Lebändigi Gschicht
Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!
Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.
LEBÄNDIGI<br />
GSCHICHT<br />
EINE HOMMAGE AN 30 JAHRE<br />
BASLER MUNDARTRAP<br />
MANUEL GUNTERN LUCA THOMA MAXIMILIAN KARL FANKHAUSER
Die Publikation wurde gefördert durch:<br />
Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel.<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© 2022 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />
Projektleitung: Beatrice Rubin<br />
Korrektorat: Daniel Lüthi<br />
Cover: Kim Culetto, Siri Dettwiler<br />
Layout: Siri Dettwiler<br />
ISBN 978-3-7245-2572-1<br />
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für<br />
Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024<br />
unterstützt.<br />
www.reinhardt.ch
LEBÄNDIGI<br />
GSCHICHT<br />
EINE HOMMAGE AN 30 JAHRE<br />
BASLER MUNDARTRAP<br />
MANUEL GUNTERN LUCA THOMA MAXIMILIAN KARL FANKHAUSER<br />
Friedrich Reinhardt Verlag
Vorwort6<br />
Interview mit<br />
Lukie Wyniger 54<br />
TAFS28<br />
Pyro88<br />
Black Tiger 10<br />
Brandhärd64<br />
Kalmoo40<br />
K.W.A.T.104<br />
Shape20<br />
Griot76
Interview mit<br />
La Nefera 118<br />
State of the Art<br />
2022174<br />
Sherry-ou150<br />
Autoren 200<br />
S-Hot128<br />
Radio X Cypher<br />
2022178<br />
Was Das? 164<br />
1–<br />
10<br />
Fotografie und<br />
Set-Design204<br />
KimBo140<br />
Basler<br />
Rap-Momente182
VORWORT
«<strong>Lebändigi</strong> <strong>Gschicht</strong>» – so taufte die Allschwiler<br />
Rap-Gruppe Brandhärd im Jahr<br />
2007 einen Song, auf dem sie der Sprayer-<br />
Kultur am Rheinknie Respekt zollt. Dieser<br />
Titel trifft den Nagel auf den Kopf, weil er<br />
die zwei wichtigsten Eigenschaften von urbaner<br />
Kunst beschreibt: Die Graffiti an den<br />
Zügen, Mauern und Hausfassaden sind Zeichen<br />
aus der nahen Vergangenheit – aber<br />
gleichzeitig lebendig und emotional. Denn<br />
Graffiti sind keine Ölbilder wie die «Mona<br />
Lisa», die perfekt konserviert hinter den<br />
Glaswänden der Kunstmuseen die Jahrhunderte<br />
überdauern. Sie sind der Witterung<br />
ausgesetzt, sie verlottern, blättern ab<br />
und werden nicht selten einfach frech vom<br />
nächsten Sprayer mit einem neuen Kunstwerk<br />
übermalt. Man weiss nie, wann man<br />
sie sich zum letzten Mal anschauen kann.<br />
Man weiss aber auch nicht, welche Kunstwerke<br />
zum Vorschein kommen würden,<br />
wenn man das bestehende abschabt. Genau<br />
das macht Graffiti so lebendig.<br />
30 Jahre Mundartrap aus Basel<br />
Mit Mundartrap aus Basel und Umgebung<br />
ist es dasselbe: Die Emotionen im Moment<br />
und das Lebensgefühl sind mindestens<br />
genauso wichtig wie die Lieder, die der<br />
Nachwelt erhalten bleiben. Vor exakt 30<br />
Jahren erschien eine Kassette, auf der ein<br />
junger Mann namens Urs Baur alias Black<br />
Tiger die erste Rap-Strophe auf Schweizerdeutsch<br />
veröffentlichte. Sprechgesang<br />
auf Mundart gab es bereits davor, aber<br />
dass ein Künstler aus der HipHop-Szene<br />
