Baumeister 1/2023
Weiterbauen Teil III
Weiterbauen Teil III
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Januar 23<br />
120. JAHRGANG<br />
Das Architektur-<br />
Magazin<br />
MEISTER<br />
D 17,50 €<br />
A,L 19,95 €<br />
CH 2 4 , 9 0 S F R<br />
01<br />
Weiterbauen!<br />
4 194673 017505<br />
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BAU<br />
MEISTER<br />
CURATED<br />
<strong>Baumeister</strong> B6 / 2022 curated by<br />
Sauerbruch Hutton<br />
<strong>Baumeister</strong> B6 / 2021 curated by<br />
Snøhetta<br />
<strong>Baumeister</strong> B7 / 2020 curated by<br />
Winy Maas / MVRDV<br />
3 Ausgaben für nur 33€<br />
shop.georg-media.de
I<br />
A<br />
Editorial<br />
3<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
COVERFOTO: ROBERT RIEGER<br />
„Fast Architecture“ darf keine Zukunft haben.<br />
Das hat sie mit „Fast Fashion“ und „Fast<br />
Food“ gemeinsam. Im Angesicht der Klimakrise<br />
haben wir keine andere Chance, als<br />
unsere Konsumgewohnheiten radikal zu<br />
hinterfragen. Das gilt für unsere Architektur<br />
ebenso wie für die Kleidung, die wir tragen,<br />
oder die Lebensmittel, die wir zu uns nehmen.<br />
Unser Wirtschaftsmodell wird sich von<br />
Grund auf erneuern müssen. Ebenso wie<br />
„langsam“ erzeugte Nahrung und Garderobe<br />
wird „Slow Architecture“ erheblich teurer<br />
sein als Fast Architecture. Die ökonomischen<br />
und sozialen Verwerfungen, die das<br />
mit sich bringen wird, können wir derzeit erst<br />
erahnen. Erste Hinweise liefert die gegenwärtige<br />
Energiekrise.<br />
Fast Architecture stillt rücksichtslos ein<br />
akutes Bedürfnis. Rücksichtslos deswegen,<br />
weil sie ohne Berücksichtigung einer nur<br />
begrenzten Lebenserwartung erstellt wird.<br />
Statt dessen wird sie unter den Vorzeichen<br />
maximaler gegenwärtiger Renditeerzielung<br />
gefertigt. Das bedeutet, dass an Mate rial<br />
und Arbeitskräften das eingesetzt wird, was<br />
in der Gegenwart und der nächsten Zukunft<br />
die höchsten Profite verspricht. Wie in der<br />
Kleidungs- und Lebensmittelindustrie ist<br />
das Geschäftsmodell der Fast Architecture<br />
längst das vorherrschende. Entsprechend<br />
mächtig sind die verschiedenen Lobbys, die<br />
hinter diesen Wirtschaftsmodellen stehen.<br />
Eine nachhaltige, langsame Architektur<br />
muss nutzen, was an Bestand vorhanden ist<br />
und ihn bestmöglich an neue Nutzungen<br />
anpassen. Sie muss immer wieder zu reparieren<br />
sein. Sie muss Materialien aus der<br />
Umgebung nutzen, die mit geringstmöglichem<br />
CO2-Einsatz hergestellt oder aufbereitet<br />
wurden. Und nicht zuletzt muss sie von<br />
versierten Handwerkern unter guten Arbeitsbedingungen<br />
produziert werden. All diese<br />
Bedingungen gelten nicht nur für die Architektur,<br />
sie gelten für alle Konsumprodukte,<br />
wenn wir eine Chance im Kampf gegen die<br />
globale Erwärmung haben wollen. Sind<br />
wir bereit, die Kosten und die damit verbundenen<br />
Einschränkungen als Gesellschaft<br />
zu schultern?<br />
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Fabian Peters<br />
f.peters@georg-media.de<br />
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@baumeister_architekturmagazin<br />
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Weiterbauen:<br />
