Leseprobe "Spinnennetz" von Lars Kepler
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<strong>Lars</strong> <strong>Kepler</strong><br />
Spinnennetz
Weitere Titel des Autors:<br />
Der Hypnotiseur<br />
Paganinis Fluch<br />
Flammenkinder<br />
Der Sandmann<br />
Ich jage dich<br />
Hasenjagd<br />
Lazarus<br />
Die Titel sind auch als Hörbuch erhältlich.
<strong>Lars</strong> <strong>Kepler</strong><br />
S pi n n e n n e t z<br />
Thriller<br />
Übersetzung aus dem Schwedischen <strong>von</strong><br />
Thorsten Alms und Susanne Dahmann<br />
Lübbe
Die Bastei Lübbe AG verfolgt eine nachhaltige Buchproduktion. Wir verwenden<br />
Papiere aus nachhaltiger Forstwirtschaft und verzichten darauf, Bücher<br />
einzeln in Folie zu verpacken. Wir stellen unsere Bücher in Deutschland und<br />
Europa (EU) her und arbeiten mit den Druckereien kontinuierlich<br />
an einer positiven Ökobilanz.<br />
Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen<br />
Titel der schwedischen Originalausgabe:<br />
»Spindeln«<br />
Für die Originalausgabe:<br />
Copyright © 2022 by <strong>Lars</strong> <strong>Kepler</strong><br />
Published in German language by arrangement<br />
with Salomonsson Agency, Stockholm, Sweden<br />
Für die deutschsprachige Ausgabe:<br />
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln<br />
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn<br />
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau und Guter Punkt, München<br />
Umschlagmotiv: © Ingrid Michel / plainpicture; © Dima Aslanian /<br />
Shutterstock; Guter Punkt<br />
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde<br />
Gesetzt aus der Adobe Caslon<br />
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-7857-2807-9<br />
5 4 3 2 1<br />
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de<br />
Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
<strong>Lars</strong> <strong>Kepler</strong> möchte darauf hinweisen, dass in Spinnennetz gewisse<br />
Ereignisse aus dem Band Lazarus und einzelne Details aus<br />
dem Band Der Sandmann enthüllt werden.
Es gab einmal einen Serienmörder in Schweden, der hieß Jurek<br />
Walter. Er ermordete mehr Menschen und war grausamer als<br />
alle Mörder, die es in Nordeuropa je gegeben hat.<br />
Und es war Kommissar Joona Linna, der ihn am Ende zur<br />
Strecke brachte.<br />
Weil Joona nicht an das angeborene oder metaphysische<br />
Böse glaubt, würde er eher sagen, dass Jurek im Laufe der Jahre<br />
den Teil seiner Seele verlor, der es dem Menschen ermöglicht,<br />
menschlich zu sein.<br />
Von den wenigen, die <strong>von</strong> Jureks Existenz wissen, würde die<br />
Mehrheit wohl behaupten, dass die Welt ohne ihn ein besserer<br />
Ort ist.<br />
Jurek Walter ist tot, aber nichts auf dieser Welt verschwindet<br />
so vollständig, als hätte es nie existiert. Vieles wechselt einfach<br />
seinen Ort, und das, was es nicht mehr gibt, hinterlässt eine<br />
gefährliche Leerstelle, die auf die eine oder andere Weise gefüllt<br />
werden wird.<br />
7
1<br />
Margot Silverman hört, wie die Hufe des Pferdes über die<br />
Holzspäne donnern, während sie über den beleuchteten Waldweg<br />
galoppiert.<br />
Der Himmel ist schwarz und der Augustabend kühl.<br />
Die Bäume gleiten vorbei und werden dunkler, verschwinden<br />
ganz und fangen dann das erste Licht der nächsten Laterne.<br />
Margot ist die Chefin der NOA, der Nationalen Operativen<br />
Abteilung der Polizei. Sie reitet viermal in der Woche auf Värmdö,<br />
um den Kopf freizubekommen und zu sich selbst zu finden.<br />
Ihr Puls wird <strong>von</strong> dem rasanten Tempo hochgetrieben.<br />
Das Pferd schießt auf dem schmalen Weg voran.<br />
Teile der Peripherie schnellen vorbei wie <strong>von</strong> Blitzlicht beleuchtet:<br />
entwurzelte Bäume, überwachsene Grenzmarkierungen<br />
im Wald und ein nasses Hemd mit einem Smiley auf einer<br />
Wegschranke.<br />
Sie beugt sich vor und spürt den Gegenwind in den Augen<br />
und auf den Lippen.<br />
Im Galopp ist der Rücken des Pferdes asymmetrisch, die innere<br />
Flanke höher als die äußere.<br />
Am Ende jeder Triole stößt sich das rechte Vorderbein ab,<br />
und der Kontakt zum Boden geht verloren.<br />
Die Sekunden, in denen sie fliegen, lösen ein Kribbeln in<br />
ihrem Unterleib aus.<br />
Catullus ist ein schwedischer Warmblutwallach mit langen<br />
9
Beinen und kräftigem Nacken. Margot muss das äußere Bein<br />
nur ein Stück zurücknehmen und die Hüfte nach vorn bewegen,<br />
um ihn anzugaloppieren.<br />
Bei jedem Bodenkontakt wippt Margots Zopf auf ihrem Rücken.<br />
Ein Reh läuft über eine Lichtung mit wogendem Farn.<br />
Die Laternen am Ende der Strecke funktionieren nicht, und<br />
Margot kann den Boden vor sich nicht mehr erkennen. Sie<br />
schließt die Augen, verlässt sich auf Catullus’ Nachtsicht und<br />
lässt sich <strong>von</strong> den perfekten, wogenden Bewegungen mittragen.<br />
Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie das Licht des Stalls<br />
zwischen den Bäumen, pariert durch und geht über in einen<br />
starken Trab.<br />
Margot schwitzt zwischen den Brüsten und am Rücken, und<br />
in den Oberschenkeln und den Waden bildet sich nach einer<br />
Stunde Intervalltraining Milchsäure.<br />
Sie reitet im Schritt durch die Tore und sitzt ab.<br />
Es ist fast elf Uhr, und Margots silbergrauer Citroën ist das<br />
einzige Auto, das noch auf dem Parkplatz steht.<br />
Sie führt Catullus durch die Dunkelheit zum Stall. Die<br />
Trense rasselt, und die Hufe stoßen dumpf auf das trockene,<br />
zertrampelte Gras.<br />
Das Geräusch fester Tritte dringt durch die Wände einer der<br />
Boxen.<br />
Catullus bleibt plötzlich stehen, hebt den Kopf und weicht<br />
ein kleines Stück zurück.<br />
»Was ist denn?«, fragt Margot und blickt in die Dunkelheit<br />
beim Traktor und den Brennnesseln.<br />
Das Pferd hat Angst und schnaubt durch die Nüstern. Sie<br />
streicht ihm über den Hals und versucht, ihn weiter auf die<br />
Stalltür zuzubewegen, aber er weigert sich.<br />
»Kleiner, was ist denn los?«<br />
10
Er zittert bis ins Mark und weicht dann heftig zur Seite aus,<br />
als würde er gleich durchgehen.<br />
»Wo-ho-o«, sagt sie beruhigend.<br />
Margot hält mit den Zügeln dagegen und führt ihn entschlossen<br />
in einem Halbkreis herum, durch das hohe Wiesengras und<br />
auf den knirschenden Schotterplatz.<br />
Die drei Lampen an der Fassade verleihen jedem Gegenstand<br />
drei scharfe Schatten.<br />
Catullus schnaubt und senkt den Kopf.<br />
Margot sieht in die Dunkelheit vor dem Giebel und schaudert,<br />
obwohl sie nichts erkennen kann.<br />
Erst als sie den erleuchteten Stall betreten, setzt sie den Helm<br />
ab. Ihre Nasenspitze ist rot, und der blonde Zopf liegt schwer<br />
auf dem Steppmuster der Jacke. Die Reithose ist oberhalb der<br />
hohen Stiefel verschmutzt.<br />
Es riecht intensiv nach Heu und Mist.<br />
Die Pferde stehen still in ihren Boxen.<br />
Sie führt Catullus durch die Stallgasse bis zum Waschplatz,<br />
nimmt ihm den Sattel ab und hängt ihn in der vorgewärmten<br />
Kammer auf.<br />
Ein paar Steigbügel klimpern an der Bretterwand.<br />
Margot will Catullus abspritzen, ihm die Stalldecke überwerfen,<br />
in der Box füttern, ein bisschen zusätzliches Salz geben,<br />
das Licht ausschalten und nach Hause fahren.<br />
Sie fühlt in der Jackentasche nach, um zu kontrollieren, ob<br />
sie den alten, silbernen Flachmann ihres Vaters dabeihat. Er ist<br />
mit Desinfektionsmittel gefüllt, nicht, weil das besonders praktisch<br />
ist, sondern weil er ihr Glück bringt und ein bisschen als<br />
Running Gag dient.<br />
Die Tür zum Schotterplatz knirscht.<br />
Margot beschleicht ein unangenehmes Gefühl. Sie kehrt zur<br />
Stallgasse zurück und betrachtet die Tür.<br />
11
Catullus tänzelt unruhig im Waschplatz. Es tropft langsam<br />
aus dem Wasserschlauch, und ein dunkles Rinnsal sucht sich<br />
einen Weg um das Schweißmesser herum zum Bodenablauf.<br />
Ein paar Pferde weiter hinten im Stall beginnen zu schnauben.<br />
Hufe stoßen auf den Boden. Der Sicherungskasten an der<br />
Wand brummt.<br />
»Hallo?«, sagt Margot.<br />
Sie hält die Luft an, steht still und richtet den Blick für eine<br />
Weile auf die Tür und die Dunkelheit vor den Fenstern, bevor sie<br />
sich wieder Catullus zuwendet. Die Deckenlampe spiegelt sich<br />
in dem schwarzen, gewölbten Pferdeauge.<br />
Sie zögert eine Sekunde, dann holt sie ihr Handy heraus und<br />
ruft zu Hause bei Johanna an. Als niemand das Gespräch annimmt,<br />
beginnt die Angst in der Magengrube zu wirbeln. Seit<br />
zwei Wochen fühlt Margot sich beobachtet, und sie hat sich<br />
sogar gefragt, ob die Internen Ermittlungen oder der Staatsschutz<br />
Säpo sie aus irgendeinem Grund überwachen. Sie ist alles<br />
andere als paranoid, aber eine Reihe anonymer Telefonanrufe<br />
und ein Paar verschwundene Ohrhänger haben sie selbst und Johanna<br />
zu der Überlegung veranlasst, dass ihre Familie vielleicht<br />
<strong>von</strong> einem Stalker verfolgt wird.<br />
Margot versucht es erneut, die Signale kommen an, fallen<br />
aber wie ein Lot durch tiefes Wasser. Kurz bevor sie zur Mailbox<br />
durchgestellt wird, knistert es.<br />
»Patschnass und nackt«, meldet sich Johanna.<br />
»Wie kann es sein, dass ich dich immer dann anrufe, wenn du<br />
gerade duschst?«, sagt Margot mit einem Lächeln.<br />
»Warte, ich schalte den Lautsprecher an …«<br />
Es raschelt ein bisschen, und dann verändert sich die Raumakustik.<br />
Margot denkt gerade daran, wie Johanna unbekleidet in<br />
ihrem hell erleuchteten Schlafzimmer steht, sodass man sie vom<br />
Apfelgarten aus sehen kann.<br />
12
»Hallo?«<br />
»Ich trockne mich ab«, sagt Johanna. »Bist du auf dem Weg<br />
nach Hause?«<br />
»Ich muss den Kleinen Onkel noch abspritzen.«<br />
»Fahr vorsichtig.«<br />
Margot hört, dass Johanna sich mit einem Badelaken abtrocknet,<br />
während sie sich unterhalten.<br />
»Zieh bitte die Gardinen zu und sieh nach, ob die Tür wirklich<br />
abgeschlossen ist.«<br />
»Das klingt ja wie eine Zeile aus Scream«, sagt Johanna. »In<br />
Wirklichkeit stehst du im Garten und beobachtest mich, und<br />
bevor ich abschließen kann, bist du schon in der Wohnung.«<br />
»Das ist überhaupt nicht lustig.«<br />
»Okay, Chefin.«<br />
»Ich möchte nicht einmal mehr Chefin sein, ich kann das<br />
nicht gut, als Kommissarin habe ich funktioniert, auch wenn ich<br />
ein bisschen überheblich war, aber als Chefin …«<br />
»Hör auf«, unterbricht sie Johanna. »Ich hätte dich gerne als<br />
Chefin.«<br />
»Oh, là, là«, lacht Margot und bekommt ein wenig bessere<br />
Laune.<br />
Johanna lässt das Rollo hinunter, und die Zugschnur klirrt<br />
gegen den Heizkörper.<br />
»Schalte jetzt einfach das Blaulicht an und komm nach<br />
Hause«, sagt sie ein Stück vom Handy entfernt.<br />
»Hast du die Mädchen gut ins Bett bekommen?«<br />
»Alva fragt, ob du dein Pferd lieber magst als sie.«<br />
»Oh je«, lacht Margot.<br />
Sobald sie das Gespräch beendet haben, stellt sich das unangenehme<br />
Gefühl bei Margot wieder ein. Das klirrende Geräusch<br />
an der Heizung ist noch eine Zeit lang zu hören, bevor<br />
es verstummt. Es muss <strong>von</strong> hier aus dem Stall gekommen sein,<br />
13
denkt Margot. Es klingt oft so, wenn die Geschirre, die im Gang<br />
hängen, gegeneinanderschlagen.<br />
Eines der Pferde legt sich mit der Flanke und dem Schenkel<br />
an die Wand, bis es knackt.<br />
Sie dreht sich zur Tür um.<br />
Es sieht aus, als würde sich ein groß gewachsener Mensch im<br />
Schatten neben der Futterkammer verstecken.<br />
Dann bemerkt sie, dass es der Schrank für die Besen, Schaufeln<br />
und Mistgabeln sein muss, obwohl es so aussieht, als würde<br />
er weiter vorstehen als sonst.<br />
Der Wind fegt über das Zinkdach und lässt die Fenster an<br />
ihren Haken rattern.<br />
Sie geht durch die Stallgasse. Die Gitter vor den Boxen flimmern<br />
in den Augenwinkeln vorbei, schwere Pferdeköpfe glänzen<br />
im Schein der Deckenlampe.<br />
Sie zwingt sich, nicht schon wieder Johanna anzurufen und<br />
