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Baumeister 11/2022

Weiterbauen Teil1

Weiterbauen Teil1

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A<br />

B<strong>11</strong><br />

B A U<br />

November 22<br />

<strong>11</strong>9. JAHRGANG<br />

Das Architektur-<br />

Magazin<br />

MEISTER<br />

Weiterbauen!<br />

4 194673 016508<br />

<strong>11</strong><br />

D 16,50 €<br />

A,L 19 €<br />

I 19,90 €<br />

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NOVEMBER<br />

DEZEMBER<br />

JANUAR<br />

BAUMEISTER SONDERSERIE: WEITERBAUEN<br />

B<strong>11</strong>/22: AUFSTOCKEN, B12/22: ANBAUEN , B1/23: UMBAUEN<br />

33% PREISVORTEIL GEGENÜBER EINZELHEFTKAUF<br />

+ CURATED AUSGABE „SAUERBRUCH HUTTON“ ALS GESCHENK<br />

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A<br />

Editorial<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

COVERFOTO:ALBRECHT VOSS<br />

ich erlebe es derzeit häufig in Gesprächen<br />

mit Architektinnen und Architekten: Nicht<br />

wenige verspüren etwas, was man vielleicht<br />

in Analogie zur vielzitierten „Flugscham“ als<br />

„Neubauscham“ bezeichnen könnte. Es ist<br />

kaum verwunderlich, dass der enorme Anteil,<br />

den die Bauindustrie zum weltweiten<br />

CO2-Ausstoß beiträgt, der Disziplin auf der<br />

Seele lastet. Die meisten Architektinnen und<br />

Architekten haben schließlich den Anspruch<br />

an sich, einen positiven Beitrag zur Gesellschaft<br />

zu leisten, Verantwortung zu übernehmen<br />

und sorgsam damit umzugehen. Dieses<br />

Selbstverständnis hat zu einem enormen Interesse<br />

an nachhaltigen Bauweisen geführt.<br />

Die ersten Ergebnisse dieses Bewusstseinswandels<br />

werden nun Stück für Stück sichtbar.<br />

Gleichzeitig macht sich aber auch die<br />

Erkenntnis breit, dass nachwachsende und<br />

recycelbare Baumaterialien nur ein kleiner<br />

Teil der Lösung sein können. Den größten Beitrag<br />

zum Klimaschutz wird nicht das Anders-<br />

Neubauen, sondern das Nicht-Neubauen<br />

leisten müssen.<br />

Gerade erleben wir im Zeitraffertempo eine<br />

Neuausrichtung der Architektur – zumindest<br />

in der Theorie. Parallel zu unserer „Weiterbauen“-Serie<br />

zeigt das Deutsche Architekturmuseum<br />

die Schau „Nichts Neues – Besser<br />

Bauen mit Bestand“ (siehe S. 84), bereits<br />

seit einiger Zeit tourt die Wanderausstellung<br />

„Sorge um den Bestand“ des BDA durch<br />

Deutschland (siehe <strong>Baumeister</strong> 2/2021). Und<br />

auch der Baukulturbericht <strong>2022</strong>/2023 der<br />

Bundesstiftung Baukultur steht unter der<br />

Überschrift „Umbaukultur“ (siehe S. 88). Ich<br />

kann nur hoffen, dass all diese Bemühungen<br />

auch außerhalb der Profession auf fruchtbareren<br />

Boden fallen als 2012 Muck Petzets<br />

immer noch bemerkenswerter Beitrag zur<br />

Architekturbiennale in Venedig. Viele der<br />

bereits vor zehn Jahren erhobenen Forderungen<br />

sind drängender denn je (siehe Interview<br />

S. 10). Umso notwendiger ist es, dass<br />

sie endlich auch in politisches Handeln übersetzt<br />

werden.<br />

Die Projekte im ersten Heft unserer insgesamt<br />

aus drei Ausgaben bestehenden „Weiterbauen“-Serie<br />

sind Beispiele für in unseren<br />

Augen besonders gelungene Aufstockungen.<br />

