Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
AUSGABE 44 29. Oktober 2022
EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
HAFEN-DEAL
Werte, Wirtschaft
und das deutsche
Dilemma
VITAMIN D
Wie wirksam
sind die
Präparate?
Dieses Bild
entwarf kein
Mensch,
sondern die
KI-Software
DALL-E
DAS ENDE
DER WAHRHEIT
Wie künstliche
Intelligenz die
Wirklichkeit
verfälscht und
so zur Gefahr für
uns alle wird
LASSEN
SIE SICH NICHT
TÄUSCHEN!
LEBEN
BLINDBLIND
Familienbande
Gutes Essen macht fröhlich,
möchte man meinen: Haya Molcho und
ihr Sohn Nuriel beim FOCUS-Termin in
ihrer Berliner „Neni“-Dependance
BLINDBLIND GENUSS
Rote-Bete-Variation
Eigentlich unverzichtbar im „Neni“,
mit dem Geschmack nach Heimat:
„Hummus ist meine Muttermilch“,
sagt Haya Molcho
Fotos: xxxxxx/FOCUS-Magazin Bxxxxx xxxxx
Hummus und Happiness
Um gesund für ihre große Familie zu kochen, hat die gebürtige Israelin
Haya Molcho stets auf traditionelle Gerichte und nachhaltige Zubereitung geachtet.
Und so verfährt sie auch heute in ihrem verzweigten Gastro-Imperium
INTERVIEW VON HEIKE BLÜMNER FOTOS VON JÉRÔME DEPIERRE
98 FOCUS 44/2022 FOCUS 44/2022 99
LEBEN
GENUSS
Man weiß gar nicht,
wohin man zuerst
schauen soll: auf
den sehr blauen
Himmel und den
herbstlichen Tiergarten,
die sich
vor den großen Fenstern im zehnten Stock
eines Gebäudes am Berliner Bahnhof Zoo
ausbreiten, oder in Haya Molchos sehr
blaue Augen. Die 67-Jährige ist die Chefin
der „Neni“-Restaurants mit zehn weiteren
Dependancen, etwa in München, in Paris
oder auf Mallorca. Mit ihren erfolgreichen
Kochbüchern begleitet sie diese gastro -
nomische Erfolgsgeschichte.
In Berlin empfangen sie und ihr ältester
Sohn Nuriel anlässlich des neuesten Kochbuchs
„Coming Home“. Darin laufen die
Fäden verzweigter Lebenswege kulinarisch
zusammen: Als Haya zehn Jahre alt
war, zog ihre Familie von Tel Aviv nach
Bremen. Ihr Mann, der Pantomimekünstler
und Autor Samy Molcho, stammt ebenfalls
aus Tel Aviv und zog 1960 nach Wien,
wo das Paar heute lebt und wo es vier
Söhne großzog. Erst danach startete Haya
Molcho ihre Karriere. Inzwischen ist aus
dem „Neni“ ein Familienbetrieb geworden:
Drei der Söhne arbeiten im Unternehmen,
der vierte als Schauspieler in den
USA. Und alle kommen – dem Buch nach
zu urteilen – gerne nach Hause. Und das
nicht nur zum Essen.
Frau Molcho, Ihr neues Buch heißt
„Coming Home“. Wo ist Ihr Zuhause?
Wir sind Nomaden und sehr viel unterwegs,
deshalb ist für mich zu Hause im
Prinzip dort, wo meine Familie ist. Aber
natürlich ist Wien, wo wir seit 43 Jahren
wohnen, unser Zentrum. Auch heute haben
wir ein offenes Haus. Eines von den Kindern
ist immer da. Ich glaube, weil wir sie nie
gezwungen haben zu kommen, kommen
sie freiwillig.
Es ist Ihr inzwischen sechstes
Kochbuch. Welche neue Facette
Ihrer Küche zeigen Sie darin?
Alle meine Bücher sind persönlich und
doch sehr verschieden. Für mein Buch
über Tel Aviv sind wir in unsere Heimat
gereist und haben die Familie besucht.
Da ging es darum zu ergründen, woher
wir kommen, und darum, die levantini -
sche Küche vorzustellen. Bei dem Wien-
Buch war es dann die neue Heimat mit
ganz anderen Einflüssen. „Coming Home“
ist ein emotionales Buch, weil es stark um
dieses Gefühl des Zuhauseseins geht.
Wer hat Ihnen das Kochen beigebracht?
