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AUSGABE 44 29. Oktober 2022
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
HAFEN-DEAL
Werte, Wirtschaft
und das deutsche
Dilemma
VITAMIN D
Wie wirksam
sind die
Präparate?
Dieses Bild
entwarf kein
Mensch,
sondern die
KI-Software
DALL-E
DAS ENDE
DER WAHRHEIT
Wie künstliche
Intelligenz die
Wirklichkeit
verfälscht und
so zur Gefahr für
uns alle wird
LASSEN
SIE SICH NICHT
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E-PAPER LESEN:
EDITORIAL
Über den Hafen-Deal mit China
und Fakten statt Fakes
Fotos: Peter Rigaud/FOCUS-Magazin, Twitter
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der „Mao Tse-Scholz“, also das Bild, das
eine Komposition aus Fotos von Olaf
Scholz und Mao Tse-Tung auf dieser Seite
zeigt, fiel mir in dieser Woche auf Linked-
In auf. Ich fand das Bild und den Namen
witzig, obwohl sie ein ernstes Thema symbolisieren.
Bei dem heftig umstrittenen
Erwerb einer Minderheitsbeteiligung
an einem
Terminal im Hamburger
Hafen durch ein chinesisches
Staatsunternehmen
geht es auch um ein Symbol
– nämlich dafür, wie ernst
wir es mit der neuen Unabhängigkeit
von China meinen.
Diesen symbolhaften
Charakter verkennt auch
der Bundeskanzler, wenn
er meint, das Problem dadurch
zu lösen, dass Cosco
„nur“ einen Anteil von
unter 25 Prozent statt der
ursprünglich vereinbarten
35 Prozent erwerben darf. Und auch der
Hinweis, es gehe nicht um den ganzen
Hafen, sondern um eins von vielen Containerterminals,
sticht nicht.
Denn das Terminal „Tollerort“ steht für die
Frage, ob wir nach den bitteren Erfahrungen
mit der Abhängigkeit von russischer Energie
ungeachtet aller Reden bei China
auf ein Weiterso setzen oder ernsthafte
Konsequenzen ziehen. Gerade nach dem
gruseligen Parteitag der chinesischen KP
mit der Inthronisierung von Xi Jinping als
unumschränkten Herrscher wäre ein unmissverständliches
Zeichen an Peking erforderlich
gewesen, dass mit der Naivität
auf deutscher Seite endgültig Schluss ist.
Es geht also um viel, viel mehr als die
Zukunft des Hamburger Hafens. Es geht
um eine neue Austarierung der politischen
und wirtschaftlichen Beziehungen zu
einer aufsteigenden Weltmacht, die zudem
einer unserer wichtigsten Absatzmärkte
ist. Es geht darum, den Handel – wo
möglich – zu erhalten sowie darum, alte
Abhängigkeiten zu reduzieren und neue
zu verhindern. Das muss schon deshalb
gelingen, weil der chinesische Absatz-
Mao Tse-Scholz
Ein Foto-Gag, auf der Plattform
LinkedIn entdeckt
Von Robert Schneider, Chefredakteur
markt z. B. für unsere Autoindustrie oder
den Maschinenbau nicht von heute auf
morgen auch nur zum Teil durch andere
Märkte ersetzt werden kann. Von einer
gefährlichen Abhängigkeit aber muss man
bei seltenen Rohstoffen sprechen wie seltene
Erden oder bei Lithium und Kobalt.
Sollte China mit militärischer Gewalt nach
Taiwan greifen, könnte Peking versuchen,
Deutschlands Handlungsfähigkeit
durch Drohungen
mit einem Lieferstopp einzuschränken.
Wir brauchen
also konkrete Zeitpläne für
die Reduzierung dieser und
anderer Importe aus China,
wie es sie inzwischen
für den Verzicht auf Öl und
Gas aus Russland gibt.
Und: Es braucht in Europa
– von Piräus bis Hamburg –
glasklare Grundsätze im
Umgang mit China. Einer
davon sollte lauten: Wir erlauben
chinesischen (Staats-)
Unternehmen nichts, was
deutschen und europäischen
Firmen in China verwehrt wird, zum Beispiel
den Erwerb kritischer Infrastruktur
wie Häfen.
Und deswegen wäre es wichtig gewesen,
wenn Olaf Scholz vor seiner Reise nach
Peking den Cosco-Einstieg bei „Tollerort“
komplett gestoppt hätte, wie die halbe
Regierung es vehement gefordert hatte.
