angefertigt. Dazu kamen<br />
140 Rahmenumbauten, Rahmenverstärkungen<br />
und Verglasungen. Für die Neupräsentation<br />
der Antikensammlung wurde jedes einzelne Objekt<br />
gereinigt, zahlreiche restauriert und mit <strong>neu</strong>en<br />
Sockeln versehen. Die Mengs’schen Abgüsse<br />
wurden ebenso gereinigt und stabilisiert.<br />
Die wohl grundlegendste Neuerung der Ausstellung<br />
beruht auf der plausiblen Entscheidung, die<br />
Werke ihrer weltberühmten Gemäldegalerie Alte<br />
Meister bis 1800 in Zukunft mit zahlreichen, bislang<br />
im Albertinum ausgestellten Skulpturen zu<br />
präsentieren.<br />
Der Architekt Gottfried Semper (1803–1879) hatte<br />
ursprünglich viel mehr im Sinn gehabt als ein<br />
normales Museum: eine Schule des Sehens, und<br />
dazu gehörte auch die Konfrontation des Publikums<br />
mit den Meisterwerken der antiken Bildhauerkunst,<br />
die für viele Gemälde der Renaissance<br />
und des Barocks wichtige Vorlagen abgegeben<br />
hatten. Architektur und Kunstschätze verschmolzen<br />
bei seinem Museumskonzept zu einer Einheit,<br />
wie sie selten zu sehen war. Deshalb wurde 1854<br />
im Erdgeschoss des Galeriegebäudes für sie ein<br />
eigener, von beiden Seiten lichtdurchfluteter Saal<br />
eingerichtet, auf dass die Plastizität der Standbilder<br />
durch Sonneneinfall belebt werde. Gefüllt<br />
wurde er dann mit der riesigen Gipsabgusssammlung<br />
von Anton Raphael Mengs, die der ehemalige<br />
Dresdner Oberhofmaler in der Mitte des achtzehnten<br />
Jahrhunderts zusammengetragen hatte.<br />
Doch diese Nutzung hatte nur bis 1881 Bestand.<br />
Nach 139 Jahren kehrt <strong>2020</strong> die Bildhauerkunst<br />
in die Sempergalerie zurück, und zwar dank des<br />
Außenansicht Semperbau am Zwinger Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800<br />
© Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Jürgen Lösel<br />
44 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
Raffael, Die Sixtinische Madonna, 1512/13 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
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Ernst Julius Hähnel, Michelangelo Buonarotti, 1878 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Oliver Killig<br />
46 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
Rembrandt, Ganymed in den Fängen des Adlers, 1635 © Gemäldegalerie Alte Meister,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
47
Umzugs der Rüstkammer ins Residenzschloss genau<br />
an jenen Ort, für den sich Semper seine berückende<br />
Lichtregie hatte einfallen lassen. Diese<br />
kann man nun im <strong>neu</strong>benannten „Antikensaal“<br />
wieder genießen. Das<br />
mit dem Tagesverlauf<br />
wandernde Sonnenlicht,<br />
das am Nachmittag den<br />
Saal geradezu flutet, bescheint<br />
aber nicht mehr<br />
Gipsabgüsse – die werden<br />
alsbald, prachtvoll<br />
restauriert, im Erdgeschoss<br />
des angrenzenden<br />
„Deutschen Pavillons“<br />
ausgestellt –, sondern<br />
Originale: die überreiche<br />
Dresdner Antikensammlung,<br />
begründet durch<br />
August den Starken in<br />
den Jahren 1723 bis<br />
1733, als er die zwei römischen<br />
Kollektionen der<br />
Adelsfamilien Chigi und<br />
Alberti erwarb.<br />
Im ersten Raum steht die<br />
sogenannte Dresdner<br />
Symplegma im Zentrum.<br />
Ein Hermaphrodit und ein<br />
Satyr ringen miteinander,<br />
und es bleibt doch sehr<br />
zweifelhaft, ob die erotisch-akrobatische<br />
Verstrickung<br />
einvernehmlich<br />
ist. Im Kontrast dazu stehen<br />
die drei einst von<br />
Winckelmann so gerühmten<br />
Herkulanerinnen in vornehmer Ruhe in ihren<br />
vornehmen Gewändern und blicken auf das Geschehen.<br />
In der <strong>neu</strong>en Zusammenstellung von Bild<br />
und Skulptur zeigen sich mitunter überraschende<br />
Referenzen: Ein marmorner Kindskopf, der Hendrik<br />
de Keyser zugeschrieben wird, taucht in Rembrandts<br />
Gemälde Ganymed in den Fängen des Adlers<br />
wieder auf. Antike Skulpturen werden häufig<br />
als Vorbilder für Renaissance-Gemälde sichtbar.<br />
Der sächsische Reichtum mit seinen Handelsstädten<br />
und innovativen Manufakturen hatte es August<br />
dem Starken und seinem Sohn August III. ermöglicht,<br />
eine ungeheure Flut an Meisterwerken<br />
zu erwerben. Vor allem in der ersten Hälfte des<br />
18. Jahrhunderts war zeitweise ein regelrechtes<br />
Netz an Agenten und Kunsthändlern europaweit<br />
für die Dresdener Herrscher tätig, um Bilder von<br />
Tizian, Raffael, Correggio, Tintoretto, von Jan<br />
van Eyck, Rubens, Rembrandt, Vermeer, El Greco,<br />
Velázquez, von Tournier, Lorrain und Poussin<br />
herbeizuschaffen. In beispiellos kurzer Zeit, in nur<br />
vier, fünf Jahrzehnten, wurde eine Sammlung von<br />
Giorgione/Tizian, Schlummernde Venus, um 1508/10 © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Estel/Klut<br />
Weltrang erstanden. Spätestens um 1800 war<br />
Dresden der Pilgerort schlechthin für Kunstbegeisterte.<br />
Vor allem romantische Schriftsteller,<br />
aber auch noch Dostojewski erstarrten regelrecht<br />
begeistert vor dem bis heute bekanntesten Gemälde<br />
der Sammlung: Raffaels Sixtinischer Madonna.<br />
Die zwei nachdenklich-lustigen Putten<br />
am unteren Bildrand sind zum profanen Postkarten-<br />
und Bettwäschemotiv geworden. Die Stadt<br />
verdankt August III kunsthistorisch noch mehr als<br />
seinem Vater. Er kaufte 1736 die bekanntesten<br />
Dresdner Antiken, die<br />
drei sogenannten Herkulanerinnen:<br />
drei 1711 in<br />
Hercula<strong>neu</strong>m ausgegrabene<br />
lebensgroße Frauenskulpturen<br />
aus dem<br />
ersten nachchristlichen<br />
Jahrhundert, deren Eleganz<br />
und Bearbeitungssorgfalt<br />
ihresgleichen<br />
suchen. Winckelmann<br />
schmolz vor ihnen dahin.<br />
Gemeinsam mit der<br />
Sixtinischen Madonna<br />
bilden sie das Quartett<br />
der schönsten Frauen<br />
von Dresden, und nun<br />
ist es erstmals auf Dauer<br />
im selben Haus vereint.<br />
Neue Sonderausstellungsflächen<br />
ermöglichen<br />
nun wechselnde<br />
Präsentationen von<br />
Kunstschätzen aus den<br />
Beständen sowie nationalen<br />
und internationalen<br />
Leihgaben. Das Winckelmann-Forum<br />
bietet<br />
eine große Wechselausstellungsfläche,<br />
die das<br />
gesamte Erdgeschoss<br />
des Westflügels umfasst.<br />
Ab 3. April <strong>2020</strong><br />
wird diese mit der Sonderausstellung „Raffael –<br />
Die Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre<br />
Nachwirkung“ eröffnet. Das Semper-Kabinett im<br />
ersten Obergeschoss bietet Gelegenheit, kleine<br />
und fokussierte Präsentationen zu sehen. Parallel<br />
zur Wiedereröffnung wird dort die Schau „Begegnung<br />
mit einem Gott. Der Dresdner Mars von<br />
48 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
49
Giambologna“ gezeigt, die der 2<strong>01</strong>8 geglückten<br />
Rückgewinnung der berühmten Kleinbronze gewidmet<br />
ist.<br />
Multimediale Vermittlungsformate ergänzen das<br />
Museumserlebnis. Künftig ist der Semperbau flächendeckend<br />
mit WLAN ausgestattet, darüber<br />
kann der <strong>neu</strong> konzipierte Multimediaguide aufgerufen<br />
werden. In Kooperation mit der Fakultät<br />
Informatik der Technischen Universität Dresden<br />
(TUD) sind zudem kostenlose barrierefreie Multimediaguides<br />
für die unterschiedlichen sensorischen<br />
und kognitiven Bedürfnisse der Besucherinnen<br />
und Besucher entstanden. Im Sinne einer<br />
inklusiven Gesellschaft bieten die Geräte interaktive<br />
Darstellungen der Exponate, beispielsweise<br />
in Gebärdensprache oder mittels auditiver Beschreibung.<br />
Die <strong>neu</strong>en Multimediaguides stehen<br />
ab 3. März <strong>2020</strong> zur Verfügung.<br />
Marion Ackermann, Generaldirektorin der<br />
Staatlichen Kunstsammlungen Dresden:<br />
„Die anregenden Gegenüberstellungen im Dresdner<br />
Semperbau lassen das Auge hin- und herspringen,<br />
ungekannte formale Analogien, Wechselbeziehungen<br />
und gegenseitige Beeinflussung<br />
zwischen Skulptur und Malerei entdecken. In<br />
gewisser Weise wird hiermit ein Geist wiederbelebt,<br />
dessen Ursprung in der Kunstkammer liegt:<br />
die dialogische Koexistenz von Kunstwerken und<br />
Artefakten über die Gattungsgrenzen hinweg.<br />
Inhaltliche Verdichtungen, die die Stärken der<br />
Sammlungen zelebrieren und eine durchkomponierte<br />
Wegeführung durch das komplexe Gebäude,<br />
lassen das Flanieren durch die geliebte<br />
Sammlung der Alten Meister zu höchstem Genuss<br />
werden, – unterbrochen von <strong>neu</strong> geschaffenen<br />
Ausstellungsräumen, die die unterschiedlichen<br />
