FOCUS 52/2022_Vorschau
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AUSGABE 52/1 27. Dezember 2022 € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
Andy Warhol
In der Herzkammer
der Pop Art
Die neuen
Sinnf luencer
Erkenntnis
oder Eitelkeit?
Exklusiv
Frank-Walter
Steinmeier
Unterwegs mit unserem
Bundespräsidenten
EINFACH
SCHLANK
Wie Sie mühelos abnehmen und
auf Dauer gesünder leben
So zählen Sie Kalorien richtig
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E-PAPER LESEN:
EDITORIAL
Wer gibt uns den Glauben
an uns selbst zurück?
Von Robert Schneider, Chefredakteur
Fotos: Peter Rigaud für FOCUS-Magazin, dpa
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wenn ich in diesen Tagen Menschen
„frohe Weihnachten“ oder ein „gutes
neues Jahr“ wünsche, werde ich oft
verblüfft angeschaut. Einige atmen
erst mal schwer durch, bevor sie Danke
sagen, viele stöhnen einfach nur
ein „Mal-schauen-wie-schlimm-eswird“
heraus.
Okay, Gründe für Verdruss und
Zukunftsängste gibt es auch genug:
Krieg ohne Ende in Sicht in der Ukraine,
zu wenig Gas oder zu teuer, eine
große Rezession droht, bei der Fußball-WM
politisch und sportlich schmachvoll
gescheitert, unser Puma-Panzer ein
Totalausfall. Es gibt nicht einmal mehr
genug Medikamente in dem Land, das
einst die „Apotheke der Welt“ war.
Das alles ist wahr, und doch ist es nicht
die ganze Wirklichkeit. Millionen Deutsche
haben das Interview mit dem gerade
aus britischer Haft entlassenen Boris
Becker verfolgt. Unser abgestürzter Held,
einer, der einst auf dem Center-Court mehr
zustande brachte als jeder andere auf der
Welt, schilderte die Abgründe, in die er
nicht nur geblickt hat.
In der Haft wurde aus Boris Becker eine
Chiffre: „Mich als Namen gab es nicht
mehr, sondern meine Nummer A-2923-EV.
Und so wurde ich angesprochen.“ Und: „Ja,
ich habe zum ersten Mal in meinem Leben
Hunger gefühlt.“ Mitgefangene haben versucht,
ihn zu erpressen oder ihn sogar umzubringen.
Dennoch saß da kein gebrochener
Mann vor den Fernsehkameras, der ein
unverdientes Schicksal bejammerte. Ganz
im Gegenteil! Freimütig gab er zu: „Natürlich
war ich schuldig.“
Come-Becker Boris Becker im Sat.1-Interview
mit dem Moderator Steven Gätjen
Neuer FOCUS-Podcast
Missing Magic Money –
Den gestohlenen
Bitcoin-Milliarden
auf der Spur
?
R’S DAS MIT WOHLSTAND?
20 Jahren verriet er: „Umringt von meinen
Kindern.“ Und dann ein Wunsch, der
einen umhaut: „Ich hoffe, es kommen
noch ein paar (Kinder) dazu.“ Das sagt
ein Mann, der hoffentlich genau weiß,
dass für ihn die Altersgrenze von 67 nicht
gilt. Der seinen Lebensstandard wieder
neu erarbeiten muss, weil all die Millionen
aus seiner Tennisgott-Zeit weg sind.
Es ist der 28. Februar 2014, als der Franzose Mark
Karpelès auf einer Pressekonferenz in Japan zugeben
muss, dass auf seiner Kryptobörse Mt.Gox
850 000 Bitcoins verschwunden sind. Mt.Gox ist
pleite, und 127 000 Kundinnen und Kunden
weltweit verlieren ihr Geld. Auch heute, acht
Jahre später, sind die Täter noch nicht identifiziert.
Der Verbleib des Geldes: unklar. Die gestohlenen
GIBT ES FÜR DIE ZUKUNFT?
Beeindruckt hat mich aber etwas anderes:
Boris hat über all den Abstürzen
einen Wert von mehr als 34 Milliarden Dollar.