Gerade in den wachsenden Metropolen<br />

ist dieses Thema von enormer Bedeutung,<br />

denn vielfach ist das Aufstocken die einzige<br />

Möglichkeit der Nachverdichtung. Gleichzeitig<br />

gibt es ungenutzte Dachflächen im<br />

Überfluss. Hier gilt es, für die Zukunft konstruktive<br />

und gestalterische Wege zu finden,<br />

diese attraktiven Bauplätze einer sinnvollen<br />

Nutzung zuzuführen. Diese Ausgabe will dafür<br />

Anregungen liefern.<br />

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Fabian Peters<br />

f.peters@georg-media.de<br />

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@baumeister_architekturmagazin<br />

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Weiterbauen:<br />

I B<strong>11</strong> Aufstocken<br />

II B12 Anbauen<br />

III B1 Umbauen<br />

6<br />

Einführung<br />

Ideen:<br />

18<br />

Trinitatiskirchruine<br />

in Dresden<br />

Neue<br />

Nutzung<br />

einer Dresdner<br />

Kirchenruine<br />

S. 18<br />

30<br />

Stadthaus<br />

in Linz<br />

Fitness auf dem Dach<br />

in Ditzingen<br />

S. 44<br />

44<br />

Sporthalle<br />

in Ditzingen


54<br />

Mehrfamilienwohnhaus<br />

Fragen:<br />

5<br />

in Vevey<br />

64<br />

Gewächshaus<br />

in Roeselare<br />

74<br />

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BAU<br />

MEISTER.<br />

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84<br />

Umbaukultur –<br />

bereit für<br />

über -<br />

raschende<br />

Lösungen<br />

?<br />

88<br />

Wer siegt bei<br />

den „Häusern<br />

des Jahres“<br />

?<br />

Büro- und Atelierhaus<br />

in Winterthur<br />

LÖSUNGEN<br />

FOTO LINKS OBEN: ALBRECHT VOSS; UNTEN: INA REINECKE; RECHTS: MARTIN ZELLER<br />

Büroaufstockung in<br />

Winterthur<br />

S. 74<br />

92<br />

BRANCHENFEATURE:<br />

ZIEGEL AUF DEM WEG IN<br />

D I E Z U K U N F T<br />

96<br />

WANDBAUSTOFFE<br />

1 0 4<br />

NEWS<br />

RUBRIKEN<br />

28<br />

KLEINE WERKE<br />

42<br />

UNTERWEGS<br />

102<br />

REFERENZ<br />

<strong>11</strong>0<br />

P O R T F O L I O :<br />

OBJEKT IM FOKUS<br />

109<br />

IMPRESSUM + VORSCHAU<br />

<strong>11</strong>4<br />

KOLUMNE


uf—<br />

6 Einführung<br />

toc<br />

Auf dem Dach ist<br />

noch Platz!<br />

Wer nachverdichten<br />

will, ohne weitere<br />

Flächenversiegelung


Flächenversiegelung<br />

zu verursachen,<br />

kommt ums Aufstocken<br />

nicht herum.<br />

7<br />

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Gast-Arbeiter<br />

Maik Novotny studierte<br />

Architektur<br />

und Stadtplanung<br />

in Stuttgart und<br />

Delft und arbeitet<br />

als Architekturjournalist,<br />

Autor und<br />

Moderator in Wien.<br />

Er lehrt an der<br />

TU Wien und ist seit<br />

<strong>2022</strong> Vorstandsvorsitzender<br />

der<br />

Österreichischen<br />

Gesellschaft für<br />

Architektur (ÖGFA).<br />

Marion Elmer hat<br />

Ethnologie an der<br />

Universität Zürich<br />

sowie Architekturgeschichte<br />

und<br />

-theorie an der ETH<br />

Zürich studiert.<br />

Die freie Autorin<br />

schreibt über die<br />

gebaute und die<br />

ungebaute Umwelt;<br />

als selbstständige<br />

Redakteurin und<br />

Produzentin betreut<br />

sie Zeitschriften<br />

und Bücher.