Tempora eines lebendigen Museums wirksam<br />
werden lassen. Die Gemäldegalerie Alte Meister<br />
ist weltweit berühmt, viele ihrer Werke haben sich<br />
über die Jahrhunderte hinweg im Bildgedächtnis<br />
der Menschen verankert.“<br />
Zur Eröffnung erschienen folgende Bücher im<br />
Sandstein Verlag, herausgegeben von Stephan<br />
Koja: jeweils ein Museumsführer zu den ausgestellten<br />
Gemälden und Skulpturen (12,95 €), der<br />
Band „Restaurierte Meisterwerke“ (19,80 €) und<br />
ein <strong>neu</strong>er Katalog „Meisterwerke der Renaissance<br />
und des Barock“ (29,80 €) und „Glanzstücke.<br />
Gemäldegalerie Alte Meister. Skulpturensammlung<br />
bis 1800. (49,90 €), zudem der Band<br />
„Vorbild Antike. Die Abgusssammlung des Anton<br />
Raphael Mengs” (19,80 €).<br />
Zur Wiedereröffnung der Gemäldegalerie Alte<br />
Meister und Skulpturensammlung hat die F.A.Z.<br />
in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen<br />
Dresden ein Unterrichtsmaterial zur Reflexion<br />
der Epochen, des Menschenbildes und der<br />
Demokratiebildung in der Antike ausgearbeitet.<br />
Das Unterrichtsmaterial für den fachübergreifenden<br />
Unterricht ab Klasse 7. Sie können es kostenfrei<br />
auf FAZSCHULE.NET herunterladen.<br />
Zur Vorbereitung von Veranstaltungen<br />
für Schulklassen:<br />
https://prod.skd.museum/vermittlung/<br />
Quellen: Presseinformation der Staatlichen Kunstsammlungen<br />
Dresden<br />
https://www.skd.museum/besucherservice/presse/<br />
Dresdner Gemäldegalerie: Es werde licht!<br />
Von Andreas Platthaus. FAZ 26.02.<strong>2020</strong><br />
Gemäldegalerie im Dresdner Zwinger. Das <strong>neu</strong>e<br />
Licht der Alten Meister. Dresden feiert die Wiedereröffnung<br />
der Gemäldegalerie im Zwinger. Die<br />
Sammlung von Weltrang präsentiert 700 Bilder –<br />
und dazu nun auch 420 Skulpturen. Von Bernhard<br />
Schulz, Der Tagesspiegel, 27.02.<strong>2020</strong><br />
Wie von Zauberhand. Altvertraut und doch ganz<br />
anders: In Dresden sind die Alten Meister endlich<br />
wieder zu sehen. Von Adam Soboczynski. DIE<br />
ZEIT Nr. 10/<strong>2020</strong>, 27. Februar <strong>2020</strong><br />
Schöne<br />
Bücher<br />
im<br />
Frühjahr<br />
50 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> 51<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV
Angelos Chaniotis: Die Öffnung der Welt.<br />
Eine Globalgeschichte des Hellenismus,<br />
Aus dem Englischen übersetzt von Martin<br />
Hallmannsecker, WBG Theiss, Darmstadt<br />
2<strong>01</strong>9, 544 Seiten, 38 sw Abbildungen,<br />
8 Karten, ISBN 978-3-8062-3993-5, 35.00 €<br />
Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück,<br />
die Angelos Chaniotis in den<br />
Jahren 20<strong>01</strong>–2006 an der Universität<br />
Heidelberg gehalten hat. Nach starker<br />
Überarbeitung erschienen diese 2<strong>01</strong>8<br />
bei Profile Books Ltd. London unter dem Titel Age<br />
of Conquests. The Greek World from Alexander<br />
to Hadrian (336 bc – ad 138). 2<strong>01</strong>9 kehrte das<br />
Buch quasi unter dem Titel Die Öffnung der Welt.<br />
Eine Globalgeschichte des Hellenismus wieder<br />
nach Deutschland zurück.<br />
Der Althistoriker Angelos Chaniotis hat nach Stationen<br />
an der New York University, der Universität<br />
Heidelberg und der Universität Oxford seit<br />
2<strong>01</strong>0 eine Professur am Institute for Advanced<br />
Study in Princeton inne. Chaniotis hat sich insbesondere<br />
auf die hellenistische Geschichte und die<br />
griechische Epigraphik spezialisiert und sich international<br />
einen Namen gemacht. Er wurde mehrfach<br />
ausgezeichnet, u. a. mit dem Phönix-Orden<br />
der griechischen Republik, dem Forschungspreis<br />
des Landes Baden-Württemberg und dem mit<br />
250.000 Euro dotierten Anneliese-Maier-Forschungspreis<br />
der Alexander von Humboldt Stiftung.<br />
Angelos Chaniotis erzählt in seinem Buch die<br />
Geschichte zweier Epochen, die sonst durchwegs<br />
getrennt voneinander behandelt werden: das<br />
hellenistische Zeitalter und die frühe römische<br />
Kaiserzeit. So zeigt er, wie sehr die Kultur der<br />
Griechen die darauf folgenden Epochen weit über<br />
die Zeit der altrömischen Kaiser hinaus prägte.<br />
Daraus zieht er nun den Schluss, dass man beide,<br />
bislang eher getrennt betrachteten Epochen<br />
deutlich stärker zusammen sehen müsse. Das<br />
hellenistische Zeitalter lässt man für gewöhnlich<br />
mit den Kriegszügen (ab 334 v. Chr.) oder dem<br />
Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) beginnen<br />
und mit dem Tod Kleopatras (30 v. Chr.)<br />
enden. Für die frühe römische Kaiserzeit dienen<br />
die Einrichtung der monarchischen Herrschaft des<br />
Augustus (27 v. Chr.) und der Tod Hadrians (138<br />
n. Chr.) als Markierungspunkte. Chaniotis betont,<br />
dass sich die Quellenlage im Lauf des 20. Jahrhunderts<br />
mit den Fortschritten der Archäologie,<br />
mit der Veröffentlichung von Inschriften und der<br />
Erforschung von Papyri und Münzen gravierend<br />
verändert habe. All dies spreche dafür, die Epochengrenzen<br />
<strong>neu</strong> zu iustieren.<br />
Chaniotis nennt die <strong>neu</strong> begrenzte Zeitspanne von<br />
Alexander bis Hadrian das „lange hellenistische<br />
Zeitalter“ (12). „Die verbindenden Elemente, die<br />
dieses auch von vorhergehenden Epochen unterscheiden,<br />
sind: Die Bedeutsamkeit monarchischer<br />
Herrschaftsformen; die starke imperialistische<br />
Tendenz als Kennzeichen der Politik sowohl hellenistischer<br />
Könige als auch des römischen Senats;<br />
die enge Verflechtung politischer Entwicklungen<br />
im Balkanraum, in Italien, in der Schwarzmeerregion,<br />
Kleinasien, im Nahen Osten und in Ägypten;<br />
die erhöhte Mobilität der Bevölkerung in diesen<br />
Gebieten; die Verbreitung städtischer Lebensformen<br />
und Kultur; technologische Fortschritte; und<br />
die allmähliche Homogenisierung von Sprache,<br />
Kultur, Religion und Institutionen. Die meisten der<br />
eben genannten Phänomene hatte es vor Alexanders<br />
Kriegszügen nicht in einem vergleichbaren<br />
Ausmaß gegeben. ... Viele (davon ...) finden eine<br />
Entsprechung in der modernen Welt, und unter<br />
anderem diese ‚Modernität‘ macht die Epoche so<br />
attraktiv“ (14).<br />
Chaniotis ist überzeugt davon, dass es irreführend<br />
wäre, die „Prozesse kultureller Konvergenz<br />
für die hellenistische Zeit als ‚Hellenisierung‘ und<br />
für die Kaiserzeit als ‚Romanisierung’ zu bezeichnen<br />
... Beide Begriffe implizieren eine einseitige<br />
Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie –<br />
die Entwicklung einer kulturellen koine (einer gemeinsamen<br />
Ausdrucksform) im ‚langen hellenistischen<br />
Zeitalter‘ war aber das Ergebnis längerer<br />
und weitaus komplexerer Prozesse. Ihre Protagonisten<br />
waren nicht nur Personen mit politischer<br />
Autorität, sondern auch Reisende, Künstler, Redner<br />
und Dichter, Soldaten und Sklaven sowie<br />
Magier und Traumdeuter, die sich über Grenzen<br />
hinwegbewegten. Es war also die erhöhte Mobilität<br />
in den multiethnischen Königreichen und im<br />
Römischen Reich, die eine solche kulturelle Konvergenz<br />
brachte; sie führte auch dazu, dass verschiedene<br />
religiöse Vorstellungen verschmolzen,<br />
was als ‚Synkretismus‘ bezeichnet wird“ (15f.).<br />
Mit seinen Eroberungen schuf Alexander zwar<br />
kein Weltreich von Dauer, dafür aber die Voraussetzungen<br />
für die Entstehung eines politischen,<br />
wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks, das<br />
buchstäblich die gesamte damals bekannte Welt<br />
umfasste. Die Entstehung von Metropolen, Weltbürgertum<br />
und Lokalpatriotismus, technologische<br />
Innovationen und <strong>neu</strong>e Religionen wie das<br />
Christentum, aber auch soziale Konflikte und<br />
Kriege gehören zu den Kennzeichen dieser Welt.<br />
Globalisierung, Mobilität und Multikulturalität –<br />
die Fragen, die die alten Griechen beschäftigten –<br />
sind auch heute von großer Bedeutung. Wer das<br />
Wesen der Globalisierung mit all seinen positiven<br />
und negativen Folgen verstehen will, der sollte<br />
mit diesem faktenreichen Sachbuch das erste<br />
Auftreten dieses Phänomens in der Alten Geschichte<br />
erkunden.<br />
Erfrischend bisweilen jene Passagen, in denen<br />
Angelos Chaniotis seinen Landsmann, den Dichter<br />
Konstantinos Kavafis aus Alexandria (1863–<br />
1933) und seine Gedichte (41, 144. 234. 267,<br />
458) zitiert.<br />
Eine Liste von Quellentexten, eine eher knappe<br />
Bibliographie sowie weiterführende Literatur, den<br />
16 Buchkapiteln zugeordnet, befördert vertiefte<br />
