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Garten+Landschaft 11/2022

Kuratiert von SINAI

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NOVEMBER <strong>2022</strong><br />

MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR<br />

UND STADTPLANUNG<br />

VERSUS<br />

Energie<br />

durch<br />

Spannung<br />

KURATIERT<br />

VON SINAI


EDITORIAL<br />

Kommen wir gleich zur Sache. Das Besondere an dieser, vom<br />

wunderbaren Berliner Büro SINAI gastkuratieren G+L? Beim<br />

Lesen hat man das Gefühl, mit SINAI am Tisch zu sitzen, Teil der<br />

hier publizierten Gespräche zu sein, gleich mitdiskutieren zu<br />

wollen. Denn: Die Herausforderungen, die geschilderten Frustrationen,<br />

die Hoffnungen – diese dürften die meisten von Ihnen, liebe<br />

Leser*innen, aus dem eigenen Planungsalltag kennen, Sie tagtäglich<br />

betreffen und beschäftigen.<br />

Versus – so lautet der Titel der<br />

diesjährigen gastkuratierten G+L.<br />

Das Heft handelt von Spannung; von<br />

einem Zustand, der eng mit der<br />

räumlichen Planung verknüpft ist.<br />

Vor allem die Entwurfsarbeit, das<br />

Schaffen von Neuem aus teils gegensätzlichen<br />

Anforderungen, lebt von<br />

Spannung. Auf den folgenden Seiten<br />

ergründet das Berliner Landschaftsarchitekturbüro<br />

SINAI in fünf Dialogen<br />

aktuelle Spannungen unserer<br />

Profession.<br />

Ukrainekrieg, Energiekrise, der zunehmende Rechtsruck der euro -<br />

päischen Politik – uns haben in den letzten Wochen und Monaten<br />

so einige bestürzende Nachrichten erreicht. Dass Europa <strong>2022</strong><br />

jedoch den heißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen<br />

erlebte, dafür schien in den Newsportalen kaum Platz zu sein.<br />

Zu langsam und zu leise scheint er, der Klimawandel. Die Folgen<br />

der Klimakrise wirken im Vergleich zu unspektakulär. So traurig<br />

und faktisch falsch das auch sein mag. Denn uns in unserer<br />

Profession betreffen sie tagtäglich.<br />

Umso wichtiger erachten wir die diesjährige gastkuratierte Ausgabe<br />

von SINAI. Nach Topotek 1 (2020) und bauchplan ).( (2021)<br />

gastkuratiert das Berliner Büro <strong>2022</strong> die G+L. In fünf Dialogen<br />