Bitcoins haben im Jahr 2022 zwischenzeitlich
seinen Angriffsgeist und seinen Erfolgshunger
offenkundig nicht verloren. Nur
den größten Bankraub aller Zeiten. Unser
Damit handelt es sich vermutlich um
wenige Tage nach der Entlassung aus
Reporter Thilo Mischke und sein Team haben sich
achtmonatiger Haft schmiedet er Zukunftspläne
für sich und die Seinen. Jetzt könne
Money“ auf die Suche nach dem Geld und den
für den neuen FOCUS-Podcast „Missing Magic
er zum ersten Mal darü ber nachdenken,
Tätern gemacht. Die Spuren führen dabei nicht
„was ich mit dem Rest meines Lebens
nur zu russischen Geheimdiensten, sondern
mache“. Über seine Gemütsver-
auch in die Ostukraine und zur Manifassung
berichtete er: „Ich freue
pulation der US-Wahlen im Jahr 2016.
mich, ich bin motiviert.“ Über
Ein hoch spannender, geopolitischer
seine Vision für sein Leben in
Thriller von aktueller Brisanz.
Die Becker-Rolle war das Symbol
für Boris’ unbändigen Siegeswillen.
Nie wieder hat sich ein Spieler so in
den roten Sand geworfen, um auch
unmögliche Bälle zu retournieren.
Und darum geht es nach meiner festen
Überzeugung im kommenden
Jahr für unser Land: Vor dem Erfolg
steht der Wille zum Erfolg.
Wir können uns doch nicht im
Ernst damit abfinden, dass es wie
bei der Autobahn A45 jahrelang nicht
gelingt, eine marode Brücke zu ersetzen.
Oder dass es keine Regierung
in den vergangenen zehn Jahren
geschafft hat, die selbst gesteckten Ziele
bei den erneuerbaren Energien zu erfüllen.
Von der Abwirtschaftung der Bundeswehr
ganz zu schweigen.
Vor dem Erfolg steht der Wille zum
Erfolg: Ich denke da auch an den ukrainischen
Präsidenten Wolodymyr Selenskyj,
der den Glauben an den Sieg seines Landes
auch in den dunkelsten Stunden des
Krieges nicht verliert. Und am
Ende dieses Fußball-Jahres darf
man sich auch wünschen, dass
sich die Männer-Nationalmannschaft
etwas von der Leidenschaft
und dem Siegeswillen der Frauen
abguckt, die im EM-Finale
zwar an England scheiterten, in
Wahrheit aber viel für den Fußball
gewonnen haben.
2023 ist ein Jahr, das nach meiner Überzeugung
genauso viele Chancen und Risiken
bietet wie jedes andere Jahr auch. Für
Schwarzmalerei und nationale Depression
besteht kein Anlass, wenn es uns gelingt,
den Glauben an uns selbst, an unsere Stärken
und Fähigkeiten zurückzugewinnen.
PS: Eine Inspiration für „Die Welt in
2023“ bietet unser gleichnamiges Sonderheft,
das Sie hier auf der linken Seite
neben dieser Kolumne beworben sehen.
Ich wünsche viel Spaß und Erkenntnisfreude
beim Lesen und selbstverständlich
ein gesundes Neues!
.
Herzlich Ihr
FOCUS 52/2022 01/2023
Mit dem QR-Code können Sie zu dem Podcast gelangen
5
Die nächste Ausgabe
von FOCUS erscheint am
Samstag, dem 7. Januar 2023
Tief betroffen
Steinmeier hörte
sich im sächsischen
Freiberg
die Sorgen der
Bürger an
Seite 30
Stark beansprucht
Kann Verkehrsminister
Volker
Wissing das
Chaos bei der
Bahn lösen?