Recherche. Ein zwanzigseitiges Register erleichtert<br />
die gezielte Suche nach Namen, Orten und<br />
Begriffen beträchtlich.<br />
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LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
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Elke Stein-Hölkeskamp, Die feinen<br />
Unterschiede. Kultur, Kunst und Konsum<br />
im Antiken Rom. Münchner Vorlesungen zu<br />
antiken Welten, Band 5. De Gruyter Verlag<br />
Berlin/Boston, 137 Seiten, 2<strong>01</strong>9,<br />
ISBN 978-3-11-061408-4, € 69.95<br />
Bei der Erforschung der römischen Eliten<br />
stand bislang ihr ebenso intensives<br />
wie alternativloses Engagement<br />
in Politik und Militär im Mittelpunkt;<br />
Stichwort Cursus honorum. Die Autorin<br />
hinterfragt in ihrem Buch, einer Sammlung<br />
von sechs Vorlesungen, die sie im Herbst 2<strong>01</strong>4<br />
auf Einladung auf die Münchner Gastprofessur<br />
für Antike Kulturgeschichte hielt, die anhaltende<br />
Exklusivität dieses Lebensmodells und wirft einen<br />
erweiterten Blick auf die aristokratischen Lebenswelten.<br />
Senatoren und Ritter, so hat das Studium<br />
der Texte aller möglichen literarischen Gattungen<br />
gezeigt, erschlossen sich schon in der späten Republik<br />
eine Reihe alternativer Handlungsfelder<br />
(Vorlesung 2: Einheit oder Vielfalt? Lebensziele<br />
und Lebensentwürfe der römischen Aristokratie<br />
im Wandel, 14–34), und diese Entwicklung<br />
erhielt mit der Etablierung der Monarchie noch<br />
einmal eine <strong>neu</strong>e Dynamik. Sie beteiligten sich als<br />
Autoren und Patrone an dem lebhaften literarischen<br />
Leben (Vorlesung 3: Epos oder Elegie? Die<br />
Dichtung als Weg zum ewigen Ruhm, 35–51). Sie<br />
sammelten Kunstwerke und Bücher und stellten<br />
diese Objekte in den Pinakotheken und Bibliotheken<br />
ihrer Villen in einem idealen Ambiente aus<br />
(Vorlesung 4: Mars oder die Musen? Kunstsammler<br />
und Kunstkenner im republikanischen und<br />
kaiserzeitlichen Rom, 52–70). Und nicht zuletzt<br />
intensivierten sie in den demonstrativen Konsum<br />
(Vorlesung 5: Toga oder Chlamys? Dresscodes<br />
und Habitus der spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen<br />
Aristokraten, 71–92) aller Arten von<br />
Luxusgütern, mit denen sie ihren Reichtum und<br />
ihre Fähigkeit zur Distinktion zur Schau stellten<br />
(Vorlesung 6: Luxus oder Dekadenz? Konsum und<br />
Konkurrenz beim römischen Gastmahl, 93–116).<br />
Der vorherrschende Handlungsmodus dieser Elite<br />
blieb dabei die Konkurrenz. Doch im Streben nach<br />
Vorrang konnte der kultivierte Connaisseur nun<br />
den bewährten Consular überbieten.<br />
Wurden die gesellschaftlichen Entwicklungen<br />
zum Ende der Republik und im ersten Jahrhundert<br />
der römischen Kaiserzeit unter dem Oberbegriff<br />
„Privatleben römischer Kaiser“ als Sittenverfall,<br />
Erosion von Anstand und Moral, als zunehmende<br />
Dekadenz, Lust an Luxus und Laster sowie Streben<br />
nach Prunk und Pracht deklariert, so sieht<br />
die Autorin in gut nachvollziehbarer Weise diese<br />
gesellschaftlichen Entwicklungen völlig <strong>neu</strong>. Ein<br />
Glück ist die günstige Quellenlage.<br />
„Für die ‚dichte Beschreibung‘ der Lebensziele<br />
und Lebensentwürfe römischer Aristokraten<br />
bietet die Epoche von Cicero bis zum jüngeren<br />
Plinius vielfältiges und hervorragendes Material.<br />
Historiographische und epigraphische Quellen<br />
ermöglichen die Rekonstruktion der höchst individuellen<br />
Lebensläufe einer großen Zahl von Persönlichkeiten.<br />
Literarische Quellen unterschiedlicher<br />
Genres spiegeln die intensive Reflexion und<br />
den lebhaften Diskurs über die Frage nach einer<br />
sinnvollen Lebensgestaltung wider. Dabei zeigen<br />
die Zeugnisse insgesamt eine Welt im Wandel, in<br />
der die Angehörigen der Elite sich intensiv an den<br />
alten republikanischen Idealen abarbeiten und<br />
sich durch Alternative Lebensentwürfe <strong>neu</strong> zu<br />
positionieren versuchen“ (14).<br />
Silius Italicus etwa entschied sich nach seiner<br />
Rückkehr als Proconsul in der Provinz Asia im<br />
Jahr 77 für ein Leben der „lobenswerten Zurückgezogenheit“,<br />
das er in einem angemessenen<br />
Ambiente verbrachte, er kaufte eine Reihe eleganter<br />
Landhäuser in Kampanien (14f.). Auch für<br />
Lukrez stellt die politische Karriere, der sukzessive<br />
Aufstieg über die streng regulierte Stufenleiter<br />
des cursus honorum, nicht mehr das alternative<br />
ultimative Ziel menschlichen Strebens dar. Er<br />
vergleicht die Kandidatur um politische Ämter<br />
mit den ebenso end- wie sinnlosen Quälen des<br />
Sisyphos (22). Dem jüngeren Seneca erscheint<br />
der Eintritt in eine militärisch-politische Karriere<br />
dem Eintreten in einen Strudel ähnlich, aus<br />
dem es kein Entrinnen gebe (23). Horaz betont<br />
immer wieder, dass der auf dem Forum und dem<br />
Marsfeld erworbene Ruhm über den Tag hinaus<br />
keinen Bestand habe. „Er formuliert daher eine<br />
vollständige Umkehr der republikanischen Ideologie,<br />
nach der nur jene Leistungen als erinnerungswürdig<br />
und damit dauerhaft galten, die<br />
in ebendiesen Bereichen, nämlich in Politik und<br />
Krieg, erbracht worden waren. ... Und wie später<br />
Seneca wußte auch schon Horaz, dass Politik allein<br />
nicht glücklich macht – jedenfalls dann nicht,<br />
wenn man Glück als etwas betrachte, das mit<br />
Seelenruhe, dem Vernünftigen und dem sittlich<br />
Vollkommenen in Einklang stehe“ (24f.). Plinius<br />
konnte seinen Traum vom Ausstieg aus den Mühen<br />
des politischen Alltags bekanntlich nicht realisieren<br />
und stand bis zu seinem Tod im Dienst<br />
des Kaisers, hatte aber durchaus Verständnis, ja<br />
Sympathie für jene Männer, die bereits zu einem<br />
deutlich früheren Zeitpunkt aus dem öffentlichen<br />
Leben ausscheiden oder sogar von vornherein<br />
ganz bewußt auf eine Karriere in Politik, Militär<br />
und Reichsverwaltung verzichten (28). Die Autorin<br />
lässt noch zahlreiche weitere Aussteiger zu<br />
Wort kommen, bevor sie als Fazit festhält:<br />
„Das Bild des umtriebigen republikanischen Politikers,<br />
der alle seine Möglichkeiten einsetzte, um<br />
die Leistungen der maiores noch zu übertreffen,<br />
den cursus honorum optimal zu durchlaufen, das<br />
höchste Amt und vielleicht sogar einen Triumph<br />
zu erreichen, um dann als einer der Ersten des<br />
Senats die Meinungsbildung dort mitzubestimmen,<br />
ist in der Literatur der Prinzipatszeit durchaus<br />
noch präsent. ... Doch dieser Katalog von<br />
Vorzügen und Zielen, die es allein anzustreben<br />
galt, hatte jetzt seine zuvor jahrhundertelang<br />
unumstrittene Verbindlichkeit verloren. Das sich<br />
darin manifestierende Leistungsideal war jetzt<br />
zu einer Folie geworden, die den kaiserzeitlichen<br />
Autoren zur kritischen Auseinandersetzung und<br />
zur Formulierung <strong>neu</strong>er, alternativer Ideale diente“<br />
(33f.).<br />
In den folgenden Kapiteln bzw. Vorlesungen<br />
stellt Elke Stein-Hölkeskamp exemplarisch einige<br />
Handlungsfelder vor, die für die Konkurrenz um<br />
Geltungschancen und Prominenzrollen immer<br />
wichtiger wurden und zugleich die optimalen<br />
Strategien zur Wahrnehmung dieser Chancen<br />
deutlich erkennen lassen. So treten literarisches<br />
Talent und rhetorische Fähigkeiten, individuelle<br />
Sensibilität und verfeinerter Kunstsinn sowie<br />
die Fähigkeit zu einer urbanen und gebildeten<br />
Kommunikation neben die traditionellen Kompetenzen<br />
des Feldherrn und Politikers. Die hergebrachten<br />
Rollen wurden durch <strong>neu</strong>e Prominenzrollen<br />
etwa als Redner, Literat und Protagonist<br />
eines kultivierten Lebensstils teils ergänzt, teils<br />
ersetzt (50f.). Individuelle Lebensläufe und ideale<br />
Lebensentwürfe zeichneten sich jetzt zunehmend<br />
durch Pluralität und Heterogenität aus.<br />
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Als Kunstsammler von ganz besonderem Format<br />
gilt Lucius Licinius Lucullus. Er hatte eine Schwäche<br />
für tiefschwarze Marmorsäulen von der Insel<br />
Melos und andere kostbare Baumaterialien, er<br />
widmete seinen Pinakotheken besondere Aufmerksamkeit,<br />
sammelte Gemälde, Stauen, Bücher<br />
und prächtiges Hausgerät vornehmlich von<br />
griechischer Provenienz. Nach ihm strebten viele<br />
Sammler des ersten nachchristlichen Jahrhunderts<br />
danach, eine Vielzahl von unterschiedlichen<br />
Objekten in ihren Besitz zu bringen. Diese Kunstwerke<br />
wurden aus ihrem ursprünglichen kulturellen<br />