China, das sich im Ukraine-Krieg mit
Russland untergehakt hat, würde dann
begreifen, dass die von Putin erzwungene
Zeitenwende die deutsche Politik nachhaltig
verändert hat. Ich glaube, Xi Jinping
würde den Kanzler dann mit mehr Respekt
empfangen (siehe auch S. 28).
Noch mal zurück zu „Mao Tse-Scholz“.
Das Bild ist ganz offensichtlich mit Photoshop
entstanden, also klar als Kunst im
Sinne von künstlich zu bewerten, zumal
man auch weiß, wie die zwei Staatsführer
im Original aussehen. In unserer Titelgeschichte
beschäftigen wir uns ebenso mit
Bild-Manipulationen, die aber weniger
lustig sind, sondern vielmehr bedrohliche
Folgen haben können.
Vor wenigen Monaten lernte ich einen
jungen Mann kennen, der nach seinem
Studium im Alter von 24 Jahren schon
sein zweites Start-up gegründet und
eins bereits verkauft hat. Noel Lorenz, so
heißt der Berliner Unternehmer, zeigte mir
Bilder von Robotern auf einer Parkbank,
von Astronauten, die im Weltall Pferde
reiten, und von Echsen im Raumanzug.
Die Fotos waren allerdings nicht gephotoshoppt.
Sie sind ohne Bild-Vorlagen entstanden,
ohne Computer-Pinsel, Freisteller
oder Composings – es sind Fotos, die allein
von Algorithmen aus dem Nichts geschaffen
wurden. Noels Start-up Mindverse
bietet eine sogenannte Engine an: Einfach
einen Satz eingeben und schon entsteht
ein fotorealistisches Bild. Sie arbeitet
mit künstlicher Intelligenz (KI), die innerhalb
von Sekunden kurze Marketingtexte
oder Werbeslogans schreibt – alles ohne
menschliches Denken.
Ich war beeindruckt und erschrocken
von diesen so echt wirkenden Bildern, die
eine Realitat vortäuschten, die es nicht
gibt. Noel Lorenz weiß um die Auswirkungen,
die diese mächtige KI haben kann,
und hat deshalb seiner Engine-Plattform
Content-Filter einprogrammiert, die jede
Art von Missbrauch verhindern.
Denn die Gefahren sind groß: Sie erinnern
sich vielleicht an die Berliner Regierende
Franziska Giffey, die glaubte, mit Vitali
Klitschko per Video zu telefonieren, allerdings
auf eine Fälschung hereinfiel. Auch
wenn sich letztlich herausstellte, dass es
kein Deepfake war – die Schlagzeile ging
um die Welt. Deepfakes sind mithilfe von KI
manipulierte Videos. Barack Obama, der
seinen Nachfolger Donald Trump als Vollidioten
bezeichnete, war so ein Beispiel.
Was ist also Wahrheit? Was sind Fakten,
was ist Fake? Wir Journalisten bei FOCUS
trauen ohnehin nie sofort dem, was wir sehen.
Wir forschen nach, wir hinterfragen.
Doch das tun längst nicht alle. Was ist,
wenn solch mächtigen Werkzeuge massenhaft
genutzt werden, um andere zu
täuschen? Diese Frage hat sich meine Kollegin
Corinna Baier in ihrer Geschichte ab
Seite 44 gestellt. Ich kann sie Ihnen nur
empfehlen.
Herzlich Ihr
FOCUS 44/2022 3
Rote Linien
Chinas Beteiligung
am Hamburger
Hafen entfacht in
Deutschland eine
moralpolitische
Diskussion
Seite 28
Schwarze Wolken
Dietrich Mateschitz
baute mit Red Bull
ein Milliardenimperium
auf. Wie
geht es jetzt nach
seinem Tod weiter?
Seite 62
Bunte Flaggen
100 000 Menschen
demonstrierten in Berlin
für die Rechte der weiblichen
Bevölkerung im Iran
Seite 111
Grüne Wiese
Entwicklungsministerin
Svenja Schulze macht
Pläne für den Wiederaufbau
der Ukraine
Seite 34
Gelbe Knolle
Starköchin Haya Molcho
kombiniert Kartoffelpüree
mit Tomaten, Knoblauch
und Koriander
Seite 98
Grauer Sportler Kia bringt elektrische PS auf die Straße Seite 108
4 FOCUS 44/2022
Seite 4
Seite 5
INHALT NR. 44 | 29. OKTOBER 2022
Titelthema
Wirtschaft
54 Der Spieler
Slack-Gründer Stewart Butterfield über das
Büro der Zukunft, die richtige Fehlerkultur
und was Manager beim Pokern lernen können
62 Im Namen der Dose
Was wird nach dem Tod von Dietrich Mateschitz
aus dem Milliardenkonzern Red Bull?
