Leseprobe "Spinnennetz" von Lars Kepler

04.01.2023 Aufrufe

»Hört mir mal zu«, sagt Emma und stellt sich vor die anderen drei. »Die Cholera hat im neunzehnten Jahrhundert in Europa ungefähr hundert Millionen Menschenleben gefordert.« »Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen«, witzelt Lennart. »Marx behauptete daraufhin, dass die Geschichte sich wiederholt«, fährt Emma fort. »Zuerst als Tragödie, dann als Farce. Schwedische Behörden wollten die Seuche an den Grenzen aufhalten, und man richtete eine Quarantänestation für Schiffe aus Russland und Finnland auf einer Insel namens Fejan ein.« »So muss es sein«, murmelt Sonja. In der Ferne krächzt eine Krähe, als sich gerade eine Wolke vor die Sonne schiebt. Der ganze Wald bekommt plötzlich eine unfreundliche Atmosphäre. »Fejan liegt ungefähr vier Kilometer ostwärts«, fährt Emma fort und zeigt mit der Krücke. »Und alle, die auf Fejan gestorben sind, wurden auf unbewohnten Inseln begraben … hier vorne liegt zum Beispiel einer der größten Cholerafriedhöfe in den Schäreninseln.« Sie richten alle ihren Blick auf die Lichtung, die zwischen den Krüppelkiefern und den gebeugten Stämmen zu erahnen ist. »Und hier spukt es?«, fragt Lennart. »So wie die Hämorrhoiden in deinem Hintern«, murmelt Sonja. »Ich kann dich leider nicht verstehen«, sagt er und dreht ihr das gesunde Ohr zu. Sonja stellt seufzend die Picknicktasche auf den Boden und betritt die Lichtung. Das Heidelbeergestrüpp zittert hinter ihr, und Emma sieht ihren gelborangen Mantel zwischen den Bäumen verschwinden. »Jetzt mal im Ernst«, fährt Emma fort. »Ich habe jede Menge 36

Texte aus dem Volkskundearchiv und der Schärenstiftung gelesen … kein einziger Schärenbewohner würde freiwillig auf dieser Insel an Land gehen, aber …« Sie verstummt, als sie plötzlich das Gefühl hat, eine Gestalt zwischen den Stämmen und Sträuchern zu sehen, direkt hinter Sonja. Es ist ein kurz gewachsener Mann, der Bernies Leinenanzug trägt. Er ist viel zu groß für ihn, und die Schultern sind seltsam schief. »Kommt her«, ruft Sonja. Die drei betreten die Lichtung und sehen, dass sie vor einem länglichen Paket steht, das auf dem Boden liegt und dessen schmaleres Ende an einen Birkenstamm gelehnt ist. Das Paket ist vielleicht zwei Meter lang und aus Baumwolltuch und Plastik hergestellt, das mit Schnüren umwickelt ist, die sich in den umliegenden Bäumen verheddert haben. »Was soll das denn sein?« Emma wird klar, dass es genau das ist, was sie für eine Gestalt zwischen den Bäumen in Sonjas Rücken gehalten hat. Sie fragt sich, ob es während eines Sturms hierhergeweht sein könnte. Vielleicht handelt es sich um Schwimmwesten oder Fender, die in altes Segeltuch gewickelt sind. »Ein Kunstprojekt?«, fragt Samir mit einem Lächeln. Emma drückt mit der Krücke auf das Paket und spürt, dass es weich ist wie ein Kuheuter und gleichzeitig viel zu schwer, um vom Wind verweht worden zu sein. Lennart murmelt vor sich hin, öffnet sein Klappmesser und tritt heran. »Wir lassen lieber die Finger davon«, sagt Emma. »Es kommt mir …« Sie verstummt, als er einen tiefen Schnitt in den dicksten Teil des Pakets macht. Aus der Öffnung quillt ein grauer Brei mit braunroten Streifen und fällt in Klumpen auf das Gras. Ein 37

Texte aus dem Volkskundearchiv und der Schärenstiftung gelesen<br />

… kein einziger Schärenbewohner würde freiwillig auf dieser<br />

Insel an Land gehen, aber …«<br />

Sie verstummt, als sie plötzlich das Gefühl hat, eine Gestalt<br />

zwischen den Stämmen und Sträuchern zu sehen, direkt hinter<br />

Sonja. Es ist ein kurz gewachsener Mann, der Bernies Leinenanzug<br />

trägt. Er ist viel zu groß für ihn, und die Schultern sind<br />

seltsam schief.<br />

»Kommt her«, ruft Sonja.<br />

Die drei betreten die Lichtung und sehen, dass sie vor einem<br />

länglichen Paket steht, das auf dem Boden liegt und dessen<br />

schmaleres Ende an einen Birkenstamm gelehnt ist. Das Paket<br />

ist vielleicht zwei Meter lang und aus Baumwolltuch und Plastik<br />

hergestellt, das mit Schnüren umwickelt ist, die sich in den<br />

umliegenden Bäumen verheddert haben.<br />

»Was soll das denn sein?«<br />

Emma wird klar, dass es genau das ist, was sie für eine Gestalt<br />

zwischen den Bäumen in Sonjas Rücken gehalten hat. Sie fragt<br />

sich, ob es während eines Sturms hierhergeweht sein könnte.<br />

Vielleicht handelt es sich um Schwimmwesten oder Fender, die<br />

in altes Segeltuch gewickelt sind.<br />

»Ein Kunstprojekt?«, fragt Samir mit einem Lächeln.<br />

Emma drückt mit der Krücke auf das Paket und spürt, dass<br />

es weich ist wie ein Kuheuter und gleichzeitig viel zu schwer, um<br />

vom Wind verweht worden zu sein.<br />

Lennart murmelt vor sich hin, öffnet sein Klappmesser und<br />

tritt heran.<br />

»Wir lassen lieber die Finger da<strong>von</strong>«, sagt Emma. »Es kommt<br />

mir …«<br />

Sie verstummt, als er einen tiefen Schnitt in den dicksten<br />

Teil des Pakets macht. Aus der Öffnung quillt ein grauer Brei<br />

mit braunroten Streifen und fällt in Klumpen auf das Gras. Ein<br />

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