I B11 Aufstocken<br />
II B12 Anbauen<br />
III B1 Umbauen<br />
6<br />
Einführung<br />
Ideen:<br />
20<br />
Hotel Wilmina<br />
in Berlin<br />
34<br />
Wintercircus<br />
in Gent<br />
46<br />
Kant-Garagen<br />
Umsichtige Transformation:<br />
Faktorenhaus in der Oberlausitz S. 68<br />
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BAU<br />
MEISTER.<br />
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Fragen:<br />
86<br />
Unscharfer<br />
Nachbau<br />
–<br />
fürs Gefühl<br />
?<br />
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L E S E N
in Berlin<br />
56<br />
Felix-Platter-<br />
Spital<br />
in Basel<br />
Früher Parkhaus, heute Möbelhaus:<br />
die Kant-Garagen in Berlin S. 46<br />
5<br />
68<br />
Faktorenhaus<br />
in Schönbach<br />
FOTO LINKS OBEN UND RECHTS UNTEN: ROBERT RIEGER LINKS; RECHTS OBEN: KEN SCHLUCHTMANN/DIE PHOTODESIGNER.DE<br />
78<br />
Hotel Riese<br />
in Tarsch<br />
LÖSUNGEN<br />
94<br />
BRANCHENFEATURE:<br />
JAHRESAUSBLICK <strong>2023</strong><br />
98<br />
BODEN<br />
106<br />
F E N S T E R T E C H N I K<br />
& GLAS<br />
RUBRIKEN<br />
32<br />
KLEINE WERKE<br />
54<br />
UNTERWEGS<br />
66<br />
SONDERFÜHRUNG<br />
104<br />
REFERENZ<br />
113<br />
IMPRESSUM + VORSCHAU<br />
114<br />
KOLUMNE<br />
Schreckensort wird Erholungsort:<br />
das Hotel Wilmina in Berlin S. 19
aue<br />
Im dritten Teil unserer<br />
Serie geht es um das<br />
Thema „Umbauen“. Die<br />
Arbeit im historischen<br />
6 Einführung<br />
m --
Arbeit im historischen<br />
Bestand erfordert viel<br />
-Einfühlungsvermögen,<br />
um Alt und Neu harmonisch<br />
zu verbinden.<br />
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Gast-Arbeiter<br />
Arnt Cobbers<br />
studierte Kunstgeschichte<br />
an der<br />
Freien Universität<br />
Berlin und wurde<br />
mit einer Arbeit zu<br />
Hallenumgangschören<br />
promoviert.<br />
Er ist Autor von<br />
Monografien zu<br />
Frank Lloyd Wright,<br />
Erich Mendelssohn<br />
und Marcel Breuer<br />
sowie mehrerer<br />
Berliner Architektur -<br />
führer.
8 Einführung<br />
FOTO: SHAHED SALEEM/MAKESPACE
Einführung<br />
9<br />
Zwischen Tradition und<br />
Moderne<br />
Die Shahporan-<br />
Moschee im Londoner<br />
Stadtteil Hackney<br />
entstand Anfang der<br />
Neunzigerjahre in einem<br />
viktorianischen Reihenendhaus.<br />
Es besaß<br />
ursprünglich einen einstöckigen<br />
Werkstattanbau,<br />
den die Moscheegemeinde<br />
in ihren<br />
Gebetsraum umwandelte.<br />
2008 bat die Gemeinde<br />
Shahed Saleem<br />
und sein Architekturbüro<br />
Makespace darum,<br />
den Anbau zu ersetzen.<br />
Sie wünschte sich einen<br />
neuen Gebetssaal, der<br />
so vielen Gläubigen<br />
wie möglich Platz bieten<br />
sollte.<br />
Makespace kombinierte<br />
für den Neubau traditionell-islamische<br />
und<br />
moderne Elemente.<br />
Die erhabenen Teile der<br />
Betonfassade entwickelte<br />
Saleem aus dem<br />
Ornament einer anatolischen<br />
Fliese des<br />
13. Jahrhunderts. Das<br />
Metallgitter, das die zurückliegenden<br />
Wandpartien<br />
überspannt,<br />
verweist auf die traditionellen<br />
islamischen<br />
Maschrabiyya-Gitter.<br />
Das Muster übernahm<br />
Saleem von einem Fenster<br />
der Woking-Moschee,<br />
der ersten Moschee<br />
Großbritanniens.