ihr zu sagen, dass sie die Küchentür kontrollieren soll, weil die<br />
Kinder Schwierigkeiten haben, sie richtig zu schließen.<br />
Das Einzige, was sie tun muss, ist, Catullus zu versorgen und<br />
nach Hause zu fahren, zu duschen, in das warme Bett zu kriechen<br />
und zu schlafen.<br />
Das Licht flackert und wird schwächer.<br />
Sie bleibt stehen und lauscht, sieht am Waschplatz vorbei<br />
zum Umkleideraum.<br />
Alles ist still, und dann ertönt ein schnelles Ticken.<br />
Wie ein Ball aus dünnen Silberdrähten, der über den Boden<br />
rollt.<br />
Als Margot sich umdreht, verstummt das Geräusch sofort. Es<br />
ist unmöglich, seinen Ursprung festzustellen.<br />
Sie stützt sich mit einer Hand an einer Boxentür ab und sieht<br />
erneut zur Tür.<br />
Das Ticken nähert sich hastig <strong>von</strong> hinten.<br />
14
Catullus hebt unruhig den Kopf, während Margot einen<br />
kräftigen Schlag auf den Rücken spürt. Sie denkt noch, dass sie<br />
<strong>von</strong> einem Pferd getreten worden ist, während sie nach vorne<br />
fällt.<br />
Die Welt verschwindet in einem Zwinkern.<br />
Es dröhnt im Kopf.<br />
Margot liegt auf dem Bauch und hat sich die Lippen und die<br />
Stirn auf dem Betonboden aufgeschlagen. Es brennt und drückt<br />
seltsam im Rücken.<br />
Ein bitterer Duft hängt in der Luft.<br />
In dem Augenblick, in dem sie begreift, dass eine Pistole auf<br />
sie abgefeuert wurde, beginnt ein lauter Ton in den Ohren zu<br />
klingeln. Die Pferde haben Angst, alle bewegen sich in ihren<br />
Boxen, gehen unruhig herum und atmen stoßweise durch die<br />
Nüstern.<br />
Margot weiß sofort, dass sie angeschossen wurde. Sie blutet<br />
kräftig, und ihr Herz schlägt viel zu schnell.<br />
»Du lieber, Gott, du lieber Gott …«<br />
Sie denkt, dass sie aufstehen und nach Hause fahren sollte,<br />
um ihren Töchtern zu erklären, dass sie sie über alles liebt.<br />
Jemand nähert sich, und plötzlich hat Margot Angst davor<br />
zu sterben.<br />
Ein knirschendes Geräusch ist zu hören, gefolgt <strong>von</strong> einem<br />
Klirren am Heizkörper.<br />
Sie spürt ihren Unterkörper nicht mehr, merkt aber, dass jemand<br />
sie an den Beinen zur Tür schleppt.<br />
Der Hüftknochen scharrt über den Boden.<br />
Margot versucht, sich an einem Trog mit Grobfutter festzuhalten,<br />
aber sie ist zu schwach.<br />
Ein Eimer fällt um und rollt ein Stück.<br />
Die Jacke und das Unterhemd rutschen hoch.<br />
Sie atmet schnell und weiß, dass der Schuss direkt ins Rück-<br />
15
grat gegangen ist. Der Schmerz stößt immer wieder aus dem<br />
Bauch nach oben.<br />
Er ist wie Axthiebe, die nur eine Richtung kennen.<br />
Margot wird weggeschleppt wie ein Schlachttier, wird vom<br />
Strom gefangen wie ein Rindenboot, schwebt wie ein Zeppelin<br />
über die Äcker.<br />
Die Gedanken werden langsam wunderlich.<br />
Sie weiß, dass sie nicht aufgeben darf, dass sie weiterkämpfen<br />
muss, aber sie ist so schwach, dass sie den Kopf nicht länger<br />
hochhalten kann.<br />
Nase, Mund und Kinn werden vom Beton zerkratzt.<br />
Das Letzte, was Margot wahrnimmt, bevor sie das Bewusstsein<br />
verliert, ist die glänzende Blutspur, die sie auf dem Boden<br />
hinter sich herzieht.<br />
16
2<br />
Lisa steht mit dem Rücken zum Fenster, ihre Hand, in der<br />
sie einen Longdrink in einem beschlagenen Glas hält, ruht auf<br />
dem Fensterbrett.<br />
Sie befindet sich mitten in der Nacht in einem einstöckigen<br />
Haus in Rimbo, gemeinsam mit zwei Männern.<br />
Der eine ist fünfzig Jahre alt, trägt einen Anzug und ein<br />
hellblaues Hemd, hat kurz geschnittenes Haar, graue Schläfen<br />
und wirkt ein bisschen steif im Nacken. Er wirft die leere Eiswürfelform<br />
in die Spüle, schenkt Gin in die Karaffe und füllt sie<br />
mit Tonicwater auf.<br />
Der andere Mann ist gerade zwanzig, breitschultrig und groß<br />
gewachsen. Er hat einen rasierten Schädel, kalkweiße Handflächen<br />
und steht rauchend unter dem Dunstabzug in der Küche.<br />
Lisa sagt etwas und hält die Hand vor den Mund, als sie lacht.<br />
Der ältere Mann verlässt die Küche, und nach ein paar Sekunden<br />
wird das Licht im Badezimmer eingeschaltet. Von außen<br />
kann man seinen Schatten durch die dünnen Gardinen erahnen.<br />
Lisa ist gerade neunundzwanzig geworden, trägt einen Plissee-<br />
Rock und eine silbergraue Bluse, die über den Brüsten spannt,<br />
das dunkle Haar ist gekämmt und glänzt.<br />
Sie wurde mit einer Hasenscharte geboren, die weiße Narbe<br />
auf der Oberlippe ist noch zu sehen.<br />
Der junge Mann lässt den Rest der Zigarette in eine Bierdose<br />
fallen, geht zu Lisa und zeigt ihr etwas auf seinem Handy.<br />
17
Er nimmt ihre Reaktion mit einem Lächeln zur Kenntnis, sagt<br />
leise etwas und streicht ein Haar <strong>von</strong> ihrer Wange.<br />
Sie begegnet seinem Blick, stellt sich auf die Zehenspitzen<br />
und küsst ihn kurz auf den Mund. Er wird ernst, sieht zum Flur<br />
und beugt sich dann zu ihr hinunter, um sie intensiv zu küssen.<br />
Saga Bauer beobachtet sie über das Display der Kamera, sieht,<br />
wie der jüngere Mann die Hand unter Lisas Rock steckt und<br />
sie durch die Strumpfhose und den Slip zwischen den Beinen<br />
streichelt.<br />
Es ist mitten in der Nacht, und in der kleinen Ferienhaussiedlung<br />
ist es still.<br />
Vor einer Stunde hat Saga die Schubkarre des Nachbarn gegen<br />
den hohen Zaun gelehnt und ist hinaufgeklettert.<br />
Von dort aus hat sie durch die großen Fenster auf der Gartenseite<br />
beobachtet, was im Haus geschieht. Das Licht aus der<br />
Küche und dem Wohnzimmer fällt auf die nackten Stämme der<br />
Kiefern und die Zapfen auf dem trockenen Rasen.<br />
Der ältere Mann kommt zurück und bleibt in der Tür zur<br />
Küche stehen. Die beiden anderen hören auf, sich zu küssen, und<br />
gehen zu ihm.<br />
Saga lässt das Teleobjektiv der Kamera auf der Oberkante<br />
des Zauns ruhen, um ein stabiles Bild zu bekommen, aber die<br />
drei haben sich bereits in den Flur bewegt.<br />
Lisas Mann war gemeinsam mit Saga auf der Polizeihochschule<br />
und landete ziemlich früh in der Wache Norrmalm in<br />
Stockholm. Er hat den Verdacht, dass seine Frau ihn betrügt,<br />
wenn er in der Nachtschicht ist, hat sie aber noch nicht zur Rede<br />
gestellt.<br />
Stattdessen nahm er Kontakt zum Detektivbüro auf, in dem<br />
Saga zurzeit arbeitet. Obwohl sie ihn im Erstgespräch darauf<br />
hinwies, dass man die Wahrheit oft gar nicht wirklich wissen<br />
möchte, entschied er sich dafür, sie anzuheuern.<br />
18
Lisa befindet sich jetzt zusammen mit den beiden Männern<br />
direkt vor dem dunklen Schlafzimmer. Es ist nicht zu erkennen,<br />
was sie dort tun, aber ihre Schatten bewegen sich über die Leisten<br />
und die geöffnete Tür.<br />
Saga kontrolliert, dass die Filmkamera wirklich läuft.<br />
Das Display ist schwarz, bis einer der Männer die Stehlampe<br />
am Nachttisch einschaltet. Alle drei haben sich fast vollständig<br />
entkleidet. Lisa steht mit dem Rücken zum Fenster, zieht den<br />
Slip herunter, steigt aus ihm heraus und kratzt sich am rechten<br />
Oberschenkel.<br />
An der Taille hat sie Spuren <strong>von</strong> der Naht der Strumpfhose<br />
und auf einer Wade blaue Flecken.<br />
Die Wände sind honigfarben, und das große Bett hat ein<br />
gewundenes Kopfteil aus Messing.<br />
Die Lampe glänzt im Glas einer gerahmten Fotografie des<br />
Boxers George Foreman, das an der Wand hängt.<br />
Der junge Mann setzt sich auf die Bettkante und verdeckt<br />
mit seinem Körper den Großteil des Lichts, das <strong>von</strong> der Lampe<br />
ausgeht.<br />
Der Ältere legt sich hin und nimmt ein Kondom aus der<br />
obersten Schublade des Nachttischs. Lisa nähert sich, setzt sich<br />
rittlings auf seine Schienbeine und wartet, bis er bereit ist.<br />
Sie sagt etwas, und er nimmt ein gelbes Zierkissen vom Boden<br />
und schiebt es unter seinen Hintern.<br />
Lisa kriecht zu ihm hinauf und küsst ihn auf die Brust und<br />
den Mund. Kurz bevor sie ihn in sich aufnimmt, verschwindet<br />
ihr Gesicht wieder im Schatten.<br />
Der Jüngere sitzt immer noch auf der Bettkante und versucht,<br />
ausreichend steif zu werden, damit er sich ein Kondom<br />
überziehen kann.<br />
Die schnellen Stöße des Geschlechtsverkehrs setzen sich bis<br />
zur Stehlampe fort, sodass die Fransen unter dem Schirm zittern.<br />
19
Saga wartet darauf, dass Lisas Gesicht wieder sichtbar wird.<br />
Solange ihr Gesicht beim Geschlechtsakt selbst nicht auf<br />
dem Film zu erkennen ist, kann sie die Untreue leugnen. Sie<br />
könnte es später bereuen, einen anderen Mann geküsst zu haben,<br />
und behaupten, dass sie das Haus in dem Augenblick verließ, als<br />
eine andere Frau kam.<br />
Die Mechanismen des Leugners gehen Hand in Hand mit<br />
denen des Lügners.<br />
In dem Haus hinter Saga wird eine Lampe eingeschaltet.<br />
Lisa hält inne, legt eine Hand auf den Rücken des jungen<br />
Manns und sagt etwas. Er greift nach einer Flasche mit Öl, die<br />
auf dem anderen Nachttisch steht.<br />
Sie sitzt immer noch rittlings auf den Hüften des älteren<br />
Manns und beugt sich vor, als der jüngere sich hinter sie kniet.<br />
Lisas Schenkel zittern vor Schmerz, als er anal in sie eindringt.<br />
Die drei sind für einen Augenblick regungslos, bevor die<br />
beiden Männer vorsichtig zu stoßen beginnen.<br />
Das Licht ist immer noch zu schlecht.<br />
Saga hört, wie jemand hinter ihr über die Rasenfläche geht,<br />
sieht hastig über die Schulter und vermutet, dass der Nachbar<br />
sie entdeckt hat.<br />
»Das hier ist ein privates Grundstück«, sagt er. »Sie können<br />
nicht einfach …«<br />
»Polizeieinsatz«, fällt sie ihm ins Wort und sieht ihn an.<br />
»Halten Sie bitte Abstand.«<br />
Der Mann mit dem weißen Schnurrbart und der Jägerweste<br />
nähert sich ihr mit gestresstem Blick.<br />
»Darf ich Ihren Ausweis sehen?«<br />
»Gleich«, antwortet Saga und sieht wieder in die Kamera.<br />
Das Gegenlicht fällt an den drei Personen auf dem Bett vorbei<br />
und wirft einen Schatten auf das verstaubte Glas des Fensters.<br />
Manchmal ist das Gesicht des jüngeren Manns im Profil zu<br />
20
erkennen, die Nase und der gespannte Mund. Ein nasses Körperteil<br />
glitzert im Lichtschein auf, schaukelnde Hinterteile, ein<br />
gekrümmter Nacken und angestrengte Oberschenkel.<br />
»Ich rufe die Polizei«, sagt der Nachbar.<br />
Einer der drei stößt zufällig gegen den Nachttisch, sodass die<br />
Stehlampe umfällt und gegen den Sessel gelehnt liegen bleibt.<br />
Plötzlich ist Lisas Gesicht vollständig beleuchtet. Ihr Mund<br />
ist offen und die Wangen rot. Sie sagt etwas und schließt die<br />
Augen, die weißen Brüste schwingen, und das Haar schaukelt<br />
vor ihrem Gesicht.<br />
Saga filmt eine Weile weiter, beendet dann die Aufnahme,<br />
befestigt den Linsenschutz und klettert <strong>von</strong> der Schubkarre herun<br />
ter. Der Nachbar weicht vor ihr zurück und drückt das Handy<br />
ans Ohr. Sie zeigt ihren abgelaufenen Dienstausweis der Säpo,<br />
als der Mann gerade jemanden bei der Notrufzentrale erreicht.<br />
Saga überquert seinen Rasen, klettert über den Zaun und<br />
folgt der Straße bis zum Badesteg. Ihr Motorrad steht auf dem<br />
Parkplatz neben den Mülltonnen.<br />
Nachdem sie die Kamera in ihrem Rucksack untergebracht<br />
hat, ruft sie ihren Chef an und blickt auf die flachen Klippen<br />
und das dunkle Wasser hinaus.<br />
»Henry Kent«, meldet er sich.<br />
»Entschuldige, dass ich so spät noch anrufe, aber du wolltest,<br />
dass ich direkt Bericht erstatte …«<br />
»So sind die Regeln«, unterbricht er sie.<br />
»Okay, bin jetzt auf jeden Fall fertig hier, und alles ist im Film<br />
festgehalten.«<br />
»Gut.«<br />
Sagas blondes Haar ist zu einem langen Pferdeschwanz gebunden,<br />
und trotz der dunklen Ringe unter den Augen und der<br />
tiefen, senkrechten Furche in der Stirn ist sie nach wie vor einzigartig<br />
schön.<br />
21
»Ich frage mich nur … kann ich die Kamera vielleicht erst<br />
morgen im Büro abgeben? Es ist schon so spät.«<br />