Meine Lehre fand auf der ganzen Welt
statt. Zwischen meinem 23. und meinem
30. Lebensjahr, als ich meinen Mann auf
seinen Tourneen begleitete und die Kinder
noch nicht auf der Welt waren. Ich
bin damals einfach in all die fremden
Küchen gegangen und habe mitgekocht.
Bei Freunden und deren Freunden, aber
auch in den Botschaften überall auf der
Welt. Ich habe mir die Märkte angeschaut.
Samy hat trainiert, getanzt, sich
vorbereitet, und ich hatte Zeit, mich mit
Essen und Gewürzen zu beschäftigen.
1965, mit zehn Jahren, sind sie
von Tel Aviv nach Bremen gezogen.
Das muss ein kulinarischer
Kulturschock gewesen sein?
Es gab überhaupt keine Kulinarik, weil
es ja kaum Fremde gab. Und die, die da
waren, nannte man Gastarbeiter: türkische
Familien, die man komplett ignoriert
hat. Türkische Küche galt gar nichts, italienische
Küche war Pizza. Ganz Europa
war ahnungslos. In Israel waren wir da -
mals so viel weiter durch die Einwanderer
aus aller Welt.
Wie hat Ihre Mutter, aus Israel kommend,
in diesem Umfeld gekocht?
Meine Mutter hat unsere Küche aus
Israel mit nach Deutschland gebracht.
Jeder Besucher, der zu uns kam, musste
uns kofferweise Lebensmittel mitbringen,
also 20 Kilo und mehr: kleine Gurken,
gute Tomaten, eingelegtes Gemüse, Tahina.
Das gab es ja in Bremen alles nicht.
Auch ansonsten stelle ich mir Deutschland,
20 Jahre nach dem Holocaust,
nicht als besonders gastfreundliches
Land für eine israelische Familie vor.
„Ich komme aus
Israel, meine
Mutter brachte
die rumänische
Küche mit,
Samys Familie
die spanische“
Mittagstisch mit Aussicht
Haya Molcho beim Lunch
im Restaurant hoch über
dem Tiergarten
Die glorreichen sechs
Familie Molcho im Postkartenformat.
Haya sei wie Salz, heißt es in der Familie,
Samy wie Knoblauch. Das eine unentbehrlich,
das andere manchmal lästig
Das habe ich stark erlebt in der Schule:
mit auf den Tisch gekritzelten Hakenkreuzen
und so weiter. Es war aber nicht
dieser offene Fremdenhass, sondern eher
etwas Unterdrücktes. Damals wurde auch
noch in der Schule unterrichtet, dass Juden
keine guten Musiker seien oder warum
sie dies oder das angeblich nicht könnten.
Das war in den sechziger Jahren, schockierend!
Ein Lehrer hat vor der ganzen
Klasse über mich gesagt: „Mit allen rede
ich, mit ihr rede ich nicht.“ Das war ein
alter Nazi. Leider gab es einige davon,
obwohl Bremen damals sehr links war.
Das lief parallel.
Ja, die Altnazis und die Apo mit ihrer
Revolution, mit Woodstock, Flower-Power
und Marihuana. Die jungen Leute mussten
raus aus dieser Geschichte, sich austoben.
Haben Sie mitgemacht?
Ich war mit bei den Veranstaltungen,
aber mehr am Rande.
Später kamen Schlag auf Schlag vier Söhne.
Wie kocht man für vier Jungs, ohne beim
kleinsten gemeinsamen Nenner Nudeln mit
Tomatensauce oder Pfannkuchen zu landen?
Nun, ich komme ja aus Israel, wo alle
möglichen Einflüsse eine Rolle spielen.
Meine Mutter brachte die rumänische
Küche mit, Samys Familie die spanische.
Wir haben den Kindern so viele Geschmäcker
anbieten können, dass sie es sich aussuchen
konnten.
Standen dann bei Ihnen zu den Hauptmahlzeiten
zehn Gerichte auf dem Tisch?
Ich habe immer sehr viel gekocht. Es war
nicht leicht, aber ich habe damals auch
nicht gearbeitet. Das ist schon etwas an -
deres, da war ich privilegiert. Mein Mann
hat neun Monate im Jahr gearbeitet und
nahm sich drei Monate frei. Dann war er
bei den Kindern. Und ich habe immer mit
Leidenschaft gekocht. Bis ich dann mein
Hobby zum Beruf gemacht habe. Wenn
wir als Familie gereist sind, haben wir im -
Offen für alles
Das Restaurant
soll behaglich
wirken, getreu
dem Titel des neuen
Buchs „Coming
Home“ (Brandstätter
Verlag)
mer darauf geachtet, dass die
Kinder das Essen als Teil der
Kultur eines Landes verstehen.