mit ihren ungeschriebenen Traditionen<br />
und ihrer tiefen Verwurzelung in der englischen<br />
Sprache einfach so rappte, wie er<br />
sich im Alltag ausdrückte – das war frech,<br />
mutig, frisch. Seither hat sich Rap auf Baseldeutsch<br />
von einer nischigen Alternativszene<br />
zu einem Teil der Popkultur entwickelt<br />
und ist in der Mitte der Gesellschaft<br />
angekommen.<br />
30 Jahre sind eine lange Zeit. Doch was<br />
wir auf CDs, Kassetten, Vinyl-Platten und<br />
Streaming-Diensten nachhören können und<br />
was wir in den spärlich gesäten Zeitungsinterviews<br />
und Magazinartikeln nachlesen,<br />
zeigt nur einen Bruchteil des Lebensgefühls,<br />
das die Protagonist:innen dieser Geschichte<br />
begleitete und prägte. Das meiste ist nur<br />
in ihren persönlichen Erinnerungen konserviert,<br />
oder wie es Rap-Urgestein Kalmoo<br />
formuliert: An einer langen Kette von kleineren<br />
und grösseren Perlen, die sie wie<br />
einen Schatz im Herzen hüten.<br />
12 Rapper:innen und<br />
Crews aus drei Dekaden<br />
Einen Teil dieser Perlen wollen wir in unserer<br />
Hommage an 30 Jahre Mundartrap<br />
bergen. Das Jubiläum ist ein guter Zeit-<br />
7
8<br />
punkt, um in die ferne und nahe Vergangenheit<br />
zurückzublicken und das Lebensgefühl<br />
dieser Kultur zu Papier zu bringen.<br />
Wie entwickelte sich Mundartrap von einer<br />
Plattform für junge Migrant:innen und<br />
Secondos zu einer musikalischen Leitkultur<br />
in Basel? Was entstand in dieser Zeit –<br />
und was ging auf der Strecke verloren?<br />
Diese Geschichte lässt sich nicht im Archiv<br />
recherchieren, man muss sie erzählen lassen<br />
– und zwar von den Protagonist:innen<br />
selbst, den Zeugen ihrer Zeit.<br />
So kommen 12 Rapper:innen und Crews<br />
aus allen drei Dekaden Mundartrap zu<br />
Wort. Sie sind so unterschiedlich und facettenreich<br />
wie das Genre selbst. Die Porträts<br />
zeichnen die Karrieren der Musiker:innen<br />
nach, geben aber auch Einblicke in die<br />
Basler Gesellschaft im Wandel der Zeit.<br />
Denn was der knallharte Kleinbasler Strassenrapper,<br />
der Baselbieter Wortakrobat,<br />
die selbstbewusste Feministin und die anarchisch-punkige<br />
Rap-Bewegung gemeinsam<br />
haben, ist nicht nur das Bekenntnis zur<br />
HipHop-Kultur, sondern die Verbundenheit<br />
zum Wohnort, zu ihrem Biotop des Lebens<br />
und Schaffens. Und so fächern die Porträts<br />
in diesem Buch auch 12 verschiedene Formen<br />
von Lokalpatriotismus und Heimatliebe<br />
auf. So viel sei verraten: Bei niemandem<br />
ist die Verbundenheit zur Heimatstadt ein<br />
romantisierter Blick auf das Postkarten-Basel<br />
mit dem Münster, der Rheinpromenade<br />
und dem Fährimaa. Es sind weniger illustre,<br />
heute zum Teil vergessene Orte wie das<br />
legendäre Sommercasino, die mit zahllosen<br />
Graffiti geschmückte «Basler Line»<br />
an der Bahnhofseinfahrt oder die Shisha-<br />
Cafés im Klybeck, die diese Geschichten<br />
prägen. Klar wird auch, dass Basler Rap<br />
nie an der Stadtgrenze aufhörte. Ohne<br />