Seite 56
Hoch begabt
Andy Warhol
1965. Steve Schapiro
dokumentierte
die Geburt
eines Phänomens
Seite 84
Reich bedacht
Die Ukrainerin
Oleksandra
Matwijtschuk
bekam den Friedensnobelpreis
Seite 52
Heiß begehrt
Schauspieler
Daniel Giménez
Cacho versteht
in „Bardo“ die
Welt nicht mehr
Seite 92
Den Ranger Rover Sport gibt’s auch in elektrisch Seite 108
6 FOCUS 52/2022 01/2023
INHALT NR. 52/2022_01/2023 | 27. DEZEMBER 2022
Titelthema
Wirtschaft
Kultur
56 Kann er ein Wunder vollbringen?
Verkehrsminister Wissing über Chaos, Ausfälle
und die Sanierung der Deutschen Bahn
62 So rettet Innovation den Wohlstand
Professor Gassmann erklärt, warum zur Digi -
talisierung mehr gehört als ein Start-up-Lab
84 In der Herzkammer der Pop Art
Der Fotograf Steve Schapiro begleitete Andy
Warhol Mitte der Sechziger. Sein Bildband
dokumentiert die Geburt eines Phänomens
90 Nachtgestalten und Tagträumer
Unsere Kultur-Tipps der Woche
64 Abgebrannt
Der Feuerwerkshersteller Weco kämpft mit
dem harschen deutschen Debattenwind
92 Fremd im eigenen Land
Starregisseur Alejandro G. Iñárritu schickt
sein Alter Ego in „Bardo“ in die Identitätskrise
70 Kampf den Kilos
Frust und Krisenstimmung haben für
ordentlich Speck auf den Hüften der Deutschen
gesorgt. Doch wie wird man den wieder
los? Ein Selbstversuch über 12 Wochen
66 Die Erleuchtung
Ein Start-up entwickelt smarte Straßenlaternen,
die selbst Storm erzeugen können
68 Geldmarkt
Leben
98 Klarheit und Wahrheit
Warum es keine schlechte Idee ist, den
Trend „Dry January“ mitzumachen
Titel: Shutterstock, dpa
77 Training für die Muskeln
7 Übungen, die alle Körperpartien erreichen
Agenda
24 Die neuen Sinnfluencer
Lange haben sie bloß über Mode und Fitness
gepostet. Inzwischen sind Influencer aber
auch politisch. Und relevanter denn je
Wissen
83 Gefräßige Winzlinge
Pflanzliches Plankton ist offenbar immer
besser in der Lage, Phosphor zu verwerten
102 Front statt Flitterwochen
Wie es sich anfühlt, als ukrainischer
Soldat mitten im Krieg zu heiraten
105 Ein extrascharfer Start ins neue Jahr
Ottolenghi kocht sein Süppchen mit Chili
106 Zurück auf den Gipfel
Skifahrer Aleksander Kilde will den Weltcup
Politik
30 Der Volks-Empfänger
Was kann ein Bundespräsident in Krisenzeiten
tun? Steinmeier hat seine neue Rolle
gefunden. Er will vor allem zuhören
108 The Car after Tomorrow
Der Range Rover Sport sorgt für Action
Rubriken
Fotos: Ingmar Björn Nolting für FOCUS-Magazin, Daniel Hofer/laif, Steve
Schapiro/taschen.com, Oleksandra Matviichuk, SeoJu Park
36 Der Richter und sein Denker
Ist die Justiz zu lasch mit Klimaaktivisten?
Generalstaatsanwalt Knispel im Interview
42 Eine politische Schockwelle
Ex-US-Botschafter John Kornblum erklärt,
was die Ermittlungen gegen Trump bedeuten
44 Amt und Würde
Arbeitsmarkt-Debatten spalten das Land.
Doch was braucht die Agentur wirklich?
48 Durch die Hintertür nach Europa
Zypern steht im Zentrum einer neuen Flücht -
lingskrise und wird damit alleingelassen
51 Politischer Datenstrudel
Markus Söder im Weihnachtspulli und
Karl Lauterbach auf dem Twitter-Thron
52 „Wir werden nicht kapitulieren“
Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin
über Mut und den Traum von Demokratie
Nüchtern betrachtet
Jetzt kommt die Zeit der guten Vorsätze. Der
„Dry January“ ist schon mal ein guter Start
Seite 98
5 Editorial
8 Kolumne von
Jan Fleischhauer
11 Nachrichten
12 Fotos der Woche
18 Grafik der Woche
Vierschanzentournee
20 Menschen
82 Echt irre
Titelthemen sind rot markiert
91 Salon
94 Bestseller
94 Impressum
110 Die Einflussreichen
112 Leserbriefe
113 Nachrufe
113 Servicenummern
114 Tagebuch
DER HAUPTSTADTBRIEF
Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch
Jetzt noch mehr Letzte Politik Gesetze
im digitalen Format
Zur Güte: Zehn Zukunftsentscheidungen,
die es nicht geben wird
Der Hauptstadtbrief Von John von Düffel für Seite 2 FOCUS-Leser
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10. Dezember 2022 | #49
FOCUS 52/2022 01/2023
AGENDA
Die neuen Sinnfluencer
Mode und Fitness, das war einmal. Die Influencer
von heute sprechen über Nachhaltigkeit, Klimaschutz
oder psychische Krankheiten. Geht es dabei
um Erkenntnisse oder Eitelkeiten?