diskutiert SINAI allen voran den Klimawandel und welche<br />

Veränderungen dieser für die Landschaftsarchitekturprofession mit<br />

sich bringt. Das allgemeine Blabla hierzu kennen wir alle, haben<br />

wir alle schon mehrmals gelesen, können es nicht mehr sehen.<br />

Deswegen pfeift SINAI in den Gesprächen auf Sonntagsbekenntnisse<br />

und sucht nach dem, was die Profession wirklich umtreibt –<br />

sowohl im Praktischen als auch im Theoretischen.<br />

Coverbild: Ina Bunge; Redaktionsteam Foto: SINAI, Z. Zhao<br />

Das Redaktionsteam bei SINAI<br />

(v.l.n.r.): Vera Hertlein-Rieder, Sophie<br />

Holz, Lisa Konrad, AW Faust, Leoni<br />

Layer, im Rücken den SINAI-Schwarm<br />

mit seinen kritisch-kreativen Inputs.<br />

Wir bedanken uns bei euch allen, die<br />

zur positiven Energie, Spannung und<br />

Schönheit dieses Heftes beigetragen<br />

haben.<br />

Mit wem sitzen Sie also am Tisch? Mit dabei sind unter anderem<br />

Carlo W. Becker (bgmr) und Nils Buschmann (ROBERTNEUN TM ).<br />

Sie diskutieren über die Zukunft der Stadt, über Versickerungsmulden<br />

und Bullerbü-Idylle. Ab Seite 30 plädieren aber auch Franz<br />

Reschke (FRL) und Steffan Robel (A24 Landschaft) für einen<br />

progressiven, baukulturellen Umgang mit dem Klimawandel. Eine<br />

Forderung, für die sich auch Sophie Holz (SINAI) in ihrem Leitartikel<br />

„Schönheit wird die Welt erretten“ stark macht.<br />

Die Ausgabe spiegelt durch und durch das Berliner Büro<br />

wider. Für SINAI gehören der Dialog und das gemeinsame<br />

Reflektieren zum Selbstverständnis. Dafür steht im Übrigen auch<br />

der Büroname SINAI: für eine Landschaft des bewegten Denkens,<br />

für das Nomadische im Entwerfen. SINAI begibt sich stets auf<br />

neue Wege und hinterfragt das Begangene. Was das Büro also<br />

wohl von der Arbeit an diesem Heft mitnehmen wird? Dem<br />

werden wir noch ein Interview widmen. Bis dahin: Viel Spaß<br />

beim Entdecken dieser Ausgabe.<br />

THERESA RAMISCH UND MAGDALENA SCHMIDKUNZ<br />

Redaktion G+L<br />

3<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


SINAI<br />

INHALT<br />

AKTUELLES<br />

06 „Schönheit wird die Welt erretten“<br />

Ein Plädoyer für die Ästhetik<br />

10 Snapshots<br />

Groundbreaking Designs<br />

5 DIALOGE<br />

ZUR GRÜNEN<br />

REVOLUTION<br />

In fünf Dialogen thematisiert<br />

diese Ausgabe Konflikte und<br />

Ungelöstes, Hoffnungen und<br />

Frustration. Sie lässt Landschaftsarchitekt*innen,<br />

Architekt*innen, Stadtplaner*innen,<br />

Forscher*innen<br />

und Ingenieur*innen zu<br />

Wort kommen.<br />

16 Die Zukunft der Stadt<br />

Zur urbanen Gestalt der Klimaanpassung<br />

24 Perspectives on Microclimate<br />

Zur Bedeutung von Klima als Phänomen und Energiefluss<br />

30 Paradigmenwechsel<br />

Zum baukulturellen Umgang mit dem Klimawandel<br />

38 Die Norm als Lösung oder als Problem<br />

Zu den Potenzialen einer Neufassung der DWA-A 138<br />

44 Übung in Demokratie<br />

Zum Gelingen von Partizipation<br />

BLICKWECHSEL<br />

52 Fotoessay<br />

Perspektiven auf Freiräume im Wandel<br />

STUDIO<br />

64 Branchenfeature<br />

"Wichtiger denn je sind unsere<br />

Mitarbeitenden"<br />

Rubriken<br />

77 Impressum<br />

Foto: Marc Leppin<br />

66 Referenz<br />

Naturkinderhaus zwischen Aue und Platz<br />

68 Lösungen<br />

Best Products<br />

78 Lieferquellen<br />

78 Stellenmarkt<br />

80 DGGL<br />

82 Sichtachse<br />

82 Vorschau<br />

Herausgeber:<br />

Deutsche Gesellschaft<br />

für Gartenkunst und<br />

Landschaftskultur e.V.<br />

(DGGL)<br />

Pariser Platz 6<br />

Allianz Forum<br />

10<strong>11</strong>7 Berlin-Mitte<br />

www.dggl.org<br />