den Beitrag von Künstler:innen aus dem<br />
Baselbiet, besonders jenen aus Allschwil<br />
und dem legendären «WB-Tal», wäre Rap<br />
am Rheinknie nur halb so reichhaltig.<br />
Echte Menschen, keine Popstars<br />
Was die 12 Protagonist:innen dieses Buches<br />
ebenfalls verbindet, ist die Bereitschaft,<br />
ihre Seele auf Papier zu spucken.<br />
Sie alle sind keine weichgespülten, glattgebügelten<br />
Popstars mit gradlinigen Lebensläufen,<br />
wie sie uns früher von den<br />
«Bravo»-Postern anlachten, sondern echte<br />
Charaktere mit Ecken und Kanten. Es sind<br />
Menschen, die ihre Passion voll ausleben,<br />
aber auch unter der Bürde ihres Alltags<br />
ächzen. Ausschliesslich und längerfristig<br />
von der Musik zu leben? Für alle ein weit<br />
entfernter Traum. Daher ist diese Hommage<br />
bei aller Bewunderung und bei allem<br />
Respekt für die Lebensgeschichten und<br />
Leistungen dieser Menschen keine Beweihräucherung<br />
unfehlbarer Idole.<br />
Als Teil der Gesellschaft spiegelt Rap bis<br />
heute die Probleme der Gegenwart und
Vergangenheit: Sexismus, Homophobie<br />
und andere Formen der Diskriminierung<br />
in Songtexten und im Umgang miteinander<br />
sind trotz ehrlicher Bemühungen<br />
noch lange kein Relikt vergangener Tage.<br />
Doch Rap versucht auch immer wieder,<br />
an vorderster Front für Sensibilisierung zu<br />
kämpfen: So führte die «Basel Cypher»<br />
von «Radio X» gerade im Frühjahr 2022<br />
einen roten Knopf ein, um Rapper:innen<br />
bei diskriminierenden Aussagen das Wort<br />
abschneiden zu können. Getrübt wird die<br />
Feierlaune zudem durch die Diagnose<br />
vieler Künstler:innen, dass Rap aus Basel<br />
im Rest der Schweiz stets einen schweren<br />
Stand hatte und viele Rapper:innen ihr<br />
Potenzial unter anderem dialektbedingt<br />
nicht voll ausschöpfen konnten. Da solche<br />
Aspekte bei einer ehrlichen Retrospektive<br />
auf 30 Jahre Basler Mundartrap nicht unter<br />
den Teppich gekehrt werden sollten, fokussieren<br />
wir sie in thematischen Interviews<br />
mit der Rapperin La Nefera und dem Journalisten<br />
und Szene-Kenner Lukie Wyniger.<br />
Doch trotz der kritischen Begutachtung<br />
überwiegt die Freude über den runden Geburtstag.<br />
Nach 30 Jahren ist Mundartrap<br />
aus Basel lebendig wie eh und je. Neue<br />
Höhepunkte wie die prallvolle Kaserne<br />
beim Auftritt der Gruppe WAS DAS? an<br />
der diesjährigen BScene haben gezeigt,<br />
dass Künstler:innen und Fans auch während<br />
der zweijährigen Corona-Baisse die<br />
Liebe zur Kultur, den Hunger und den Biss<br />
nicht verloren haben. Sie werden dem<br />
30-jährigen Erbe der Subkultur noch viele<br />
weitere Kapitel hinzufügen. Diese Kraft,<br />
diese Freude an der Musik, macht die Erzählung<br />
von Basler Mundartrap zur «lebändige<br />
<strong>Gschicht</strong>».<br />
Manuel Guntern, Luca Thoma, Maximilian<br />
Karl Fankhauser<br />
»<br />
Sie alle sind keine<br />
weichgespülten,<br />
glattgebügelten<br />
Popstars mit<br />
gradlinigen<br />
Lebensläufen, wie<br />