10<br />
Einführung<br />
Kann ein<br />
Reihenhaus eine<br />
gute Moschee<br />
sein<br />
?<br />
Interview<br />
mit Shahed<br />
Saleem<br />
Shahed Saleem ist<br />
Gründer des Architekturbüros<br />
Makespace<br />
und Professor an der<br />
University of Westminster<br />
in London. Er ist<br />
Verfasser des Buchs<br />
„The British Mosque, an<br />
architectural and social<br />
history“, für das er<br />
die Geschichte des<br />
Moscheebaus in Großbritannien<br />
erforscht<br />
hat. Gemeinsam mit<br />
dem V&A-Museum<br />
kuratierte er die Ausstellung<br />
„Three British<br />
Mosques“ auf der<br />
Architekturbiennale<br />
2021 in Venedig.<br />
Migrantische Glaubensgemeinschaften können<br />
bei der Wahl ihrer Gotteshäuser oft nicht<br />
wählerisch sein. Was für die frühen Christen in<br />
Rom galt, gilt heutzutage etwa für die vielen<br />
muslimischen Diasporagemeinden in Europa:<br />
Sie müssen in vielen Fällen auf Bestandsgebäude<br />
ausweichen und diese so gut wie<br />
möglich an ihre Bedürfnisse anpassen. Der<br />
Architekt und Hochschullehrer Shahed Saleem<br />
FOTO: PA IMAGES/ALAMY STOCK PHOTO/KIRSTY O‘CONNOR
Architekt und Hochschullehrer Shahed Saleem<br />
baut nicht nur selber Moscheen, er hat auch<br />
die Geschichte des Moscheebaus in Großbritannien<br />
erforscht und ein Buch darüber verfasst.<br />
Darin zeigt er, welch unterschiedliche<br />
Bauwerke islamische Gemeinden in den vergangenen<br />
Jahrzehnten in Moscheen umgewandelt<br />
haben – vom Reihenhaus bis zum Kino,<br />
von der Synagoge bis zum Pub. Wir haben uns<br />
mit ihm über diese faszinierende Umbaukultur<br />
unterhalten.<br />
11<br />
BAUMEISTER: 2018 haben Sie<br />
das Buch „The British Mosque“<br />
veröffentlicht. 2021 haben<br />
Sie dann im Pavillon des V&A<br />
auf der Architekturbiennale in<br />
Venedig eine hochinteressante<br />
Ausstellung zu Moscheen in<br />
umgenutzten Gebäuden kuratiert.<br />
Was hat Sie an diesem<br />
Thema besonders fasziniert?<br />
SHAHED SALEEM: Ich bin in<br />
Süd-London aufgewachsen,<br />
und meine Mutter gehörte<br />
in den frühen 1980er-Jahren zu<br />
den Gründungsmitgliedern<br />
einer der ersten Moscheen, die<br />
in Londons Südosten entstanden.<br />
Ich konnte aus nächster<br />
Nähe beobachten, wie sie mit<br />
Mitstreitern eine Gemeinde ins<br />
Leben rief, Spenden sammelte<br />
und nach einem geeigneten<br />
Gebäude für die Moschee<br />
suchte. Die neue Gemeinde<br />
konnte schließlich ein Wohnhaus<br />
erwerben und für ihre<br />
Zwecke umbauen. Als die Gemeinde<br />
ein paar Jahre später<br />
wuchs, konnte die Moschee<br />
in ein größeres Gebäude umziehen.<br />
Als ich dann nach<br />
dem Studium mein erstes<br />
Architekturbüro in Ost-London<br />
eröffnete, kamen sehr schnell<br />
muslimische Gemeinden zu<br />
mir, damit ich ihnen bei Umbauten<br />
und Erweiterungen von<br />
Moscheen helfe, die ebenfalls<br />
in Bestandsgebäuden untergebracht<br />
waren. So bekam<br />
ich schnell ein Gefühl dafür,<br />
welche Themen für sie wichtig<br />
waren, was sie benötigten und<br />
was sie sich wünschten.<br />
B: Wie wurde aus der praktischen<br />
Arbeit eine forschende?<br />
SHS: Es fing damit an, dass mich<br />
eine Moschee in Wimbledon<br />
sehr fasziniert hat. Sie steht am<br />
Ende einer Straße aus typischen<br />
Londoner Reihenhäusern,<br />
doch sie ist ganz mit weißen<br />
Fliesen verkleidet und wird von<br />
einer kleinen Kuppel bekrönt.<br />
Ich habe mich immer gefragt,<br />
wie dieses seltsame Gebilde<br />
inmitten einer so typischen<br />