8<br />

Reduce, Reuse,<br />

Recycle<br />

Auf der Architekturbiennale<br />

2012 in Venedig<br />

zeigte der Deutsche<br />

Pavillon den Beitag<br />

„Reduce, Reuse,<br />

Recycle“. In einem<br />

Ausstellungsdesign von<br />

Konstantin Grcic stellte<br />

Kurator Muck Petzet<br />

16 Positionen zum<br />

Thema Weiterbauen<br />

vor. Der Titel der Schau<br />

bringt eine „Abfallvermeidungshierarchie“<br />

zum Ausdruck. An der<br />

Spitze dieser Hierarchie<br />

steht „Reduce“,<br />

also die bestmögliche<br />

Vermeidung von Abfall.<br />

Das, so stellte der<br />

Biennale-Beitrag eindeutig<br />

klar, könne nur<br />

gelingen, wenn Bestandsgebäude<br />

mit<br />

den kleinstmöglichen<br />

Eingriffen weitergenutzt<br />

werden.<br />

FOTO: RRR/FUTURE DOCUMENTATION/EO


FOTO / QUELLE: VORNAME NAME


10<br />

Einführung<br />

Muck Petzet<br />

B+:<br />

Olaf Grawert<br />

Roberta Jurcic<br />

Arno Brandlhuber<br />

Jolene Lee<br />

Jonas Janke<br />

(v.l.n.r.)<br />

2012 hat Muck Petzet den Deutschen Pavillon<br />

auf der Architekturbiennale kuratiert. Sein<br />

Beitrag „Reduce, Reuse, Recycle“ hat vor zehn<br />

Jahren bereits klargestellt, dass nachhaltiges<br />

Bauen nur die Konzentration auf den Bestand<br />

bedeuten kann. Passiert ist seitdem wenig.<br />

FOTO OBEN: GERHARD KELLERMANN; UNTEN: MARC KRAUSE


edeuten kann. Passiert ist seitdem wenig.<br />

Gibt es nun Hoffnung, dass sich die Situation<br />

dreht? Das haben wir mit Muck Petzet sowie mit<br />

Arno Brandlhuber und Olaf Grawert vom Büro<br />

B+ diskutiert, die sich nicht nur im Rahmen ihres<br />

Biennale-Beitrags „2038“ mit der Notwendigkeit<br />

eines Bewusstseinswandels intensiv<br />

auseinandergesetzt haben, sondern auch in<br />

ihrer baulichen Praxis zu den konsequentesten<br />

Verfechtern des Bestandserhalts gehören.<br />

<strong>11</strong><br />

BAUMEISTER:<br />

Muck, Du hast 2012 den deutschen<br />

Pavillon auf der<br />

Architekturbiennale kuratiert.<br />

Er stand unter der Überschrift<br />

„Reduce, Reuse, Recycle“.<br />

Für den Katalog hast Du damals<br />

einen einleitenden Artikel<br />

geschrieben, von dem man<br />

meinen könnte, er sei heute<br />

verfasst worden. Hat sich in<br />

der Zwischenzeit so wenig<br />

getan?<br />

MUCK PETZET:<br />

In der Praxis hat sich tatsächlich<br />

sehr wenig getan. In der<br />

Theorie bekommt der Bestand<br />

allerdings inzwischen wesentlich<br />

mehr Aufmerksamkeit.<br />

Man hat ja fast den Eindruck,<br />

als ob alle nur noch vom Bestand<br />

reden: die Architektenkammern,<br />

der BDA, sogar die<br />

Politik bis hinauf zu den Ministern.<br />

Wenn ich aber durch<br />

München fahre, dann wird immer<br />

noch überall im großen Stil<br />

abgebrochen und neu gebaut.<br />

Bei ihren CO2-Reduktionszielen<br />

schaut die Bundesregierung<br />

bislang nur auf die Energie, die<br />

zum Heizen des Bestands benötigt<br />

wird. Wenn man sich aber<br />

das CO2-Budget anschaut,<br />

das Deutschland noch bis zur<br />

geplanten „Klimaneutralität“<br />

2045 zur Verfügung steht, wird<br />

es für jede Art von Neubauten<br />

ganz düster.<br />

ARNO BRANDLHUBER:<br />

Mucks Biennale-Beitrag gehört<br />

