Drinnen ist anders als draußen
ISBN 978-3-86859-872-8
ISBN 978-3-86859-872-8
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DRINNEN IST ANDERS ALS DRAUSSEN
ARCHITEKTUR LESEN ARNO LEDERER
FÜR
ANDRI, SINDRI, SÖLVI UND TJÖRVI
HERAUSGEGEBEN VON JÓRUNN RAGNARSDÓTTIR
INHALTSVERZEICHNIS
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Vorwort
Von einem, der auszog, die Grenze zu überschreiten
Was heißt und wie entsteht Baukultur?
Den Raum lesen
Wo alles transparent ist, kann es keine Heimat geben
Das kleine Haus
Alles funktioniert, nur nicht die Architektur
Stimmt die Denke nicht, stimmt das Haus nicht
Schneller, billiger, BIM
Wie bekommt man eine Seele ins Gebäude?
Das macht doch nichts, das merkt doch keiner
Lob des Mauersteins
Da ging’s aus wie’s Hornberger Schießen
Der dritte Weg
Brauchen wir ein eigenständiges Bauministerium?
Die Bedeutung des Entwerfens
Sehnsucht nach der Architektur
Die Madeleines der Architektur
Schneeweiß, braunrot und schwarz
Vom Bauwurm gebissen
Was ist schön, was ist hässlich?
Ein alter Hut
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Das Haus als Ort
Erst die Stadt, dann das Haus
Heimat bauen
Wenn das Alltägliche zum Besonderen wird
Who the fuck is Östberg?
Die Verflüchtigung des Raumes
… sed vitae discimus
Hervorragende Solisten, keine Orchesterspieler
Vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran
Ein Hirn voll Wissen und Bildung
Lasst die Gotteshäuser einfach stehen!
Wir Spezialisten im Dilettieren
Der lange Weg zur Treppe
Ein Stoff für Jahrtausende
Vom Wert des Weiterbauens
Deinokrates oder der richtige Ort
Die Sprache des Geldes
Auch ein Virus
Kopf, Hand und Material
Die Moderne mag es hell
Architekt? Ingenieur? Einerlei!
Treppen, Wege, Korridore
Die Kochschule
„Schreibende Architekten“ – unter diesem Suchbegriff erhält
man im Internet ungefähr 447.000 Ergebnisse. Zieht
man die vielen Mehrfach- und Falschnennungen ab, bleibt
immer noch eine beachtliche Zahl von Köpfen, die ihr Metier
schreibend reflektiert haben, darunter die Erzväter der Architekturtheorie
Vitruv und Alberti, der Vielschreiber Gottfried
Semper, in jüngerer Zeit dann etwa Hans Döllgast und Max
Bächer, Peter Eisenman und Rem Koolhaas. Heute sind
schreibende Architekten aber offenbar eine bedrohte Spezies
– so sehr, dass der „Baumeister“ 2014 in einer Kolumne
forderte: „Verdammte Axt – Architekten (inbesondere junge),
schreibt wieder! Werdet euch parallel zum Machen auch
Eurer theoretischen Grundlegung, ja, gar Herkunft bewusst!“
Es sind nicht die schlechtesten Architekten, die mit
Goethes Mephisto finden „grau, teurer Freund, ist alle Theorie“.
Alvar Aalto zum Beispiel oder Ernst Gisel, bewunderte
Ahnherren von Arno Lederer, wollten nur durch ihre Bauten
sprechen, Jacques Herzog statuierte in einer Theorie-
Diskussion ganz in diesem Sinne „Wahrnehmung ist alles!“
Doch wo käme der Berufsstand hin, wenn er das Nachdenken
über die Res publica Architektur in ihren gesellschaftlichen,
anthropologischen, kulturellen, historischen und technischen
Belangen einstellen wollte? (Man kann das an den vom Geld
plattgewalzten Metropolen dieser Welt übrigens auf Schritt und
Tritt besichtigen, wohin dieses besinnungslose Gebaue führt.)
Arno Lederer ist jedenfalls ein Architekt, der von sich
selbst sagt, er sei „ein Amateur und Liebhaber der Theorie“.
Understatement gehört bekanntlich von Anbeginn zur
schwäbischen DNA, und so macht dieser in aller Bescheidenheit
geäußerte Hang zur gedanklichen Auseinandersetzung
mit dem professionellen Tun ihn zum gefragten Vortragsredner
bei Tagungen und Symposien, Konferenzen und
Eröffnungen. Dass er farbig schreiben kann, ironisch, frei von
ideologischen Verhärtungen, die Erfahrungen des Praktikers
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und des Lesers nicht nur von Theoriebüchern, sondern auch
schöner Literatur miteinander verschmelzend, oft gewürzt mit
Kindheitserinnerungen oder Beobachtungen aus dem eigenen
Alltag, vor allem aber kontrovers zur Fortschrittsgläubigkeit
der Moderne, sättigt seine Positionen mit lebenspraller Anschaulichkeit.
