24.10.2022 Aufrufe

BIBER 10_22 Ansicht-2

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Die Tische der Heimat bleiben in Zukunft leer

Selin und ihre Mutter jedoch begonnen haben, mit weniger

Geschenken anzukommen, wurden sie nicht mehr so herzlich

empfangen. „Seid ihr nur mit zwei Koffern gekommen?“, fragte

sie ihr Onkel entsetzt bei ihrem letzten Besuch. Die Stimmung

wurde immer angespannter. Sie verstand, dass sie nur dann

willkommen waren, wenn sie auch Geld mitbrachten. „Ich fahre

mittlerweile so selten in die Türkei und wenn, dann meistens

um Urlaub am Meer zu machen“, erklärt Selin. Das Gefühl von

Heimat verschwindet immer schneller.

Die Jungen, die im Ausland leben, wachsen unter komplett

anderen Umständen auf. Sie sind sensibilisiert auf feministische

und rassistische Themen. In der Heimat, vor allem wenn

man aus einem kleinen Ort kommt, sind die Menschen nicht

an die modernen Lebensweisen angepasst. Aus diesem Grund

sind für Ylber, der ursprünglich aus dem

Kosovo stammt, Heimatbesuche kein

Thema mehr. Der Gedanke daran, in seine

Heimat zu fahren, macht ihn nervös und

unglücklich. „Je älter ich werde, desto

weniger Gemeinsamkeiten sehe ich zwischen

den Menschen dort und mir“, erklärt

er. Sein familiäres Umfeld hat eine ganz

andere Sichtweise als er auf viele Dinge.

Außerdem beherrscht er seine Muttersprache

nicht sonderlich gut. „Ich schäme

mich, weil ich schlecht Albanisch spreche

und mich Leute immer auslachen.“

Runterfahren bedeutete

für mich immer mehr

als nur das geografische

runter in den Süden und

in die Balkanstaaten.

Es ist vielmehr ein

seelischer Zustand.

28 / RAMBAZAMBA /

Ylber ist schwul, was auch einer der Gründe ist, weshalb er

sich in seiner Heimat unwohl fühlt. Homophobie ist in allen

Balkanstaaten gesellschaftlich weit verbreitet. „Ich meide

den Kosovo sehr, außer ich muss runter fahren wegen einer

Verlobung. Es ist aber nicht so, als hätte ich dort Spaß.“

DIE NÄCHSTE GENERATION

Was passiert dann aber mit der Generation nach mir?

Erleben diese Kinder noch das Gefühl von aufgeschürften

Knien, weil sie vom Roller gefallen sind? Verspüren sie noch

die Angst, die wir hatten, als wir vor den Straßenhunden

weggelaufen sind? Werden sie noch den stechenden Geruch

von frisch gebranntem Rakija in der Nase verspüren? Werden

sie die Sprache noch sprechen und überhaupt wissen, wie

das Dorf heißt, in dem sich ihre Eltern das erste Mal getroffen

hatten? Als ich neuerdings einen Nachbarsjungen im

20. Bezirk traf und ihn fragte, woher seine Eltern kommen,

schaute er mich an und zuckte mit den Achseln. „Ich habe

keine Ahnung, irgendwas mit P., bin mir aber nicht sicher.“

Nein, sie werden nicht die gleichen Erfahrungen wie

meine Generation machen. Sie werden mit den Eltern ab und

zu runterfahren, doch für sie wird es langweilig. Sie werden

hoffen müssen, dass auch andere Familien ins Dorf zurückkommen

über die Ferien, denn dort wird so gut wie niemand

auf sie warten. Ich hoffe, dass ihre Eltern versuchen werden,

ihnen dennoch die Kultur und Traditionen etwas näher zu

bringen. Ich wünsche mir, dass sie ihnen von den vollen

Dörfern, den lachenden Kindern und den Security-Omas, die

einen jeden Tag aus dem Fenster aus beobachtet haben,

erzählen. Vielleicht bekommen sie ja dann das Bedürfnis die

Dörfer später wieder selbst zu füllen.

Runterfahren bedeutete für mich immer mehr als nur das

geografische runter in den Süden und in die Balkanstaaten.

Es ist vielmehr ein seelischer Zustand. Wir fahren unseren

Körper runter. Weg von der Stadt, die von Stress und Arbeit

geprägt ist. Mittlerweile fühlt es sich allerdings eher so an,

als würden wir vom Arbeitsstress im Ausland in den emotionalen

Stress in der Heimat übergehen. Auch wenn ich meine

Heimat und den Geruch der Natur liebe, die Gründe nicht

runterzufahren überwiegen. ●

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!