5<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


„SCHÖNHEIT WIRD<br />

DIE WELT ERRETTEN“<br />

TEXT: Sophie Holz<br />

Könnte es zurzeit einen weltfremderen Satz geben als<br />

dieses Zitat aus Dostojewskis Roman „Der Idiot“? Erscheint<br />

eine solche Äußerung nicht unerträglich naiv oder<br />

gar zynisch? Weltpolitisch leben wir in einer Zeit hoher<br />

Unsicherheit. Fachintern ist die Profession der Landschaftsarchitektur<br />

mit zahlreichen Aufgaben konfrontiert:<br />

Klimawandel, Material- und Energiekrise, Partialinteressen,<br />

geringe Pflegebudgets und Fachkräftemangel in den<br />

eigenen Reihen und bei den ausführenden Firmen. Was<br />

hilft hier die Schönheit?<br />

Auf der anderen Seite fasziniert dieser Satz. Vielleicht,<br />

weil er eine ganzheitliche Sicht auf die Welt eröffnet und<br />

damit einen anderen Umgang mit Krisen andeutet.<br />

Hier einige Gedanken.<br />

Schönheit<br />

Schönheit hat eine ethische Dimension.<br />

Darauf verweist der Philosoph Josef Früchtl<br />

in einem Vortrag beim Festival der Philosophie<br />

in Hannover, 2016 1 . Denn genauso, wie<br />

das moralisch Schlechte mit dem Hässlichen<br />

verbunden ist, ist das moralisch Gute<br />

mit der Schönheit verknüpft. Hinweise für<br />

diese Verbindung finden sich auch im<br />

alltäglichen Sprachgebrauch, man denke<br />

beispielsweise an den „hässlichen Gedanken“<br />

oder die „schöne Idee“. Hier versteht<br />

sich von selbst: Gedanke und Idee sind<br />

nicht visuell abstoßend oder anziehend.<br />

Nein, es handelt sich um eine gute,<br />

moralisch verfolgenswerte Idee oder<br />

einen schlechten, vielleicht menschenverachtenden<br />

Gedanken.<br />

Was sich hier in der Alltagssprache<br />

widerspiegelt, basiert auf einer mehrere<br />

tausend Jahre alten philosophischen<br />

Tradition. Seit Platon, der das Gute mit<br />

den Begriffen „Schönheit und Verhältnismäßigkeit<br />

und Wahrheit“ 2 beschreibt, ist<br />

der Zusammenhang zwischen dem Guten<br />

und dem Schönen fester Bestandteil der<br />

westlichen Philosophie. 3<br />

Auch der Architekturtheoretiker Martin<br />

Düchs verweist auf die ethische Dimension<br />

der Schönheit. Düchs beschreibt Schönheit<br />

als ästhetische Gefasstheit des Raumes, die<br />

durch eine sorgfältige, mehrfach geprüfte<br />

Gestaltung erzielt wird. 4 Ihr steht als<br />

Gegenteil die „gestalterische Gleichgültigkeit“<br />

gegenüber. Laut Düchs kann man<br />

Schönheit „in der Architektur als eine<br />

moralische Forderung verstehen, insofern sich<br />

gestalterische Gleichgültigkeit nicht mit<br />

der dem Architekten aufgegebenen Sorge<br />

um die von seiner Architektur Bet roffenen<br />

vereinbaren lässt“. 5<br />

Wenn es die Aufgabe der Architekt*innen<br />

ist, die bestmöglichen Räume zu entwerfen,<br />

so gehört selbstverständlich auch das<br />

Streben nach Schönheit dazu. Umgekehrt<br />

formuliert: Der bestmögliche Raum kann<br />

nicht gestalterisch gleichgültig sein.<br />

Von der Schönheit zur Ästhetik<br />

Spätestens an dieser Stelle kann man sich<br />

fragen: Sprechen wir über Schönheit oder<br />

über Ästhetik? Düchs verwendet beide<br />

Begriffe, teilweise auch in austauschbarer<br />

Form. Im Architekturdiskurs hat sich seit<br />

6<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


SINAI<br />

LEITARTIKEL<br />

Vitruvs Forderung nach Dauerhaftigkeit,<br />

Nützlichkeit und Schönheit die Gewichtung<br />

eher auf den Begriff der Ästhetik verschoben.<br />

Ein Vorteil dieses Begriffes ist, dass er<br />

vielfältigere Raumqualitäten beschreibt als<br />

der Begriff der Schönheit. So kann beispielsweise<br />

darüber gestritten werden, ob das<br />

Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman<br />

ein schöner Ort ist – zweifelsohne ist es aber<br />

ein ästhetisch eindrücklicher Ort. Ähnliches<br />

gilt für das Kottbusser Tor in Berlin: Die<br />

wenigsten würden diesen Platz als schön<br />

beschreiben, trotzdem mag er faszinieren<br />

aufgrund seiner Rauigkeit, die bis ins<br />

Trostlose umschlagen kann.<br />

Ästhetik als Planungsziel<br />

anzusprechen bedeutet,<br />

den Menschen ganzheitlich<br />

anzuerkennen, als emotionales<br />

und rationales Wesen.<br />

Wahrscheinlich ist es durch die Beispiele<br />

bereits deutlich geworden: Der Begriff<br />

„ästhetisch“ ist hier nicht in seiner alltagssprachlichen<br />

Bedeutung von angenehm<br />

oder geschmackvoll verwendet. Vielmehr<br />

bezieht er sich auf die Ästhetik als<br />

Theorie der allgemeinen sinnlichen<br />

Wahrnehmung, wie sie in der Neuen<br />

Phänomenologie des Philosophen Gernot<br />

Böhme in seinen Essays zur „Atmosphäre“<br />

entwickelt wurde. Eine solche Theorie<br />

beschreibt die menschliche Wahrnehmung<br />

im alltäglichen Leben mit allen Sinnen,<br />

inklusive dem kinästhetischen und dem<br />

haptischen Sinn. Sie grenzt sich ab von<br />

einer Ästhetik, verstanden als Theorie über<br />

die Kunst und das Kunstwerk, die häufig<br />

auf die sogenannten höheren Sinne, das<br />

Visuelle und das Auditive, fokussiert.<br />

In der Architektur erfährt ein solches Ver -<br />

ständnis von Ästhetik in den letzten<br />

20 Jahren eine verstärkte Bedeutung. Der<br />

finnische Architekturtheoretiker Joshua<br />

Pallasmaa ist einer der bekanntesten<br />

Vertreter, der sich für eine basal wirkende<br />

Architektur ausspricht, also für eine<br />

Architektur, die sich im Erleben über die<br />

Sinne erschließt und nicht über die Interpretation<br />

des Raums. Der multisensorischen<br />

Wahrnehmung kommt hier eine entscheidende<br />

Bedeutung zu. Sie bezeichnet das<br />

Kommunizieren mehrerer Sinne miteinander<br />

und ermöglicht ein sensorisches Gesamterlebnis,<br />

das zu eindrücklichen Raumerlebnissen<br />

führen kann. Vorbild ist das vergleichbare<br />

Erleben in der Natur: „A walk through a<br />

forest is invigorating and healing due to the<br />

interaction of all sense modalities.“ 6<br />

In der Praxis sind beispielsweise Peter<br />

Zumthor und das dänische Landschaftsarchitekturbüro<br />

SLA bekannt dafür, durch<br />

sorgfältige Raumkomposition ein fein<br />

abgestimmtes multisensorisches Erleben zu<br />

ermöglichen. Ein solches Erleben kann<br />

nicht nur angenehm und entspannend sein,<br />

sondern auch herausfordernd, dramatisch<br />

wirken oder zum Nachdenken anregen.<br />

Wertschätzung, Wohlbefinden<br />

und Wirkungskraft als ästhetische<br />

Potenziale<br />

Warum beschäftigen wir uns in einer Zeit<br />

der essenziellen Krisen mit der – zugegeben<br />

meistens ja sehr mühsamen – Erzeugung<br />

ästhetischer Räume?<br />

Öffentliche Räume, die eine eindrückliche,<br />

ästhetische Erfahrung bieten, besitzen einen<br />

Eigenwert, denn Ästhetik ist ein Grundbedürfnis<br />

des Menschen. Emotionen und<br />

Ästhetik als Planungsziel anzusprechen<br />

bedeutet, den Menschen ganzheitlich<br />

anzuerkennen, als emotionales und rationales<br />

Wesen. Düchs argumentiert, dass eine<br />

„Nichtbeachtung von Schönheit […] dem<br />

Menschen nicht gerecht“ 7 wird und folgert:<br />

„In diesem Sinne sollte ein Architekt auch<br />

aus moralischen Gründen nach Schönheit<br />

streben.“ 8<br />

Ästhetisch gestaltete Räume drücken die<br />

Wertschätzung aus, die wir uns selbst,<br />

unseren Mitmenschen und der Welt<br />

beimessen. Ein gut gestalteter Raum<br />