»Die Kamera muss sofort abgegeben werden«, antwortet er.<br />
»Es ist nur so, dass ich früh aufstehen muss und …«<br />
»Was ist denn daran so schwer zu begreifen?«, fällt er ihr mit<br />
lauter Stimme ins Wort.<br />
»Nichts, ich wollte nur …«<br />
Sie verstummt, als sie merkt, dass er das Gespräch beendet<br />
hat, seufzt und steckt das Handy in die Innentasche der Jacke,<br />
zieht den Reißverschluss hoch, setzt den Helm auf und steigt<br />
auf ihr Motorrad. Sie rollt vom Parkplatz und fährt die Straße<br />
zwischen den Wochenendhäusern entlang.<br />
Nach ihrer langen Krankschreibung wollte Saga nicht auf<br />
ihre Stelle bei der Säpo zurückkehren, sondern schickte eine<br />
Bewerbung an die NOA. Die Personalchefin antwortete, dass es<br />
gerade keine freien Stellen gebe, aber sie natürlich ihre Kompetenz<br />
sehr schätzten und an ihr interessiert seien. Sie versprach,<br />
mit der Führungsebene über ihre Bewerbung zu sprechen.<br />
Schließlich hieß es, dass Saga, obwohl sie sich fit genug<br />
fühlte, wieder als Polizistin zu arbeiten, erst eine Freigabe <strong>von</strong><br />
der Betriebspsychologin des Krisen- und Traumazentrums benötige,<br />
bevor sie eingestellt werden könne.<br />
Bis die Genehmigung vorliegen würde, arbeitet Saga weiter<br />
für das Detektivbüro Kent GmbH, deckt Seitensprünge auf und<br />
macht Background-Checks. Abgesehen <strong>von</strong> der Detektivarbeit<br />
verbringt sie fast ihre ganze freie Zeit als Begleitperson für zwei<br />
Kinder mit Down-Syndrom.<br />
Saga lebt allein, hat aber eine sexuelle Beziehung mit dem<br />
Anästhesisten, der vor über drei Jahren die Narkose bei ihrer<br />
Halbschwester im Karolinska-Krankenhaus in Huddinge<br />
durch geführt hat.<br />
Es ist halb vier Uhr morgens, als sie vor der Tür des Detek-<br />
22
tivbüros in der Norra Stationsgatan steht, den Türcode eingibt,<br />
mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock fährt, aufschließt und<br />
die Alarmanlage deaktiviert.<br />
Saga kontrolliert routinemäßig die Post im Plastikkorb<br />
hinter der Tür und findet einen mit Klebeband verschlossenen<br />
Karton, auf dem ihr Name steht. Sie nimmt ihn mit zu ihrem<br />
Arbeitsplatz, legt ihn auf den Schreibtisch. Nachdem sie sich in<br />
den Computer eingeloggt hat, nimmt sie die Speicherkarte aus<br />
der Kamera, drückt sie in den Kartenleser, lädt den Film herunter<br />
und speichert ihn.<br />
Saga ist müde im Kopf, und ihr Blick verliert sich hinter dem<br />
Fenster im nächtlichen Verkehr <strong>von</strong> Norrtull, auf den Wegen,<br />
Brücken und den leuchtenden Öffnungen der Straßentunnel.<br />
Als die Festplatte des Computers zu knarren beginnt, wird<br />
sie aus ihren Träumereien gerissen und steht auf, nimmt die Kamera,<br />
schließt sie im Tresor ein und kehrt an ihren Arbeitsplatz<br />
zurück.<br />
Die Augen brennen vor Müdigkeit, als sie das braune Paketband<br />
abreißt, den Karton öffnet und unter die Lampe hält. Sie<br />
steckt die rechte Hand hinein und holt etwas heraus, das in eine<br />
zerknitterte Kinderzeichnung gewickelt ist.<br />
Über der Schreibtischplatte faltet sie die Zeichnung auseinan<br />
der. Ein kleines Bündel aus weißem Leinenstoff mit Spitzenrand<br />
kommt zum Vorschein.<br />
Sie nimmt einen Stift und faltet den dünnen Stoff auseinander,<br />
der sich um einen grauen Gegenstand geschlossen hat.<br />
Es ist eine Zinnfigur – nicht größer als zwei Zentimeter.<br />
Das Licht glänzt auf dem grauen Metall.<br />
Sie dreht die Lampe und sieht, dass es sich bei der kleinen<br />
Zinnfigur um einen Mann mit Vollbart handelt, dessen schmale<br />
Schultern in einen Mantel gehüllt sind.<br />
23
3<br />
Die Glasscherben auf dem Teppichboden zerbrechen unter<br />
Joona Linnas Sohlen, als er langsam durch das Hotelzimmer<br />
geht.<br />
Der Mann mit dem faltigen Gesicht hängt mit gebrochenem<br />
Nacken in einer Schlinge und schaukelt knirschend in der Fensteröffnung<br />
hin und her.<br />
Die Vorderseite des Hemds ist getränkt <strong>von</strong> dem Blut, das<br />
aus der tiefen Furche getreten ist, die das Seil hinterlassen hat.<br />
Kleine Glasstücke fallen klirrend auf den Blechsims unter ihm.<br />
Sein letztes Flüstern hallt in Joona nach.<br />
Die Worte winden sich wie eine Schlange durch seinen Körper,<br />
ohne einen Weg zu finden oder nach draußen zu gelangen.<br />
Joona weiß, dass der hängende Mann tot ist, dass sein Genick<br />
gebrochen ist, aber er ist trotzdem gezwungen, seinen Puls zu<br />
fühlen.<br />
Vorsichtig streckt er die Hand nach ihm aus, als plötzlich das<br />
Handy klingelt.<br />
Joona öffnet die Augen, nimmt das Telefon vom Nachttisch<br />
und meldet sich mit gedämpfter Stimme, bevor das zweite Klingeln<br />
ertönt.<br />
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe«, sagt ein Mann.<br />
Joona verlässt das Bett, sieht, dass Valeria ihre verschlafenen<br />
Augen öffnet, tätschelt ihr die Wange und geht mit dem Handy<br />
in die Küche.<br />
24
»Worum geht es?«, fragt er leise.<br />
»Mein Name ist Valid Mohammed, ich arbeite im Polizeibezirk<br />
Stockholm Süd. Folgendes ist passiert: Um halb eins ging<br />
ein Notruf <strong>von</strong> Margot Silvermans Frau Johanna ein … Margot<br />
war um neun Uhr herum zum Gestüt Beatelund in der Nähe<br />
<strong>von</strong> Gustavsberg auf Värmdö gefahren und hätte längst wieder<br />
zu Hause sein sollen. Johanna konnte die Kinder nicht alleine zu<br />
Hause lassen, machte sich aber Sorgen, dass Margot ein Unglück<br />
zugestoßen sein könnte, also schickte die Einsatzleitstelle eine<br />
Einheit … und gerade haben die Kollegen Bericht erstattet …<br />
Sie haben Margot nicht gefunden, aber sehr viel Blut auf dem<br />
Boden, im Stall … Ich weiß nicht, aber ich kann mir vorstellen,<br />
dass Sie das interessiert.«<br />
»Danke, ich fahre direkt dorthin«, antwortet Joona. »Können<br />
Sie dafür sorgen, dass niemand etwas berührt? Es ist wichtig,<br />
bitten Sie die Kollegen vor Ort, dass sich niemand bewegt, bis<br />
ich komme. Ich übernehme den Fall, und ich bringe meinen<br />
eigenen Techniker mit.«<br />
Joona beendet das Gespräch, ruft seinen alten Freund Erixon<br />
an und berichtet ihm <strong>von</strong> den Umständen.<br />
Es ist jetzt fünf Minuten nach zwei.<br />
Der Streifenwagen ist vor einer Dreiviertelstunde am Tatort<br />
eingetroffen.<br />
Es sind fünfundneunzig Minuten vergangen, seit Johanna<br />
die 112 angerufen hat.<br />
Es wäre sinnlos, jetzt noch Straßensperren einzurichten. Sie<br />
können nur noch den Tatort untersuchen, um herauszufinden,<br />
was sich dort abgespielt hat.<br />
»Okay«, flüstert Erixon.<br />
»Ich weiß, dass du Probleme mit dem Rücken hast, aber<br />
ich …«<br />
»Keine Sorge.«<br />
25
»Ich brauche den besten Techniker, den wir haben«, erklärt<br />
Joona.<br />
»Aber weil er um diese Uhrzeit nicht ans Telefon ging, hast<br />
du mich stattdessen angerufen«, scherzt Erixon in einem Versuch,<br />
seine Besorgnis zu überspielen.<br />
Sobald sie verabredet haben, sich an der Einfahrt zum Stall<br />
zu treffen, kehrt Joona ins Schlafzimmer zurück und beginnt<br />
sich anzuziehen. Valeria verlässt das Bett in ihrem dünnen<br />
Nachthemd und zieht eine Strickjacke über.<br />
»Was ist denn los?«, fragt sie.<br />
Joona bindet sich hastig die Armbanduhr um, ein Geschenk<br />
<strong>von</strong> seiner Tochter Lumi. Sie meinte, das Ziffernblatt habe dieselbe<br />
graue Farbe wie seine Augen.<br />
»Ein Kollege hat angerufen«, antwortet er und knöpft die<br />
Hose zu. »Ich muss los, es ist …«<br />
Er verstummt, und sie begegnet seinem Blick.<br />
»Jemand, den du kennst«, beendet sie seinen Satz.<br />
»Ja, es geht um Margot, sie ist vom Reiten nicht nach Hause<br />
gekommen«, antwortet er und zieht sich das Hemd an.<br />
»Was sagen die Einsatzkräfte, die zuerst vor Ort waren?«<br />
»Sie haben ihr Auto gefunden und im Stall ihr Blut«, antwortet<br />
er.<br />
»Du lieber Gott …«<br />
»Ich weiß.«<br />
Er eilt zum Waffenschrank, gibt die Zahlenkombination ein,<br />
holt seinen Colt Combat heraus, hängt sich das Holster über die<br />
Schulter und zieht auf dem Weg in den Flur die Riemen fest.<br />
Valeria folgt ihm, küsst ihn hastig und schließt die Tür ab, als er<br />
zu den Fahrstühlen läuft.<br />
Während die Garagentore sich zur Seite öffnen, denkt Joona<br />
an Margot und wie sie sich kennengelernt haben. Sie war hochschwanger,<br />
war gerade zur Kommissarin befördert worden und<br />
26
ließ ihn an ihren Ermittlungen teilnehmen, obwohl er kein Polizist<br />
mehr war.<br />
Er fährt die Rampe hinauf und in die schmale Nebengasse,<br />
biegt nach links in den Sveavägen ab und beschleunigt auf dem<br />
Weg zum Klaratunnel.<br />
Zu dieser Zeit herrscht so gut wie kein Verkehr.<br />
Stockholm verschwindet hinter ihm. Hochhäuser und erleuchtete<br />
Einkaufszentren gleiten vorbei, Industriegebäude,<br />
Eigenheimsiedlungen und schließlich schwindelerregende Brücken<br />
über Meeresarme und Buchten.<br />
Joona Linna ist Kommissar in der Nationalen Operativen<br />
Abteilung der Polizei. Er hat mehr komplizierte Mordfälle gelöst<br />
als irgendein anderer Polizist in Nordeuropa. Er lebt seit<br />
sechs Jahren mit Valeria de Castro zusammen und hat eine erwachsene<br />
Tochter aus seiner ersten Ehe.<br />
Zwei Streifenwagen stehen links und rechts <strong>von</strong> der Zufahrtsstraße<br />
zum Stall.<br />
Das Blaulicht kreist über die Bäume und den Asphalt. Es<br />
sieht aus, als würde Wasser <strong>von</strong> kräftigen Windböen über den<br />
Boden getrieben.<br />
Erixons Kastenwagen parkt auf der anderen Seite der Straße.<br />
Er wohnt in Gustavsberg, nur fünf Minuten <strong>von</strong> hier entfernt.<br />
Joona fährt an den Straßenrand und hält an, geht zu den Kollegen,<br />
begrüßt sie und bittet sie dann, die Zufahrt abzusperren.<br />
Die Nachtluft ist frisch.<br />
Alles ist still und dunkel – abgesehen vom Pferdehof gibt es<br />
hier keine Bebauung, nur Wald und Wiesen.<br />
Erixons mächtiger Körper bewegt sich im Scheinwerferlicht<br />
des Kastenwagens.<br />
Er steht vor den Reifenspuren, die Autos im Sand hinterlassen<br />
haben, als sie die Ausfahrt zum Ingarövägen geschnitten<br />
haben. Er füllt flüssigen Gips in jeden Abdruck und sorgt da-<br />
27
für, dass die Reifen in der ganzen Umdrehung abgebildet werden.<br />
»Lass uns hoffen, dass das alles nur ein Irrtum ist«, sagt er leise.<br />
»Ja«, antwortet Joona.<br />
Sie setzen sich in Erixons Wagen und fahren das kurze Stück<br />
zum eigentlichen Stall. Die Scheinwerfer öffnen in der Dunkelheit<br />
einen Tunnel aus weißen Baumstämmen und Wiesengras.<br />
Der Schotter knirscht unter den Reifen.<br />
Sie kommen an Weiden mit einer Reihe <strong>von</strong> Futterautomaten<br />
und einem zertrampelten Paddock vorbei, bevor sie Margots<br />
Auto auf dem Parkplatz entdecken.<br />
Erixon fährt an den Rand und hält an.<br />
Noch gibt es nichts zu sagen. Sie ziehen die Einwegoveralls<br />
über und gehen zum Auto, fotografieren es und leuchten mit<br />
ihren Taschenlampen in die Fenster.<br />
Das Licht wird vom Glas reflektiert und fällt schließlich in<br />
den Innenraum: Lenkrad und Sitze, eine Dose mit einem Energydrink<br />
im Handschuhfach, Süßigkeitenverpackungen und ein<br />
dicker Ordner <strong>von</strong> der NOA.<br />
Sie gehen weiter zum Stall.<br />
Die Scheinwerfer des ersten Streifenwagens vor Ort beleuchten<br />
einen Traktor und einen Brennnesselstreifen vor einem roten<br />
Hausgiebel.<br />
Drei Dohlen krächzen nervös über einer Baumgruppe.<br />
Erixon fotografiert, sprüht Fixativ in alle Fuß- und Reifenspuren,<br />
markiert sie mit Nummernzetteln und trägt Notizen in<br />
das Protokoll ein.<br />
Ein Kollege in Uniform steht regungslos im Licht des geöffneten<br />
Kofferraums des Streifenwagens und hält eine Rolle mit<br />
Absperrband in der Hand.<br />
»Wo ist dein Partner?«, fragt Joona.<br />
»Drinnen im Stall«, antwortet er mit einer müden Geste.<br />
28
»Bleib hier stehen«, sagt Erixon und beginnt die Spuren um<br />