TEXT VON PHILLIPKA VON KLEIST
Foto: action press/Petra Stadler for Events by CH
24
Für die gute Sache?
Cathy Hummels lud andere
Instagram-Stars zum Sun&Soul
Retreat nach Rhodos ein. Im
Luxushotel kochte die Gruppe mit
den Produkten von Sponsoren
gegen Depressionen an und teilte
alles online
Für ihr Land
ZEITGEIST
Natalia Yegorova war 25 Jahre
lang mit Vitali Klitschko
verheiratet. Die Sängerin
setzt sich für Geflüchtete aus
der Ukraine ein
FOCUS 52/2022 01/2023 25
POLITIK
Präsident
zum Anfassen
Bei seiner Tour ins
sächsische Freiberg
ging’s Frank-Walter
Steinmeier vor allem
um Dialog und Austausch.
Erinnerungsfotos
inklusive
Staatsgeschäfte
unterm Dach
Der Bundespräsident
in seinem für
drei Tage in ein Hotel
ausgelagerten
Homeoffice
Unterschrift gefällig? Auf seinem Behelfsschreibtisch
lagen neben Akten aus dem Bundespräsidialamt
auch Autogrammkarten
Wenn Demokratie ein
Gesellschaftsspiel wäre,
wie sähe das aus?
Mensch ärgere dich
nicht? Schach? Halma?
Oder eher so, wie es
Frank-Walter Steinmeier
neulich im Café Hartmann im sächsischen
Freiberg probiert hat?
Zwölf Mitspieler (sogenannte „Vertreter
der Zivilgesellschaft“) warfen sich dort
Argumente zu. Es gab Eierschecke und
Stollen. Und wenn mal jemand durchzudrehen
drohte, vermittelte der Bundespräsident,
der den Kaffee übrigens gern fast
schwarz mit einem kleinen Klecks Kondensmilch
trinkt.
Am festlich gedeckten Tisch saßen zwar
weder salafistische Hassprediger noch
woke WDR-Redakteur*innen aus urbanen
Akademikerzirkeln. Und es klebte
sich auch kein Mitglied der „Letzten
Generation“ an Steinmeiers Sakko fest
oder bewarf ihn mit Kartoffelsalat. Hier
in Freiberg würde allenfalls übers Rezept
gestritten. Mit Mayonnaise oder ohne?
Aber immerhin: Draußen schrie jemand
„Kriegstreiber“, als Steinmeier ankam.
Und drinnen saßen dann tatsächlich ein
paar Impf-, Kriegs- oder gar Parteienkritiker
mit am Tisch. Demokratie in der
Fortgeschrittenen-Edition namens „Kaffeetafel
kontrovers“. So heißt das Format,
das zugleich Höhepunkt jeder „Ortszeit“
ist, die Steinmeier in diesem Jahr begonnen
und in Freiberg nun zum fünften Mal
durchgespielt hat.
Immer drei Tage lang geht’s mit Entourage,
Staatskarosse (Kennzeichen: 0-1, was
für null-eins steht, also die Nummer eins
»
Mit dem Krieg
kamen auf
Steinmeier zunächst
auch etliche
unangenehme
Fragen zu
«
im Land), Standarte und Polizeihundertschaften
raus aus der Berlin-Blase. Viermal
bislang nach Ostdeutschland, weil es
da einfach mehr knallt als im alten Westen.
Steinmeier will „den Dialog suchen
mit den Menschen draußen im Land“.
Man könnte auch sagen: Er geht dahin,
wo’s wehtut. Und in den längst nicht mehr
so neuen Bundesländern tut vieles weh.
Auch weil sie sich das teils anders vorgestellt
haben mit der Demokratie, als
sie vor 33 Jahren auf die Straße gingen,
um selber endlich mitspielen zu dürfen.
Wer könnte da besser moderieren als das
gesamtdeutsche Staatsoberhaupt?
Sie haben schon richtig gehört: Frank-
Walter Steinmeier, 66 Jahre alt, gebürtiger
Detmolder, promovierter Jurist aus
kleinen Verhältnissen, SPD-Mitglied und
Berufspolitiker, ist offiziell die Nummer
eins im Staat. Vor Scholzhabecklindner.
