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Die Tische der Heimat bleiben in Zukunft leer
Selin und ihre Mutter jedoch begonnen haben, mit weniger
Geschenken anzukommen, wurden sie nicht mehr so herzlich
empfangen. „Seid ihr nur mit zwei Koffern gekommen?“, fragte
sie ihr Onkel entsetzt bei ihrem letzten Besuch. Die Stimmung
wurde immer angespannter. Sie verstand, dass sie nur dann
willkommen waren, wenn sie auch Geld mitbrachten. „Ich fahre
mittlerweile so selten in die Türkei und wenn, dann meistens
um Urlaub am Meer zu machen“, erklärt Selin. Das Gefühl von
Heimat verschwindet immer schneller.
Die Jungen, die im Ausland leben, wachsen unter komplett
anderen Umständen auf. Sie sind sensibilisiert auf feministische
und rassistische Themen. In der Heimat, vor allem wenn
man aus einem kleinen Ort kommt, sind die Menschen nicht
an die modernen Lebensweisen angepasst. Aus diesem Grund
sind für Ylber, der ursprünglich aus dem
Kosovo stammt, Heimatbesuche kein
Thema mehr. Der Gedanke daran, in seine
Heimat zu fahren, macht ihn nervös und
unglücklich. „Je älter ich werde, desto
weniger Gemeinsamkeiten sehe ich zwischen
den Menschen dort und mir“, erklärt
er. Sein familiäres Umfeld hat eine ganz
andere Sichtweise als er auf viele Dinge.
Außerdem beherrscht er seine Muttersprache
nicht sonderlich gut. „Ich schäme
mich, weil ich schlecht Albanisch spreche
und mich Leute immer auslachen.“
„
Runterfahren bedeutete
für mich immer mehr
als nur das geografische
runter in den Süden und
in die Balkanstaaten.
Es ist vielmehr ein
seelischer Zustand.
“
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Ylber ist schwul, was auch einer der Gründe ist, weshalb er
sich in seiner Heimat unwohl fühlt. Homophobie ist in allen
Balkanstaaten gesellschaftlich weit verbreitet. „Ich meide
den Kosovo sehr, außer ich muss runter fahren wegen einer
Verlobung. Es ist aber nicht so, als hätte ich dort Spaß.“
DIE NÄCHSTE GENERATION
Was passiert dann aber mit der Generation nach mir?
Erleben diese Kinder noch das Gefühl von aufgeschürften
Knien, weil sie vom Roller gefallen sind? Verspüren sie noch
die Angst, die wir hatten, als wir vor den Straßenhunden
weggelaufen sind? Werden sie noch den stechenden Geruch
von frisch gebranntem Rakija in der Nase verspüren? Werden
sie die Sprache noch sprechen und überhaupt wissen, wie
das Dorf heißt, in dem sich ihre Eltern das erste Mal getroffen
hatten? Als ich neuerdings einen Nachbarsjungen im
20. Bezirk traf und ihn fragte, woher seine Eltern kommen,
schaute er mich an und zuckte mit den Achseln. „Ich habe
keine Ahnung, irgendwas mit P., bin mir aber nicht sicher.“
Nein, sie werden nicht die gleichen Erfahrungen wie
meine Generation machen. Sie werden mit den Eltern ab und
zu runterfahren, doch für sie wird es langweilig. Sie werden
hoffen müssen, dass auch andere Familien ins Dorf zurückkommen
über die Ferien, denn dort wird so gut wie niemand
auf sie warten. Ich hoffe, dass ihre Eltern versuchen werden,
ihnen dennoch die Kultur und Traditionen etwas näher zu
bringen. Ich wünsche mir, dass sie ihnen von den vollen
Dörfern, den lachenden Kindern und den Security-Omas, die
einen jeden Tag aus dem Fenster aus beobachtet haben,
erzählen. Vielleicht bekommen sie ja dann das Bedürfnis die
Dörfer später wieder selbst zu füllen.
Runterfahren bedeutete für mich immer mehr als nur das
geografische runter in den Süden und in die Balkanstaaten.
Es ist vielmehr ein seelischer Zustand. Wir fahren unseren
Körper runter. Weg von der Stadt, die von Stress und Arbeit
geprägt ist. Mittlerweile fühlt es sich allerdings eher so an,
als würden wir vom Arbeitsstress im Ausland in den emotionalen
Stress in der Heimat übergehen. Auch wenn ich meine
Heimat und den Geruch der Natur liebe, die Gründe nicht
runterzufahren überwiegen. ●