sicherlich zu denjenigen, die<br />

am längsten Aktualität besitzen.<br />

Das muss man einmal in<br />

aller Deutlichkeit sagen. Er war<br />

im Wortsinn nachhaltig. Wer mit<br />

dem dort bereits ausgebreiteten<br />

Wissen aber die Gesetzgebung<br />

anschaut, muss zu dem<br />

Schluss kommen, dass diese<br />

Erkenntnisse bewusst nicht<br />

angewendet werden. Die in<br />

Deutschland verwendeten Kalkulationen,<br />

die allein auf die<br />

Dämmwerte und nicht auf die<br />

Gesamtenergiebilanz eines<br />

Gebäudes abstellen, nutzen<br />

allein der Dämmstoffindustrie.<br />

B: Die Konzentration auf den<br />

Bestand oder gar ein Neubau-<br />

Moratorium, wie es einige fordern,<br />

würde natürlich alle treffen,<br />

die mit Bauen Geld verdienen.<br />

AB: Oh, da heul ich aber<br />

gleich! Weil dann die Gewinnabschöpfungsrate<br />

dann nicht<br />

mehr bei 20, sondern nur noch<br />

bei 15 Prozent liegt?<br />

MP: Ich habe die Frage der<br />

Selbstbeschränkung auch im<br />

Rahmen des BDA-Positionspapiers<br />

„Das Haus der Erde“<br />

diskutiert. Dort wird ja eine Art<br />

Selbstbeschränkung der Architektinnen<br />

und Architekten vorgeschlagen.<br />

Einerseits täte ich<br />

mich zwar schon schwer, wenn<br />

man mich jetzt bitten würde,<br />

ein neues Hochhaus zu bauen.<br />

Denn das verstieße gegen<br />

alles, wofür mein Büro steht.<br />

Andererseits muss die Last des<br />

Verzichts gerecht auf alle<br />

Schultern verteilt werden und<br />

kann nicht nur von Einzelnen<br />

getragen werden, die dann so<br />

eine Art Architektur-Veganismus<br />

betreiben. Deshalb ist hier<br />

der Gesetzgeber gefordert.<br />

AB: Würde man den Gesamtressourcenverbrauch<br />

eines<br />

Gebäudes kalkulieren, stünde<br />

der Bestandsbau automatisch<br />

sehr gut da. Der Verbrauch<br />

müsste natürlich bepreist werden.<br />

Und dann könnte es sein<br />

wie früher in der katholischen<br />

Kirche. Man darf sündigen,<br />

muss dann aber Ablass bezahlen.<br />

Wer ein Gebäude abreißt,<br />

muss dafür eine Gebühr entrichten.<br />

Genauso, wie man<br />

auch Abwassergebühr bezahlt.<br />

OLAF GRAWERT:<br />

Vieles von dem, was wir jetzt<br />

hier diskutieren, wird ja in<br />

Fachkreisen längst als das<br />

„New Normal“ akzeptiert. Wir<br />

haben gerade ein Gespräch<br />

mit Ruth Schagemann, Andrea<br />

Gebhard und Susanne Wartzeck,<br />

den Präsidentinnen von<br />

Architecture Council Europe,<br />

BAK und BDA, geführt, und sie<br />

alle stimmen in der Sache<br />

überein. An Beispielen fehlt es<br />

WEITER


18<br />

1893<br />

Komplexe Aufgabe für<br />

Code Unique: In der<br />

Dresdner Trinitatiskirche<br />

sollten die Zeitschichten<br />

aus Altbau,<br />

Zerstörung, Ruinensicherung<br />

und 1990er-<br />

Jahre-Umbau bewahrt<br />

und zudem Räume<br />

für eine neue Nutzung<br />

geschaffen werden.<br />

FOTO LINKS: CODE UNIQUE; RECHTS: ALBRECHT VOSS


Ideen<br />

19<br />

— <strong>2022</strong>


20<br />

Ideen<br />

Architekten:<br />

Code Unique<br />

Text:<br />

Jürgen Tietz<br />

Fotos:<br />

Albrecht Voss<br />

Stabile<br />

Füllung<br />

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Die Trinitatiskirchruine<br />