66 Das Dorf und sein Meiler
Ende März ist Schluss mit dem Atomkraftwerk
Isar 2. Zu Besuch an einem Ort, der sich
mit der grünen Zukunft schwertut
79 Vereint im Staunen
Wie sich die ganze Welt um eine gute Sicht
auf die partielle Sonnenfinsternis bemühte
Kultur
80 Langfinger
Der Superstar der Klassik bemächtigt
sich der Songs aus Disney-Filmen:
Lang Lang über die Faszination des
Populären
84 Die Freiheit nehm ich mir
Unsere Lese-, Seh- und Hörempfehlungen
der Woche drehen sich ums Aufbegehren
Titel: Christian Muth für FOCUS-Magazin
44 Das Ende der Wahrheit
Falschnachrichten beeinflussten Wahlen,
führten zu Morden und Anschlägen.
Nun könnte sich das Problem noch
verschärfen: Dank künstlicher Intelligenz
war es nie leichter, Fotos und Videos
massenhaft zu fälschen
51 Deepfakes in Zahlen
Welche Auswirkungen haben gefälschte
Videos schon jetzt?
Agenda
69 Geldmarkt
Wissen
70 Leben mit dem Regenwald
In Brasilien zeigen traditionelle Waldbauern,
wie sich der Naturraum am Amazonas
nutzen lässt, ohne ihn zu zerstören
76 Wunder oder Plunder?
Einige Ärzte empfehlen Vitamin D als Covid-
Prävention. Ein fragwürdiger Ratschlag
86 Schatzsuche
Regisseur Fatih Akin erzählt
die Geschichte des Rappers Xatar als
deutschen Mythos
Leben
98 Hummus und Happiness
Mit ihrer israelisch-spanisch-rumänischen
Fusionsküche macht Köchin Haya Molcho
nicht nur ihre große Familie glücklich
104 Spiel des Schicksals
Die Thrillerserie „Das Netz“ leuchtet die
Schattenseiten des Profifußballs aus
Fotos: dpa, laif, ARD Degeto/Sommerhaus Serien GmbH/Das Netz Gmbh/Stephan Rabold, Instagram.com/jazmatab,
Katharina Pflug/Brandstätter Verlag, Daniel Hofer für FOCUS-Magazin
22 Willkommen in Kleinbritannien
Royaler Glamour, Fußball, die Beatles. Alles
vergessen. Von Großbritanniens Empire ist
nicht viel übrig. Stattdessen schon wieder
ein neuer Premier, Brexit und wachsende
Armut. Was ist los im Königreich?
Politik
28 Deutschlands Dilemma
Chinas Beteiligung am Hamburger Hafen
hat den Streit um Abhängigkeit und Moral
neu entfacht. Die Bundesregierung ringt
um ihren außenpolitischen Kurs
34 „Das ist ein Generationenprojekt“
Entwicklungsministerin Svenja Schulze im
Gespräch über den Wiederaufbau der
Ukraine und globale Krisenprävention
38 Kunst ist Leben!
Kartoffelbrei auf Monet? Geht gar nicht!
Claudia Roth kommentiert die Protestkultur
39 Politischer Datenstrudel
Christine Lambrecht klitschkot, Kamala
Harris feiert und Melnyk schimpft
40 Ain’t no Sunshine!
Floridas Gouverneur, der Trump-Klon Ron
De Santis, hat bei den Zwischenwahlen beste
Chancen. Was plant der Republikaner?
Weiße Weste
Birgit Minichmayr
spielt in „Das Netz“
eine Anwältin,
die sich mit dem
Weltfußballverband
anlegt
Seite 104
106 Die 100-Millionen-Dollar-Frage
Betrug oder Rufmord? Der Streit Carlsen vs.
Niemann revolutioniert das Schachspiel
108 Gran Kiarismo
Der Elektro-Sportwagen EV6 GT der
Koreaner hat das Zeug zum Porsche-Killer
3 Editorial
6 Kolumne von
Jan Fleischhauer
9 Nachrichten
10 Fotos der Woche
16 Grafik der Woche
Tutanchamun
18 Menschen
78 Echt irre
Rubriken
Titelthemen sind rot markiert
CHINA IN
YOUR HAND
Günter Bannas über die
Wirtschaftsbeziehungen zu China
DER HAUPTSTADTBRIEF
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch
85 Mein Salon
89 Bestseller
89 Impressum
110 Die Einflussreichen
112 Leserbriefe
113 Nachrufe
113 Servicenummern
114 Tagebuch
2000 JAHRE
WELTUNTERGANG
Inge Kloepfer über die deutsche
Neigung zum Katastrophismus
Jetzt noch mehr Wenn Politik Putin im gewinnt. digitalen Format
Wenn Putin verliert
Zur Zukunft der Weltordnung
Der Hauptstadtbrief für FOCUS-Leser
Von Henning Hoff Seite 2
Lesen Sie digital und kostenlos
noch mehr Analysen zur
aktuellen Politik. Scannen Sie
dazu einfach diesen QR-Code:
29. Oktober 2022 | #43
FOCUS 44/2022 5
POLITIK
BLINDBLIND
Containerverkehr
Der Hamburger Hafen verfügt
über vier Containerterminals.