Kontext herausgelöst und erhielten durch ihre<br />
Aufstellung in den Sammlungen der Römer eine<br />
<strong>neu</strong>e soziale Bedeutung Sie trugen zur Selbstkonstruktion<br />
der persona ihres Besitzers bei und<br />
fungierten als Indikatoren für seinen Rang und<br />
sein Prestige. „Die Sammler mussten selbstverständlich<br />
über die entsprechenden Ressourcen<br />
verfügen, um die Objekte zu erwerben – aber das<br />
war nur die notwendige, aber keineswegs schon<br />
hinreichende Voraussetzung. Weitaus wichtiger<br />
war ihre umfassende Bildung, ihre Kenntnis der<br />
griechischen Sprache, Mythologie und Literatur,<br />
die es Ihnen gestattete, die Bedeutung der Objekte<br />
zu erkennen und sie dementsprechend zu<br />
präsentieren. ... Nur wer dem Ideal des umfassend<br />
gebildeten Kunstkonsumenten und literarisch<br />
aktiven Kulturproduzenten in jeder Hinsicht<br />
entsprach, könnte das erhebliche distinktive Potenzial<br />
der Sammlungen völlig ausschöpfen und<br />
sich damit als akzeptiertes und angesehenes Mitglied<br />
der gesellschaftlichen und kulturellen Elite<br />
profilieren“ (70).<br />
Die beiden noch verbleibenden Kapitel über<br />
„Dresscodes und Habitus ...“ sowie über „Konsum<br />
und Konkurrenz beim römischen Gastmahl“<br />
sind nicht weniger spannend zu lesen, weil sehr<br />
detailreich, an den Quellen orientiert, beispielhaft<br />
an bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten<br />
in kontrastierender Weise in Szene gesetzt,<br />
durchaus mit Unterhaltungswert dargestellt und<br />
kompetent interpretiert.<br />
Wer sich mit historischen Persönlichkeiten der<br />
hier in den Blick genommenen Jahrhunderte beschäftigt<br />
und es sind die zentralen Figuren des<br />
klassischen Lateinunterrichts, wer sich mit zentralen<br />
Themen und Problemen jener Zeit beschäftigt,<br />
von Kunstbetrieb, Kleidung, Schuhwerk, Gastmahl,<br />
Gemälde, Kunstmarkt, Verschwendung,<br />
Villen, Ämterlaufbahn u.v.m., der wird diesen<br />
schmalen Band mit größtem Gewinn lesen, sich<br />
auf Stellensuche bei den lateinischen Autoren<br />
machen (Primärquellen sind exakt angegeben,<br />
ebenso eine Fülle an Sekundärtiteln), und seinen<br />
Unterricht prima vorbereiten und einen anregenden<br />
Unterricht ermöglichen.<br />
Alois Schmid, Johannes Aventinus<br />
(1477–1534). Werdegang – Werke –<br />
Wirkung. Eine Biographie, Verlag Schnell &<br />
Steiner, Regensburg, 288 Seiten,<br />
28,00 EUR, ISBN 978-3-7954-3463-2<br />
Als bairischer Herodot wurde er angesehen,<br />
da er mit genauer Beobachtungsgabe,<br />
Sprachgewalt und kritischer<br />
Distanz in seiner „Baierischen<br />
Chronik/Annales Boiorum” aufschrieb,<br />
„was der Baiern Herkommen, Bräuche<br />
und ehrliche Thaten” sind. Sein Haus in Abensberg,<br />
in das er sich regelmäßig zur literarischen<br />
Tätigkeit zurückzog und von wo aus er mit aller<br />
Welt korrespondierte, wurde zum bayrischen Tusculum.<br />
Wenn Melanchthon der praeceptor Germaniae<br />
war, der Lehrmeister Deutschlands, dann<br />
war Aventinus der praeceptor Bavariae. Er ist unbestritten<br />
eine der bedeutendsten Gestalten der<br />
bayerischen Geschichte.<br />
Diesem Mann widmet Alois Schmid – Studium in<br />
Regensburg, Promotion dort bei Andreas Kraus,<br />
nach Stationen an den Universitäten Eichstätt-Ingolstadt<br />
und Erlangen-Nürnberg von 1998 bis zu<br />
seiner Emeritierung 2<strong>01</strong>0 Professor für Bayerische<br />
Geschichte und vergleichende Landesgeschichte<br />
mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters<br />
an der Ludwig-Maximilians-Universität München –<br />
eine wissenschaftlich fundierte und doch allgemein<br />
verständlich geschriebene Untersuchung<br />
über Aventins Leben und dessen umfangreiches<br />
Schaffen. Schmid ist einer der bedeutendsten<br />
Kenner Aventins im 20. und 21. Jahrhundert. Sein<br />
Buch gilt als (auch verlagstechnisch sehr sorgfältig<br />
konzipiertes) Standardwerk, das die jüngsten<br />
Erkenntnisse der Spezialforschung in vielen Teilbereichen<br />
der Kulturwissenschaft zusammenfasst<br />
und zu einem zeitgemäßen Bild verarbeitet. Besonderer<br />
Nachdruck wird auf die einzigartige<br />
Rezeptionsgeschichte seiner Schriften gelegt, die<br />
den Humanisten Aventinus – so sein Resümee,<br />
S. 267 – zu einer der wirkmächtigsten Persönlichkeiten<br />
der bayerischen Geschichte überhaupt<br />
macht.<br />
Aufgewachsen ist Johannes Turmaier, eines von<br />
fünf Kindern des Weintavernen-Betreibers Peter<br />
Turmair, im Städtchen Abensberg (gelegen auf<br />
halber Strecke zwischen Regensburg und Ingolstadt),<br />
wo er wohl im Kloster der Karmeliten<br />
die Elementarschulbildung erhielt, nur wenige<br />
Schritte von der elterlichen Gaststätte entfernt.<br />
Die Patres unterhielten dort auch eine Klosterbibliothek,<br />
die mit ihrem bemerkenswerten Bestand<br />
an Handschriften und Inkunabeln für eine<br />
Niederlassung der Medikanten in einer Landstadt<br />
ein beachtliches Niveau erreichte. Wo sein Bildungsgang<br />
in Grammatik und Rhetorik der Lateinischen<br />
Sprache fortgesetzt wurde, ist nicht belegt.<br />
es könnte in der nahen Reichsstadt gewesen<br />
sein, wo die Domschule für kurze Zeit (1492) vom<br />
angesehenen Humanisten Konrad Celtis (1459–<br />
1508) geleitet wurde.<br />
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Aventins Karte von Bayern MDXXIII, Nachdruck der Ausgabe Landshut, 1523, München, 1899, Bayerische Staats-<br />
Bibliothek, Originalgröße: 48 x 40 cm<br />
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1523_Aventins_Karte_von_Bayern.jpg?uselang=de<br />
Am 21. Juni 1495 schrieb sich der zwischenzeitlich<br />
fast Achtzehnjährige als Iohannes Turmair ex<br />
Abensperg an der nahegelegenen bayerischen<br />
Landesuniversität als ordentlicher Studierender<br />
der Artistischen Fakultät ein. Ihm und später<br />
seinem Bruder wurde die Einschreibegebühr von<br />
sechs Groschen nicht erlassen, was wohl bedeutet,<br />
dass sich die Familie Turmair eine auch damals<br />
aufwändige akademische Ausbildung von<br />
zwei Kindern leisten wollte und konnte.<br />
„Die bayrische Landesuniversität hatte sich bereits<br />
auf den Weg begeben, zu einer der wichtigsten<br />
Pflegestätten der humanistischen Studien<br />
in Deutschland zu werden. Es gelang, herausragende<br />
Gelehrte zu berufen. Vor allem konnte der<br />
deutsche Erzhumanist Konrad Celtis gewonnen<br />
werden ... Nach seiner Festanstellung 1494 waren<br />
es vor allem seine vielgerühmten Vorlesungen<br />
über die Geisteswelt und die Literatur der Römer,<br />
die den jungen Johann Turmair in ihren Bann zogen.<br />
Besonders faszinierte ihn die Verbindung,<br />
die der begeisternde Lehrer, in der Nachahmung<br />
Petrarcas, zwischen dem Gedankengebäude des<br />
Humanismus und der Welt der Deutschen herstellte.<br />
Sie machte Celtis zu einem Hauptvertreter<br />
des frühen deutschen Humanistenpatriotismus.<br />
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Die in ebendiesen Jahren in Deutschland nach der<br />
Wiederentdeckung um die Mitte des 15. Jahrhunderts<br />
und den Erstdrucken zu Venedig 1470 und<br />
Nürnberg 1473 bekannt werdende Germania des<br />
Tacitus lieferte dafür die euphorisch aufgegriffene<br />
Grundlage. Konrad Celtis war die wichtigste<br />
Professorengestalt, die dem Studiosen prägende<br />
Eindrücke vermittelte” (43).<br />
Conrad Celtis: Gedächtnisbild von Hans Burgkmair dem<br />
Älteren, 1507<br />
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https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/22/<br />
Johannes_aventin.jpg<br />
Unbekannt – aus dem Buch Zweihundert deutsche Männer in<br />
Bildnissen und Lebensbeschreibungen, Leipzig 1854, herausgegeben<br />
von Ludwig Bechstein, vergleiche Zweihundert<br />
deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen<br />
(Visual Library); Foto von portrait.kaar.at<br />
Der wortgewaltige Philologe Celtis – ihn verehrt<br />
Turmair als deutschen Homer/Homerus germanicus<br />
– begeistert den jungen Studenten so sehr,<br />
dass er im Wintersemester 1498 in dessen Gefolge<br />
Ingolstadt verließ. Der Baccalaureus folgte<br />
seinem Lehrer ins kaiserliche Wien; Celtis hatte<br />
im Collegium poetarum et mathematicorum verbesserte<br />
Wirkungsmöglichkeiten. Turmair wurde<br />
dort sogar in dessen Hausgemeinschaft aufgenommen<br />
und gehörte zum angesehenen Celtis-<br />
Kreis. Drei Wiener Jahre haben dem Studiosus<br />
Verbindungen zu echten Größen des deutschen<br />
Humanismus verschafft. Von Wien aus bezog er<br />
im Sommersemester 15<strong>01</strong> die Hohe Schule zu<br />