Aber haben Ihre Kinder
alles gegessen?
Nein, nicht jeder. Nuriel,
Nadiv und Ilan essen alles
und haben als Kinder zum Beispiel auch
Schnecken gemocht. Oder Oktopus,
den haben sie geliebt. Elior war mehr
fleischaffin, er stand auf Spaghetti, exotische
Speisen mochte er weniger. Jetzt,
da er älter ist, hat er sich langsam an
andere Gerichte gewöhnt. Ich habe Glück
gehabt: Einer war etwas problematisch,
die anderen waren relativ einfach.
Kann man anhand der kulinarischen
Vorlieben auf den Charakter schließen?
Ja, die, die alles probieren, sind generell
neugieriger. Sie gehen eher Risiken
ein. Die, die vorsichtig sind beim Essen,
sind auch allgemein skeptischer. Das
sehe ich auch bei Elior. Er diskutiert auch
am meisten, er will überzeugt werden.
Besonderen Raum in Ihrem Buch nimmt
der sonntägliche Brunch ein, den sie für die
ganze Familie zubereiten. Haben Sie Hilfe?
Ich habe am Wochenende keine Hilfe,
aber ich habe die Schwiegertöchter und
die Jungs. Alle machen mit.
Wer übernimmt den Abwasch?
Die Mädchen und die Jungs und Samy.
Ich bereite gerne alles vor, aber ich hasse,
was nach dem Essen kommt.
Teller Aviv
Das „Neni“ variiert
die Gerichte aus
Molchos Kindheit
in Israel
Iss dich heiter
Südliche Küche,
sonniges Gemüt:
Haya Molcho steht
ganz persönlich für
das Konzept ihres
Gastro-Imperiums
100 FOCUS 44/2022 FOCUS 44/2022
101
LEBEN
GENUSS
„Viele essen nicht
gesund, wenn sie
sich vegan ernähren,
weil sie keine
Fantasie haben“
Welcher Ihrer Söhne hat Ihr Talent
zum Kochen geerbt?
Lustigerweise Elior, der dritte, der im -
mer so skeptisch war. Er hat großes Talent.
Aber eigentlich kochen alle gerne, außer
Nuriel. Dafür kocht seine Frau sehr gut.
Sind die Schwiegertöchter nicht von
Ihrer Kochkunst eingeschüchtert?
Nein, weil ich mich nicht einmische.
Und sie kochen mit mir, bringen neue
Eindrücke mit. Es ergänzt sich sehr gut,
ein Gewinn für alle.
So erweitert sich Ihr Stil immer mehr.
Die ohnehin von zahlreichen Einflüssen
geprägte israelische Küche
bekommt immer neue Impulse?
Ja, eklektische Küche nenne ich es. In
Israel spielen die palästinensische, jordanische
und libanesische Küche eine
große Rolle. Hummus ist meine Muttermilch.
Wir saßen als Kinder am Strand
und haben Hummus mit Pitabrot gegessen.
Da wusste man hier noch gar nicht,
was das überhaupt ist. Ich fühle mich der
levantinischen Küche sehr nahe. Näher
als der rumänischen, wobei ich von meiner
Mutter viel übernommen habe. Fermentation
zum Beispiel. Das ist heute
wieder ganz modern, aber wir haben das
immer gemacht. Ein neues Gericht von
mir, welches das widerspiegelt, ist eine
Rote-Bete-Suppe mit geräuchertem Labneh
und fermentiertem Spitzkraut.
Mein Problem damit ist, dass man
so viele Zutaten braucht.
Bei meiner Küche nicht. Sie ist anders,
mehr Tel Aviv als Jerusalem.
Aber man braucht doch diverse
Gewürze und Kräuter?
Kräuter immer, aber Gewürze eher
weniger.
Woher beziehen Sie Ihr Gemüse?
Wir haben eine eigene Farm in Rumänien.
Sie liegt vier Stunden von Wien
entfernt, und es wird dreimal die Woche
geliefert. Auberginen, Tomaten, Chilis:
Alles, was wir am meisten brauchen,
bekommen wir von dort. Und alles ist
nachhaltig angebaut, biologisch, eine
fantastische Qualität. So wie ich aufge-
Kartoffelpüree
FÜR 4 PORTIONEN
650 g Kartoffelfruchtfleisch,
Reste von den „Knusprigen
Kartoffelschalen“ (s. u.), 35 g Olivenöl,
40 g Gemüsefond, 4 g Salz
Für das Zhoug
3 Knoblauchzehen, 15 g Koriander,
25 g Petersilie, 2 Sivri-Chilis, 4 EL Olivenöl
Zum Anrichten
4 EL Tomatenkerne, 4 EL Olivenöl,
4 Schnittlauchblüten
Kartoffelfruchtfleisch in einem Topf mit
Olivenöl, Gemüsefond und Salz aufwärmen
und zu Püree stampfen.