Bei ihm ist Diskussions- und Denkstoff drin,
alle Theorie eben nicht grau und Friedrich Schiller so zitierfähig
wie die Maus Frederick.
Dieses Buch versammelt eine Auswahl seiner Schriften.
Fast kein Text ist dabei anlasslos entstanden – der im Hauptberuf
bauende und lehrende Architekt braucht offensichtlich
den Anstoß durch ein vorgegebenes Thema, um schreibend in
Aktion zu treten. Aber stets reichen seine Überlegungen über
den unmittelbaren Anlass hinaus ins Grundsätzliche. Wann
und wo diese jeweils vorgetragen wurden, ist daher von vernachlässigbarer
Bedeutung und wird deshalb in Anmerkungen
nur dann erwähnt, wo es zum Textverständnis beiträgt. Im Verzicht
auf eine thematische oder chronologische Gliederung
spiegelt sich wiederum die Kritik des Autors am Spezialistentum
in der Architektur. Arno Lederer ist ein Streiter für die
traditionelle Rolle des Architekten als Generalist, der die schier
zahllosen an einem Projekt beteiligten Einzelinteressen mit
Blick auf die Baukultur bündelt und orchestriert.
Und darum geht es letztlich – um Baukultur, in der wie
in einem Ökosystem alles mit allem ganzheitlich zusammenhängt.
Diese Essaysammlung versteht sich in diesem Sinne als
ein Lesebuch, das nicht von A bis Z durchgeackert werden will,
sondern in dem man sich vor- und zurückblätternd auf Lesereise
begibt. Der Titel bezieht sich dabei auf eine Maxime, die
der Entwurfshaltung des Verfassers die Basis gibt: „Drinnen
ist anders als draußen“, während der Untertitel eine Art Gebrauchsanleitung
darstellt: Arno Lederers Betrachtungen über
Architektur lesen, heißt Architektur in ihrer Komplexität lesen,
deuten und bewerten lernen. Amber Sayah
VON EINEM, DER AUSZOG, DIE GRENZE ZU ÜBERSCHREITEN
Ein ganz und gar erlogenes
und erstunkenes Architekturmärchen 1 9
Weder den Namen der Stadt noch des Landes wissen wir genau,
nicht einmal wie der Mann mit Nachnamen hieß, über den ich
die nachfolgende Geschichte aufgezeichnet habe. Selbst sein
Vorname, Karl-Friedrich, ist nicht wirklich verbürgt.
Dieser junge Mann wuchs in einem Land auf, das als
eines der sichersten in der Welt gilt. Aber nicht nur das, es
hatte sich über viele Jahre ebenso den Ruf erarbeitet, auf einem
Sondergebiet der Ökonomie, nämlich dem Erfinden von Einsparungen,
eine absolute Spitzenstellung einzunehmen. Ob
sich daraus der Wohlstand entwickelt hatte, auf den seine Einwohner
besonders stolz waren, wissen wir nicht. Auch wissen
wir nicht, ob sich diese besonders glücklich priesen. Von
Zufriedenheit kann man aber insofern sprechen, als sich durch
eine Vielzahl von Gesetzen, Vorschriften und Normen ein Gefühl
bei den Bürgern einstellte, das jeden in der Überzeugung
wog, sich um nichts mehr kümmern zu müssen, war doch alles
im Leben dieser Menschen einem Regelwerk unterworfen.
So wuchs Karl-Friedrich in einem Haus auf, das er in der
Kindheit und Jugend nie verlassen hatte. Das war nun ganz
und gar nicht ungewöhnlich, weil es überhaupt nie einen Anlass
dazu gegeben hatte. So kam es, dass er das Gebäude nur
von innen wirklich kannte, obwohl er auf einem der zahlreich
im Hause verteilten Bildschirme, die zugleich als Innenwände
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die Räume voneinander trennten, sah, was sich angeblich
außen vor dem Haus und in weiterer Entfernung abspielte.
Die Großeltern, die ebenfalls in diesem Haus wohnten und in
einer Zeit aufgewachsen waren, als offensichtlich das Leben
noch von Unsicherheiten geprägt war, berichteten von Gestank
und Lärm, denen man ausgesetzt war, wenn man die eigenen
vier Wände verließ. Auch von den Gefahren des Verkehrs, von
unangenehmer Hitze und Kälte, von Eis und von Wasser, das
vom Himmel schüttete. So wog sich Karl-Friedrich in der Gewissheit,
den Vorzug zu haben, in der besten aller Welten 2 aufwachsen
zu dürfen.