sie uns früher von<br />
den «Bravo»-<br />
Postern anlachten,<br />
sondern echte<br />
Charaktere mit<br />
Ecken und Kanten.<br />
9
BLACK TIGER
PIONIER UND ANTIHELD<br />
«Ich bin Teil einer aussterbenden Art», sagt<br />
Urs Baur, besser bekannt als Black Tiger,<br />
und zieht sich seine schwarze Mütze tiefer<br />
ins Gesicht.<br />
Der 50-Jährige, den auch privat alle<br />
«Tiger» rufen, ist vieles: ein sensibler und<br />
feinfühliger Mensch, ein studierter Psychologe,<br />
ein Überzeugungstäter – und ein<br />
Mann, für den HipHop so etwas wie Religion<br />
ist. In erster Linie ist er aber nichts<br />
weniger als die Gründerfigur und der unumstrittene<br />
Pionier von Mundartrap in Basel<br />
und der ganzen Schweiz. Und wenn<br />
jemand der HipHop-Kultur bis ans Lebensende<br />
treu bleiben wird, dann er.<br />
«Black Tiger»: Baur hat den Namen nicht<br />
gewählt, weil er sich cool anhört, sondern<br />
um ein politisches Statement zu setzen. Er<br />
sieht sich in der Tradition der afroamerikanischen<br />
Bürgerrechtsbewegung, Rap ist<br />
für ihn Ausdruck des Protests. So positioniert<br />
er sich klar und kompromisslos gegen<br />
Konsum und die Kommerzialisierung seiner<br />
Kultur. Aus Prinzip trägt er keine Markenkleider<br />
und schlendert gewöhnlich in<br />
einem schwarzen Pullover ohne Aufdruck<br />
durch die Stadt. Tigers Familiengeschichte<br />
bringt die unterschiedlichsten kulturellen<br />
Hintergründe zusammen: Sein Grossvater<br />
war ein schwarzer Jazzmusiker – «wir wissen<br />
nicht exakt, woher er kam: vielleicht<br />
aus den USA, vielleicht aus Südafrika» –<br />
und sein Vater ein katalonischer Freiheitskämpfer.<br />
Durch sein Aussehen und seine<br />
Familiengeschichte fiel er während seiner<br />
Schulzeit im ehrwürdigen Gymnasium am<br />
Münsterplatz auf, war ein Aussenseiter.<br />
Seine Lebensgeschichte ist geprägt von<br />
der Suche nach einer Heimat, die er in<br />
der Musik fand – aber auch vom Gefühl,<br />
nie das bekommen zu haben, was ihm<br />
zugestanden hätte. Sie nimmt Urs Baurs<br />
Zuhörer mit in eine Zeit, als HipHop noch<br />
eine Untergrundkultur und ein Sprachrohr<br />
für entwurzelte Jugendliche war und führt<br />
ihnen gleichermassen den Niedergang<br />
der damals so zentralen Werte und Ideen<br />
vor Augen. Je erfolgreicher die Geister<br />
wurden, die Black Tiger rief, desto stärker<br />
verwässerten die Werte, an die er bis heute<br />
mit ganzem Herzen glaubt.<br />
Die Geburtsstunde<br />
von Mundartrap<br />
1992 war ein Schlüsseljahr in seiner Karriere<br />
und im Schweizer HipHop. Bereits<br />
1990 hatte Urs Baur, damals ein 18-jähriger<br />
Rap-Fan zwischen Gymnasium und<br />
Psychologie-Studium, einige Zeilen auf<br />
Schweizerdeutsch geschrieben. Gerappt<br />
wurde bis dahin nur auf Englisch.<br />
«Klar gab es schon vor mir schweizerdeutschen<br />
Sprechgesang: den Kabarettisten<br />
Cesar Kaiser etwa oder Polo Hofer.» Was<br />
11
12<br />
AUCH MIT 50 JAHREN ROCKT BLACK TIGER<br />
NOCH DIE BÜHNE WIE HIER AM «AM JAM»<br />
IN HÖLSTEIN 2021.