Krakau, die nach Prag zweitälteste mitteleuropäische<br />
Universität. Diese Universität galt damals<br />
als Vorort der Naturwissenschaften im ganzen<br />
Abendland. (Mitte der 1490-er Jahre studierte<br />
dort übrigens Nikolaus Kopernikus Mathematik<br />
und Astronomie). Den Schlusspunkt seiner Studien<br />
setzte der Abensberger ab Februar 1503 in<br />
Paris an der Sorbonne, die namhafteste unter den<br />
Universitäten Europas, wo er sich mit den Schriften<br />
von Platon und Aristoteles auseinandersetzte.<br />
Am 27. März 1504 schloss er mit dem Magister-<br />
Examen ab.<br />
Eine solche fast ein Jahrzehnt dauernde peregrinatio<br />
academica (1495–1504) war ein beliebter<br />
Bestandteil der Akademikerausbildung im<br />
spätmittelalterlich-früh<strong>neu</strong>zeitlichen Europa. Erst<br />
59
die Beschränkungen des Konfessionalismus und<br />
Absolutismus haben den Lebenskreisen der Studentenschaft<br />
dann engere Grenzen gesetzt. Für<br />
den Wirtssohn aus einer kleinen Landstadt im<br />
Bauernland Bayern war ein derartiger Bildungsweg<br />
sicherlich außergewöhnlich. Vor allem das<br />
Lizentiatendiplom der Sorbonne verschaffte ihm<br />
innerhalb der oberdeutschen Universitätsabsolventen<br />
einen deutlichen Vorrang.<br />
Mit der Aufnahme der ersten beruflichen Tätigkeit<br />
– er hält an der Landesuniversität Ingolstadt<br />
Lehrveranstaltungen über Römische Autoren wie<br />
https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Johannes_<br />
Aventinus?uselang=de#/media/File:Ioannes_Aventinus_-_<br />
dedicatio_Annalium_Boiorum.jpg<br />
Postumes Bildnis von Hans Sebald Lautensack, Widmung<br />
für Johannes Aventinus im Buch „Annalium Boiorum libri<br />
septem“, das 1554 bei Alexander und Samuel Weißenhorn<br />
in Ingolstadt erschien. Laut Beschreibung im Bildindex soll<br />
es die Titelseite sein, aber vergleiche die Version im Internet<br />
Archive, dort ist es Seite 15: Annalium Boiorum libri septem<br />
Ioanne Auentino autore, p. 15; Link zur Titelseite: Annalium<br />
Boiorum libri septem Ioanne Auentino autore.<br />
Ciceros Somnium Scipionis und De officiis oder<br />
die Rhetorica ad Herennium sowie Themen der<br />
Mathematik und Astronomie – verändert er in<br />
humanistischer Manier seinen Namen in Aventinus.<br />
Anders als Melanchthon verwendet er dazu<br />
nicht die griechische Sprache, sondern gebraucht<br />
in Übereinstimmung mit vielen Zeitgenossen das<br />
Lateinische. „Er brachte seinen Geburtsort Abensberg<br />
(benannt nach dem Flüsschen Abens, das<br />
wenige Kilometer weiter in die Donau mündet)<br />
mit demjenigen der sieben Hügel der Ewigen<br />
Stadt in Zusammenhang, der seine ursprüngliche<br />
Besiedlung den Plebejern verdankte; der Name<br />
deckt sich mit seinem Selbstverständnis als Aufsteiger<br />
aus einer unteren Gesellschaftsschicht. Da<br />
der Name dieses südlichen der sieben Stadthügel<br />
von einem sagenhaften italischen Urkönig gleichen<br />
Namens hergeleitet wurde, der wiederum<br />
als Sohn Noahs galt, verschaffte er zugleich eine<br />
königliche Aura. Der Wirtssohn Johann Turmair<br />
aus Abensberg stellte mit seinem humanisierten<br />
Latinistennamen eine direkte Verbindung nach<br />
Rom und darüber hinaus zu den biblischen Anfängen<br />
der Menschheit her (48).<br />
Weitere Stationen sind das Amt des Prinzenerziehers,<br />
eine <strong>neu</strong>e Funktionsstelle an den deutschen<br />
Fürstenresidenzen dieser Zeit. Es folgten<br />
Verwaltungsaufgaben an der Landesuniversität<br />
Ingolstadt. 1517 wurde er zum ersten amtlichen<br />
Landesgeschichtsschreiber Bayerns ernannt, Im<br />
Jahrzehnt zwischen 1517 und 1528 erreichte<br />
Aventins Lebensbahn ihren Höhepunkt; damals<br />
entstanden seine Hauptwerke.<br />
Diese Hauptwerke stellt Alois Schmid auf 25 Seiten<br />
vor, gegliedert nach pädagogischen, poetischen<br />
und historischen Werken; hinzu kommt<br />
der handschriftliche Nachlass. Zu den Paedagogica<br />
zählen verschiedene Fassungen der lateinischen<br />
Grammatik, die aus dem Sprachunterricht<br />
mit seinen Zöglingen erwachsen sind und durch<br />
Fakultätsbeschluss vom 13. August 1516 sogar<br />
dem akademischen Lehrbetrieb in Ingolstadt<br />
zugrunde gelegt wurden. Herzog Ernst – ehemaliger<br />
Schüler des Prinzenerziehers Aventinus –<br />
steuerte gar eine Adhortatio für die Lehrenden<br />
bei: hortor, admoneo atque a vobis postulo, ut<br />
grammaticam Ioannis Aventini, praeceptoris nostri<br />
fidelissimi, legatis ac doceatis, ... ex nulla tam<br />
facile et breviter et absque omni verbere ... didici<br />
(93). Die lateinischen Grammatiken bilden Aventins<br />
erfolgreichste Buchveröffentlichungen. Er gilt<br />
als ein Wegbereiter der klassischen Philologie in<br />
Deutschland. Die beiden großen Chroniken der<br />
Geschichte Bayerns stellen seine Hauptleistungen<br />
dar, auf denen sein Nachruhm beruht (1<strong>01</strong>ff).<br />
Zu erwähnen ist unbedingt noch eine der ersten<br />
Landkarten von Bayern, die als Erläuterung und<br />
Veranschaulichung zu den großen Landeschroniken<br />
gedacht war (vgl. 107ff).<br />
Alois Schmid zum literarischen Werk Aventins:<br />
„Seine schriftliche Hinterlassenschaft ist bemerkenswert<br />
umfassend und von ungewöhnlicher<br />
Reichhaltigkeit. Es kommen vielfältige Themen<br />
in wechselnden literarischen Gattungen und<br />
sehr unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad zur<br />
Behandlung ... Die aus dem Grundsatz ,Nur wer<br />
schreibt, der bleibt’ gespeiste Schreibfreudigkeit,<br />
die die Humanisten im Allgemeinen kennzeichnet,<br />
war auch bei Aventin ausgesprägt. Das Diktum<br />
seines hochverehrten Lehrers Konrad Celtis, dass<br />
die gefräßige Zeit alles verschlinge, außer die Tugend<br />
und die Literatur, hatte in seinem Bewußtsein<br />
besonders tiefe Wurzeln geschlagen” (113).<br />
Richtig spannend lesen sich die folgenden Kapitel,<br />
in denen A. Schmid zeigt, wie Aventinus in<br />
die Tradition der bayerischen Landesgeschichtsschreibung<br />
die Neuerungen des humanistischen<br />
Wissenschaftsbetriebes einführt (117ff). Aus<br />
heutiger Sicht unglaublich ist (für mich) folgende<br />
Notiz: Als erster erkannte Aventin die römische<br />
Vergangenheit der Stadt Regensburg. „Bisher<br />
wurde sie als Gründung Karls des Großen angesehen.<br />
Aus den römischen Überresten leitete<br />
Aventin in einer eigenen Abhandlung den zutreffenden<br />
Schluss ab, dass die Stadt älter sein<br />
müsse. Erstmals Aventin bezeichnete Regensburg<br />
als Römerstadt. Die Studie über das „Herkomen<br />
Aventinus-Grabplatte St. Emmeram Regensburg<br />
Stadt Regensburg, Vorhof der Klosterkirche St. Emmeram,<br />
Grabplatte von Aventinus (Johannes Turmair), dem Vater der<br />
Bayerischen Geschichtsschreibung.<br />
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Aventinus#/media/<br />
Datei:Aventinus-Grabplatte_St_Emmeram_Regensburg.jpg<br />
der statt Regenspurg” gehört in seine Spätzeit.<br />
Nun beschreibt er die Römerfunde nicht nur,<br />
sondern zieht sie zur Begründung seiner Aussagen<br />
heran. Damals begann er, die Realien zur<br />
Beweisführung einzusetzen. Aus aufgefundenen<br />
Inschriftensteinen leitet er die Stationierung der<br />
Vierten italischen Legion in der Stadt und einen<br />
Germaneneinfall des Jahres 82 n. Chr. ab. „Das<br />
sind entscheidende methodische Fortschritte”<br />
(141; 143).<br />
Ausgesprochen informativ die Passagen über<br />
die sprachlichen Kompetenzen und Ansprüche<br />
des Historiographen (151ff.); Sprachbildung ist<br />
für ihn Kern aller Menschenbildung. Mit Recht<br />
konnte er für sich in Anspruch nehmen, sich als<br />
homo trilinguus das humanistische Ideal der Dreisprachigkeit<br />
(die drei edeln sprachen, lateinisch,<br />
kriechisch, hebreisch, Anm. 496) angeeignet zu<br />
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haben. Im Zentrum stand eindeutig das Lateinische.<br />
Festzuhalten ist aber auch, dass eine Reihe<br />
von Werken in deutscher Sprache abgefasst ist,<br />
er sich also von der Grundmaxime des Humanismus<br />
entfernte, dass sich die Kulturschaffenden in<br />
erster Linie des Lateinischen bedienen sollten. Er<br />
wies also den Weg zu den Nationalsprachen.<br />
Dass und wie und warum der Name Aventinus<br />
im römischen Index der verbotenen Bücher anzutreffen<br />
ist, erfährt der Leser 221 ff., ebenso auch,<br />
dass Aventinus Schriften, wie die Bücherkataloge<br />
zahlreicher Klöster belegen, noch heute in Erstausgaben<br />
vielerorts gut greifbar sind. Amüsant<br />
zu lesen, wo überall Aventinus „im Tätigkeitsbereich<br />