ist ein Dresdner Identi<br />

fikationsobjekt. Sie wurde<br />

nun mit neuen Einbauten<br />

ergänzt, während die<br />

unter Denkmalschutz


unter Denkmalschutz<br />

stehenden Gebäudeteile<br />

der Kirche erhalten<br />

blieben. Heute dient sie<br />

als Jugendkirche.<br />

21<br />

77 Jahre nach ihrer weitgehenden Zerstörung am<br />

13./14. Februar 1945 wird die Sache mit der göttlichen<br />

Dreifaltigkeit in der Dresdner Trinitatiskirche<br />

evangelisch-pragmatisch neu interpretiert.<br />

Denn die Ruine wird nun gleich dreifach genutzt:<br />

für das städtische Jugendpfarramt, die offene<br />

Jugendarbeit und als Multifunktionsraum. Für den<br />

multifunktionalen Nutzungsmix haben die Dresdner<br />

Code Unique Architekten dem 1891/93 nach<br />

Entwurf von Karl Barth errichteten Gotteshaus bei<br />

überschaubarem Budget von rund 6,2 Millionen<br />

Euro einen neuen Baukörper eingefügt. Ein Balanceakt,<br />

denn trotz der neuen Nutzungen sollte<br />

der Charakter der Ruine erlebbar bleiben. Zudem<br />

galt es, die Sanierung und Einbauten der 1990er-<br />

Jahre zu erhalten.<br />

Die Neubauten in dem bis vor wenigen Jahren<br />

noch himmeloffenen Kirchenschiff samt einem<br />

Baum konzentrieren sich auf zwei Hauptelemente:<br />

einen viergeschossigen Versorgungs- und<br />

Bürotrakt aus Beton mit schwarzer Pfosten-Riegel-<br />

Fassade aus Aluminium gleich hinter dem Glockenturm<br />

und einem Flachbau für den Multifunktionsraum<br />

mit einem bekrönenden Stahl-Glas-<br />

Kubus, der schon von außen die Erneuerung ablesbar<br />

werden lässt. Funktional fokussiert und<br />

sauber durchdekliniert, bedient der Entwurf von<br />

Code Unique unprätentiös präzise die Wünsche<br />

der Nutzer. Selbst die Ideen der Jugendlichen<br />

wurden im Vor feld partizipativ abgefragt.<br />

Zugleich wurde so denkmalpflegerisch angemessen<br />

wie substanzschonend bewahrend<br />

weitergebaut. Die Zeitschichten aus Altbau, Zerstörung,<br />

Ruinensicherung und 90erJahre-Umbau<br />

bleiben ablesbar, wobei die jüngste Intervention<br />

den historischen Bestand so bewusst wie deutlich<br />

kontrastiert.<br />

Dafür setzen Code Unique dem Rochlitzer Porphyr<br />

und dem ebenfalls roten Ziegel der Ursprungsarchitektur<br />

einen Materialdreiklang aus dunklem<br />

Stahl beziehungsweise Aluminium, grauem Beton<br />

und weiten Glasflächen entgegen. Geld und Gelegenheit<br />

vorausgesetzt, ließe sich dieses additive<br />

Weiterbauen auch in den rückwärtigen Türmen<br />

fortsetzen, die derzeit lediglich gesichert sind.<br />

In welchem Stile wiederaufbauen?<br />

Während man die Kirche entlang der denkmalgeschützten<br />

Platzanlage in der Johannstadt einmal<br />

umrundet, bietet es sich an, den Eingriff an<br />

der Trinitatiskirche in den Dresdner Kontext zu verorten.<br />

Dresden, wo seit 1945 etliche Kirchen durch<br />

Kriegseinwirkung und DDR-Regime zerstört wurden,<br />

ist schließlich mehr als die streitbare Rekonstruktion<br />

der Frauenkirche. Schon lange zuvor erfuhr<br />