Black Tiger dagegen machte, war nicht nur<br />
Sprechgesang, sondern Rap – tief verwurzelt<br />
und sozialisiert mit der HipHop-Bewegung,<br />
von der Szene für die Szene.<br />
1991 stand er in einer Gesangskabine im<br />
sanktgallischen Wil und rappte folgende<br />
Zeilen ins Mikrofon:<br />
«Ich bin e Schprayer und ich schpray,<br />
won ich will!<br />
Das isch e Basler Rap,<br />
drum los zue und sig schtill!<br />
D’Polizei will mi schtoppe,<br />
das schaffe die nie!<br />
Wenn die mi schtresse wän,<br />
hän sie nur drmit Mieh.»<br />
So ungelenk sich das heute anhören mag:<br />
Diese Worte waren die ersten Mundartrapzeilen,<br />
die in der Schweiz je aufgenommen<br />
wurden. 1992 kam die Kassette<br />
mit dem Titel Fresh Stuff 2 in die Läden<br />
und Tigers Mundartstrophen inspirierten<br />
Rapper: innen aus der ganzen Schweiz,<br />
ebenfalls Texte im Dialekt zu schreiben.<br />
Eine unscheinbare Kassette hatte einen<br />
Stein ins Rollen gebracht – und Black Tiger<br />
wurde unverhofft zu einem der Urväter<br />
einer ganzen Subkultur.<br />
«Ich bin nur in der Musik<br />
zu Hause»<br />
Seine Liebesgeschichte mit HipHop reicht<br />
jedoch deutlich weiter zurück als bis ins<br />
Jahr 1992: «Ich gehöre zur dritten Hip-<br />
Hop-Generation in der Schweiz», erzählt<br />
Urs Baur sichtlich stolz. Damals bestand<br />
die HipHop-Kultur noch aus vier Elementen:<br />
MCing (Rap), B-Boying (Breakdance),<br />
Graffiti und DJing. So hatten es die amerikanischen<br />
Gründerväter aus der Bronx der<br />
1970er-Jahre gelehrt. «Nur» zu rappen,<br />
wie es heute üblich ist, war damals keine<br />
Option: «Alle haben mindestens zwei<br />
Disziplinen beherrscht, ich habe gesprayt<br />
und gerappt.» Regelmässig hat er sich mit<br />
der Spraydose an der legendären «Basler<br />
Line», der Graffiti-Meile bei der Bahnhofseinfahrt,<br />
herumgetrieben.<br />
«Ich bin mit 12 Jahren zum HipHop gekommen.<br />
Wir mussten uns damals alles<br />
selbst beibringen, mussten selbst Laufen<br />
lernen. Es gab keine YouTube-Tutorials,<br />
keine Ratgeber.»<br />
Heute gibt Urs Baur regelmässig Rap-<br />
Workshops an Schulen, aber jedes Mal<br />
überkommt ihn dabei ein seltsames Gefühl.<br />
Er will kein Vorbild sein, keine Blaupause<br />
liefern, sondern die Kinder motivieren,<br />
ihren eigenen Weg zu finden: «Damals<br />
hatten wir auch keine Vorbilder, jeder hat<br />
es einfach selbst ausprobiert. Dieser Do-ityourself-Zugang<br />
fehlt heute. Damals gab<br />
13
»<br />
Ich<br />
bin e Schprayer und<br />
ich schpray, won ich will!<br />
Das isch e Basler Rap,<br />
drum los zue und sig schtill!<br />
D’Polizei will mi schtoppe,<br />
das schaffe die nie!<br />
Wenn die mi schtresse wän,<br />
hän sie nur drmit Mieh.<br />
14
ZWEI IN AIM (2000)<br />
SOLO (2003)<br />
BETON MELANCHOLIE (2006)<br />
TIGERONY (2007)<br />
TRANSFORMATION (2020)<br />
15
16<br />
es keine Blaupausen, heute kopieren alle<br />
– egal ob gewollt oder ungewollt.»<br />
Es sind Bilder einer Zeit, die auf ewig verloren<br />
scheint. Für Black Tiger und seine Generation<br />
war Rap eine Heimat im Chaos.<br />
«HipHop saved my life» ist bis heute ein<br />
geflügeltes Wort, aber für sie war es eine<br />