historisch orientierter Fachkreise nach<br />
wie vor präsent ist” (245), „noch stärker gilt das<br />
für den außerwissenschaftlichen Bereich” (246),<br />
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung,<br />
Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, 28.00 €,<br />
ISBN: 978-3-7371-0047-2<br />
Zeitungsleser kennen Jan Roß. Er war<br />
Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung und der Berliner Zeitung<br />
und gehört heute zum politischen<br />
Ressort der ZEIT, für die er von 2<strong>01</strong>3 bis<br />
2<strong>01</strong>8 Korrespondent in Indien war. Jan Roß, 1965<br />
in Hamburg geboren, studierte Klassische Philologie,<br />
Philosophie und Rhetorik in Hamburg und<br />
Tübingen, u.a. bei Walter Jens.<br />
etwa als Namensgeber von Straßen, Plätzen,<br />
Schulen, Apotheken usw.<br />
Der Verfasser, der nach einem Gelehrtenleben<br />
den Leser dieser Buches tief in die Vergangenheit<br />
und tief in die Gegenwart führt, tut das aus<br />
der Überzeugung, dass es an der Zeit sei für eine<br />
Biografie seines Ahnen in der Geschichtswissenschaft.<br />
R. Neumaier schrieb in der Süddeutschen<br />
Zeitung vom 11.2.<strong>2020</strong>: „Wenn Historiker wie<br />
Schmid über Historiker wie Aventin schreiben, hat<br />
das etwas Programmatisches. Als Vorsitzender<br />
der Kommission für bayerische Landesgeschichte<br />
an der Akademie der Wissenschaften war Schmid<br />
so etwas wie ein Nachfolger im Amt des Oberhistorikers<br />
im Freistaat. Seine großartige Aventin-<br />
Monografie, die auch das Werk und die lange<br />
und wechselvolle Rezeption ausleuchtet, kann<br />
man als Verneigung vor dem Humanismus lesen.”<br />
Anders als Jürgen Kaube (Ist die Schule zu blöd<br />
für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 2<strong>01</strong>9, 336 Seiten,<br />
22.00 €), Herausgeber und Bildungsexperte<br />
der FAZ, hat Jan Roß in seinem Buch Bildung.<br />
Eine Anleitung die aktuelle Schule und die Niederungen<br />
des Alltags nicht fortwährend im Blick. Er<br />
stellt sich die Frage: „Wie wird man ein gebildeter<br />
Mensch?“ und konstatiert: „Bildung ist mehr als<br />
Information und Wissen, sie verspricht Orientierung<br />
und Dauerhaftigkeit: das, was wirklich Bestand<br />
hat und lohnt.“<br />
Bei der Lektüre des Buches von Jan Ross habe ich<br />
mir zwei jüngst erschienene Titel von Konrad Paul<br />
Liessmann, (Professor emeritus für Philosophie<br />
an der Universität Wien; Essayist und Kulturpublizist),<br />
nämlich Bildung als Provokation, 2<strong>01</strong>7,<br />
und Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung.<br />
Eine Streitschrift, 2<strong>01</strong>4 (beide Paul Zolnay Verlag<br />
Wien), aus dem Regal geholt und parallel gelesen.<br />
Liessmann schreibt: „Uns fehlt mittlerweile jede<br />
Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben<br />
könnte, die Wert und Interesse für sich selber<br />
haben und deshalb der entscheidende Stoff, die<br />
entscheidende Nahrung für die Entwicklung eines<br />
jungen Menschen sein müssen. Wissen ist heute<br />
ergebnisorientiert und anlassbezogen, es soll sich<br />
entweder an den Bedürfnissen der jungen Menschen,<br />
an den Wünschen der Arbeitgeber oder an<br />
den Herausforderungen der Zukunft, die keiner<br />
kennt, orientieren“, 2<strong>01</strong>4,56. – An anderer Stelle:<br />
„Bildung erscheint längst nicht mehr als Ausdruck<br />
einer eigenen und zunehmend selbstverantwortlich<br />
organisierten Anstrengung, sondern als das<br />
Konsumieren eines Produkts, das von einem Konsortium<br />
von Pädagogen und ihren Beratern maßgeschneidert<br />
angeboten werden muss“, 2<strong>01</strong>4,<br />
114. Schließlich: „… Schule wird immer weniger<br />
als Ort des Lernens und des Wissens, als Raum<br />
der Bildung, sondern als sozialpädagogische Anstalt<br />
zur Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen<br />
aufgefasst, weil man nicht weiß, was man<br />
sonst mit Ihnen machen sollte“, 2<strong>01</strong>4, 100.<br />
Vieles, was Liessmann als Gravamina des heutigen<br />
Schulbetriebs deklariert („niemand ist <strong>neu</strong>gierig<br />
darauf, eine Kompetenz zu entwickeln“,<br />
2<strong>01</strong>4, 76; „wem es nur darum geht, die Lesekompetenz<br />
seiner Schüler zu fördern, für den ist das,<br />
was gelesen wird, kein Wert mehr an sich; wenn<br />
der Inhalt als Aufgabe, Rätsel, Herausforderung,<br />
Provokation verschwindet aber das, von dem<br />
noch Aristoteles glaubte, dass es konstitutiv für<br />
den Menschen sei: sein Streben nach Wissen, seine<br />
Neugier: ´Bildung beginnt mit Neugierde. Man<br />
töte in jemandem die Neugierde ab, und man<br />
stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden“, 2<strong>01</strong>4,75.<br />
In diesen Punkten wäre Jan Roß mit Konrad Paul<br />
Liessmann völlig d’accord. Auch in der Bestimmung<br />
des Begriffs Bildung, Liessmann orientiert<br />
sich hier an einer Beschreibung des Berliner Philosophen<br />
Peter Bieri: „Bildung ist etwas, das Menschen<br />
mit sich und für sich machen. Man bildet<br />
sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann<br />
sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel.<br />
Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz<br />
anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung<br />
durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können.<br />
Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir<br />
daran, etwas zu werden – wir streben danach,<br />
auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu<br />
sein“ 2<strong>01</strong>4,128; Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet<br />
zu sein, in: Heiner Hastede, Hg., Was ist Bildung?<br />
Eine Textanthologie, Stuttgart 2<strong>01</strong>2,228.<br />
Jan Roß bestimmt Bildung folgendermaßen:<br />
„Gebildet ist gerade nicht, wer ‚mit beiden Beinen<br />
auf der Erde steht‘, der Durchblicker und<br />
Bescheidwisser, der unerschütterliche Realist.<br />
Man braucht einen Rest an Naivität, um mit<br />
Dichtung und Kunst, mit den großen Geschichten<br />
der Menschheit etwas anfangen zu können. Und<br />
nicht nur mit den großen Geschichten, auch mit<br />
den großen Gedanken. Die Philosophie, wußten<br />
die Griechen, fängt mit dem Staunen an, damit,<br />
dass man die Dinge nicht für selbstverständlich<br />
hält. Man muss sich erst einmal wundern, bevor<br />
man für das Verwunderliche, für das Wunderbare<br />
Erklärungen suchen und finden kann“, <strong>2020</strong>, 61.<br />
Das Buch beginnt mit einer fesselnden Einleitung,<br />
einer Bildungserfahrung in Indien im Gespräch<br />
mit einem Filmemacher: Unsere unsichtbaren<br />
Helfer (9ff.). –> Lesen Sie bitte auf Seite 66 weiter<br />
62 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
63
Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein,<br />
als ich zum ersten Mal die Akropolis in Athen gesehen habe.<br />
Meine Eltern hatten mich auf eine Griechenlandreise<br />
mitgenommen, und als wir den Weg zum antiken Burgberg mit<br />
seinen Tempeln hinaufstiegen, passierte etwas Seltsames,<br />
das ich damals als Frühjugendlicher, mäßig sensibel<br />
für die Gefühlswelt der Erwachsenen, nicht recht verstanden habe.<br />
Mein Vater wurde plötzlich blass, ihm blieb die Sprache und<br />
beinahe der Atem weg, und er musste sich mit weichen Knien auf<br />
einen der mehrtausendjährigen Steine niedersetzen, die überall<br />
herumlagen. Der Schwächeanfall hatte nichts mit Erschöpfung zu<br />
tun. Mein Vater war matt-gesetzt von der Schönheit der<br />
Marmorruinen, die da vor ihm auftauchten. Aber es war noch<br />
etwas anderes im Spiel. In dem altsprachlichen Gymnasium, das<br />
meine Mutter und er dreißig Jahre vorher besucht hatten, war von<br />
der Kultur des Altertums stets in den höchsten Tönen die Rede<br />
gewesen: von den Staatsmännern, Dichtern, Künstlern und<br />
Denkern Athens und ihren unsterblichen Werken, die angeblich den<br />
Gipfel menschlicher Zivilisation darstellten und für alle Zeiten<br />
unerreichte Vorbilder sein sollten. Doch diese ganze Schulantike<br />
war irgendwie unwirklich gewesen, etwas, das bloß in Büchern<br />
stand, eine Legende, wie die Geschichten von König Artus<br />
und den Rittern der Tafelrunde oder die klassischen Götter- und<br />
Heldensagen von Gustav Schwab. Der Gymnasialhumanismus<br />
hatte keinen Bezug zur Realität; unvorstellbar, dass man eines<br />
Tages tatsächlich vor den<br />
Überresten dieser Kultur stehen, sie mit eigenen Augen<br />
anschauen und mit den Händen anfassen würde. Jetzt kam, mit der<br />
Wucht eines Schocks, das Bewusstsein: Das alles, wovon sie uns<br />