ihn herum zu sichern.<br />
Joona weiß, es ist eine Binsenweisheit, wenn man sagt, dass<br />
das Wahrscheinliche oft der Wahrheit entspricht, aber manchmal<br />
muss man es sich trotzdem noch einmal vor Augen führen,<br />
wenn die Hoffnung in die eigenen Gedanken einsickert.<br />
Er kann die Vorstellung noch nicht akzeptieren, dass er vermutlich<br />
zu Johanna und den Kindern nach Hause fahren und<br />
ihnen berichten muss, dass Margot tot ist.<br />
Erixon und Joona nähern sich dem Stall mit vorsichtigen<br />
Schritten. Die Außenbeleuchtung ist ausgeschaltet, aber das<br />
Licht dringt durch die Spalten an der Tür nach draußen, und<br />
man sieht, dass ein Teil des Bodens verschmutzt ist.<br />
»Kannst du es mit Infrarot ausleuchten?«, fragt Joona.<br />
»Das sollte ich wohl«, seufzt Erixon.<br />
Er geht zu seinem Kastenwagen und holt die Ausrüstung auf<br />
einem Wägelchen, packt die Lampe aus und schaltet sie an.<br />
»Jesus …«<br />
Der Schotter vor der Tür verblasst in dem unsichtbaren Licht,<br />
während das Blut in schwarzen, strähnigen Flecken scharf hervortritt.<br />
Obwohl der Boden gereinigt worden ist, sieht man große<br />
Mengen <strong>von</strong> Blut in einer deutlichen Linie, die <strong>von</strong> der Tür aus<br />
in gerader Richtung nach draußen führt und nach zwei Metern<br />
aufhört.<br />
Erixon fotografiert und schaufelt den verschmutzten Schotter<br />
<strong>von</strong> fünf unterschiedlichen Stellen in fünf einzelne Pappschachteln.<br />
»Ich muss hineingehen«, sagt Joona.<br />
Erixon geht zum Stall, sucht nach Fingerabdrücken auf dem<br />
Handgriff, auf allen Seiten der Tür, auf dem Türrahmen und auf<br />
den benachbarten Wänden.<br />
29
»Mein Mentor hat immer Gummibänder an den Schuhen<br />
befestigt, und ich verschwende hier Trittplatten«, sagt er und<br />
reißt die Plastikfolie <strong>von</strong> einem Stapel Platten auf.<br />
Er öffnet die Tür, legt die erste Platte schnaufend auf die<br />
Schwelle und zieht sich Überschuhe an.<br />
Joona folgt ihm in den Stall.<br />
Die Gitter der Boxen glänzen im gelben Licht der Deckenlampen.<br />
Der andere Polizist steht regungslos vor der Sattelkammer.<br />
Eine große Blutlache befindet sich mitten auf dem Betonboden<br />
der Stallgasse. Von der Lache läuft eine lange Schleppspur<br />
bis zu dem Platz, an dem der Boden gereinigt worden ist.<br />
Parallele Blutstreifen <strong>von</strong> den Rändern des Schrubbers sind<br />
auf dem ganzen Weg zur Tür zu erkennen.<br />
Der Täter ist rückwärtsgegangen und hat die Fußspuren hinter<br />
sich beseitigt.<br />
»Joona Linna«, sagt der Polizist. »Ich hatte schon fast geglaubt,<br />
es würde dich in Wirklichkeit gar nicht geben, aber dann<br />
dachte ich, dass … dass es genauso gut ist, ganz still zu stehen,<br />
wenn du trotzdem existierst.«<br />
»Danke.«<br />
Während Erixon Trittplatten verlegt, betrachtet Joona den<br />
Tatort. Alle Pferde dösen in ihren Boxen, abgesehen <strong>von</strong> einem<br />
schwarzen Wallach, der sich unruhig auf dem Waschplatz bewegt.<br />
Der Täter wollte das Verbrechen nicht verbergen, denkt<br />
Joona. Er wollte nur die Spuren seiner eigenen Schuhe <strong>von</strong> der<br />
Unterlage entfernen.<br />
Erixon beleuchtet den Boden mit einer kräftigen Handlampe,<br />
aber es befinden sich keine Fußspuren auf der Stallgasse.<br />
Er seufzt, probiert einen anderen Einfallswinkel aus, bevor er<br />
aufgibt.<br />
30
»Es gibt keine Fußspuren … und der Türgriff ist abgewischt«,<br />
sagt er.<br />
Joona schreitet auf den Trittplatten voran.<br />
Der Großteil der ursprünglichen Blutlache ist mittlerweile<br />
getrocknet, aber in der Mitte hat sich ein schleimiges Koagel<br />
gebildet.<br />
Kein verspritztes Blut, keine auffällige Rückstreuung.<br />
Margot wurde mit einer Einhandwaffe erschossen.<br />
Eine Pistole mit einer relativ langsamen Austrittsgeschwindigkeit<br />
und Hohlspitzmunition, weil die Patrone in ihrem Körper<br />
stecken blieb.<br />
Erixon feuchtet einen Tupfer nach dem anderen mit Natrium<br />
chloridlösung an, nimmt trockenes Blut auf und legt es in<br />
Verpackungen für biologische Stoffe.<br />
Joonas Blick ist konzentriert, als er sich langsam vorwärtsbewegt<br />
und <strong>von</strong> den Schatten durchströmt wird, die diese Abdrücke<br />
hinterlassen haben.<br />
Es ist viel Blut, aber wie lange sie hier gelegen hat, ist nicht<br />
leicht festzustellen. Das Blut floss jedenfalls noch aus ihrem<br />
Körper, ohne zu koagulieren, als sie weggeschleppt wurde.<br />
Ein schwarzer Futtertrog steht schief, und eine etwa zehn<br />
Zentimeter lange Spur aus abgeriebenem Kunststoff ist auf dem<br />
Boden zu erkennen.<br />
»Was denkst du?«, fragt Erixon, der Joonas Blick gefolgt<br />
ist.<br />
»Kannst du Bluestar um die Lache herum versprühen?«, antwortet<br />
dieser.<br />
Erixon holt die Flasche und besprüht alle Oberflächen, auf<br />
denen kein sichtbares Blut zu erkennen ist.<br />
Die chemischen Substanzen im Spray verleihen dem Blut<br />
eine vorübergehende Lumineszenz. Auch der kleinste Tropfen<br />
beginnt in einem eisblauen Licht zu strahlen.<br />
31
Joona steht regungslos da und versucht den Tatort mit größerer<br />
Genauigkeit zu lesen, jetzt, da jeder Spritzer Blut sichtbar<br />
ist.<br />
Er registriert die Form jedes noch so kleinen Tropfens in Abhängigkeit<br />
vom Untergrund und der Schwerkraft.<br />
Fünfunddreißig Zentimeter <strong>von</strong> der Lache entfernt leuchtet<br />
ihm der kalte Schein einiger schwacher Flecken entgegen.<br />
Joona geht über die Trittplatten dorthin und beugt sich vor.<br />
Reste <strong>von</strong> rosa Lippenstift sind neben den Blutflecken auf<br />
dem Beton zu erkennen.<br />
Ihr Gesicht prallte hart auf den Boden, als sie fiel.<br />
Erixon fotografiert, und Joona geht weiter auf die andere<br />
Seite, beugt sich hinunter und betrachtet eine Reihe <strong>von</strong> sechs<br />
selbstleuchtenden Blutstropfen auf der rechten Seite der Lache.<br />
Weil Blut eine höhere Oberflächenspannung hat als Wasser,<br />
zerplatzen Tropfen nicht, die auf eine halbwegs ebene Oberfläche<br />
fallen, sondern behalten ihre geraden Ränder, genau wie<br />
diese Tropfenreihe auf dem geglätteten Betonboden.<br />
Die fünf ersten Tropfen sind ein wenig spitz aufgrund einer<br />
nach rechts gerichteten Bewegungsenergie, während der letzte<br />
vollkommen rund ist.<br />
»Kannst du nach Überresten der Zündhütchen in diesen<br />
Tropfen suchen?«, sagt Joona und zeigt auf die Reihe.<br />
»Das hat bisher noch nie jemand gewollt, aber natürlich kann<br />
ich das machen«, antwortet Erixon.<br />
»Der Täter ist Rechtshänder und hat die Mündung <strong>von</strong> hinten<br />
gegen ihren Körper gedrückt, einen Schuss abgefeuert und<br />
die Bewegung ein Stück mitgemacht, als sie fiel, bevor er die<br />
Waffe ungefähr so schwang, ziemlich langsam, und dann innehielt.«<br />
»Du denkst, dass diese Tropfen vom Lauf der Pistole stammen?«<br />
32
»Margot stürzte nach vorn, mit der Kugel im Körper, traf mit<br />
dem Gesicht auf den Beton und schlug sich die Lippen auf.«<br />
»Wir wissen nicht, ob es Margots Blut ist«, wendet Erixon<br />
ein.<br />
»Aber es ist ihr Lippenstift.«<br />
»Bist du dir sicher?«<br />
»Ich kenne sogar die genaue Farbnuance.«<br />
»Das ist eine schlechte Nachricht«, murmelt Erixon.<br />
»Ja, Margot war noch am Leben, sie hat versucht, sich an<br />
dieser Wanne festzuhalten.«<br />
»Ich versuche es mit Amidoschwarz.«<br />
»Der Täter schleppte sie an den Füßen nach draußen, während<br />
sie noch lebte, hob sie ins Auto, fuhr ein Stück vor, ging<br />
zurück in den Stall und entfernte die Spuren, wischte die Klinke<br />
und die Tür ab, fegte dann den Schotter bis zum Auto glatt,<br />
nahm den Besen mit und fuhr weg.«<br />
33
4<br />
Der Sund liegt still wie ein Seidenlaken im diesigen Sonnenschein.<br />
Die kleine Gesellschaft macht ihr geliehenes Motorboot<br />
in einer Bucht an der westlichen Seite der Insel fest. Sie legen<br />
die Rettungswesten ab, packen aus und gehen die zehn Schritte<br />
über den Sandstrand hinauf bis zum Waldrand, wo sie Rast machen.<br />
Emma stützt sich auf die Krücke und überlegt, ob sie den<br />
anderen sagen sollte, dass sie noch jung genug sind, um einen<br />
Spaziergang <strong>von</strong> hundert Metern zu schaffen.<br />
Samir ist außer Atem und hustet in sein kariertes Taschentuch.<br />
Lennart klappt zitternd seinen Stuhl auf und setzt sich,<br />
während Sonja ihren gelborangen Mantel ein wenig anhebt, um<br />
sich auf einen Stein zu setzen und ihren Rucksack zu öffnen.<br />
»Niemand fasst das Essen an, bevor wir da sind«, sagt Lennart.<br />
»Ich werde nur ein paar Drogen zu mir nehmen«, antwortet<br />
sie und holt eine Pillendose heraus.<br />
Sie haben gekochte Eier dabei, Kartoffelsalat, kalte Frikadellen<br />
mit Dijonsenf, Thunfischschnittchen und vier Bierflaschen,<br />
Pfannkuchenrollen mit Himbeermarmelade, Kaffee in einer<br />
Thermoskanne und eine kleine Flasche Cognac.<br />
Emma zündet sich eine Zigarette an und blickt auf ihre Fußspuren<br />
im Sand zurück, die an Treibholz und Müll vorbeiführen,<br />
die hier an Land getrieben sind. Aus größerer Entfernung<br />
34
sieht es so aus, als hätte jemand vor nicht allzu langer Zeit etwas<br />
Schweres den ganzen Strand hinauf an den Waldrand geschleppt.<br />
»Bernie, manchmal sehe ich alles wie durch eine Glasscherbe«,<br />
flüstert sie.<br />
Obwohl ihr Mann Bernie verstorben ist, redet sie noch mit<br />
ihm. Manchmal öffnet sie den Kleiderschrank und spricht mit<br />
seinem Sommeranzug. Vor ihren Freunden behauptet sie, dass<br />
ihr die Freiheit gefällt, aber in Wirklichkeit vermisst sie Bernie<br />
jeden Tag.<br />
»Wollen wir aufgeben und der jungen Generation den ganzen<br />
Spaß überlassen?«, fragt Samir.<br />
»Nein, verdammt«, antwortet Lennart und steht auf.<br />
Emma führt sie um die verwitternden Klippen herum in<br />
den windgepeinigten Wald. Ihre Krücke bleibt zwischen zwei<br />
Baumwurzeln stecken, die aus dem Boden ragen. Als sie versucht,<br />
sie loszureißen, fühlt es sich an, als würde jemand daran<br />
ziehen, direkt in den Boden hinein.<br />
Kurz überlegt sie, den Ausflug abzubrechen, zu behaupten,<br />
dass sie sich nicht gut fühlt, aber dann geht sie doch ein bisschen<br />
näher an die Lichtung heran, bevor sie die Gesellschaft wieder<br />
rasten lässt.<br />
Lennart klappt erneut seinen Stuhl auf, und Samir sagt mit<br />
einem Lächeln, dass vor seinen Augen Flecken herumschwirren.<br />
»Ich spucke Blut«, murmelt Sonja.<br />
Nachdem alle Freunde ihre Partner an den Tod verloren hatten,<br />
gründeten sie die Gesellschaft Okkulte Senioren. Ihr Motto:<br />
Unser Vorsprung ist der eine Fuß im Grab! Sie reisen zu Orten,<br />
die <strong>von</strong> Geistern heimgesucht werden, nehmen an Seancen teil<br />
und treffen sich mit Schamanen. Keiner <strong>von</strong> ihnen glaubt an<br />
Gespenster, aber alle finden es eine spannende Art, Zeit miteinan<br />
der zu verbringen, und einige Male haben sie einen richtigen<br />
Schrecken bekommen.<br />
35
»Hört mir mal zu«, sagt Emma und stellt sich vor die anderen<br />
drei. »Die Cholera hat im neunzehnten Jahrhundert in Europa<br />
ungefähr hundert Millionen Menschenleben gefordert.«<br />
»Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen«, witzelt<br />
Lennart.<br />
»Marx behauptete daraufhin, dass die Geschichte sich wiederholt«,<br />
fährt Emma fort. »Zuerst als Tragödie, dann als Farce.<br />
Schwedische Behörden wollten die Seuche an den Grenzen aufhalten,<br />
und man richtete eine Quarantänestation für Schiffe aus<br />
Russland und Finnland auf einer Insel namens Fejan ein.«<br />
»So muss es sein«, murmelt Sonja.<br />
In der Ferne krächzt eine Krähe, als sich gerade eine Wolke<br />
vor die Sonne schiebt. Der ganze Wald bekommt plötzlich eine<br />
unfreundliche Atmosphäre.<br />
»Fejan liegt ungefähr vier Kilometer ostwärts«, fährt Emma<br />
fort und zeigt mit der Krücke. »Und alle, die auf Fejan gestorben<br />