vermittelt den Eindruck, dass dieser Raum<br />

für jemand gestaltet wurde und dass dieser<br />

Jemand es wert ist, diesen Raum zu erleben.<br />

Warum richten Eltern liebevoll die<br />

Kinderzimmer ein? Warum Angehörige die<br />

Gräber ihrer Verstorbenen? Weil dies ein<br />

Ausdruck von Wertschätzung und Fürsorge<br />

ist. Einen Ort zu gestalten, der nicht nur<br />

Funktionen erfüllt, sondern den Menschen<br />

rührt, inspiriert, motiviert, ist in genau<br />

diesem Maße ein Akt der Wertschätzung.<br />

Ästhetische Räume können unbegrenzt<br />

vielfältig sein, sie sind nicht an das Angenehme,<br />

Gemäßigte, Harmonische gebunden,<br />

sondern können eine ganze Bandbreite<br />

an Stimmungen entfachen. Sie tragen damit<br />

zur Vielfältigkeit der Stadt bei. Der<br />

Aufenthalt in einem ergreifenden Raum<br />

kann freudig stimmen, glücklich machen,<br />

unvergesslich sein. In diesem Sinne<br />

argumentiert auch Jürgen Weidinger, wenn<br />

er schreibt, dass „im gelungenen landschaftsarchitektonisch<br />

gestalteten Raum das<br />

atmosphärische Spüren ein emotionales<br />

Wohlbefinden auslösen kann“. 9<br />

Ästhetik erzeugt Wirkungskraft. 10 Landschaftsarchitekt*innen<br />

können Räume<br />

gestalten, die über eindrückliche, multisensorische<br />

Erfahrungen auf vorrationaler<br />

Ebene einen Erkenntnisprozess anstoßen.<br />

Die Bedeutung des leiblichen Erlebens, das<br />

zu emotionalen Verstehensprozessen<br />

beitragen kann und damit ein Gegenüber<br />

zum rationalen Verstehen bildet, wird<br />

gegenwärtig in der Soziologie und in der<br />

Umweltsoziologie vermehrt diskutiert.<br />

Beispielsweise entwickelt der Soziologe<br />

Hartmut Rosa in seinem 2018 veröffentlichten<br />

Buch „Resonanz: Eine Soziologie<br />

der Weltbeziehung“ die Resonanz als<br />

Beziehungsqualität zwischen Mensch und<br />

Welt, die über das Gefühl der Verbundenheit<br />

Handlungsentscheidungen beeinflusst.<br />

Als ein Beispiel für die Wirkungskraft<br />

gebauter Orte, die sich im leiblichen Erleben<br />

und nicht distanziert mit dem Auge<br />

erschließt, sei die Fahrradkultur Kopenhagens<br />

genannt. Dass Kopenhagen heute als<br />

die Fahrradhauptstadt schlechthin steht,<br />

dass zahlreiche Kopenhagener*innen vom<br />

Auto auf das Rad umgestiegen sind, liegt<br />

nicht zuletzt daran, dass Fahrradfahren in<br />

Kopenhagen ein ästhetisches Erlebnis ist:<br />

Die Fahrradschlange „Cykelslangen“ von<br />

Dissing+Weitling windet sich nicht aus rein<br />

funktionalen Gründen in einem schwungvollen<br />

„S“ über die Meeresenge. Nein, hier<br />

geht es um das freudvolle Erlebnis, das<br />

entsteht, wenn wir uns hineinlehnen in die<br />

Kurve und das eigene Gewicht als perfekten<br />

Einklang mit Schwer- und Schleuderkraft<br />

empfinden, wenn wir die eigene Körper-<br />

7<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


Wir stehen vor einer radikalen Wende in der Kultur<br />

unserer Raumproduktion: Geänderte Lebensvorstellungen,<br />

drängender Klimawandel und eine selbstbewusste<br />

Bürgerschaft führen zu einem Paradigmenwechsel in<br />

allen Planungsprozessen. In fünf Dialogen thematisiert<br />

diese Ausgabe Konflikte und Ungelöstes, Hoffnungen<br />

und Frustration. Sie lässt Landschaftsarchitekt*innen,<br />

Architekt*innen, Stadtplaner*innen, Akademiker*innen<br />

und Ingenieur*innen zu Wort kommen.<br />

DIE ZUKUNFT<br />

DER STADT<br />

≥ S. 16<br />

PERSPECTIVES<br />

ON MICRO-<br />

CLIMATE<br />

≥ S. 24<br />

IM DISKURS MIT:<br />

IM DISKURS MIT:<br />

CARLO W.<br />

BECKER<br />

NILS<br />

BUSCHMANN<br />

ALICE<br />

LABADINI<br />

SANDA<br />

LENZHOLZER<br />