immer erzählt haben, gibt es also wirklich. Als hätte der<br />
Zollbeamte des Feenlandes einem gerade den Pass<br />
gestempelt und den Schlagbaum zur Weiterfahrt geöffnet – und<br />
würde ein bisschen ungeduldig darauf warten, dass man endlich<br />
den Zündschlüssel umdreht und den Motor anlässt.<br />
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29<br />
64 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong>
Doch am stärksten im Gedächtnis geblieben sind mir von<br />
diesem Tag acht Worte, die wir nur zufällig mitbekamen.<br />
Im Museum auf dem Akropolisfelsen, in dem die wichtigsten Funde<br />
der Ausgrabungen ausgestellt sind, trafen wir eine englischsprachige<br />
Besuchergruppe mit einem griechischen Führer, der die<br />
Exponate ziemlich redselig erläuterte.<br />
Nach einem längeren Rundgang kamen die Leute zu einem Marmorrelief<br />
aus der Zeit um 460 vor Christus, das oft<br />
»die trauernde Athene« genannt wird.<br />
Es zeigt die Schutzpatronin Athens, die Göttin des Krieges und der<br />
Weisheit, stehend, im Profil, den Helm auf dem Kopf,<br />
leicht vorgeneigt, auf ihren Speer gestützt, den Blick gesenkt.<br />
Schwer zu sagen, ob sie wirklich trauert oder eher<br />
nachdenklich ist.<br />
Das Bild ist jedenfalls ein Musterbeispiel für das, was man<br />
»klassisch« nennt: weder karg noch üppig, weder kalt noch<br />
gefühlig, sondern in einer vollkommenen Balance – in einer Mitte<br />
nicht zwischen den Extremen, sondern über ihnen.<br />
Vor diesem Steinrelief nun hielt der wortreiche Führer an, stoppte<br />
seinen bisherigen Redefluss, startete keinerlei<br />
Erläuterungsversuche, wie ich sie eben gerade gemacht habe,<br />
sondern wandte sich an seine Gruppe mit einem einzigen Satz:<br />
»Look at it and keep it in mind.«<br />
Und dann kam nichts mehr.<br />
Die acht Worte sind in unserer Familie zu einem geflügelten Wort<br />
für den Respekt vor dem Schönen und Großen geworden. Und eine<br />
Gipskopie der «trauernden Athene» hängt bis heute in der Wohnung<br />
meiner Eltern an der Wand<br />
über dem Kachelofen.<br />
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin <strong>2020</strong>, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29<br />
Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Acropole_Mus%C3%A9e_Ath%C3%A9na_pensante.JPG<br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
67
Fortsetzung von Seite 61<br />
Das erste Kapitel ist nicht nur für Gräzisten sehr<br />
anregend: Die alten Griechen. Die Entdeckung<br />
des Eigentlichen (27ff.). – Es folgen diese Kapitel:<br />
Geschichten. Von der Wahrheit erfundener<br />
Welten (54ff.). – Die Bibel. Der Entwicklungsroman<br />
der Menschheit (71ff.) – Lesen: Wie Bücher<br />
zu Freunden werden (99ff.). – Wissenschaft und<br />
Philosophie: Wie man die Welt auf den Kopf stellt<br />
(118ff.). – Bildende Kunst: Zweite Schöpfung aus<br />
Menschenhand (155ff.). – Bewunderung: Die<br />
Provokation des Schönen und Guten (175ff.).<br />
– Staatsbürgerkunde: Freiheit lernen (194ff.). –<br />
Zugang: Wie man die Hürden vor der Bildung<br />
nimmt (221ff.). – Tradition und Gegentradition:<br />
Die Klassiker der Rebellion (237ff.). – Erinnerung:<br />
Was dem Leben wahre Tiefe gibt (267ff.). – Musik:<br />
Der direkteste Weg in die Seele (287ff.). – Das<br />
Schlusskapitel: Macht uns Bildung zu besseren<br />
Menschen? (311ff.).<br />
In den einzelnen Kapiteln präsentiert Jan Roß<br />
Themen und Texte aus Wissenschaft und Literatur,<br />
mit denen die Beschäftigung sich lohnt,<br />
er sucht nach ihrer Bildungsbedeutung und beschränkt<br />
sich – gerade nach einem mehrjährigen<br />
Aufenthalt als Korrespondent in Indien – nicht<br />
nur auf solche europäischer Provenienz. In der<br />
Einleitung schildert er die Gespräche mit dem<br />
Drehbuchautor Basharat Peer, der ihm erzählt, er<br />
habe in Shakespeares Tragödie Hamlet die Tragödie<br />
seiner eigenen Heimat wiedergefunden. Bald<br />
wird Jan Roß bewußt, dass der Hamlet „mir mehr<br />
über Kaschmir (verriet) als alle politischen Studien<br />
und Artikel, die ich darüber gelesen hatte“ (11).<br />
Jan Roß erzählt recht amüsant von Schulerlebnissen,<br />
die ihm besonders präsent sind: von einer<br />
Klassenfahrt nach Rom (167ff.), der Platonlektüre<br />
im Griechischunterricht (145ff.). Er erzählt<br />
vom Akropolisbesuch mit seinen Eltern und dem<br />
Moment, in dem er vor der Paradiestür Lorenzo<br />
Ghibertis in Florenz stand (170ff.). Er läßt immer<br />
wieder einfließen, welche Bildungsbemühungen<br />
er bei seinen beiden Kindern anstrengte. Mit Humor<br />
relativiert er dabei seine Neigung zum kulturellen<br />
Traditionalismus, seinen Antikefimmel und<br />
seine Klassikmanie (156).<br />
Amüsant zu lesen ist, wenn er berichtet, wie<br />
sein FAZ-Kollege vom Feuilleton, Henning Ritter,<br />
ihm den Darwinismus erklärt (131ff.), was<br />
zur Erkenntnis führt, dass in der Schwerverdaulichkeit<br />
der Bildungswert der Wissenschaft liege<br />
(137; 145). Der brillante Theaterkritiker der FAZ,<br />
Gerhard Stadelmaier, habe ihn entdecken lassen,<br />
dass das Kritische ein wichtiges Element der Bildung<br />
sei, aber nicht ihre Seele, ihre treibende<br />
Kraft. „Bloß mit der Idee des In-Frage-Stellens im<br />
Kopf würde kein Mensch je ein Buch aufschlagen,<br />
sein Musikinstrument aus dem Schrank holen<br />
oder eine Opernkarte kaufen. Die Zeit und Mühe,<br />
die das alles kostet, bringt man nicht ohne die<br />
Annahme auf, dass es am Ende der Anstrengung<br />
etwas Großartiges und Einmaliges zu entdecken<br />
gibt“ (180).<br />
Wie wird man ein gebildeter Mensch? Jan Roß<br />
zeigt, wie man zu dieser scheinbar schwierigen<br />
und verschlossenen Welt Zugang findet. Es gibt –<br />
so seine Überzeugung – keinen Grund, sich von<br />
der Tradition einschüchtern zu lassen. Bildung, so<br />
Roß, heißt letztlich etwas sehr Einfaches – dass<br />
wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu<br />
meistern und die Welt zu verstehen. Wie man<br />
dieser Gemeinschaft beitritt und wie man in ihr<br />
heimisch wird – davon handelt sein Buch. Es begleitet<br />
die Leserin und den Leser auf die Akropolis<br />
und nach Rom, zu Shakespeare, Kant und Dostojewski,<br />
aber auch zu Wissenschaftlern wie Darwin<br />
oder Revolutionären wie Rosa Luxemburg:<br />
Ein Plädoyer für die welterschließende, phantastische,<br />
subversive Macht von Literatur und Musik,<br />
Kunst und Wissenschaft.<br />
Dennis Gressel, 33 Ideen Digitale Medien<br />
Latein, SEK I + II, Step-by-step erklärt, einfach<br />
umgesetzt – das kann jeder! 72 Seiten,<br />
Auer-Verlag Augsburg, 2<strong>01</strong>9,<br />
ISBN 978-3-403-8295-8, 18.40 €<br />
Moderner Unterricht soll digitale<br />
Medien berücksichtigen – auch im<br />
Lateinunterricht. Nur wie soll das<br />
funktionieren, ohne nennenswerte<br />
Vorkenntnisse? Der vorliegende<br />
Band erhebt den Anspruch, uns zu zeigen, wie es<br />
geht! Die Broschüre im DIN A4-Format enthält 33<br />
praxiserprobte Ideen zum Einsatz digitaler Medien<br />
im Lateinunterricht, die auf einer Doppelseite jeweils<br />
einfach und Schritt für Schritt erklärt werden.<br />
Zusätzlich wird das Vorgehen an einem konkreten<br />
Beispiel verdeutlicht. Angaben zu Klassenstufe,<br />
Material, technischen Voraussetzungen etc. erleichtern<br />
die Umsetzung.<br />
Thematisch ist der Band in vier Abschnitte gegliedert:<br />
Antike Texte bearbeiten und kreativ umsetzen<br />
| Antike Kultur erfahrbar machen | Wortschatz und<br />
Grammatik visualisieren | Digitale Unterrichtsprojekte<br />
realisieren. Jede Unterrichtsideen kann einer<br />
oder mehreren Unterrichtsphasen zugeordnet werden<br />
und zwar zu den Phasen Einstieg, Erarbeitung,<br />
Ergebnissicherung, Vertiefung, Wiederholung,<br />
Übung, Anwendung und Projekt.<br />
Die Strukturelle Anlage jeder Doppelseite weckt Vertrauen.<br />
Nach Basisangaben zum zeitlichen Umfang,<br />
Unterrichtsphase und Thema folgt eine Kurzbeschreibung<br />
der jeweiligen digitalen Idee, Angaben zu benötigten<br />
Materialien und technischen Voraussetzungen,<br />
Notizen zu Ablauf und Methode an einem<br />
konkreten Beispiel, Hinweise auf mögliche Fallstricke<br />
und Tipps, eine analoge Alternative (wenn alles<br />
notfalls ohne Computer oder Tablet gehen soll) sowie<br />
Materialhinweise und Infoseiten, sprich Links<br />
zu Suchmaschinen, Beispielseiten, Erklärvideos,<br />
allgemeinen Informationen und Hilfsprogrammen.<br />
Natürlich kann man solch eine Broschüre nicht abarbeiten,<br />
aber die ein oder andere der 33 Ideen gut<br />
und nachahmenswert zu finden, das sollte schon<br />