englischen Vorstadt entstehen<br />
konnte. Jahre später hielt ich<br />
einen Vortrag auf einer Veranstaltung<br />
der Denkmalorganisation<br />
„British Heritage“ über<br />
islamische Architektur. Sie erzählten<br />
mir, dass sie mit Wissenslücken<br />
zur islamischen<br />
Architektur in Großbritannien<br />
kämpften und deshalb kaum<br />
entscheiden konnten, ob eine<br />
Moschee Denkmalwert besitzt<br />
oder nicht. Also boten sie mir<br />
an, meine Forschung für das<br />
Buch und seine Publikation zu<br />
finanzieren.<br />
B: Gibt es bestimmte Voraussetzungen,<br />
die ein Bestandsgebäude<br />
erfüllen muss, damit<br />
es in eine Moschee umgewandelt<br />
werden kann?<br />
SHS: Es gibt eigentlich nur eine<br />
einzige Voraussetzung, die<br />
zwingend notwendig ist: Die<br />
Gläubigen müssen in Richtung<br />
Mekka ihre Gebete verrichten<br />
können. Darüber hinaus sind<br />
offene Grundrisse zur Einrichtung<br />
eines großzügigen Gebetsraums<br />
hilfreich. Und es sollten<br />
ausreichend Waschräume<br />
vorhanden sein. Natürlich eignen<br />
sich einige Typologien<br />
besser als andere, aber prinzipiell<br />
kann praktisch in jedem<br />
Gebäude eine Moschee eingerichtet<br />
werden.<br />
B: Welche Veränderungen<br />
nehmen die Gemeinden in der<br />
Regel vor, wenn sie eine<br />
Moschee in einem Gebäude<br />
einrichten?<br />
SHS: Auch wenn es kein Erfordernis<br />
darstellt, so ist doch<br />
die Gebetsnische Mihrāb, die<br />
die Gebetsrichtung anzeigt<br />
und der Platz des Imams während<br />
des Freitagsgebets ist,<br />
traditionell Bestandteil einer<br />
Moschee. Gleiches gilt für die<br />
Predigtkanzel Minbar. Diese<br />
beiden Elemente wird wahrscheinlich<br />
jede muslimische<br />
Gemeinde versuchen, in ihrem<br />
Gebetssaal unterzubringen.<br />
Allerdings können Mihrāb und<br />
Minbar sehr unterschiedliche<br />
Erscheinungsformen annehmen,<br />
je nach räumlichen<br />
Möglichkeiten und kulturellen<br />
WEITER
22<br />
Ideen<br />
Architekten:<br />
Grüntuch Ernst<br />
Architekten<br />
Text:<br />
Katharina Matzig<br />
Potenzial<br />
statt<br />
Problem<br />
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Eindrucksvoll transformierten<br />
Grüntuch Ernst<br />
Architekten das ehemalige<br />
Gerichtsgebäude<br />
und Frauengefängnis in<br />
Berlin-Charlottenburg.<br />
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Berlin-Charlottenburg.<br />
Hotel Wilmina, Restaurant<br />
Lovis und den Amtsalon<br />
als Ort für Kunst und Kultur<br />
besitzen und betreiben sie<br />
heute selbst.<br />
23<br />
„Sie sind an einem besonderen Ort!“ Unaufgefordert<br />
bleibt die junge Frau nach dem Check-in auf<br />
dem Weg ins Hotelzimmer vor einer Collage stehen.<br />
Auf einem alten Foto sieht man darauf ein<br />
Haus mit einer prächtigen Fassade, erbaut 1896<br />
von Anton Brückner und Eduard Fürstenau im Stil<br />
des Augsburger Barock, als Strafgericht. Es steht<br />
allein, kein Wunder: Die schnurgerade, gut 2,5 Kilo -<br />
meter lange Kantstraße, heute lückenlos bebaut,<br />
wurde erst 1887 angelegt. Zwei Isometrien stellen<br />
die historische Bebauung dem aktuellen Ensemble<br />
gegenüber, feine rote Linien zeichnen die außenräumlichen<br />
Eingriffe nach. Es sind nicht viele:<br />
Ein flacher Bau begleitet heute einen der Höfe,<br />
ein neues Dachgeschoss erhöht den rückwärtigen<br />
Gebäudeteil. Und dann ist natürlich auch<br />
Text zu lesen.<br />
„Wir sind in dieses Projekt so reingeschlittert“, erzählt<br />
Armand Grüntuch. Ein Investor hatte das<br />