sind, wurden auf unbewohnten Inseln begraben … hier vorne<br />
liegt zum Beispiel einer der größten Cholerafriedhöfe in den<br />
Schäreninseln.«<br />
Sie richten alle ihren Blick auf die Lichtung, die zwischen<br />
den Krüppelkiefern und den gebeugten Stämmen zu erahnen<br />
ist.<br />
»Und hier spukt es?«, fragt Lennart.<br />
»So wie die Hämorrhoiden in deinem Hintern«, murmelt<br />
Sonja.<br />
»Ich kann dich leider nicht verstehen«, sagt er und dreht ihr<br />
das gesunde Ohr zu.<br />
Sonja stellt seufzend die Picknicktasche auf den Boden und<br />
betritt die Lichtung. Das Heidelbeergestrüpp zittert hinter ihr,<br />
und Emma sieht ihren gelborangen Mantel zwischen den Bäumen<br />
verschwinden.<br />
»Jetzt mal im Ernst«, fährt Emma fort. »Ich habe jede Menge<br />
36
Texte aus dem Volkskundearchiv und der Schärenstiftung gelesen<br />
… kein einziger Schärenbewohner würde freiwillig auf dieser<br />
Insel an Land gehen, aber …«<br />
Sie verstummt, als sie plötzlich das Gefühl hat, eine Gestalt<br />
zwischen den Stämmen und Sträuchern zu sehen, direkt hinter<br />
Sonja. Es ist ein kurz gewachsener Mann, der Bernies Leinenanzug<br />
trägt. Er ist viel zu groß für ihn, und die Schultern sind<br />
seltsam schief.<br />
»Kommt her«, ruft Sonja.<br />
Die drei betreten die Lichtung und sehen, dass sie vor einem<br />
länglichen Paket steht, das auf dem Boden liegt und dessen<br />
schmaleres Ende an einen Birkenstamm gelehnt ist. Das Paket<br />
ist vielleicht zwei Meter lang und aus Baumwolltuch und Plastik<br />
hergestellt, das mit Schnüren umwickelt ist, die sich in den<br />
umliegenden Bäumen verheddert haben.<br />
»Was soll das denn sein?«<br />
Emma wird klar, dass es genau das ist, was sie für eine Gestalt<br />
zwischen den Bäumen in Sonjas Rücken gehalten hat. Sie fragt<br />
sich, ob es während eines Sturms hierhergeweht sein könnte.<br />
Vielleicht handelt es sich um Schwimmwesten oder Fender, die<br />
in altes Segeltuch gewickelt sind.<br />
»Ein Kunstprojekt?«, fragt Samir mit einem Lächeln.<br />
Emma drückt mit der Krücke auf das Paket und spürt, dass<br />
es weich ist wie ein Kuheuter und gleichzeitig viel zu schwer, um<br />
vom Wind verweht worden zu sein.<br />
Lennart murmelt vor sich hin, öffnet sein Klappmesser und<br />
tritt heran.<br />
»Wir lassen lieber die Finger da<strong>von</strong>«, sagt Emma. »Es kommt<br />
mir …«<br />
Sie verstummt, als er einen tiefen Schnitt in den dicksten<br />
Teil des Pakets macht. Aus der Öffnung quillt ein grauer Brei<br />
mit braunroten Streifen und fällt in Klumpen auf das Gras. Ein<br />
37
stechender, chemischer Geruch lässt sie zurückweichen. Als der<br />
wässerigste Schleim im Boden versickert ist, erkennen sie einen<br />
zur Hälfte aufgelösten Fuß im Gras, umgeben <strong>von</strong> Klumpen aus<br />
braunem Gelee.<br />
38<br />
*<br />
Die Ermittlungen zum Verschwinden <strong>von</strong> Margot Silverman<br />
beschäftigen zurzeit dreiunddreißig Polizisten in Vollzeit sowie<br />
fünfzehn Experten beim Nationalen Forensischen Zentrum.<br />
Als Kommandoraum für das gesamte Unterfangen dient der<br />
große Konferenzraum der Nationalen Operativen Abteilung.<br />
Fünf Kriminalkommissare sitzen an dem großen Tisch, auf<br />
dem sich Wassergläser, Kaffeebecher, Computer, Notizblöcke,<br />
Stifte und Lesebrillen befinden.<br />
Es fällt ihnen nicht leicht, sich während dieser Ermittlungen<br />
professionell und neutral zu verhalten. Schon mehrere Male ist<br />
der Stress in Auseinandersetzungen aufgeflammt.<br />
»Verdammt, wir reden hier über Margot, unsere Margot«, hat<br />
Petter Näslund geschrien, bevor er den Raum verließ.<br />
Dieser innere Kreis wird <strong>von</strong> Kommissar Manvir Rai geleitet.<br />
Seine Eltern stammen aus Goa, und er betont gerne, dass er<br />
keinerlei Vorurteile gegenüber Menschen kennt, die keine Portugiesen<br />
sind.<br />
Er ist sprachgewandt und scharfsinnig, hat die Stirn stets<br />
in Falten gelegt und trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes<br />
Hemd und eine schmale schwarze Krawatte.<br />
Er hat ein kurzes Briefing vorbereitet mit Fotos aus dem<br />
Reitstall <strong>von</strong> Beatelund auf Värmdö.<br />
Staubpartikel bewegen sich in glitzernden Strömen durch<br />
das Licht des Projektors.<br />
Abschließend geht Manvir denkbare Bedrohungsszenarien
durch, Ermittlungen, für die Margot verantwortlich war, sowie<br />
Drohungen, die sich gegen den Polizeiapparat als solchen richten.<br />
»Wir haben ein Team, das heute Abend einen ersten Bericht<br />
vorlegen wird. Sie checken Personen, die aus den Haftanstalten<br />
entlassen worden sind oder Hafturlaub haben«, beschließt Manvir<br />
seinen Vortrag und überlässt Joona das Wort.<br />
Joona steht auf, lässt sein Jackett auf der Rückenlehne hängen<br />
und stellt sich vor die anderen Kommissare.<br />
Sein Hemdkragen ist geöffnet und die Ärmel aufgekrempelt,<br />
er sieht erschöpft aus, beinahe fiebrig, aber die Augen sind intensiv<br />
grau wie geschliffenes Titan.<br />
Obwohl er viel Zeit vor dem Computer in seinem Büro verbringt,<br />
berichten seine Muskeln und seine zahlreichen Narben<br />
<strong>von</strong> den vielen Jahren, die er als Polizist im Feld war, und <strong>von</strong><br />
seiner militärischen Nahkampfausbildung.<br />
»Wie ihr wisst, konnte das Nationale Forensische Zentrum<br />
bestätigen, dass es Margots Blut war, das sich auf dem Boden befand,<br />
dass es ihr Urin und ihr Rückenmark und ihre Cerebrospinalflüssigkeit<br />
waren«, beginnt er. »Es wird mit voller Kraft daran<br />
gearbeitet, die Fußspuren und Fingerabdrücke mit den üblichen<br />
Besuchern des Stalls abzugleichen. Es handelt sich um zweitausendachthundert<br />
Abdrücke, aber es ist eher unwahrscheinlich,<br />
dass wir darunter eine Spur des Täters finden.«<br />
»Er ist vorsichtig, aber kein Profi«, wirft Manvir ein.<br />
»Wir haben Reifenspuren eines leichten Lastkraftwagens an<br />
der Ausfahrt zum Ingarövägen, die mit keinem der Fahrzeuge<br />
übereinstimmen, die den Ort regelmäßig besuchen – möglicherweise<br />
stammen sie <strong>von</strong> dem Auto, das wir suchen.«<br />
»Und was sind die nächsten Schritte?«, fragt Greta Jackson.<br />
Greta ist Profilerin und hat einen Doktor in Verhaltenswissenschaften<br />
und Kriminologie.<br />
39
Sie hat hellblaue Augen und kurze, mit Grau durchsetzte<br />
Haare, trägt enge Hosen und eine blassrosa Samtjacke.<br />
»Wir warten immer noch auf mehrere Analysen«, antwortet<br />
Joona. »Und ich habe gerade erst bestätigt bekommen, dass der<br />
Handabdruck auf dem Trog für Grobfutter, den ihr auf dem Bild<br />
gesehen habt, <strong>von</strong> Margot stammt, was bedeutet, dass sie lebte,<br />
als sie hinausgeschleppt wurde … ich wiederhole das hier noch<br />
einmal, damit klar ist, dass eine Möglichkeit bestehen könnte,<br />
ihr Leben zu retten … Ich weiß, dass ihr alle bereit seid, alles<br />
zu geben, aber ich möchte trotzdem betonen, dass wir es extrem<br />
eilig haben, weil der Schuss sie ins Rückgrat getroffen hat.«<br />
»Wissen wir mit Sicherheit, dass sie angeschossen wurde?«,<br />
fragt Greta.<br />
»Ich kann das Blutbild auf keine andere Weise deuten«, antwortet<br />
Joona. Kurz darauf wird an die Tür geklopft.<br />
Saga Bauers ehemaliger Freund Randy Young betritt den<br />
Konferenzraum, in der Hand hält er sein Diensttelefon. Er trägt<br />
eine Jeans, einen dunkelblauen, gestrickten Pullover und eine<br />
Brille mit schwarzem Gestell. Randy hat sich vor vierzehn Monaten<br />
<strong>von</strong> der Dienststelle für interne Ermittlungen zur NOA<br />
versetzen lassen.<br />
»Joona, du hast einen Anruf <strong>von</strong> Stockholm Nord, ich glaube,<br />
es ist wichtig«, sagt Randy und gibt ihm das Handy.<br />
»Linna«, meldet er sich und hört einen hastigen Atemzug.<br />
»Hallo, ich wollte nur sagen, dass … dass … Wir haben die<br />
Ereignisse um Margot Silverman ja verfolgt, über den Einsatzkanal«,<br />
sagt ein Mann mit brüchiger Stimme. »Und ich glaube,<br />
dass wir jetzt … Man kann es nicht bestätigen, aber … du lieber<br />
Gott, ich …«<br />
»Mit wem rede ich denn gerade?«, fragt Joona.<br />
»Entschuldigung, Rickard Svenbro aus Norrtälje, Kriminalinspektor.«<br />
40
Es wird wieder still, und Joona hört ein leises Wimmern. Der<br />
Kollege steht offensichtlich unter Schock und hat Schwierigkeiten,<br />
zusammenhängende Sätze zu bilden.<br />
»Okay, Rickard, ich höre dir zu, lass dir Zeit«, sagt Joona leise.<br />
»Also, wir haben die Überreste gefunden, <strong>von</strong> einem Menschen,<br />
glauben wir, man kann es nicht beschreiben, das ist alles<br />
verdammt widerwärtig, vollkommen widerwärtig.«<br />
»Wo befinden sich diese Überreste?«<br />
»Wo? Auf dem Boden … auf einer kleinen Insel direkt vor<br />
dem Hafen <strong>von</strong> Kapellskär.«<br />
»Kannst du mir sagen, auf welche Weise sie widerwärtig<br />
sind?«<br />
»Es ist ein aufgelöster Körper, mit Säure, nehme ich an …<br />
aber mitten in diesem Schleim lag ein Flachmann, der Name<br />
Ernest Silverman ist darauf eingraviert.«<br />
41
5<br />
Joona sitzt im Freizeitbereich der Enskede-Schule und wartet,<br />
gemeinsam mit Astrid, einem der Kinder mit Down-Syndrom,<br />
für die Saga als Begleitperson arbeitet.<br />
Astrid ist elf Jahre alt, hat dunkles, langes Haar und große,<br />
verträumte Augen, ihre Schultern sind rund, und ihr Gesicht<br />
wirkt fast immer glücklich.<br />
Sie hat eine weiße Plastikschüssel mit verschiedenen Nagellackfläschchen<br />
vor sich stehen. Während sie ihre Lieblingsfarben<br />
herausholt und vor Joona aufstellt, erzählt sie ihm, wie jeder einzelne<br />
Farbton heißt.<br />
»Rouge Noir«, sagt sie und hält einen Nagellack hoch.<br />
»Hübsch«, sagt er.<br />
»Würde der dir gefallen?«<br />
»Ich weiß nicht, ich mag auch Rosa«, antwortet er.<br />
Sie sucht in der Plastikschüssel und stellt dann ein kleines,<br />
spitzes Glasfläschchen vor ihn hin.<br />
»Lady Like.«<br />
»Mein Favorit«, sagt er.<br />
Joona ist direkt <strong>von</strong> Kapellskär hierhergefahren, während<br />
Eri xon mit sechs anderen Technikern auf der Insel geblieben ist.<br />
Der natürliche Hafen ist ein kleiner Sandstrand, wie ein Keil<br />
in die Westseite der felsigen Insel hineingeschlagen.<br />
Der Körper wurde am Rand der Strandfläche nach oben geschleppt,<br />
aber die Fußabdrücke des Täters sind verwischt worden.<br />
42
Erixon sicherte zwar einige Spuren im Wald, aber angesichts<br />
der Sorgfalt, mit der der Täter vorging, hält Joona es für unwahrscheinlich,<br />
dass eine <strong>von</strong> ihnen zu ihm führt.<br />
Fliegen krochen surrend über den Fuß und die erhalten gebliebenen<br />
Skelettteile im Gras.<br />
Als Erixon mit Åhlén telefonierte, sagte er, dass die Überreste<br />
dem Mageninhalt eines Raubtiers ähnelten, ganz oder teilweise<br />
verdaute Nahrung.<br />
»Die innere Schicht des Beutels besteht aus säurebeständigem<br />
Gummi, und ich gehe da<strong>von</strong> aus, dass der Täter Natriumhydroxid<br />
verwendete, um den Körper aufzulösen«, erklärt er.<br />
Joona wollte nicht darüber nachdenken, aber er hält es durchaus<br />
für möglich, dass Margot noch am Leben war, als die chemische<br />
Zersetzung begann.<br />
Astrids Mund ist angespannt vor Konzentration, und die langen<br />
Augenlider zittern hinter den Brillengläsern, als sie Joonas<br />
Nägel rosa anmalt.<br />
»Entschuldige«, flüstert sie und lächelt breit, als ein Farbklecks<br />
auf der Fingerspitze zurückbleibt.<br />
»Ich habe zu kurze Nägel.«<br />
»Ja, aber es wird trotzdem hübsch.«<br />
»Sehr hübsch«, bemerkt er mit einem Lächeln.<br />
Joona verfolgt die weichen Pinselstriche mit seinem Blick,<br />
und nach einer Weile glättet sich eine tiefe Furche in seiner Stirn.<br />
Sie hinterlässt einen blassen Strich, der langsam verschwindet,<br />
als das Mädchen die Hand wechselt.<br />
Saga hat ihn angerufen und gesagt, dass sie ihn sofort treffen<br />
müsse, aber als er kam, musste sie Nick noch helfen, nach dem<br />
Fußballspiel zu duschen.<br />