Das Kartoffelpüree auf Tellern anrichten.
Mit 4 EL Zhoug, Tomatenkernen, Olivenöl
und abgezupften Schnittlauchblüten
garnieren. Zhoug passt zu Fleisch und
Eintöpfen oder als Brotaufstrich.
Knusprige
Kartoffelschalen
FÜR 4 PORTIONEN
2 kg Ofenkartoffeln, Sonnenblumenöl
zum Frittieren, Salz
Die Kartoffeln flach auf einen
Gitterrost legen und bei 200 °C
Ober-/Unterhitze im vorgeheizten Ofen für
1 Stunde backen. Auf Weichheit prüfen,
weitere 15 Minuten backen, wenn notwendig.
Aus dem Ofen nehmen und für 15 Minuten
bei Raumtemperatur auskühlen lassen.
Die noch warmen Kartoffeln der Länge nach
halbieren. Das Fruchtfleisch mit einem
Löffel herauskratzen, bis nur noch
0,5 cm Fruchtfleisch auf der Schale
zurückbleibt. Herausgekratztes Fruchtfleisch
für Kartoffelpüree aufheben.
Die ausgekratzten Kartoffelhälften ein
weiteres Mal der Länge nach halbieren.
In Sonnenblumenöl ca. 3 Minuten frittieren,
bis sie goldgelb und knusprig sind.
Nach Geschmack mit Salz würzen und
heiß servieren.
wachsen bin: Die Tomate schmeckt, wie
sie schmecken sollte, nach Toskana.
Achten Sie bei den zahlreichen „Neni“-Restaurants
auf Nachhaltigkeit und Regionalität?
Immer. Auf Mallorca zum Beispiel ist
natürlich Fisch ein größeres Thema, in
den Bergen gibt es eher Schmorgerichte.
Und in Berlin?
In Berlin ist es schwer. Aber hier gibt es
viele türkische Läden, und wir beziehen
Lamm beispielsweise vom Türken, aber
insgesamt orientieren wir uns hier mehr
saisonal als regional.
Was empfehlen Sie für schwierige
Zeiten und dunkle Tage?
Auf keinen Fall kalte Gerichte. Im
Winter kein Zaziki! Dafür warme, lang
geschmorte Speisen mit einer Soße, in
die man gutes Sauerteigbrot tunken
kann. Hülsenfrüchte, geschmorte Bohnen
aus meinem Buch. Keine Schnell-schnell-
Gerichte.
Vegetarische und vegane Ernährung ist
ebenfalls ein großes Thema. Auch bei Ihnen?
Mein Mann ist Vegetarier, und unsere
Kinder essen sehr wenig Fleisch. In
„Coming Home“ sind ganz viele vegetarische
Gerichte enthalten, aber nicht
erzwungen. Wenn man sich entscheidet,
kein Fleisch zu essen, braucht man keinen
Ersatz für eine Wurst. Dann geht es
um Gemüse und was
man damit machen
kann – und das ist
sehr, sehr viel. Ein
Problem ist, dass viele
nicht gesund kochen,
wenn sie sich
vegan ernähren, weil
sie zu wenig Fantasie
haben. Dann gibt es
auf einmal nur noch
Pasta. Das heißt, wenn
man vegan isst, sollte man sich entsprechende
Kochbücher kaufen und herausfinden,
was man alles machen kann.
Welche Gerichte dürfen bei einem Ihrer
Familientreffen auf gar keinen Fall fehlen?
Es wird bei uns niemals nur ein Gericht
geben. Aber Hummus darf nicht fehlen.
Gutes Brot ist auch ganz wichtig. Oder
Zhoug, eine Chili-Koriander-Paste, die
sehr einfach zuzubereiten ist. Mein Mann
hat die Gewürze dafür früher aus der ganzen
Welt mitgebracht. Die hat er dann, wo
auch immer er war, in Öl gegeben, und
wenn irgendwo das Gemüse einfach nur
gekocht war, hat er sich die Paste daraufgegeben
und hatte dann sofort diesen
Heimatgeschmack.
■
Unser Kolumnist Yotam Ottolenghi macht
102 diese Woche Pause
FOCUS 44/2022
Fo t o s : Katharina Pflug/Brandstätter Verlag (2)