Büro Grüntuch Ernst beauftragt, sich mit dem Umbau<br />
des denkmalgeschützten Ensembles zu beschäftigen.<br />
Doch er sprang ab: Er konnte sich<br />
nicht vorstellen, was er mit 50 Zentimeter dicken<br />
Wänden und kleinen Räumen mit vergitterten<br />
Fenstern anfangen sollte. Denn der dreiflügelige<br />
Backsteinbau im hinteren Teil der Kantstraße 79<br />
war das Frauengefängnis von Berlin-Charlottenburg.<br />
Und zwar ein besonderes: Im Dritten Reich<br />
waren dort Frauen inhaftiert, die sich vor allem im<br />
Widerstandskreis „Rote Kapelle“ gegen das NS-<br />
Regime engagiert hatten – viele von ihnen wurden<br />
in Plötzensee ermordet. Erst 1985 wurde das<br />
Gebäude zum Archiv des Kammergerichts.<br />
„Ohne den Umbau der ehemaligen Jüdischen<br />
Mädchenschule in Berlin 2012 zu Restaurants und<br />
Kunstgalerien hätte es das Hotel Wilmina, das<br />
Lovis und den Amtsalon nicht gegeben“, ist Almut<br />
Grüntuch-Ernst sicher. „Damals haben wir gelernt,<br />
mit wenig Geld auszukommen und unkonventionell<br />
zu arbeiten. Und wir haben erlebt, dass<br />
der Umbau, auch von Überlebenden, ausgesprochen<br />
positiv aufgenommen wurde“, erinnert<br />
sich die Architektin. Tatsächlich ist Berlin voller<br />
kontaminierter Orte, museal können sie nicht<br />
alle genutzt werden. Und ehe ein weiteres Selfstorage<br />
entstehen würde, kauften Almut Grüntuch-Ernst<br />
und Armand Grüntuch die Gebäude<br />
daher selbst. Was sollte passieren: Die Baupreise<br />
waren historisch niedrig, die Zinsen auch, und:<br />
„Potenziale statt Probleme zu sehen, gehört nun<br />
mal zum Beruf von Architekten, nicht wahr?“<br />
Im Familienbetrieb<br />
Haltung zu zeigen offenbar ebenfalls: Als Hotelketten<br />
sich für das Marketing des Gruselfaktors<br />
eines umgebauten Gefängnisses begeisterten,<br />
entschied die Familie Grüntuch-Ernst, sich auch<br />
um den Betrieb des Hotels, des Restaurants und<br />
des Amtsalons zu kümmern, den der Architekt<br />
Omer Abel mit seiner Firma Bocci bis 2020 als<br />
Showroom nutzte und der jetzt für unterschiedliche<br />
Kunst- und Kulturveranstaltungen gemietet<br />
werden kann. „Wir arbeiten seit mehr als zehn<br />
Jahren an diesem Projekt, unsere fünf Kinder sind<br />
damit groß geworden, es ist generationenübergreifend<br />
und so etwas wie ein Familienprojekt.“<br />
Momentan führt der 23-jährige Sohn Gordian das<br />
Haus. Die poetisch fragilen Blüten und Blätter, die,<br />
zwischen zwei Glasscheiben gepresst, die eleganten<br />
und dabei unprätentiösen Hotelzimmer<br />
schmücken, sammelte Almut Grüntuch-Ernst<br />
während des Lockdowns mit einer der Töchter.<br />
Der Name Wilmina soll sowohl an die Wilhelminische<br />
Zeit erinnern, wichtig war Grüntuch Ernst<br />
Architekten aber auch, dass keine der inhaftierten<br />
Widerstandkämpferinnen Wilmina hieß.<br />
Eigentlich hätte das Hotel bereits im Mai 2020 eröffnen<br />
sollen. Die Pandemie verschob die Eröffnung<br />
in den April 2022. Zeit hilft, lächelt Almut<br />
Grüntuch-Ernst gelassen und schaut in den gepflegt<br />
wilden Garten, der hinter der großstädtischen<br />
Hauptverkehrsader heute üppig wächst<br />
und gedeiht. Die alte Poststelle des Gerichts<br />
dient als Rezeption, der zweite Eingang an der<br />
Kantstraße führt in den Amtsalon mit seinem<br />
WEITER
24<br />
Ideen<br />
Das familiengeführte Hotel Wilmina liegt verborgen im Inneren des denkmalgeschützten Ensembles und empfängt<br />
die Gäste zwischen üppigen Gärten und ineinanderfließenden Höfen – ein ruhiger Rückszugsort mitten in Berlin.