Joona bedankt sich bei Astrid und pustet gerade seine Nägel<br />
trocken, als Saga und Nick in den Freizeitbereich kommen.<br />
Saga trägt gebleichte Jeans, Basketballschuhe und einen<br />
43
gestrickten Islandpullover. Ihr langes Haar ist in einem festen<br />
Zopf geschnürt und das Gesicht nackt und ungeschminkt.<br />
Joona steht auf und zeigt seine Nägel.<br />
»Wow«, sagt Nick mit einem Lachen.<br />
»Attraktiv«, bemerkt Saga.<br />
Joona bedankt sich bei Astrid und sagt, dass er sich noch<br />
nie so hübsch gefühlt habe. Sie verlassen den Freizeitbereich,<br />
und Saga sorgt dafür, dass die Kinder in den Schulbus kommen.<br />
Dann gehen Joona und sie gemeinsam im Sonnenschein über<br />
den Bürgersteig.<br />
»Wie ist das Leben als Privatdetektivin?«, fragt Joona mit<br />
einem schiefen Lächeln.<br />
»Es ist wirklich ziemlich unerträglich.«<br />
»Tut mir leid.«<br />
»Ja, aber ich brauche einen Job – sonst falle ich aus jeder<br />
Versicherung.«<br />
»Du weißt, dass du dir jederzeit Geld leihen kannst, wenn …«<br />
»Ich weiß«, fällt sie ihm ins Wort. »Vielen Dank, aber es ist<br />
gut so, ich komme zurecht … ich muss nur irgendwie zurück zur<br />
Polizei kommen.«<br />
»Natürlich.«<br />
»Ich habe mich tatsächlich auf eine Stelle in der NOA beworben«,<br />
erzählt sie.<br />
»Nicht bei der Säpo?«<br />
»Nein, ich glaube, mit denen bin ich durch«, antwortet sie.<br />
»Ich brauche einen konkreten Job, ich bin gut bei Mordermittlungen,<br />
das kann ich am besten … im Grunde träume ich da<strong>von</strong>,<br />
mit dir zusammenzuarbeiten.«<br />
»Das wäre großartig«, sagt er leise.<br />
»Aber sie werden meine Bewerbung gar nicht erst ansehen,<br />
solange ich keine Freigabe vom Psychologen habe.«<br />
»So ist es immer.«<br />
44
»Ich brauche das wirklich«, sagt sie, ohne ihn anzusehen.<br />
Um überhaupt die Chance auf eine Empfehlung vom Polizeipsychologen<br />
zu bekommen, muss sie Einsicht zeigen und<br />
ihre psychische Verfassung stabil, ihre wirtschaftliche Situation<br />
gefestigt sein wie auch ihr soziales Leben, am besten würde sie<br />
in einer festen Beziehung leben.<br />
»Jedenfalls … ich habe dich gebeten hierherzukommen, weil<br />
ich nur eine halbe Stunde habe, bevor ich zur nächsten Besprechung<br />
muss«, erklärt sie und bleibt vor ihrem Motorrad stehen.<br />
»Mein Chef hält mich auf Trab wie ein, tja, ich weiß nicht was …<br />
aber es ist ja auch egal, denn ich muss … Ich habe das Gefühl,<br />
dass ich wirklich mit dir über den Fund draußen bei Kapellskär<br />
sprechen muss, ich kann dir nicht sagen, wer es mir erzählt hat,<br />
aber …«<br />
»Randy.«<br />
»Ich sage nichts dazu«, erwidert sie mit einem Lächeln.<br />
Joonas Herz krampft sich zusammen, als er sieht, wie sich<br />
die Gehetztheit in ihrem strahlend blauen Blick zurückmeldet.<br />
Saga holt eine Plastikmappe aus dem Rucksack und gibt sie ihm.<br />
Durch den trüben Kunststoff ist die Ansichtskarte zu sehen, die<br />
sie vor drei Jahren bekommen hatte.<br />
Ich habe eine blutrote Pistole der Marke Makarow. Im Magazin<br />
stecken neun weiße Kugeln. Eine da<strong>von</strong> wartet auf Joona Linna.<br />
Die Einzige, die ihn retten kann, bist du.<br />
<br />
Artur K Jewel<br />
Joona erkennt sie wieder und nickt, dreht die Ansichtskarte um<br />
und betrachtet die Schwarz-Weiß-Fotografie <strong>von</strong> 1898, auf der<br />
der alte Cholerafriedhof in Kapellskär zu sehen ist, wo man<br />
Margot gefunden hat.<br />
»Ich weiß, aber Jurek Walter ist tot«, sagt er.<br />
45
»Aber der Biber lebt.«<br />
»Er sitzt wegen Totschlags in einem Gefängnis in Belarus,<br />
wir haben versucht, ihn nach Hause zu bekommen, aber es gibt<br />
kein Auslieferungsabkommen.«<br />
Der Biber war <strong>von</strong> Jurek rekrutiert worden und war ihm bis<br />
zu dessen Tod vollkommen ergeben. Danach war er spurlos verschwunden,<br />
bis zum vergangenen Jahr, als Interpol ihn in einer<br />
Justizvollzugsanstalt in Belarus identifizierte.<br />
Eine Böe rauscht durch eine Baumkrone, und ein paar<br />
blonde Locken, die sich aus Sagas Zopf gelöst haben, wehen<br />
ihr ins Gesicht.<br />
»Okay, aber … also ich spüre, dass dieser Mörder, auf irgendeine<br />
Weise, <strong>von</strong> Jurek geformt worden ist.«<br />
»Ich weiß es wirklich nicht, Saga … es ist ein etwas seltsames<br />
Zusammentreffen, das mit dem Cholerafriedhof, das gebe ich zu,<br />
aber … aber es ist eine sehr gewagte Vermutung, dass der Mord<br />
an Margot mit mir zu tun haben könnte, ich meine …«<br />
»Aber es geht doch um dich, auf jeden Fall«, fällt sie ihm<br />
ins Wort und dreht die Ansichtskarte wieder um. »Für mich …<br />
also ich sehe es so, dass Margots Tod eine Art Bestätigung der<br />
Echtheit ist, wie ein Stempel, der besagt, dass die Bedrohung für<br />
dich real ist.«<br />
»Diese Karte ist drei Jahre alt«, wendet er ein.<br />
»Und jetzt geschieht es.«<br />
46
6<br />
Saga parkt das Motorrad und betritt die Dunkelheit in der<br />
Star Bar. Fernsehschirme an den Wänden zeigen ein deutsches<br />
Fußballspiel. Der Boden ist zerkratzt, und die Flaschen hinter<br />
dem Tresen erstrahlen in einer blauen LED-Beleuchtung.<br />
Simon Bjerke sitzt in voller Polizeiuniform in einer der hinteren<br />
Nischen. Er hat ein großes Bier vor sich stehen und sieht<br />
in einen Computer, der mit Aufklebern übersät ist.<br />
Sein Gesicht ist faltig, der Schnurrbart schlecht gestutzt und<br />
die Augen angeschwollen. Als er Saga erblickt, schaltet er den<br />
Computer aus und lehnt sich zurück, die Arme verschränkt er<br />
vor der Brust.<br />
»Saga Bauer, die Klassenbeste, die Schönste …«<br />
»Das hast du schon letztes Mal gesagt.«<br />
»Die Schönste der Klasse, die Schlaueste, kein Flaschendrehen<br />
und keine Techtelmechtel, landet bei der Säpo … und jetzt<br />
ist sie wieder zusammen mit uns anderen zurück auf dem Boden<br />
der Tatsachen.«<br />
»Man hat nicht alles in der Hand«, seufzt sie und setzt sich<br />
ihm gegenüber an den Tisch.<br />
»Du wolltest mir etwas zeigen«, sagt er und trinkt einen<br />
Schluck Bier.<br />
»Wir haben die Ermittlungen abgeschlossen, und du hast<br />
nun das Recht, jetzt oder zu einem Zeitpunkt deiner Wahl an<br />
den Ergebnissen teilzuhaben«, erklärt Saga.<br />
47
Er betrachtet sie mit einem trüben Blick.<br />
»Ich habe das Recht, daran teilzuhaben?«<br />
»Du kannst dich auch dagegen entscheiden«, sagt sie.<br />
»Sie ist also untreu?«, fragt Simon mit einem angespannten<br />
Lächeln, und unter seinem rechten Auge beginnt ein Muskel<br />
zu zucken.<br />
»Soll ich darauf antworten?«, fragt Saga.<br />
»Bist du dir sicher? Meine Lisa? Ich meine, es kann kein<br />
Irrtum sein?«<br />
»Möchtest du wissen, zu welchen Ergebnissen wir gekommen<br />
sind?«, fragt Saga.<br />
»Warum lächelst du so? Was gibt es da zu lachen?«<br />
»Ich lächele nicht, ich versuche in einer Situation freundlich<br />
zu bleiben, die dich offensichtlich aufwühlt.«<br />
»Ich bin nicht aufgewühlt, ich will nur die Wahrheit wissen.«<br />
»Die Wahrheit worüber?«<br />
»Ob meine Frau eine verdammte Hure ist.«<br />
Erneut wird es still, und Simon trinkt einen weiteren Schluck<br />
Bier. Saga sieht, dass seine Hand zittert, als er das Glas wieder<br />
abstellt.<br />
»Du bist zu uns gekommen, weil du den Verdacht hattest,<br />
dass deine Frau sich mit einem anderen Mann trifft, wenn du …«<br />
»Ich deute das so, dass sie es tut«, unterbricht er sie.<br />
Saga überreicht ihm eine dunkelgraue Mappe mit der silbernen<br />
Aufschrift »Detektivbüro Kent GmbH« ganz oben am<br />
rechten Rand.<br />
»Hier steht ganz genau drin, was wir gefunden haben, welche<br />
Beobachtungen wir gemacht und welche Schlussfolgerungen<br />
wir daraus gezogen haben … und hier sind auch alle Anlagen<br />
und Bilder«, sagt sie und gibt ihm einen USB-Stick.<br />
Simon klappt den Rechner auf und schließt den Speicherstick<br />
an. Der Bildschirm ist übersät <strong>von</strong> Fingerabdrücken und<br />
48
Spritzern. Die Lampen oberhalb des Tresens spiegeln sich<br />
schräg darin.<br />
»Vielleicht solltest du zuerst den Bericht lesen«, empfiehlt<br />
Saga.<br />
Er markiert die Filmdatei, öffnet sie und startet die Aufnahme.<br />
Eine Stehlampe ist umgefallen und liegt halb auf dem Sessel,<br />
ihr Schein breitet sich in doppelten Ellipsen über die Wände<br />
aus und beleuchtet seine Frau, während sie mit zwei Männern<br />
Geschlechtsverkehr hat.<br />
Lisa sitzt rittlings auf dem einen Mann und stützt sich neben<br />
dessen Körper mit den Händen auf dem Bett ab.<br />
Ihre Wangen sind rot und der Mund geöffnet. Die tiefe Narbe<br />
auf ihrer Oberlippe verblasst mit jedem keuchenden Atemzug.<br />
Der andere Mann kniet hinter Lisa, hält sie an den Hüften<br />
fest und stößt nach vorn, sein Blick ist konzentriert, und sein<br />
Rücken glänzt vor Schweiß, bevor der kurze Filmausschnitt endet.<br />
»Scher dich zum Teufel«, brüllt Simon und bespritzt Saga<br />
mit seinem Bier. »Du bist so eine Sau, so ein verdammter Abschaum<br />
…«<br />
Die wenigen Gäste an den Tischen drehen sich zu ihnen um,<br />
und der Barkeeper nähert sich. Sagas Bluse und ihre Hose sind<br />
durchnässt. Ohne ein Wort zu sagen, steht sie auf und verlässt<br />
die Nische.<br />
»Ich hoffe, dass du stirbst«, ruft Simon ihr nach. »Ich hoffe,<br />
dass du vergewaltigt wirst und erniedrigt und dass du stirbst …«<br />
Sie tritt auf die Straße, sieht auf die Uhr im Handy und stellt<br />
fest, dass sie es nicht schafft, nach Hause zu fahren und die Kleidung<br />
zu tauschen. Ihr Chef hat einen sehr engen Zeitplan für<br />
alle Angestellten aufgestellt, und er ist ein echter Kontrollfreak.<br />
Alle anderen Detektive des Büros sind mit unterschiedlichen<br />
49
Aufträgen unterwegs, und der Chef möchte nicht, dass die Zentrale<br />
unbesetzt ist, wenn er um zwei Uhr ins Fitnessstudio geht.<br />
Außerdem muss sie bis vier Uhr noch ihren Bericht über ein<br />
Insidergeschäft fertig machen, das einen Familienbetrieb zerschlagen<br />
könnte.<br />
Saga bibbert in der nassen Kleidung, als sie zum Detektivbüro<br />
an der Norra Stationsgatan zurückfährt, sie nimmt den<br />
Aufzug in den dritten Stock und schließt die Tür auf.<br />
Die Lampen im menschenleeren Büro sind angeschaltet,<br />
Computer glimmen dunkel an den fünf Arbeitsplätzen, aber<br />
Henrys raue Stimme hört man auch durch die Glaswand.<br />
Er telefoniert in seinem Zimmer und hat wie gewohnt die<br />
Lamellengardinen vorgezogen.<br />
Saga eilt hinein, zieht sich die nasse Kleidung aus und hängt<br />
sie auf die Heizkörper, die sich unter den beiden Fenstern befinden.<br />
Sie setzt sich nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet in ihre<br />
Arbeitsnische, loggt sich schnell ein und beginnt sofort an ihrem<br />
Bericht zu arbeiten.<br />
Der abgewetzte, weiße BH ist <strong>von</strong> Bier getränkt, und der<br />
Saum der blauen Unterhose ist feucht.<br />
Ihre Schultern und Bauchmuskeln zeichnen sich scharf im<br />
Licht ihrer Arbeitsgeräte ab, obwohl sie schon seit einigen Jahren<br />
nicht mehr boxt.<br />
Saga schüttelt sich, als Henry in seinem Zimmer plötzlich<br />
verstummt. Überall im Büro sind Überwachungskameras, sogar<br />
auf den Toiletten, auch wenn er behauptet, dass sie nur nachts<br />
laufen.<br />
Sie hört auf zu schreiben und beginnt über die Ansichtskarte<br />
und Margots Überreste auf dem Cholerafriedhof <strong>von</strong> Kapellskär<br />
nachzudenken.<br />
Es beunruhigt sie, dass sie keine Ahnung hat, wie sie Joona<br />
schützen kann.<br />
50
Sie weiß, dass er sich nicht verstecken wird, dass er auch keinen<br />
Leibwächter akzeptieren wird.<br />
Saga kann den Gedanken nicht loswerden, dass seine Sorglosigkeit<br />
diesmal für ihn gefährlich werden könnte, dass es sich<br />
rächen wird, die Bedrohung zu unterschätzen.<br />
Die Tür zum Büro ihres Chefs wird geöffnet, und Saga kehrt<br />
zu ihrem Bericht zurück, hört, wie er Umschläge in das Fach für<br />
die ausgehende Post legt und über den Holzboden weitergeht.<br />
Henry Kent ist neununddreißig Jahre alt, hat kurzes, dunkles<br />