Deshalb stellte er nie Fragen, die eigentliche Größe oder
das Aussehen des Hauses von außen betreffend. Er kannte
nur die Wohnung, die freilich so groß war, dass sie sich über
mehrere Geschosse erstreckte. Die Eltern priesen die Ruhe,
da dank der vom Land verabschiedeten Vorschriften die Abschirmung
gegen Lärmquellen hervorragend war. Nachbarn
waren nicht die, die über oder neben einem wohnten, sondern
allesamt nette Leute, die über das soziale Netzwerk kommunizierten,
als säßen sie einem direkt gegenüber. Da man die
Freunde dreidimensional auf den eben beschriebenen Wänden
im sozialen Netz treffen konnte, zum Beispiel zum Essen oder
einfach zum Gedankenaustausch, brauchte man sich nicht der
Mühe zu unterziehen, einen anderen Ort aufzusuchen.
Lediglich in sehr schwierigen Situationen, etwa bei
Krankheiten, die nicht durch Anleitung über die Bildschirme
zu behandeln waren, bestieg man durch eine Luke in der
unteren Etage ein selbstfahrendes Mobil. Dort saß man einem
Monitor gegenüber, der wie zuhause einen Blick auf die Umgebung
bot.
Einmal im Jahr kam ein Chief Operator des Facility Managements
zur Überprüfung der Funktionstüchtigkeit der
Wohnung vorbei. Eigentlich genügte die Überwachung der
technischen Einrichtung, die Sicherheit und den Komfort
etreffend, von einer zentralen Stelle aus, deren wirklichen
Standort keiner genau kannte. Aber die Vorschrift wollte es
so, dass an Ort und Stelle ein Spezialist die technische Ausrüstung
in Augenschein nahm. Das waren für Karl-Friedrich
stets spannende Tage.
Der freundliche Mann hatte Messgeräte zur Hand, mit
denen er nicht nur prüfen konnte, ob die konstante Raumtemperatur,
die Luftfeuchtigkeit und Feinstaubbelastung auch
ja nicht um ein Promille abwichen, und ob die Beleuchtung
von 1000 Lux sowie die Lichtfarbe in allen Winkeln der Wohnung
noch gewährleistet war, sondern zum Beispiel auch, ob
die Sprachalarmierung bei eventuellen Fehlern in allen Räumen
die notwendige Verständigungsqualität garantierte. Er
ließ sich auch zur Probe die Treppen herunterfallen, um zu
prüfen, ob die elektronisch gesteuerten Stufen bei Gefahr in
Sekundenbruchteilen ihre Härte verloren, gummiweich wurden
und die Fangnetze sich explosionsartig aufspannten, in
denen er dann weich landete, was Karl-Friedrich besonders imponierte.
Das aber sind nur einige wenige Beispiele der Prüfungen,
die durchgeführt werden mussten.
Einmal, als der Chief Operator eine kleine Luke in der
Wand öffnete, um nachzuschauen, ob die Schadensfreiheit
der Wärmedämmung gegeben war, erhaschte Karl-Friedrich,
der dem freundlichen Mann über die Schulter blicken konnte,
einen Blick ins Freie. Die Klappe maß gerade 50 auf 50 Zentimeter,
weshalb man, aufgrund der einen Meter starken Wärmedämmung,
nur wie durch eine Schießscharte hinausschauen
konnte. Doch wie enttäuscht war er, als das taghelle Quadrat
die Sicht auf eine Umgebung freigab, die dem grauen Inneren
einer Waschmaschine glich. Manchmal huschte eine Drohne
vorbei, die mit der Ver- und Entsorgung von Wohnungen beschäftigt
war, oder ein selbstfahrendes Mobil, dessen fensterlose
Metallhülle ebenso grau war wie die Wände der Gebäude
in der Umgebung.
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Gerade als der ansonsten wortkarge Mann, der sich völlig auf
seine Aufgabe der Kontrolle konzentriert hatte, die Luke schließen
wollte, erkannte Karl-Friedrich ganz hinten am Horizont
einen schlanken, spitz zulaufenden Körper, der sich aufgrund
seiner nutzlosen Verzierungen, die man ausmachen konnte,
von der grauen Umgebung abhob. Er fragte, was denn das für
ein lustiger, spitziger Gegenstand sei, der da in weiter Entfernung
zu sehen sei.
Da huschte ein Lächeln über das Gesicht des Operators.