Tatsache. Die HipHop-Szene wurde in der<br />
Schweiz von Secondos aufgebaut – von<br />
Jungen und Mädchen, die Mühe damit<br />
hatten, in der Gesellschaft einen Platz zu<br />
finden. «Hier wurdest nicht daran gemessen,<br />
was du hast, sondern daran, was du<br />
kannst – du hattest die einmalige Chance,<br />
dich neu zu erfinden.» Für sie war es<br />
auch die Möglichkeit, ein neues Basel zu<br />
kreieren – weit weg von den Postkartenansichten<br />
der Rheinpromenade: «Ich komme<br />
nicht aus der Fasnachtsszene, ich bin<br />
mit Black Music aufgewachsen und hatte<br />
nichts, aber gar nichts, mit dem traditionellen<br />
Basel zu tun.» Auch heute gibt ihm<br />
HipHop Halt: «Musik ist der einzige Ort,<br />
wo ich wirklich zu Hause bin.»<br />
Anders als bei kontemporären Künstlern in<br />
Übersee, die bisweilen gerne mit Bargeld<br />
und Schmuck protzen, spielte Geld damals<br />
keine Rolle: «Ganz einfach, niemand hatte<br />
welches. Keiner konnte sich Spraydosen<br />
leisten, alle haben geklaut.» Doch diese<br />
Welt war auch von Gewalt und Perspektivlosigkeit<br />
geprägt: «Heute rappen viele<br />
Rapper über Waffen und Drogen und haben<br />
keine Ahnung, wovon sie sprechen.<br />
Die HipHopper:innen der Gründergeneration<br />
waren oft kleinkriminell, aber wir<br />
haben das nicht thematisiert. Das war der<br />
bittere Alltag.» Baur will nichts beschönigen:<br />
«Schon damals waren viele sehr<br />
konservativ. Wer am falschen Ort taggte<br />
und die Sprayer-Hierarchie missachtete,<br />
bekam direkt einen ‹Kläpper›.» Es waren<br />
harte Zeiten, Armut und Verzicht omnipräsent:<br />
«Ich habe manchmal vier Tage lang<br />
nur von Popcorn gelebt.»<br />
Die verpasste Karriere<br />
Als Gründerfigur hatte er gute Aussichten<br />
auf eine Karriere in der Schweizer Rapszene,<br />
die sich ständig vergrösserte. Doch als<br />
ab 1998 die «goldenen Jahre» anfingen,<br />
standen Black Tiger schnell neue Stars und<br />
Gruppen in der Sonne, auch wenn seine<br />
Leistungen als Pionier nie vergessen wurden.<br />
In seiner ganzen Schaffenszeit spielte<br />
er zahllose Konzerte im ganzen Land,<br />
jammte mit unzähligen Künstlern, brachte<br />
aber nur drei Solo-Alben heraus.<br />
«Ich bin ein eher unsicherer Typ, hatte nie<br />
ein überbordendes Ego wie andere», erklärt<br />
er. Dies sei sicher ein Handicap gewesen:<br />
«Ich war mir gegenüber immer<br />
extrem kritisch, stand mir oft selbst im<br />
Weg, habe zwei ganze Alben weggeschmissen.»<br />
Er ist überzeugt: «Mit einer<br />
anderen Mentalität wäre ich erfolgreicher
BLACK TIGER SETZTE SICH WÄHREND SEINER<br />
KARRIERE STETS FÜR DIE VERNETZUNG DER<br />
SZENE UND DIE NACHWUCHSFÖRDERUNG EIN.<br />
17
18<br />
geworden. Ich wurde mir erst viel zu spät<br />
meines Gewichts bewusst und konnte so<br />
nie im grossen Stil auftrumpfen.»<br />
Neben seiner introvertierten und nachdenklichen<br />
Ader habe ihm aber auch der<br />
Standort Basel nicht zum Vorteil gereicht.<br />
Die grossen Plattenfirmen waren immer in<br />
Zürich und Bern, «wir Basler standen nie<br />
an erster Front, andere Städte haben über<br />
uns bestimmt». Auch die Dialekte und der<br />
Kantönligeist seien ein Problem im Schweizer<br />