Haar und einen gestutzten Bart, eine kleine, gerade Nase und<br />
grüne Augen mit brauen Einsprengseln.<br />
Er trägt teure Anzüge und ist ein sehr sozialer Mensch.<br />
Sein Vater bestrafte ihn während seiner ganzen Kindheit, indem<br />
er ihm mit Zigaretten Brandwunden zufügte. Henry zeigt<br />
gerne die runden Narben, die seine Arme und seine Brust bedecken,<br />
und erzählt mit einem Lächeln, dass er seinen Vater hasst,<br />
obwohl er derjenige war, der ihn zur Disziplin erzogen hat.<br />
Er geht langsam zu den Fenstern hinter Saga und blickt<br />
auf den Berufsverkehr und die Brücken, die die Aussicht auf<br />
Brunnsviken und den Hagapark verdecken.<br />
»War der Kunde zufrieden?«, fragt er und wendet sich ihr zu.<br />
Sie hört auf zu schreiben und begegnet seinem Blick.<br />
»Ich habe mich an unsere Vorgehensweise gehalten, aber er<br />
wollte sich unbedingt den Filmausschnitt ansehen, wurde daraufhin<br />
wütend und schüttete sein Bier auf mich.«<br />
»Wir schreiben die Reinigung auf die Rechnung«, sagt er.<br />
»Wie ich gestern schon sagte, es wäre besser gewesen, wenn<br />
du ihm die Ergebnisse mitgeteilt hättest«, sagt sie.<br />
»Mein Anzug ist teurer als der Inhalt deines gesamten Kleiderschranks«,<br />
sagt er und geht auf sie zu.<br />
»Ich will damit nur sagen, dass es eine unangenehme Situation<br />
war«, erwidert Saga beharrlich.<br />
51
»Du kannst deine Unterwäsche auf dem Heizkörper in meinem<br />
Büro trocknen«, sagt Henry.<br />
»Sehr witzig«, seufzt Saga.<br />
»Oder bevorzugst du feuchte Schlüpfer?«<br />
»Hör auf«, warnt sie ihn und sieht ihm in die Augen.<br />
»Womit?«<br />
»Das weißt du genau.«<br />
»Ich habe nichts gegen MeToo, aber man darf doch wohl<br />
noch ein paar Scherze oder ein Kompliment machen«, antwortet<br />
er und begegnet ihrem Blick.<br />
»Da bin ich ganz deiner Meinung.«<br />
»Du siehst sehr schön aus, hast einen gut gebauten Körper.«<br />
»Okay, das reicht jetzt.«<br />
»Man kann sich auch bedanken«, antwortet Henry mit erhobener<br />
Stimme.<br />
»Danke.«<br />
»Ich weiß, dass du diesen Job brauchst.«<br />
»Wie ich bereits sagte, er ist sehr wichtig für mich.«<br />
»Wenn ich dich rausschmeiße, kommst du nicht mal mehr<br />
bei einem Wachdienst unter«, sagt er.<br />
»Da hast du wohl recht«, erwidert sie mit einem Nicken.<br />
Er wendet seinen Blick ab.<br />
»Ich muss bald gehen, schick mir den Vorgang Johnson versus<br />
Johnson vor vier Uhr.«<br />
»Auf jeden Fall, ich bin schon dabei.«<br />
Henry geht zur Tür, bleibt dann aber stehen und dreht sich<br />
noch einmal um.<br />
»Du glaubst wirklich, dass die NOA dich einstellen wird?<br />
Die Nationale Operative Abteilung?«<br />
»Hast du meine privaten Mails gelesen?«<br />
»Du wirst nie wieder Polizistin sein«, sagt er und verlässt den<br />
Raum.<br />
52
7<br />
An den Wochenenden hilft Joona Valeria immer in ihrer<br />
Gärtnerei in Nacka. Bei der körperlichen Arbeit hat er oft die<br />
besten Ideen.<br />
Obwohl alle bei der NOA Überstunden machen, um Margots<br />
Mörder zu finden, hat er das Gefühl, dass sie mit ihren<br />
Ermittlungen auf der Stelle treten.<br />
Es gibt wirklich nichts, was sie weiterbringen könnte.<br />
Der Mord an Margot scheint völlig rätselhaft, beinahe wie<br />
ein Irrtum.<br />
Der Spurenabgleich hat nichts ergeben, und sie warten immer<br />
noch auf den Bericht der rechtsmedizinischen Untersuchung<br />
und einige ausstehende Resultate aus dem Labor.<br />
Joona trägt acht Säcke Torf vom Erdkeller hinauf und legt sie<br />
auf den Boden neben den Hochbeeten.<br />
Er trägt finnische Stiefel, ein paar alte Jeans und einen meerblauen<br />
Strickpullover, der einige Farbflecken hat, seit Joona im<br />
Herbst die Holzverzierungen des Hauses neu gestrichen hat.<br />
Er hält inne und betrachtet Valeria, die eine mit Rasenerde<br />
gefüllte Schubkarre durch die Reihen Töpfe mit jungen Obstbäumen<br />
fährt.<br />
Sie hat ein Pflaster auf der Wange, und das lockige Haar ist<br />
voller Stroh und trockener Nadeln. Sie trägt Arbeitshandschuhe<br />
und Gummistiefel, die <strong>von</strong> getrocknetem Lehm bedeckt sind,<br />
schwarze Jeans und eine schmutzige rote Steppjacke.<br />
53
So schön, so großartig, denkt Joona.<br />
Er hat schon lange um ihre Hand anhalten wollen, und er<br />
glaubt, dass sie mit Ja antworten würde.<br />
Aber nicht, wenn sie die Wahrheit über ihn wüsste.<br />
Joona kann ihr nicht erzählen, dass er Opium raucht, wenn<br />
er das Gefühl hat, dass die Welt mit ihm nur zu einem noch<br />
schlechteren Ort wird.<br />
Er ist nicht abhängig, kehrt aber trotzdem immer wieder<br />
dazu zurück, obwohl er sich jedes Mal vornimmt, es nie wieder<br />
zu tun.<br />
Er kann den Gedanken nicht ertragen, Valeria zu verlieren<br />
oder sie traurig zu machen.<br />
Nach dem Gymnasium traf Valeria einen Mann, der einige<br />
Jahre älter war als sie, und sie verliebte sich heftig in ihn. Er<br />
war drogenabhängig, sie versuchte ihm zu helfen, bekam zwei<br />
Söhne, wurde am Ende aber selbst heroinabhängig und landete<br />
im Gefängnis, nachdem sie versucht hatte, acht Kilo Hasch aus<br />
Estland ins Land zu schmuggeln.<br />
Obwohl so viele Jahre vergangen sind, obwohl sie nie einen<br />
Rückfall erlitten hat, obwohl sie nach der Haft ihre beiden<br />
Söhne alleine erzogen und stets ihre Arbeit erledigt hat, hat sie<br />
sich immer noch nicht verziehen.<br />
Und sie würde auch ihm niemals verzeihen.<br />
Joona weiß selbst nicht, warum er manchmal so tief sinken<br />
muss, dass er kurz vor seiner eigenen Auslöschung steht.<br />
Er hat versucht, es als eine Art Trauerarbeit wegzuerklären,<br />
als wollte er sich seine eigene Schwäche eingestehen, damit er<br />
weiterkämpfen kann, aber das ist nicht die Wahrheit.<br />
Die Wahrheit ist, dass mit ihm etwas passierte, als er die<br />
Schlinge um Jurek Walters Hals legte. Joona kann immer noch<br />
das Echo <strong>von</strong> Jureks letztem Flüstern hören, wenn er in der<br />
Nacht aufwacht.<br />
54
Der Staub steigt in dem flachen Sonnenlicht auf, als Joona<br />
beginnt, den Torf hinaufzuschaufeln.<br />
Valeria hält inne, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und<br />
sieht den schmalen, rissigen Asphaltweg hinunter.<br />
Ein weißer Kastenwagen nähert sich.<br />
Joona lehnt die Schaufel an das Hochbeet, geht zu Valeria<br />
hinauf und stellt sich neben sie.<br />
»Das ist Erixon«, sagt er.<br />
»Wusstest du, dass er kommen wird?«<br />
»Nein, aber ich glaube, ich weiß, was er zu berichten hat«,<br />
antwortet er.<br />
Der Kastenwagen parkt auf dem Wendeplatz, die Tür wird<br />
geöffnet und eine Chipstüte fällt zu Boden, bevor Erixon mühsam<br />
herausklettert.<br />
»Was für einen Ort du hier hast«, sagt er zu Valeria und lässt<br />
den Arm kreisen. »Absolut zauberhaft.«<br />
»Danke«, erwidert sie mit einem Lächeln.<br />
Sie zieht sich einen der Handschuhe aus und gibt ihm die<br />
Hand.<br />
»Meine Liebe zu unseren Freunden im Pflanzenreich ist leider<br />
unerwidert geblieben … Hast du vielleicht auch Plastikblumen?«,<br />
scherzt er mit einem traurigen Blick.<br />
»Ich kann sie dir nach Hause liefern lassen«, entgegnet sie<br />
grinsend.<br />
»Sie werden dort trotzdem verwelken«, sagt Joona.<br />
»Vermutlich«, seufzt er.<br />
Sie wirft Joona einen kurzen Blick zu, um ihm zu zeigen,<br />
dass sie die Situation versteht.<br />
»Ich gehe schon mal rein und wasche mir den Dreck ab, damit<br />
ich Essen kochen kann – du darfst also gerne zum Abendessen<br />
bleiben, Erixon«, sagt Valeria und geht zum Haus.<br />
Sie sehen ihr nach, bleiben eine Weile schweigend stehen,<br />
55
schlendern planlos zu den Reihen aus jungen Bäumen und halten<br />
inne.<br />
»Diese Sache wollte ich nicht am Telefon erledigen, aber<br />
Margots DNA ist jetzt bestätigt, es waren ihre Überreste, die in<br />
diesem Sack steckten«, sagt Erixon.<br />
»Im Grunde wussten wir das ja schon«, sagt Joona und lässt<br />
sich auf einen Stapel Holzpaletten sinken.<br />
Erixon tritt ein paarmal in den Kies und betrachtet dann<br />
Joona aus leeren Augen.<br />
»Es war wirklich das Schrecklichste, was ich je gesehen<br />
habe … in diesem Paket aus Plastik und Stoff war ein Gummisack<br />
… der Körper wurde dort mit Natriumhydroxid aufgelöst,<br />
also Ätznatron … die Todesursache ist unmöglich festzustellen.«<br />
»Sie könnte also in diesem Sack noch am Leben gewesen<br />
sein?«<br />
»Ich weiß es nicht, hast du die Bilder aus der Rechtsmedizin<br />
gesehen?«<br />
Erixon gibt ihm einen Umschlag im C5-Format und wendet<br />
sich ab, bevor Joona ihn öffnet und zwei Farbfotografien heraus<br />
zieht.<br />
Auf dem ersten sieht man den Inhalt des Sacks auf einem<br />
Obduktionstisch mit hohen Kanten. Margots aufgelöstes Gewebe<br />
ist nur noch ein graugelber, halb durchsichtiger Schleim<br />
mit vereinzelten größeren Klumpen.<br />
Ein blutroter Fuß ohne Zehen kann neben dem beinahe entblößten<br />
Rückgrat erahnt werden.<br />
Auf der anderen Fotografie hat Åhlén die Chemikalien und<br />
die Flüssigkeiten weggespült und die Teile, die <strong>von</strong> Margot übrig<br />
geblieben sind, auf der Stahlplatte aufgereiht.<br />
Ein Schädel mit Haarresten, dazu Teile der Halsmuskulatur<br />
und die Kehle, nackte Skelettteile, ein Oberschenkel und ein<br />
graues, blutgestreiftes Stück des Beckens und des Gesäßes.<br />
56
»Was den Stall angeht«, sagt Erixon und räuspert sich kurz.<br />
»Du hattest natürlich recht, das Labor hat Rückstände der<br />
Zündhütchen in den fünf Blutstropfen gefunden, und das hier<br />
ist auch sehr interessant … es gibt wie erwartet Spuren <strong>von</strong> Antimon,<br />
aber auch <strong>von</strong> Kalium, Zinn und Quecksilber.«<br />
»Die Patrone hatte ein Zündhütchen mit Knallquecksilber«,<br />
sagt Joona und steckt die Bilder zurück in den Umschlag.<br />
»Ich habe diesen Umstand untersucht, aber solche Zündhütchen<br />
werden heutzutage nicht mehr hergestellt, sie wurden<br />
nur wenige Jahre im Ostblock verwendet, aber wenn man sucht,<br />
kann man sie in alten Munitionslagern noch finden.«<br />
»Habt ihr die Kugel in den Überresten gefunden?«, fragt<br />
Joona und drückt zwei Finger auf sein linkes Augenlid, als sich<br />
ein Anflug <strong>von</strong> Migräne bemerkbar macht.<br />
»Ja, ich habe sie im Wagen, ich dachte mir schon, dass du sie<br />
sehen willst.«<br />
Sie gehen zum Kastenwagen und hören, wie der Wind durch<br />
das Laub der jungen Obstbäume zieht.<br />
»Das Seltsame ist, dass der Mantel der Kugel vollkommen<br />
weiß ist, wie Schnee«, sagt Erixon und sieht Joona an.<br />
»Was ist das für ein Metall?«<br />
»Es könnte weiß gekochtes Silber sein … du weißt schon, jedes<br />
Silber, das verwendet wird, enthält ein bisschen Kupfer, sogar<br />
Sterling-Silber, aber ich glaube, dass der Täter den Silbermantel<br />
der Kugel erhitzt hat, bis das gesamte Kupfer oxidiert war …<br />
und danach hat er das Kupferoxid mit Säure weggeätzt, sodass<br />
der Mantel eine Schicht aus reinweißem Silber bekommen<br />
hat.«<br />
Erixon öffnet die Tür des Kastenwagens und klettert seufzend<br />
hinein, schaltet die Lampe über dem kleinen Schreibtisch<br />
an und löst die Riemen, die den Stuhl festhalten. Joona folgt<br />
ihm gebückt, damit er sich den Kopf nicht an der Decke stößt.<br />
57
»Es sind keine Fingerabdrücke darauf«, sagt er und zieht eine<br />
Schublade heraus. »Setz dich … und sag Bescheid, wenn du ein<br />
Phasenkontrastmikroskop brauchst.«<br />
»Danke.«<br />
Erixon holt eine Pinzette mit Porzellanschaufeln heraus,<br />
hebt die Kugel aus einem kleinen Karton und legt sie auf einen<br />
Objektträger aus Glas.<br />
Joona setzt sich an den Schreibtisch und ändert den Winkel<br />
der Lampe.<br />
Die Kugel ist kräftig verformt, der weiße Mantel ähnelt einer<br />
aufgeblühten Tulpe, und der Kern aus Blei ist geplättet wie ein<br />
Mantelknopf.<br />
»Hohlspitzgeschoss«, sagt Joona.<br />
»Der Durchmesser der Kugel beträgt 9,27, das ist ein Viertelmillimeter<br />
mehr als die Kugeln, die du verwendest«, erklärt<br />