Also auch vor Wolfgang Kubicki, Luisa
Neubauer oder Günther Jauch. Insofern
ist Steinmeier jetzt ganz oben. Andererseits
ist er dieses Jahr bisweilen ganz
unten gelandet, wovon noch die Rede
sein wird. Bundespräsident ist alles und
nichts zugleich. Obwohl ihm acht Artikel
im Grundgesetz gewidmet sind, bleibt
als Jobbeschreibung im Alltag vor allem:
Orden verleihen, Gesetze durchwinken,
Reden halten, würdevoll gucken.
Ein Grüß-Gott-August und Wohlfühl-
Onkel, wenn’s gut läuft. Ein irgendwie
demokratischer König von Deutschland
und wie viele andere Könige heute einer
ohne Land und Macht, aber wenigstens
mit adrettem Amtssitz: Schloss Bellevue,
Spreeweg 1, 10557 Berlin. Daneben steht,
im Gehölz versteckt, das Bundespräsidialamt.
Das Ensemble aus Neu und Alt
gleicht einem mittelständischen Betrieb
mit 220 Mitarbeitern und 44,9-Millionen-
Euro-Budget. Eine Manufaktur zur Produktion
staatsmännischer Auftritte.
Bundespräsident – das ist die zur Institution
geronnene Idee von parteiunab-
32 FOCUS 52/2022 01/2023
hängiger Kontrolle der Exekutive. Wichtig
erst, wenn’s doch mal kriselt wie 2017,
als der Jamaika-Flirt scheiterte, einfach
keiner regieren wollte und Steinmeier
symbolisch auf den Tisch hauen und ein
paar Wochen lang viel telefonieren durfte.
In normalen Zeiten ist er eher Show. Das
geht schon bei der Bundesversammlung
los, die ihn auf fünf Jahre wählt: zur einen
Hälfte besetzt mit den siebenhundertvielzuvielen
Bundestagsabgeordneten. Zur
anderen mit Sportlern, Komikern und weiteren
deutschen Weltstars. Mit 72,7 Prozent
der Stimmen wurde Steinmeier am
13. Februar wiedergewählt. Er küsste liebevoll
seine Frau Elke Büdenbender, der
er vor zwölf Jahren eine Niere gespendet
hat. So harmonisch, diese Demokratie! Elf
Tage später ging die Welt unter.
Was war da mit Putin?
Es kamen Krieg, Krise und kritische Fragen
nicht nur aus der ukrainischen Regierung
in Kiew: Wie nah stand Steinmeier
als SPD-Außenminister einst dem Kreml?
Hat er nach Putins Krim-Annexion zu lange
am Dialog festgehalten? Es wurde sehr
schnell sehr persönlich und damit ziemlich
kleinkariert. Gespielt wird seither
eher „World of Warcraft“ als Mikado.
FOCUS 52/2022 01/2023
„Kaffeetafel
kontrovers“
Hier diskutiert der
Bundespräsident
mit zwölf Bürgern.
Anfangs etwas
steif, aber die wohlkuratierte
„Zivilgesellschaft“
taute
dann schnell auf
Im April wollte Steinmeier in die Ukraine
reisen wie viele andere Politiker. Kiew
ließ wissen, dass er unerwünscht sei. Auf
einmal gab es Schlagzeilen, die man als
Bundespräsident nicht wirklich sucht.
Steinmeier war nicht mehr nur Kommentator
wachsender gesellschaftlicher
Spannungen zu Hause, sondern deren
Zielscheibe.
„Ich habe mich geirrt“, sagte er und
gab damit also eigene Fehler zu. Etwa
sein langes Festhalten an der russischen
Pipeline Nord Stream 2. Reichte nicht.
Rücktrittsforderungen kamen auf. „Der
Verwalter von Bellevue“ („Welt“) sei ein
„Kaiser ohne Kleider“, spottete der frühere
Linken-Politiker Fabio De Masi.
Steinmeier schien es niemandem mehr
recht machen zu können und fand aus den
Empörungsschleifen kaum mehr heraus.