14<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PARADIGMEN-<br />

WECHSEL<br />

≥ S. 30<br />

DIE NORM ALS<br />

LÖSUNG ODER<br />

ALS PROBLEM<br />

≥ S. 38<br />

ÜBUNG IN<br />

DEMOKRATIE<br />

≥ S. 44<br />

IM DISKURS MIT:<br />

IM DISKURS MIT:<br />

IM DISKURS MIT:<br />

FRANZ<br />

RESCHKE<br />

STEFFAN<br />

ROBEL<br />

HEIKO<br />

SIEKER<br />

GERHARD<br />

HAUBER<br />

KLAUS<br />

OVERMEYER<br />

ULRIKE<br />

BÖHM<br />

15<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


Häufig zitiert: der Bosco Verticale von Stefano Boeri Architetti, 2014<br />

DIE ZUKUNFT<br />

INTERVIEW: AW Faust & Sophie Holz<br />

DER STADT<br />

DR. CARLO W. BECKER<br />

führt gemeinsam mit Beatrix Mohren, Prof. Undine<br />

Giseke und Dirk Christiansen das Berliner Büro<br />

bgmr Landschaftsarchitekten, gegründet 1987.<br />

Seine Expertise in Stadtentwicklung, Landschaftsarchitektur<br />

und Landschaftsplanung geht<br />

aus einem sehr weit gespreizten Arbeitsfeld von<br />

großmaßstäblicher Konzeption und Beratung bis<br />

zur objektplanerischen Umsetzung hervor. Als<br />

Berater zahlreicher Städte und Kommunen zur<br />

Klimaanpassung hat er auch inzwischen geläufige<br />

Begriffe wie die Schwammstadt oder die blaugrüne<br />

Infrastruktur im deutschsprachigen Raum<br />

miterfunden und etabliert.<br />

NILS BUSCHMANN<br />

ist Gründungspartner und Geschäftsführer des<br />

Berliner Architekturbüros ROBERTNEUN. Er hält<br />

regelmäßig Vorträge, nimmt lehrende Aufgaben<br />

als Gast an Hochschulen wahr und tritt als<br />

Preisrichter bei Wettbewerbsverfahren auf. Das<br />

Büro nimmt in der Fachdiskussion gern klare,<br />

auch kontroverse Positionen ein. Neue Formen<br />

für die offene Entwicklung einer diversen<br />

Stadtgesellschaft suchen die Architekt*innen<br />

mit großer Sensibilität für ein explizit<br />

ortsspezifisches Entwerfen. Ein prominentes<br />

Beispiel dafür ist etwa das Ensemble am<br />

ehemaligen Lokdepot in Berlin-Kreuzberg.<br />

16<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


SINAI<br />

1<br />

DIALOGE<br />

Egal, ob die kosmopolitische Energie von<br />

New York oder das Flair der europäischen<br />

Stadt: Die Vorzüge der Urbanität<br />

sind vielfach beschworen. Sie sind<br />

verbunden mit dichter Bebauung, vollen<br />

Bürgersteigen und einem Durcheinander<br />

an Menschen und Nutzungen.<br />

auf den Weg zu bringen. Wenn wir 2045<br />

klimaneutral sein sollen, müssen wir ab<br />

sofort alles klimaneutral bauen. Wir sind<br />

gerade in ein paar größeren städtebaulichen<br />

Verfahren involviert, und da rechnen wir:<br />

Wie können diese Projekte klimaneutral<br />

umgesetzt werden, von der Herstellung über<br />

das Boden- und Wassermanagement bis<br />

zum Betrieb? Und das läuft noch nicht!<br />

Foto: Gatto Tere on Unsplash<br />

Diese Vorstellung von Stadt scheint keine<br />

Zukunft zu haben. Denn sie hat keine<br />

Antwort auf die drängenden Fragen der<br />

Zeit: den Umgang mit Regenwasser,<br />

die Überhitzung der Städte, das große<br />

Artensterben. Offenbar helfen uns nur<br />

radikal neue Ansätze. Müssen wir uns<br />

also zugunsten von Versickerungsmulden<br />

und Klimaschneisen von baulicher Dichte<br />

verabschieden? Führt ein Auflösen der<br />

Dichte zu einer neuen großen Suburbia?<br />

Oder gelingt es uns, urbane Dichte zu<br />

transformieren und neu zu definieren?<br />

Nils Buschmann von ROBERTNEUN TM und<br />

Carlo W. Becker von bgmr verbindet die<br />

Arbeit am Schumacher-Quartier in Berlin,<br />

das als Schwammstadt geplant wird.<br />

Sie diskutieren anhand ihrer Erfahrungen<br />

im Umbruch ihre Erwartungen an die<br />

Zukunft der Stadt.<br />