Erixon.<br />
»Also handelt es sich um eine Makarow?«<br />
»Ja«, bestätigt Erixon und nickt.<br />
»Mit einem Zündhütchen mit Knallquecksilber und einem<br />
Mantel aus weiß gekochtem Silber.«<br />
»Das ist sehr seltsam«, seufzt er und sieht Joona an. »Aber<br />
offensichtlich nicht für dich?«<br />
»Doch«, erwidert Joona zögerlich.<br />
»Möchtest du mir erzählen, worum es hier geht?«<br />
»Wenn die Zeit gekommen ist«, antwortet Joona.<br />
Als Erixon sich wieder auf den Weg gemacht hat, stellt Joona<br />
die Schaufel und die Schubkarre in den Geräteschuppen. Die<br />
Sonne geht hinter den Baumkronen unter, und der Wald füllt<br />
sich mit Dunkelheit.<br />
Joona fragt sich erneut, was die makabre Entscheidung, Margots<br />
Körper aufzulösen, eigentlich bedeuten soll.<br />
Die Gärtnerei ist in eine graue Halbdämmerung gesunken,<br />
58
die Säcke mit dem Torf liegen in einer Reihe, und die Oberfläche<br />
der Regentonne ist eine glänzende Pupille.<br />
Die Verbindung zu der Ansichtskarte, die Saga bekommen<br />
hat, ist jetzt unbestreitbar. Artur K Jewel ist ein Anagramm <strong>von</strong><br />
Jurek Walter. Die Pistole, auf die sich der Absender bezieht, ist<br />
eine Makarow, und laut der Ansichtskarte soll das Magazin<br />
neun Kugeln enthalten.<br />
Eine dieser Kugeln ist für mich bestimmt, denkt Joona. Und<br />
laut dem Absender ist Saga die Einzige, die mich retten kann.<br />
Wer könnte diese Ansichtskarte geschrieben haben?<br />
Jurek Walters Familie ist erloschen, und der Biber, sein Helfershelfer,<br />
sitzt in Belarus im Gefängnis.<br />
Es handelt sich auch nicht um einen Nachahmungstäter –<br />
denn der Modus Operandi dieses Mörders erinnert in keiner<br />
Hinsicht an Jurek.<br />
Jurek hatte niemals mit Anagrammen und Rätseln gespielt,<br />
denkt Joona und geht auf die Reihe <strong>von</strong> leuchtenden Gewächshäusern<br />
zu.<br />
Um niemals Zeichnungen oder schriftliches Material zu hinterlassen,<br />
hatte er sich ein ausgeklügeltes Erinnerungssystem errichtet.<br />
Aus meiner Perspektive wirkte es damals wie ein Rätsel,<br />
erinnert sich Joona. Aber für Jurek war es nur ein visuelles System<br />
aus Koordinaten, um die Übersicht über die Gräber seiner<br />
Opfer zu behalten.<br />
Und er vollendete sein Gedankenmuster auch nicht – es gab<br />
keine Gräber auf dem letzten geografischen Punkt bei Moraberg.<br />
Aber es ist offensichtlich, dass die Person, die die Ansichtskarte<br />
schickte, auf Jurek Bezug nimmt – und damit auch auf<br />
mich und Saga, denkt er.<br />
Joona würde gerne das Gespräch mit Saga fortsetzen. Er<br />
nimmt sich vor, mit dem stellvertretenden Chef der NOA zu<br />
59
sprechen, damit dieser sie vorübergehend anstellen könnte, bis<br />
die Freigabe des Psychologen eintrifft.<br />
Eine blutrote Makarow mit neun weißen Kugeln.<br />
Die Patronen Makarow 9×18 Millimeter passen in die Pistole<br />
Makarow, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion<br />
entwickelt wurde und noch heute in modernisierter Form<br />
in weiten Teilen der Welt verwendet wird.<br />
Der Mörder schlich sich im Stall an Margot heran, schoss<br />
ihr ins Rückgrat, schleppte sie nach draußen, lud sie in das Auto<br />
und löste ihren Körper auf dem Cholerafriedhof <strong>von</strong> Kapellskär<br />
auf, einhundertzwanzig Kilometer vom Tatort entfernt.<br />
Joona leert den Laubeimer in den Kompost und blickt in die<br />
Dunkelheit zwischen den Baumstämmen, auf das Blaubeergestrüpp<br />
und die Heide, bis der Wald sich vollständig schließt.<br />
Ein hektischer Vogel bewegt sich ganz oben in den Ästen der<br />
nächstgelegenen Kiefer.<br />
Zwei Zapfen fallen zu Boden.<br />
Joona wendet sich ab, geht zurück zum Geräteschuppen und<br />
hört, wie sich hinter ihm das Gras in seinen Fußspuren wieder<br />
aufrichtet. Er hängt den Korb neben den Harken und Rechen<br />
auf und sieht zum Haus hinüber. Gelbes Licht fließt aus dem<br />
Küchenfenster, und Valerias Schatten bewegt sich über die Gardinen.<br />
Er rollt einen Schlauch auf die Winde, bemerkt, dass die Tür<br />
des hintersten Gewächshauses geöffnet ist, und wischt sich die<br />
Hände an den Hosenbeinen ab.<br />
Der Schotterweg knirscht unter seinen Sohlen.<br />
Er sieht sich selbst als Silhouette in den Glasscheiben gespiegelt,<br />
umrahmt <strong>von</strong> einem dunstigen Schein aus der Küche.<br />
Das scharfe Knattern eines Hubschraubers lässt sich für eine<br />
Weile erahnen, dann wird es wieder ruhig.<br />
Er geht an der Reihe der Gewächshäuser entlang und bleibt<br />
60
vor dem letzten stehen, das Valeria zum Teil als Aufbewahrungsort<br />
verwendet.<br />
Die Tür steht offen.<br />
Joona sieht hinein und entdeckt eine graue Katze, die um<br />
einen Sack mit Hühnermist herumschleicht.<br />
Er hält die Tür auf und geht ins Gewächshaus. Der Mittelgang<br />
ist mit Betonplatten belegt.<br />
Der bittere Duft <strong>von</strong> Tomatenpflanzen liegt in der Luft.<br />
Die Pflanzen streben links und rechts <strong>von</strong> ihm nach oben,<br />
drücken ihre Blätter gegen das Glas. Sie formen einen Gang, der<br />
in der Dunkelheit endet.<br />
Die Katze ist nicht mehr zu sehen.<br />
Ein Relais klickt, und anschließend erklingt das leise Zischen<br />
des Bewässerungssystems.<br />
Langsam geht er an den schmalen Pflanztischen entlang.<br />
Ganz hinten erahnt er den überfüllten Aufbewahrungsraum.<br />
Der Abendhimmel über dem Glasdach ist dunkel.<br />
Joona geht weiter.<br />
Die Katze faucht und verschwindet wieder.<br />
Es knackt, als ein Zweig außerhalb des Gewächshauses bricht.<br />
Ein Spaten mit einem gebrochenen Stiel steht in einem Kasten<br />
aus Holz.<br />
Joona bleibt stehen und betrachtet Valerias alte Möbel.<br />
Der große Mahagonischreibtisch neigt sich, weil zwei seiner<br />
Beine nachgegeben haben. Alles, was auf dem Möbel gestapelt<br />
war, ist zu Boden gerutscht. Valerias portugiesische Seemannskiste<br />
liegt mit offenem Deckel auf der Seite. Eine blaue Kachel<br />
mit einer Kompassrose ist zerbrochen, und ein paar Fotografien<br />
sind herausgefallen.<br />
Die Tür knarrt, und Joona fährt herum. Er greift nach dem<br />
Spatenstiel, lässt ihn aber wieder los, als Valeria die Deckenlampen<br />
einschaltet.<br />
61
»Hier versteckst du dich also«, sagt sie und kommt zu ihm.<br />
»Was ist denn passiert?«<br />
»Die Beine sind abgebrochen«, sagt er und zeigt darauf.<br />
»Ich kümmere mich morgen darum … das Essen ist fertig.«<br />
Er hebt die drei Fotografien vom Boden auf und gibt sie ihr.<br />
»Da wurde Papa vierzig«, sagt Valeria und zeigt ihm ein Studioporträt<br />
ihrer ganzen Familie.<br />
»Du solltest es einrahmen.«<br />
»Oder dieses hier«, schlägt sie mit einem Lächeln vor.<br />
Sie reicht ihm eine blasse Farbfotografie. Valeria ist vielleicht<br />
fünf Jahre alt, sie lächelt mit großen Zähnen und hat einen Fußball<br />
unter den Arm geklemmt.<br />
»Cool«, sagt er und sieht sie an.<br />
Sie steht mit gerunzelter Stirn da und betrachtet die letzte<br />
Fotografie. Drei Teenagermädchen mit offenem Haar und weißen<br />
Kleidern sind ins Wasser hinausgewatet. Sie tragen eine<br />
große hellblaue Skulptur, die eine Frau mit einem durchsichtigen<br />
Kleid und einem Schleier aus Perlen darstellt.<br />
»Bist du das da in der Mitte?«, fragt er.<br />
»Nein … das verstehe ich nicht … das hier ist ein bestimmtes<br />
Ritual … Mãe de Água, alle kennen es, aber meine Familie hat<br />
sich nie damit abgegeben, Papa war da ziemlich streng.«<br />
»Sind das deine Freunde?«<br />
»Nein … also, ich habe keine Ahnung, ich habe dieses Bild<br />
noch nie zuvor gesehen«, sagt sie nachdenklich.<br />
62<br />
*<br />
Brandon hat eine Kebab-Pizza Millennium mit extra Soße gegessen<br />
und beendet gerade sein fünftes großes Pils im Blå Krogen.<br />
Er sitzt dort mit dem Telefon in der Hand, springt <strong>von</strong> einem
Datingdienst zum anderen und hält die Gespräche am Laufen.<br />
Aber niemand ist bereit, sich heute Abend mit ihm zu treffen.<br />
Er denkt oft darüber nach, ob er nicht nach Uppsala zurückziehen<br />
sollte, schafft es aber nicht richtig, sein Leben in den<br />
Griff zu bekommen, und der Job im Seniorenzentrum Kristinagården<br />
ist eigentlich ganz in Ordnung.<br />
Er hat beschlossen, nie wieder zur Kirche zu gehen, aber<br />
seine Gedanken können sich nicht <strong>von</strong> dem geharkten Kiesplatz<br />
lösen, <strong>von</strong> den schmalen Wegen und den Parkbänken in<br />
der Dunkelheit zwischen den Laternenpfählen.<br />
Dort hatte er Erik getroffen.<br />
Er war Brandons einzige längere Beziehung. Sie hatte sieben<br />
Monate gedauert, bis zu dem Sommer, in dem Erik Interrail<br />
machen und frei sein wollte.<br />
Seit Brandon aufgehört hat zu hoffen, dass Erik zurückkommen<br />
würde, begann er beinahe zwanghaft in den Park an der<br />
Kirche zurückzukehren.<br />
Aber nichts, was es dort gibt, hilft ihm weiter, es stärkt nicht<br />
das Selbstwertgefühl, gibt keinen Trost und ist nicht einmal sexuell<br />
befriedigend.<br />
Im besten Fall intensiv und anstrengend genug, dass er einschlafen<br />
kann, wenn er nach Hause kommt.<br />
Seine alten Freunde halten sich am Fußballplatz oder im<br />
Zentrum <strong>von</strong> Hallstavik auf. Er möchte ihnen auf gar keinen<br />
Fall begegnen, darum hat er sich eine Zuflucht in diesem Teil<br />
der Stadt gesucht.<br />
Er trinkt den letzten Schluck, steht auf und schiebt den grünen<br />
Stuhl an den Tisch, stützt sich mit der Hand an einer der<br />
fleckigen Säulen ab, geht über den knirschenden Boden, bedankt<br />
sich beim Wirt und verabschiedet sich.<br />
Die Spätsommerluft trägt noch den Abendduft der großen<br />
Ferien mit sich, der Himmel ist schwarz, ein GB-Eismann aus<br />
63
Plastik schlägt mit jeder Luftbewegung gegen den Zaun des<br />
Biergartens.<br />
Brandon wird <strong>von</strong> seinem Rausch ins Taumeln gebracht, er<br />
weiß, dass er nach Hause muss, aber in seiner Rastlosigkeit geht<br />
er die Landstraße hinauf, die parallel zur Papierfabrik verläuft.<br />
Es ist ein riesiger Komplex aus Fertigungshallen, fensterlosen<br />
Backsteinfassaden, riesigen Bergen aus nassen Spänen, Holzstapeln<br />
und Lastwagen.<br />
Wie eine verdammte Dystopie in einem Science-Fiction-<br />
Film, denkt er.<br />
Er kommt vom Bürgersteig ab und tritt auf die frisch gemähte<br />
Rasenfläche zwischen den Hängebirken und Linden. Die<br />
Fassade der Kirche wird angestrahlt, aber der Parkplatz ist dunkel.<br />
Ein ziemlich neuer Volvo parkt an der Mauer.<br />
Brandon bleibt stehen, spürt den Schwindel durch das Gehirn<br />
brausen und sieht die Bewegungen in der Dunkelheit durch<br />
die beschlagenen Autofenster.<br />
Er geht weiter den Hang hinauf, bis zu dem kurvigen Weg<br />
und der leeren Parkbank, zu der er immer geht.<br />
Sie ist schwarz in der Dunkelheit unter den Ahornbäumen.<br />
Er sieht sich um und stellt sich neben die Bank.<br />
Ein Auto fährt unten auf der Landstraße vorbei, und danach<br />
hört man nichts als den Wind in den Bäumen. Ein mildes<br />
Sausen und Flüstern zwischen den dünnsten Zweigen wird <strong>von</strong><br />
einem eingesperrten Stöhnen unterbrochen.<br />
Es ist so leise, dass man es kaum hören kann – und verschwindet<br />
wieder in der Stille.<br />
Brandon blickt über die schmale Kurve des Wegs auf den<br />
Friedhof.<br />
Ein Mann mittleren Alters mit einer braunen Lederjacke<br />
steht mit einem angestrengten Lächeln hinter einem Busch.<br />
Brandon spürt einen nassen Spritzer im Nacken.<br />
64
Ein schwerer Regentropfen, der wie kochendes Wasser<br />
brennt. Er wischt ihn mit der Hand weg und bekommt einen<br />
neuen Tropfen auf die Finger.<br />
»Au, was …«<br />
Er weicht zur Seite aus, auf den schmalen Weg, und hebt den<br />
Blick. In drei Meter Höhe hängt ein Paket aus Plastik und Stoff<br />
im Baum, eingewickelt in Klebeband und Seil. Das große Bündel<br />
beginnt zu zittern und kommt sanft ins Schaukeln, sodass<br />
der kräftige Ast knackt.<br />
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