Aus dem Schreckensort wurde ein einladendes Raumkontinuum. Links: In den ehemaligen Gefängnishof wurde<br />
das Restaurant Lovis eingefügt, das zum Hotel gehört. Rechts die sogenannte Bibliothek<br />
25<br />
FOTO LINKS OBEN: MARKUS GRÖTEKE; RECHTS: PATRICIA PARINEJAD; UNTEN: ROBERT RIEGER<br />
Von der Straße kommend, durchquert der Hotelgast zunächst das Vorderhaus, dann eine Sequenz von Höfen,<br />
wo Durchgänge und Räume zunehmend weniger öffentlich sind. Unten: die Garten-Lobby
36<br />
Architekten:<br />
Atelier Kempe Thill,<br />
aNNo architects,<br />
Baro Architectuur,<br />
SUM Project<br />
Text:<br />
Fabian Peters<br />
Fotos:<br />
Ulrich Schwarz<br />
Ideen<br />
Manege<br />
frei<br />
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Der Wintercircus in Gent<br />
ist einer der letzten seiner<br />
Art. Nachdem er über<br />
ein halbes Jahrhundert<br />
eine Autosammlung beherbergt<br />
hat, wurde er<br />
nun restauriert und erneut<br />
umgenutzt. Doch anstatt<br />
ihn auf Hochglanz zu<br />
polieren, ließen ihm die<br />
beteiligten Architektur-
eteiligten Architekturbüros<br />
die in den lan gen<br />
Nutzungsjahren entstandene<br />
Patina.<br />
37<br />
Feste Zirkusgebäude, von denen es früher eine<br />
ganze Reihe in Europa gab, sind heute nur noch in<br />
wenigen Exemplaren erhalten. Der Cirque d’hiver<br />
in Paris ist sicherlich das bekannteste existierende<br />
Beispiel für diese Typologie. Durch glückliche Zufälle<br />
ist auch der „Wintercircus“ im belgischen<br />
Gent bis heute erhalten geblieben. Anders jedoch<br />
als sein Pariser Pendant, in dem auch noch heute<br />
Vorstellungen stattfinden, ist die Manege in Flandern<br />
bereits seit den Vierzigerjahren leer. Gerettet<br />
hat das Gebäude eine Umnutzung. Doch von Anfang<br />
an: 1894 entstand der erste Genter Wintercircus<br />
auf dem Gelände einer abgebrannten<br />
Baumwollfabrik im Stadtviertel Waalse Kroog,<br />
einem Arbeiterquartier südlich der mittelalterlichen<br />
Innenstadt. Auch der erste Zirkusbau fiel<br />
1920 den Flammen zum Opfer. Der Architekt Jules<br />
Pascal Ledoux errichtete an gleicher Stelle einen<br />
Neubau, der 1923 eingeweiht wurde. Im Jahr 1944<br />
gingen jedoch auch im „Nouveau Cirque“ die<br />
Lichter aus.<br />
Der Automobilhändler Ghislain Mahy erwarb einige<br />
Zeit darauf das Gelände samt Wintercircus. Für<br />
ihn bot sich damit die Chance, seinen Autohandel<br />
zu erweitern, den er 1939 in der Lammerstraat gleich<br />
neben dem Zirkusgebäude gegründet hatte. Mahy<br />
hatte für sein Autohaus einen repräsenta tiven Geschäftsbau<br />
in einer Formensprache zwischen Art<br />
déco und internationaler Moderne errichtet. Die<br />
Rückseite des Baus stieß direkt an das Zirkusgelände<br />
an, das sich im Innern des selben Häuserblocks<br />
befand. Stand der Winter circus bis dahin als zylindrischer<br />
Monolith im Block innern, so begann Ghislain<br />
Mahy in den kommenden Jahren damit, den<br />
Zwischenraum zu den umgebenden Häuserzeilen<br />
Stück für Stück mit Anbauten zu füllen. Heute ist die<br />
Fläche fast völlig bebaut. Die neuen Bauteile dienten<br />
nicht nur dazu, neue Verkaufsflächen für den<br />
Autohandel zu schaffen, sondern auch, um Mahys<br />
rasant wachsende Autosammlung zu beherbergen.<br />