die Kreuzkirche am Altmarkt durch Fritz<br />

Steudtner (1946/55) einen bis heute berührenden<br />

Wiederaufbau. Eher zwiespältig erscheint dagegen<br />

das Ergebnis der Revitalisierung der Dreikönigskirche<br />

in der Neustadt, die als Mahn- und<br />

Veranstaltungsraum (ab 1984) einen unentschlossenen<br />

Gesamteindruck vermittelt. Auch jenseits<br />

der Sakralbauten ließe sich die Liste jener Dresdner<br />

Häuser leicht verlängern, in denen sich die<br />

denkmalpflegerische Gretchenfrage stellte: In<br />

welchem Stile sollen wir wiederaufbauen, vom<br />

Oktogon der HfBK Dresden bis zum Palais im Großen<br />

Garten.<br />

Nun also die Trinitatiskirche. Dort wurde die Eingangshalle<br />

im Sockel des Glockenturms in ihrem<br />

Duktus aus Neunzigerjahre-Reparatur und Ruinenresten<br />

belassen. Erst hinter der anschließenden<br />

Glastüre beginnt der Eingriff von Code<br />

Unique. Doch er öffnet sich nicht wie im historischen<br />

Gebäude mit einem Blick durch die Kirche<br />

auf Altar und Chorraum. Stattdessen prallt man<br />

gegen die Betonwand des neu eingefügten Büround<br />

Versorgungstrakts. Das ist ziemlich ruppig und<br />

lässt tief durchatmen. Andererseits ermöglicht<br />

diese Entscheidung für die Betonfüllung im hohlen<br />

Kirchenziegelzahn, dass bei der Intervention nur<br />

wenig in die historischen Außenwände eingegriffen<br />

werden musste. In dem neuen Bauteil stapeln<br />

WEITER


32<br />

Ideen<br />

Respekt<br />

vor der<br />

Substanz<br />

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Architekten:<br />

mia2 Architektur<br />

Text:<br />

Maik Novotny<br />

Fotos:<br />

Kurt Hörbst<br />

Ein Stadthaus aus dem<br />

16. Jahrhundert in Linz<br />

wurde für mia2 Architekten<br />

zu einem Experimentierobjekt,<br />

an dem sie ihre


objekt, an dem sie ihre<br />

Haltung zur Umbaukultur<br />

verfeinern konnten. Es<br />

entstand ein Gebäude,<br />

das heute Wohnen und<br />

Arbeiten ideal kombiniert.<br />

33<br />

Einer der markantesten Unterschiede zwischen<br />

dem Bauwesen in Deutschland und Österreich ist,<br />

dass sich der Alpenstaat eine ungebrochene Tradition<br />

des Handwerks bewahrt hat, die von der Industrialisierung<br />

nicht beiseitegedrängt wurde. Innerhalb<br />

dieser Tradition bestehen wiederum regionale<br />

Unterschiede. Das Bundesland Oberösterreich<br />

zeichnet sich hier durch eine Kultur des Machens<br />

aus, die sich kaum zwischen Stadt und Land unterscheidet.<br />

Die Landeshauptstadt Linz, geprägt von<br />

der Stahlindustrie, hat nie eine feudale Oberschicht<br />

hervorgebracht, die hochnäsig auf bäuerliche Expertise<br />

hinabschaut, wie es Wien immer noch tut,<br />

sondern ist vom Respekt vor der Arbeit geprägt.<br />

Beispielhaft dafür steht der Studiengang BASEhabitat,<br />

der 2004 von Roland Gnaiger an der Kunstuniversität<br />

Linz gegründet wurde und bis heute weltweit<br />

Design-Build-Projekte von Südafrika bis Bangladesch<br />

initiiert hat, bei denen die Studierenden eigeninitiativ<br />