Wem nur begann er da immer mehr zu
ähneln? Wem erging es ebenso? Egal, der
Präsident konzentrierte sich jedenfalls
fortan auf zwei Aufgaben, die ihm trotz
Krieg und Krise ja niemand absprach:
Reden und Zuhören. Das mit den Ansprachen
lief fehlerfrei bis okay. Zur Eröffnung
der Documenta redete er zum Beispiel den
Machern ins Gewissen, Verantwortung
könne man „nicht outsourcen“. Kurz darauf
platzte in Kassel die Antisemitismus-
Bombe. Er hielt eine anrührende Rede zum
Gedenken an die ausländerfeindlichen
Exzesse von Rostock-Lichtenhagen vor
30 Jahren. Er kritisierte die Pro-Putin-Haltung
der russisch-orthodoxen Kirche, was
die gar nicht gut fand. Und zum 50. Jahrestag
des Münchner Olympiaterrors bat er
die Hinterbliebenen um Vergebung.
Eine Rede mit Ansage
Nur einmal rutschte er aus, und das lag
weniger an einer Rede als an der Bugwelle,
die sein Amt ihr vorausschickte. Am
27. Oktober wurde per Pressekonferenz
seine tags darauf geplante Ansprache so
bedeutungsschwanger angekündigt, dass
auch dem letzten Vorstadt-Influencer die
nationale Bedeutung klar werden musste.
ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten
sah schon „eine Art Kennedy-Moment
entstehen“.
Derartige PR-Aktionen provozieren
Medienleute in der Regel nur dazu, sie
voll ins Leere laufen zu lassen. Soweit
bekannt, hat ja schon Jesus seine Bergpredigt
nicht per Pressekonferenz angeteasert.
Es gilt der Überraschungsfaktor,
und der war im Fall Steinmeier am
Ende so dürftig wie der Kennedy-Gehalt.
Schmallippig vermerkten die Chronisten,
dass aus der Bundesregierung überhaupt
niemand anwesend gewesen sei.
Dabei hat Steinmeier gar nichts Falsches
gesagt. Er sprach davon, dass nun
„härtere Jahre auf uns zukommen“. Eher
Churchill light als Kennedy. Von den
wachsenden Spaltungen im Land, die es
zu überwinden gelte. Vom so wichtigen
Dialog. Vom Ehrenamt und dass man
33
POLITIK
„Wir werden
niemals
aufgeben“
Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin
Oleksandra
Matwijtschuk über den Mut
der Frauen und den Traum von
einem demokratischen Land
TEXT VON LAURA EWERT
O
leksandra Matwijtschuk
ist ukrainische
Juristin, Menschenrechtsaktivistin
und
Vorsitzende des Center
for Civil Liberties,
das gerade den Friedensnobelpreis gewonnen
hat. Sie kommt gegen Mittag im
Berliner „Hotel de Rome“ an. Der Grund
ihres Besuchs ist die Premiere des Dokumentarfilms
„Oh, Sister!“ über die Rolle
ukrainischer Frauen, besonders im Krieg
gegen Russland. Bis zum frühen Abend
wird sie durchgehend Interviews geben,
mit der grünen Kulturstaatsministerin
Claudia Roth diskutieren und nicht mal
mehr Zeit haben, um sich umzuziehen.
Matwijtschuk spricht leise und ernst, aber
mit fester Stimme, als sie vom Bombenalarm
erzählt, der auch an diesem Morgen
wieder in ihrer Heimat Kiew zu hören war.
Selbst wenn sie auf Reisen ist, kommt er
per App bei ihr an. Die 39-jährige Anwältin
bestellt einen Kaffee, schwarz, dann
geht es los.
Unbeirrbar
Matwijtschuk setzte
sich früher vor allem
für eine unabhängige
Justiz in der Ukraine
ein. Inzwischen
liegt der Fokus auf
der Dokumentation
russischer Kriegsverbrechen
Woher kommen Sie gerade?
Aus Straßburg, dort war ich anlässlich
des Sacharow-Preises für geistige Freiheit,
den das Europäische Parlament in
diesem Jahr dem ukrainischen Volk verliehen
hat. Es war das erste Mal in der
Geschichte des Preises, dass ein Land
ausgezeichnet wurde. Er würdigt die
Bemühungen einer ganzen Nation. Als
die Invasion begann, haben die internationalen
Organisationen ihre Mitarbeiter
evakuiert, während die Leute vor Ort ihre
Arbeit übernahmen. Normale Menschen
52
FOCUS 52/2022 01/2023