Rap: «Baseldeutsch hat bis heute einen<br />
Aussenseiter-Status in der Schweiz.»<br />
So musste er auch für sein erstes grosses<br />
Album, Zwei in Aim, gemeinsam mit seinem<br />
Kumpel MC Rony nach Luzern fahren,<br />
um die Scheibe dort in einem Studio<br />
aufnehmen zu können. «Wir haben drei<br />
Monate in Luzern gelebt, hatten zu wenig<br />
Geld zum Essen und eine Woche lang nur<br />
von Butterbroten und Reis gelebt. Uns war<br />
ständig schwindlig vor Hunger, wir mussten<br />
alle Songs in einem Take aufnehmen,<br />
ohne Wiederholungen, ohne Schnitte.»<br />
1 City, 1 Song<br />
Zwei in Aim gilt bis heute als Klassiker.<br />
Auch die Alben Solo und Beton Melancholie<br />
stehen in jeder gut sortierten Plattensammlung<br />
eines Rap-Fans. Dennoch war<br />
sein grösster Erfolg – der Glanzmoment<br />
seiner Karriere – keine Solo-Platte, sondern<br />
ein epochenprägender Song. 2012<br />
versammelte er ganze 147 Rapperinnen<br />
und Rapper, 11 Produzenten und 7 DJs<br />
aus Basel auf 1 City, 1 Song, einem konkurrenzlosen<br />
Monolithen in der Schweizer<br />
Rap-Landschaft. Der fast eineinhalb Stunden<br />
lange Song wurde zuerst in der ausverkauften<br />
Kaserne und wenig später vor<br />
10 000 Menschen auf dem Barfi gespielt.<br />
Das Projekt zementierte seinen Legenden-<br />
Status und brachte ihn schweizweit ins<br />
Rampenlicht.<br />
Die Ironie des Schicksals: «Der Song hat<br />
rund zwei Jahre meines Lebens in Beschlag<br />
genommen. In dieser Zeit konnte ich kaum<br />
an eigener Musik arbeiten.» Doch genau<br />
diese selbstlose, altruistische Art ist typisch<br />
für Urs Baur: Anstatt sich selbst zu profilieren,<br />
fördert er lieber den Nachwuchs.<br />
Das hat ihm die Dankbarkeit der Szene<br />
gesichert, doch auch seine eigene Karriere<br />
ausgebremst.<br />
Auch heute, 30 Jahre nach seinem ersten<br />
Mundartsong, rappt Black Tiger noch regelmässig:<br />
«Mein nächstes Album wird<br />
kommen. Aber es ist fraglich, ob ich noch<br />
dieselbe Relevanz wie früher habe.» Ausserdem<br />
arbeitet er oft mit Forscherinnen<br />
und Forschern zusammen und schaut<br />
gerne in Heidelberg vorbei, wo an der<br />
Universität die ersten «HipHop Studies»<br />
im deutschsprachigen Raum aufgebaut<br />
werden. Er schaut nicht ohne Bitterkeit auf<br />
seinen Werdegang zurück: «Wir haben so
hart geschuftet, so viel gemacht. Ich habe<br />
so viele Menschen unterstützt, so vielen<br />
Jungen unter die Arme gegriffen, aber ich<br />
hatte kein Instagram oder Facebook, um<br />
das alles zu dokumentieren. So vergessen<br />
es die Menschen schnell mal.»<br />
Doch es wurde dafür gesorgt, dass der engagierte<br />
Basler Pionier und sein Schaffen<br />
nicht mehr in Vergessenheit geraten: Im<br />
Historischen Museum in der Barfüsserkirche<br />
können die Besucher einen Pullover<br />
von Urs Baur in einer Vitrine bestaunen. Es<br />
ist ein Zeichen dafür, dass Rap in dieser<br />
Stadt mittlerweile als Teil des kulturellen<br />
Erbes anerkannt wird – und eine Verbeugung<br />
vor dem Mundart-Veteranen und seinem<br />
Lebenswerk.<br />
» Musik ist der<br />
einzige Ort,<br />
wo ich wirklich<br />
zu Hause bin.<br />
19
SHAPE