Als die Sammlung im Jahr 2000 in neue Räumlichkeiten<br />
umzog, umfasste sie fast 1.000 Fahrzeuge.<br />
Seitdem stand der Wintercircus leer und drohte zu<br />
verfallen.<br />
2005 erwarb die Stadt Gent das Gebäude. 2012<br />
schließlich wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben,<br />
bei dem neben einem Renovierungskonzept auch<br />
eine Umnutzungsplanung für den Zirkusbau gefordert<br />
war. So sollte eine Konzerthalle für Rockmusik<br />
mit 500 Zuschauerplätzen entstehen, außerdem<br />
Räumlichkeiten für eine Blindenbibliothek, das<br />
flämische Archiv für Medien VIAA und die IT-Firma<br />
„icubes“. Den Wettbewerb, in dessen Jury unter<br />
anderem der Stellvertreter des damaligen flämischen<br />
Staatsbaumeister Stefan Devoldere saß,<br />
gewann Atelier Kempe Thill aus Rotterdam im<br />
Team mit den Genter Restaurierungsspezialisten<br />
vom Büro aNNo. Nachdem das Team Atelier Kempe<br />
Thill/aNNo das Entwurfskonzept und die Baugenehmigung<br />
ausgearbeitet hatten, wählte die<br />
Stadt Gent die Architekten BARO und SUMproject<br />
aus, die das Konzeptdesign weiterentwickelten<br />
und die Ausführung der Ar beiten betreuten.<br />
Der Bestand im Mittelpunkt<br />
Das Sanierungs- und Umnutzungskonzept von<br />
Atelier Kempe Thill und aNNo Architekten sah die<br />
Wahrung der Substanz im größtmöglichen Umfang<br />
vor. Das galt für den Kernbau aus den Zwanzigerjahren<br />
ebenso wie für die von Ghislain Mahy vorgenommenen<br />
Umbauten. Letztere beeindrucken<br />
durch eine qualitätvolle Interpretation der Moderne,<br />
die sich besonders in den elegant geschwungenen<br />
Betonrampen zeigt, die die Ebenen<br />
verbinden. Außerdem wollten die Architekturbüros<br />
unbedingt den großartigen Raumeindruck<br />
der Kuppelhalle erhalten – wie dies auch Mahy<br />
bei seinen Umbauten getan hatte. Den im Programm<br />
geforderten Rockmusiksaal in der Rotunde<br />
unterzubringen, kam nicht in Frage, weil die<br />
dazu notwendige akustische Isolierung nicht zu<br />
realisieren gewesen wäre. Stattdessen schlug das<br />
Architektenteam vor, die Keller unterhalb der<br />
ehemaligen Manege zu entkernen und die Konzerthalle<br />
dort zu platzieren. In der Ausführung wurden<br />
Treppenabgänge zum Konzertsaal am Rand<br />
der ehemaligen Manege eingebaut, deren Verlauf<br />
den Außenmauern der Zirkushalle folgt. Der<br />
Saal im Untergeschoss selbst ist außer für Konzerte<br />
auch für andere Veranstaltungen, etwa Kongresse<br />
und Konferenzen, nutzbar.<br />
Die Rotunde des Zirkusbaus selbst sollte dagegen<br />
möglichst wenig Eingriffe zeigen und seine in<br />
fast 100 Jahren Nutzung entstandene Patina behalten.<br />
Deshalb entwickelten die Architekturbüros<br />
eine Konzeption, bei der die inneren Wände<br />
der Zirkusarena ungedämmt bleiben konnten. Nur<br />
WEITER
38 Ideen<br />
Die Rampen im Innenraum des Wintercircus stammen aus der Zeit, als das Gebäude als Autohaus und -museum diente.<br />
Der runde Glaseinbau im Hintergrund wurde im Zuge des Umbaus ergänzt.
Die Fenster der Nebenräume blicken in die gewaltige Zirkuskuppel. Sie erhielten bei der Restaurierung<br />
eine neue Mehrfachverglasung.<br />
39<br />
Unterhalb der alten Manege entstand ein neuer Konzertsaal für Rockmusik, der 500 Besucher fasst.