An dem kleinsten will sich die
chinesische Staatsreederei
Cosco beteiligen
Welthandel Der Hamburger
Hafen liegt an der Unterelbe und ist
Deutschlands größter Seehafen.
In Europa liegt er nach Rotterdam
und Antwerpen auf Platz 3
Fotos: Christoph Papsch/laif, Michael Gottschalk/ddp images
28 FOCUS 44/2022
CHINA-STRATEGIE
Hamburg 2017
Xi Jinping und
Olaf Scholz
Werte und Wirtschaft.
Deutschlands Dilemma
Die Diskussion um Pekings Beteiligung am Hamburger
Hafen zeigt, wie schwierig es ist, sich aus Abhängigkeiten
zu befreien. Und vor welchen entscheidenden
Weichenstellungen die deutsche Chinapolitik steht
TEXT VON E. BONSE, G. DOMETEIT, M. ETZOLD, J.-P. H E I N , C. N EU H AU S ,
F. R E I C H , P. S T E I N K I R C H N E R , T. T U M A
29
TITEL
Falsche Fotos Diese Bilder
wurden für FOCUS mit dem
Generator DALL-E erstellt.
Die Software interpretiert
einfache Texteingaben.
Manche Ergebnisse wirken
schon sehr realistisch. Täglich
entstehen Millionen solcher
Werke. Häufig mit Astronauten
in Helmen, weil es
noch schwierig ist, Gesichter
in guter Qualität zu erzeugen
Das Ende der Wahrheit
Fake News beeinflussten Wahlen, führten zu Morden und Aufständen.
Und das Problem könnte sich noch weiter verschärfen: Dank
künstlicher Intelligenz war es nie leichter, täuschend echte Fotos
und Videos von Dingen zu erschaffen, die nie passiert sind. Was geschieht
mit einer Gesellschaft, die sich auf keine Realität mehr einigen kann?
TEXT VON CORINNA BAIER
44 FOCUS 44/2022
BLINDBLIND TITEL
Fotos: Christian Muth für FOCUS-Magazin
FOCUS 44/2022 45
WISSEN
Wie ein Paukenschlag
hallte die
Forderung durch
die Welt der Medizin.
Jedenfalls
beschrieben Ärz -
tinnen und Ärzte es so in den
Wochen und Monaten danach.
Eine internationale Gruppe von
200 Medizinerinnen und Medizinern
hatte auf dem Höhepunkt
der Covid-Pandemie im Winter
2021 eine Forderung erhoben,
die bis dahin als Unsinn von
Querdenkern und Impfskeptikern
galt. Die Gruppe verlangte
den Einsatz einer Therapie,
deren Nutzen bis heute nicht
belegt ist, um die Zahl der Infektionen
und Todesfälle zu senken:
die ergänzende Einnahme von
Vitamin D.
Die Forschung habe gezeigt,
dass niedrige Vitamin-D-Level
nahezu sicher das Covid-Risiko
erhöhten, hieß es in dem Appell.
Daher sollten nicht nur Patienten
mit nachgewiesenem Mangel
Vitamin-D-Präparate verabreicht
werden, sondern allen Erwachsenen
sei die als sicher geltende
Menge von 50 Mikrogramm am
Tag ans Herz zu legen. Das sei
schnell, günstig und risikoarm.
Um das Vitamin D streiten die
Experten schon lange. Eine schier endlose
Zahl an Studien erforscht seine Wirkung,
fast 4000 wurden allein in den letzten zwei
Jahren veröffentlicht. Ein Teil der Untersuchungen
spricht Vitamin D lindernde
oder schützende Effekte zu, der andere
widerlegt und relativiert. Es soll bei verschiedenen
Erkrankungen der Lunge helfen,
bei Demenz und Depressionen, bei
Multipler Sklerose und Diabetes – und
eben auch das Covid-Risiko senken. Doch
keine der deutschen Fachgesellschaften
rät dazu, grundsätzlich mit Vitamin-D-Präparaten
vorzusorgen.