möglich sein. Ich räume gerne ein, dass ich mir im<br />
Einzelfall im Vorfeld Hilfe suche würde, etwa beim<br />
Vorinstallieren von Programmen und dem Ausloten<br />
von deren Möglichkeiten, dass ich eine Fachkonferenz<br />
ansetzen oder eine kleine Arbeitsgruppe organisieren<br />
würde, um einen Eindruck zu gewinnen,<br />
was geht, dass ich den ein oder anderen Schüler<br />
anspitzen würde, mir auf die Sprünge zu helfen.<br />
Selbstverständlich gibt es Ideen für den Einsatz digitaler<br />
Medien in dieser Broschüre, die ich sofort<br />
realisieren könnte, etwa Texte digital zu erschließen<br />
(S. 18f), eigene Textausgaben zu erstellen (S.<br />
14f.), einen virtuellen Stadtrundgang zu erstellen<br />
(S. 22f.), Rezeptionsdokumente zu erstellen (S.<br />
28f.), eine Exkursion vorzubereiten (S. 30f.), einen<br />
virtuellen Museumsrundgang zu erstellen (S. 34f.).<br />
Wie sagte doch Aristoteles: Der Anfang ist die<br />
Hälfte vom Ganzen. Auch der Lateiner D. Magnus<br />
Ausonius ist überzeugt: Die Hälfte der Tat besteht<br />
darin, angefangen zu haben.<br />
68 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
69
Jana Abandowitz, Ulrike Wodka,<br />
55 Stundeneinstiege Latein. Einfach, kreativ,<br />
motivierend. Auer Verlag Augsburg,<br />
3. Auflage 2<strong>01</strong>8, 68 Seiten,<br />
ISBN 978-3-403-07694-0. 17.90 €<br />
Dieses Büchlein von 68 Seiten sollte bei<br />
jedem Lateinlehrer, bei jeder Lateinlehrerin<br />
vom Schreibtisch aus greifbar<br />
im Regal stehen, egal ob Anfänger im<br />
Unterrichten oder weit Fortgeschrittener<br />
in der Unterrichtspraxis. Beide werden Ihren<br />
Fundus an Ideen erweitern und ergänzen wollen<br />
und <strong>neu</strong>en Ideen gegenüber aufgeschlossen sein.<br />
Und an der Tatsache, dass ein gelungener Stundeneinstieg<br />
quasi die halbe Miete darstellt, dürften<br />
die Zweifel gering sein.<br />
Schülerinnen und Schüler müssen zu Stundenbeginn<br />
im Lateinunterricht ankommen, aufmerksam<br />
gemacht und darauf vorbereitet werden, was<br />
im weiteren Verlauf erarbeitet werden soll. Das<br />
verlangt ein bißchen Planung, Abwechslung und<br />
Zielgerichtetheit. Die beiden Autorinnen schütten<br />
dazu die Füllhörner Ihrer Praxiserfahrenheit<br />
aus und präsentieren 55 Stundeneinstiege – allesamt<br />
in der Schulwirklichkeit erprobt, maximal<br />
10 Minuten Zeit in Anspruch nehmend, nach drei<br />
Anforderungsniveaus sortiert und eingeteilt in<br />
die fünf Kategorien Wortschatz, Grammatik, Umgang<br />
mit Texten, Hintergrundwissen und Quid ad<br />
nos?<br />
In aller Kürze werden die Voraussetzungen eines<br />
Einstiegs genannt (Sch kennen die verwendeten<br />
Vokabeln / Sch kennen mehrere unregelmäßig<br />
gebildete Stammforen / Besonders im Kontext<br />
Philosophie geeignet u. ä.) und das ggf. erforderliche<br />
Material angegeben (z. B. Weißes Papier<br />
und Stifte / Vorbereitete Folie zum Thema /<br />
Vorbereiteter lateinischer Dialog auf Arbeitsblatt<br />
/ Schülerhefte für Notizen usw.). Entscheidend<br />
positiv ist, dass man nicht das halbe Buch lesen<br />
muss, um einen geeigneten Einstieg zu finden.<br />
Natürlich wird man auch nicht mit allen 55<br />
Vorschlägen in gleicher Weise zurecht kommen.<br />
Was hätte ich in meinen Anfangsjahren als Lateinlehrer<br />
dafür gegeben, auf solch ein Kompendium<br />
zurückgreifen zu können. Wie oft habe ich<br />
meine Kollegen in den modernen Fremdsprachen,<br />
in Deutsch, Geschichte, Politik oder Geographie<br />
beneidet, dass Verlage Ihnen solches Material als<br />
Ideenbörse anboten. Für die alten Sprachen gab<br />
es das nicht, bislang musste man jedenfalls lange<br />
danach suchen.<br />
Natürlich ist das Thema Stundeneinstieg ein<br />
Pflichtthema in jedem Fachseminar und in der Referendarszeit.<br />
Selbstverständlich sind nicht alle Einstiege<br />
<strong>neu</strong> und frisch erfunden. Die Wörterschlange<br />
/ Serpens verborum, der Buchstabenquark,<br />
der Vokabelfußball / Certamen pediludicum, das<br />
Kreuzworträtsel, das Formentelefon, das Elfchen,<br />
das Chronogramm und die Nuntii Latini habe ich<br />
als Lehrer über die Jahre meist in <strong>neu</strong>en Lehrbüchern<br />
kennen und schätzen gelernt. Gerne verwenden<br />
würde ich die Wortwolke (S. 52, erstellt<br />
mit dem Programm www.wordle.net) oder Tangite<br />
– Realien aus der Antike (S. 63) oder die Oratio<br />
brevissima (S. 58) oder Fragmente (S. 49, einen<br />
zerstückelten Text in die richtige Reihenfolge<br />
sortieren), Schnipselsätze (S. 36), Stammformenchaostheorie<br />
(S. 31, aus einem Buchstabenchaos<br />
die lateinische Stammform herauszufinden und<br />
die fehlenden Formen zu ergänzen) oder Bingo,<br />
Activity oder Tabu (S. 22ff.)<br />
Ein interessanter Stundeneinstieg – eine Binsenweisheit<br />
– kann einen großen Beitrag zur Aufrechterhaltung<br />
der Motivation und Anstrengungsbereitschaft<br />
der Schüler leisten. Lateinlehrkräfte<br />
Impressum ISSN 0945-2257<br />
wissen das und die 3. Auflage dieses Büchleins<br />
ist der Beweis.<br />
Im Auer Verlag gibt es noch weitere Titel für experimentier-<br />
und Innovationsfreudige Kollegen,<br />
etwa 55 Methoden Latein (von Florian Bartl),<br />
66 und XV Spielideen Latein, 44 kreative Wege<br />
zur mündlichen Note Latein, Die schnelle Stunde<br />
Latein (von Julia Umschaden) und 44 x Einführung<br />
Grundlagengrammatik Latein (von Christian<br />
Schöffel).<br />
Mehr Informationen unter www.lehrerwelt.de<br />
und www.auer-Verlag.de<br />
Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg erscheint vierteljährlich und wird herausgegeben vom<br />
Vorstand des Landesverbandes Berlin und Brandenburg im Deutschen Altphilologenverband (DAV)<br />
www.davbb.de<br />
1. Vorsitzender: Prof. Dr. Stefan Kipf Humboldt Universität zu Berlin<br />
Didaktik Griechisch und Latein · Unter den Linden 6 · 10099 Berlin<br />
stefan.kipf@staff.hu-berlin.de<br />
2. Vorsitzende: StR Gerlinde Lutter Tagore-Schule/Gymnasium, Berlin · g1lutter@aol.com<br />
Andrea Weiner Alexander von Humboldt Gymnasium, Eberswalde<br />
Schriftleitung des StD Dr. Josef Rabl<br />
Mitteilungsblattes: Kühler Weg 6a ∙ 14055 Berlin ∙ Josef.Rabl@t-online.de<br />
Kassenwartin:<br />
Beisitzer:<br />
Grafik / Layout:<br />
StR Peggy Klausnitzer<br />
peggy.klausnitzer@t-online.de<br />
StR Wolf-Rüdiger Kirsch ∙ StD Dr. Josef Rabl<br />
Fabian Ehlers Karlsruher Straße 12 · 10711 Berlin · fabian.ehlers@<strong>web</strong>.de<br />
IMPRESSUM<br />
70 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong><br />
LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong> · JAHRGANG LXIV<br />
71
NEU<br />
adeo 500<br />
Illustrierter Grundwortschatz nach Sachgruppen<br />
ISBN 978-3-7661-5274-9, ca. € 12,90<br />
Erscheint im April <strong>2020</strong><br />
adeo 500 bietet einen <strong>neu</strong>en und einzigartigen<br />
Zugang zu den 500 wichtigsten Wörtern des<br />
Bamberger Wortschatzes. Mithilfe von kleinen<br />
Skizzen, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten,<br />
ergänzen und kolorieren können, sowie<br />
Platz für den Eintrag eigener „Eselsbrücken“<br />
lassen sich die Wortbedeutungen spielerisch<br />
visualisieren und wesentlich besser einprägen.<br />
1<br />
GEFÜHL UND ABSICHT<br />
miser<br />
misera<br />
miserum<br />
GEFÜHL UND ABSICHT<br />
arm<br />
erbärmlich<br />
unglücklich<br />
1<br />
amor amōris m die Liebe<br />
placēre<br />
placeō<br />
placuī<br />
placitum<br />
(jdm.) gefallen<br />
Senātōrī placet …<br />
Der Senator beschließt …<br />
m. Dat. beschließen<br />
cūra cūrae f die Sorge<br />
die Pflege<br />
sentīre<br />
sentiō<br />
sēnsī<br />
sēnsum<br />
fühlen<br />
meinen<br />
wahrnehmen<br />
dolor dolōris m der Schmerz<br />
das Leid<br />
timēre<br />
timeō<br />
timuī<br />
(etwas) fürchten<br />
Angst haben vor<br />
Timeō, nē cadam.<br />
Ich fürchte, dass ich falle.<br />
invidia invidiae f der Neid<br />
velle<br />
volō<br />
voluī<br />
wollen<br />
lacrima lacrimae f die Träne<br />
nōlle<br />
nōlō<br />
nōluī<br />
nicht wollen<br />
Nōlī timēre!<br />
Hab keine Angst!<br />
metus metūs m die Angst<br />
die Furcht<br />
imperāre<br />
imperō<br />
imperāvī<br />
imperātum m. Dat.<br />
befehlen<br />
herrschen (über)<br />
metus Rōmānōrum<br />
die Furcht der Römer<br />
die Furcht vor den Römern<br />
Rēx populō imperat.<br />
Der König herrscht über sein Volk.<br />
10<br />
11<br />
(verkleinerte Musterseiten aus adeo 500)<br />
Mehr Informationen auf<br />
www.ccbuchner.de.<br />
C.C.Buchner Verlag GmbH & Co. KG<br />
www.ccbuchner.de | www.facebook.com/ccbuchner<br />
72 JAHRGANG LXIV · LGBB <strong>01</strong> / <strong>2020</strong>