PIPER Reader Frühjahr 2023
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24<br />
ALEXANDER OETKER & THI LINH NGUYEN<br />
LESEPROBE<br />
es ihr für viele Jahre nicht mehr gelingen, diese Bilder<br />
abzuschütteln. Das Bild des Jungen am Boden,<br />
in seiner eigenen Blutlache liegend, die Augen ins<br />
Leere gerichtet. Das Bild von Duc, der wie versteinert<br />
dasaß, kreidebleich. Sie sah, wie sich seine graue<br />
Jogginghose im Schritt verfärbte. Und sie würde<br />
auch nicht den Mann vergessen, der in der Tür stand<br />
und aus dessen Pistolenlauf sich sanfter Rauch kräuselte.<br />
Linh war, als blickte er nur sie an, und sein<br />
Blick war so besorgt, dass sie glaubte, er würde sie<br />
jeden Moment in die Arme schließen wollen.<br />
Linh wusste in diesem Augenblick nur eines: Ihr Leben<br />
hatte gerade am seidenen Faden gehangen und<br />
dieser Mann hatte sie gerettet – sie und ihren Bruder.<br />
***<br />
»Hände hoch nehmen!«, schrie der Mann und richtete<br />
seinen Revolver auf Adam. »Hände!«<br />
Adam konnte sich nicht bewegen, hielt die Waffe zu<br />
Boden. Er sah nur auf Melanie, sah das bisschen Leben,<br />
das noch in ihren Augen lag, sie war schon im<br />
Delirium, so sah es zumindest aus, und in seinem<br />
Körper schien es ebenso zu sein. Da war kein Gefühl<br />
mehr außer Angst, Angst, Angst. Und dann, doch<br />
noch etwas anderes: Schuld. Abgrundtiefe Schuld.<br />
Schieß!, hörte Adam eine Stimme in seinem Kopf.<br />
Er war immer der schnellste Schütze am Schießstand<br />
gewesen. Aber jetzt? Ihm fehlte die Kraft,<br />
auch nur den Finger zu rühren.<br />
»Hände hoch!« Der junge Typ zielte auf ihn. Adam<br />
konnte ihn nicht ansehen. In der Ferne waren Sirenen<br />
zu hören.<br />
Er nahm das Klicken des Ladehebels wahr, sah, wie<br />
der Vietnamese ein Auge schloss. Ein vietnamesisches<br />
Wort klang durch den Raum, fremd und entschlossen.<br />
Adam schloss die Augen und wartete auf<br />
die Erleichterung, gleich würde alles vorbei sein.<br />
Er schreckte zusammen, als der Schuss fiel, doch er<br />
spürte keinen Schmerz. Stattdessen hörte er etwas<br />
fallen, genau vor ihm.<br />
Er öffnete die Augen, neben Melanie lag nun der<br />
Typ reglos am Boden. Er schaffte es, den Kopf zu<br />
wenden, und hinter ihm stand …<br />
***<br />
Chêt – das hatte er gesagt. Tod! Tod auf Vietnamesisch.<br />
Sie wusste, dass er auch noch ein zweites Mal<br />
schießen würde. Ein toter Polizist mehr spielte hier<br />
keine Rolle.<br />
Sie war wie ferngesteuert gewesen, hatte ohne nachzudenken<br />
die Pistole des toten Jungen genommen,<br />
war durch den dunklen Flur gelaufen. Da hatte sie<br />
seine Worte gehört.<br />
Durch die geöffnete Tür fiel Licht, der Polizist stand<br />
mit dem Rücken zu ihr. Sie hatte nicht zu dem röchelnden<br />
Körper am Boden geschaut, dann wäre es<br />
aus gewesen. Nein, es gab nur eines, das jetzt zählte:<br />
ihn retten.<br />
Sie stand verdeckt hinter dem Polizisten, der andere<br />
konnte sie nicht sehen. Abzudrücken war viel zu<br />
leicht, schoss es ihr durch den Kopf, aber die Angst<br />
wurde kleiner, und als der Mann zu Boden fiel wie<br />
ein nasser Sack, war ihr klar, dass sie nun allein waren.<br />
Nur sie drei. Der Polizist, Duc, sie.<br />
Ihre Ohren klingelten immer noch vom Schuss, aber<br />
über allem lag jetzt eine unheimliche Stille. Die Polizistin<br />
– Linh erkannte erst jetzt, dass es eine Frau<br />
war – hatte aufgehört zu atmen.<br />
***<br />
Er drehte sich zu dem Mädchen mit der Waffe um,<br />
sie stand unbeweglich in der Tür, die Augen geweitet.<br />
Er trat nur einen Schritt auf sie zu, er wollte Melanie<br />
nicht allein lassen.<br />
»Verschwinde von hier«, sagte er leise. »Nimm deinen<br />
Bruder, und verschwindet von hier. Aber nicht runter<br />
aus dem Haus, da sind gleich zu viele Bullen. Lauft die<br />
Treppe rauf und bleibt dort ein paar Minuten. Dann<br />
geht ihr einfach runter, als würdet ihr hier wohnen –<br />
und kommt nie wieder hierher. Verstanden?«<br />
Sie sagte nichts, nickte nur, legte die Waffe vorsichtig<br />
auf den Boden und verschwand, und er war sich<br />
sicher, dass er sie nie wiedersehen würde.<br />
***<br />
Der Mann hatte Duc gerettet und sie, Linh, hatte<br />
ihn gerettet – damit hatte das Schicksal sie auf ewig<br />
verbunden. Sie wusste instinktiv, dass sie ihn wiedersehen<br />
würde.