Vitamin D als Nahrungsergänzungsmittel
ist also mindestens ebenso umstritten
wie der Forschungsstand dazu. Warum
eigentlich?
„Wir sind in einer Art Pattsituation“, sagt
der Mediziner Stephan Scharla, Sprecher
der Sektion Knochen- und Mineralstoffwechsel
der Deutschen Gesellschaft für
Endokrinologie. Unbestritten sei, dass
ein guter Vitamin-D-Status Infektionskrankheiten
der Atemwege vorbeugen
könne und einen positiven Einfluss auf
die Immunabwehr habe. Er könne etwa
die überschießende Reaktion des Immun-
Wunder oder Plunder?
In der Pandemie hieß es, Vitamin D
schütze vor Covid. Einige Ärztinnen und
Ärzte empfehlen tägliche Pillen für alle.
Ein fragwürdiger Ratschlag
systems, den sogenannten Zytokinsturm,
hemmen, der viele Covid-Patienten das
Leben gekostet hat. „Die Annahme, dass
ein Mangel anfällig für Covid und an -
dere Erkrankungen macht, ist also plausibel“,
sagt Scharla. Die Frage bleibe
aber: Führt es tatsächlich zu geringeren
Infektionszahlen oder einem milderen
Verlauf, wenn der Mangel mithilfe von
Nahrungsergänzungsmitteln behoben
wird? „Das konnte bisher nicht eindeutig
gezeigt werden“, sagt der Experte für
innere Medizin.
Während der Pandemie wurde Vitamin D
im Internet oftmals als Wundermittel gepriesen.
„Da wurde behauptet, dass man
überhaupt nicht erkrankt und auf keinen
Fall einen schweren Verlauf hat. Das
muss man dringend zurückweisen“, betont
Scharla. „Eine gewisse Schutzwirkung
heißt nicht, dass eine Erkrankung
verhindert wird, und es macht die anderen
Schutzmaßnahmen in keinster Weise
überflüssig.“
„Keine kausale Beziehung erwiesen“
Eine Wirkung der Pillen zu studieren ist
schwierig. Eines der größten Probleme
Die Sonne als Tablette
Vitamin D ist in der EU frei erhältlich.
Erwachsene sollten höchstens
100 Mikrogramm pro Tag schlucken
liegt im Fall von Covid darin,
dass sich die Risikofaktoren für
einen schweren Verlauf und
Vitamin-D-Mangel stark überschneiden.
Ältere, chronisch
Kranke, Pflegebedürftige und
stark Übergewichtige sind häufig
von beidem betroffen. „Bisher
ist einfach keine kausale
Beziehung bewiesen“, sagt Antje
Gahl, Sprecherin der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung. Das
heißt: Es ist zwar plausibel, aber
ungewiss, ob Vitamin-D-Mangel
das Risiko für eine Covid-Infektion
und schwere Verläufe erhöht.
Womöglich treten die Phänomene
nur oft gemeinsam auf. Antje
Gahl sagt: „Solange eine präventive
Wirkung nicht belegt ist,
können wir auch keine pauschale
Empfehlung aussprechen, mit
Vitamin D vorzusorgen.“
Ähnlich bewerten es andere
deutsche Fachgesellschaften wie
das Robert Koch-Institut (RKI)
und das Bundesinstitut für Risikobewertung.
Die Deutsche Gesellschaft
für Endokrinologie rät
explizit von der Einnahme zum Schutz
vor Covid ab. Nur wer an einem Mangel
leide, solle Präparate einnehmen, so die
einhellige Empfehlung. Das gelte nicht
nur im Hinblick auf Corona, sondern auch
grundsätzlich.
In Deutschland haben etwa 15 Prozent
der Erwachsenen und 12,5 Prozent der
Kinder deutlich zu wenig Vitamin D im
Blut. Knapp 41 Prozent der Erwachsenen
und 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen
sind nicht optimal damit versorgt
und können daher das Potenzial von Vitamin
D nicht voll nutzen.
Das fettlösliche Vitamin ist ungemein
wichtig für uns. Es hilft dabei, Calcium
und Phosphat aus dem Darm aufzunehmen
und in die Knochen einzubauen. Ein
Mangel kann je nach Altersgruppe zu verformten,
schmerzenden oder brüchigen
Knochen führen. Vitamin D mischt außerdem
bei vielen unserer Stoffwechselvorgänge
mit, ist an der Bildung wichtiger
Proteine und der Steuerung zahlreicher
Gene beteiligt. Auch deshalb glauben
einige Expertinnen und Experten, dass
sein Einfluss auf unsere Gesundheit weit
größer ist als bislang bekannt.
Foto: Getty Images
76 FOCUS 44/2022