SH Carlo, wir haben ein schönes Zitat von<br />

dir gefunden: „Der Klimawandel braucht<br />

mehr Radikalität im Machen.“ Was heißt<br />

das? Sollen die Planer*innen radikaler<br />

planen und weniger abwägen, oder sollen<br />

die Politiker*innen schneller handeln?<br />

CB Wir haben jetzt intellektuell kapiert,<br />

dass da etwas zu tun ist, aber wir sind<br />

überhaupt nicht schnell in der Umsetzung.<br />

Wie wir das integrierte Denken auf den<br />

Weg bekommen, darüber reden wir seit 20,<br />

30 Jahren, tun es aber nicht. Der Stadtentwicklungsplan<br />

Berlin ‚konkret‘ hat schon<br />

2016 tolle Maßnahmen der Klimaanpassung<br />

durch Multicodierung vorgeschlagen.<br />

Wenn man sich aber einen Bebauungsplan<br />

ansieht, bekommt man eine Multicodierung<br />

mit der bestehenden Planlogik und<br />

bestehendem Planungsrecht überhaupt<br />

nicht oder nur sehr begrenzt umgesetzt. Da<br />

können wir unsere Ideen wieder einpacken.<br />

Daher müssen wir radikal werden, um das<br />

SH Theoretisch wüssten wir also, was zu<br />

tun ist. Im Schumacher-Quartier habt ihr<br />

radikal gearbeitet. Um Verdunstungsflächen<br />

zu maximieren, habt ihr diese konsequent<br />

bis an die Gebäudekanten gezogen, und sie<br />

können als Vorgärten genutzt werden. Nils,<br />

ist das radikal gut oder ein radikales Opfer?<br />

NB Ich finde das nicht radikal, denn die<br />

Schwammstadt thematisiert nur die<br />

ökologische Frage. Radikal wäre es,<br />

ökologische Themen als Teil einer ganzheitlichen<br />

Lösung zu verstehen. Was sind<br />

die Potenziale nicht nur aus ökologischer,<br />

sondern auch aus sozialer Sicht, aus<br />

architektonischer Sicht?<br />

Themen wie „dichter, grüner,<br />

ökologischer, weniger Autoverkehr“<br />

sollten sehr vielfältige Gesichter<br />

bekommen und nicht dazu führen,<br />

dass es überall gleich aussieht.<br />

Daraus könnte etwas ganzheitlich<br />

Neues oder anderes entstehen. Uns<br />

als praktizierende Architekt*innen<br />

interessiert die Frage, was für<br />

gestalterische Möglichkeiten aus<br />

solchen Aspekten wie Schwammstadt<br />

oder klima neutralem Bauen<br />

eigentlich entstehen könnten.<br />

SH Kannst du das konkretisieren?<br />

NB Als wir damals die Arbeitsgrundlage für<br />

das Schumacher-Quartier bekommen<br />

haben, hatten wir an verschiedenen Stellen<br />

ganz grundsätzliche urbane Probleme,<br />

weil wir es zum Beispiel ein No-Go fanden,<br />

dass man ein Bild von Vorgärten produziert.<br />

CB Das sind keine Vorgärten, das sind<br />

Aneignungszonen, die individueller zu<br />

gestalten sind.<br />

NB Das werden eher Matschzonen …<br />

CB Wie gut man das umsetzt, werden wir<br />

sehen, das ist eben ein Experiment.<br />

NB Experimente finde ich schon gut, aber<br />

ist diese Flexibilität wirklich gegeben?<br />

Inwiefern können denn Schwammflächen<br />

anderweitig genutzt werden?<br />

17<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


Lebensgrundlagen<br />

Das Leben des Waldes verblasst, während die saftlosen Bäume noch immer ihre<br />

ganze Majestät mit strengem Stolz behaupten. Sie wollen uns daran erinnern, dass<br />

wir die Architekt*innen dieses Unglücks sind. Visionär*innen wie die Ackerpulco<br />

Farm betreiben eine rein pflanzliche, nachhaltige Landwirtschaft ohne Chemie,<br />

Gülle oder künstlichen Dünger. Und führen damit zu friedlicher Co-Existenz mit der<br />

Erde, lokaler Flora, Fauna und dem Menschen: eine alltägliche grüne Revolution …<br />

MARC<br />

62<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


RÄDER<br />

63<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT

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