Hand anlegen. Auch Sandra Gnigler<br />

und Gunar Wilhelm, die 2013 in Linz ihr Büro mia2<br />

Architektur gründeten, wurden von dieser Haltung<br />

geprägt: tüfteln und anpacken, arbeiten mit dem<br />

Material von Projektbeginn an. Eine Konsequenz<br />

daraus ist, dass die Arbeit mit dem Bestand für sie<br />

keine Sonderrolle einnimmt, sondern gleichwertig<br />

neben dem Neubau steht. Hochglanzarchitektur,<br />

sagen die beiden, interessiert sie nicht.<br />

Experimentieren mit dem Bestehenden<br />

Bestes Beispiel dafür ist ein Stadthaus in Linz, das<br />

mia2 selbst als „Experimentierobjekt“ bezeichnen<br />

und in dem auch ihr Büro ansässig ist. Auf der Suche<br />

nach einem Haus mit Garten waren sie im Zuge ihrer<br />

Bürogründung auf das Objekt nahe der Linzer<br />

Altstadt gestoßen, dessen älteste Teile aus dem<br />

16. Jahrhundert stammen. In den 1980er-Jahren rudimentär<br />

saniert, war das nicht denkmalgeschützte<br />

Haus zu diesem Zeitpunkt in wenig attraktivem<br />

Zustand und galt für alle Mitbewerber als sicheres<br />

Abbruchobjekt. Nicht so für mia2, die den Zuschlag<br />

bekamen und das Haus 2012 erwarben.<br />

Nach der anfänglichen kompletten Bauaufnahme<br />

arbeiteten sie sich langsam und konsequent durch<br />

das Haus. Das Leitbild für alle baulichen Veränderungen<br />

war, möglichst auf große Wand- und Deckendurchbrüche<br />

und Eingriffe in die Substanz zu<br />

verzichten. Die Bewohner der winzigen Substandardwohnungen<br />

zogen sukzessive aus, derweil<br />

wurde das Erdgeschoss saniert. Da dieses nur<br />

punktuell unter dem Eingang unterkellert war,<br />

konnte der Fußboden abgesenkt und eine annehmbare<br />

Raumhöhe sowie ein ebenerdiger Zugang<br />

von der Straße ins Büro erreicht werden.<br />

Langsames Annähern<br />

Ab 2019 wurden Fassade und Fenster erneuert. Anstatt<br />

der billigen Kunststofffenster der 1980er-Jahre<br />

wurden wieder Kastenfenster eingesetzt, der graubeige<br />

Putz wurde gewaschen, sodass sein dunkles<br />

Korn zum Vorschein kam. Das Dach wurde abgetragen<br />

und das Haus aufgestockt, dabei orientierte<br />

man sich an den Traufhöhen der Nachbarhäuser.<br />

Für die Aufstockung verwendeten die Architekten<br />

Holz, das straßenseitig eine klare Linie zwischen<br />

unterem Alt und oberem Neu zieht, ohne sich aufdringlich<br />

abzusetzen. Eine subtil urbanisierte Referenz<br />

an den ländlichen Holzbau. Die beiden übereinanderliegenden<br />

Holzrahmen fassen dabei auf<br />

ruhige Art mehrere Funktionen zusammen: Unten<br />

als Fensterrahmen, oben als Brüstung, dazwischen<br />

als Brandriegel – dahinter verbirgt sich die Lastabtragung<br />

der beiden großen, zurückgesetzten Gauben.<br />

Diese wurden außen komplett verglast, um<br />

sich reflektierend nahezu im Himmel aufzulösen.<br />

Das Innere des Hauses wurde neu organisiert, ohne<br />

die Grundstruktur zu verletzen. Das enge Treppenhaus<br />

wurde aufgelassen und nimmt heute die Ins-<br />

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