„Das“, erklärte er, „ist ein vergessenes Stück Architektur.“
„Architektur?“, fragte Karl-Friedrich, „was ist denn das?“ „Na
ja, das ist aus einer Zeit in der es solche Dinge, wie ich sie
zu prüfen habe, noch nicht gab, wie auch den Beruf, dem ich
nachgehe, damals noch niemand ausgeübt hat. Das was du da
hinten gerade gesehen hast, ist die Spitze eines Kirchturms.
Man hat Gebäude gebaut, die eigentlich keine richtige Funktion
hatten. Die Menschen glaubten mehr als sie wussten, und
heute wissen wir mehr als wir glauben. Sie glaubten zum Beispiel
nicht nur an Gott und den Himmel, sie glaubten auch,
dass die Gegenstände, die sie umgaben, wozu auch die Gebäude,
ja ganze Städte gehörten, in ihren Formen das eigene
Weltbild widerspiegeln sollten.“ „Dann ging es gar nicht um
die Funktion, um Sicherheit durch Technik, sondern nur um
die Gestalt? War es das, was ich einmal in einem Film gesehen
habe, was die Menschen damals mit Schönheit bezeichnet
haben?“ „Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete der
Mann, „auf jeden Fall machten sie Dinge, die nicht beweisbar
waren. Der Entwurf von Architekten beanspruchte damals
60 Prozent der gesamten Baukosten. Und heute, wo wir keine
Architekten mehr benötigen, ist es unsere hervorragende Technik,
die uns Sicherheit und Wohlbefinden bietet und 60 bis
70 Prozent der Kosten eines Gebäudes ausmacht.“ „Architekten?“,
fragte Karl-Friedrich. „Ja, Architekten. Das waren die
Leute, die sich ausdachten wie ein Gebäude sein könnte. Heute
schätzen wir uns glücklich, mit Computer und BIM viel genauer
planen zu können. Diese sind es ja, die die Funktion, die
Sicherheit, den Energieaufwand und den Materialverbrauch,
also alle denkbaren und berechenbaren Parameter, exakt als
Datenmaterial zuverlässig nutzen und fehlerfrei nur ein Ergebnis
produzieren. Architekten wussten dagegen nichts Genaues,
sondern von allem nur ein bisschen. Deshalb sah jedes
Gebäude anders aus. Was für eine Verschwendung. Ja, das war
die Zeit der Generalisten. Du musst wissen, erst wir, die Spezialisten,
haben dafür gesorgt, dass die Welt sicherer wurde,
dass wir eigentlich gar keine Energie verbrauchen und dass
wir das alles kontrolliert und kostengünstig zu liefern und zu
errichten wissen. Wie wichtig der Staat die Aufgabe der Spezialisten,
wie ich einer bin, nimmt, kannst du daran erkennen,
dass die Planungskosten durch unsere wertvolle Arbeit bei
mehr als 30 Prozent der Baukosten liegen. Früher, als es noch
Architekten gab, lag diese Zahl bei 15 bis 18 Prozent der Baukosten.
Kein Wunder, dass die Leute massenhaft über zu niedrige
Geländer und unsichere Treppen stürzten, nicht lesen
und nicht schreiben konnten, weil die Räume mit zu wenig
Lux versorgt wurden, oder die Luft zu kalt und zu schlecht war,
oder Krankheiten der Atemwege die Menschen wie Mücken
dahinrafften.“
„Aber bei dem, was Sie da schildern, müsste ja über die
Hälfte der Menschheit ausgestorben sein“, bemerkte Karl-
Friedrich. Da wendete sich der Chief Operator verärgert wieder
seiner Arbeit zu. „Bitte, noch eine Frage“, bat Karl Friedrich
höflich. „Gibt es überhaupt noch Architekten und wo lernen
die diesen Beruf?“ Er kenne keinen, meinte der Mann widerwillig,
aber er habe gehört, dass hinter dem vorbildlichen
Landesteil Technokratien, wenn man den Mut habe, die
Grenzen zu überwinden, ein völlig unterentwickeltes und unsicheres
Land liege, in dem es noch so seltsame Berufe wie die
des Architekten gebe.
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Karl-Friedrich hatte dem Operator aufmerksam zugesehen,
wie dieser rasch die Luke in der Wand zuklappte. So prägte er
sich die Zahlenkombination ein, mit der diese zu öffnen war.
Tag für Tag, wenn er niemand in der Nähe wähnte, öffnete er
das Guckloch nach außen und betrachtete den in der Ferne
sichtbaren Kirchturm. Da überkam ihn eine seltsame Sehnsucht
und eine ungewisse Ahnung von einer Welt, die ihm
bislang verschlossen war. Er überwand sich, einen Hacker zu
kontaktieren, der ihm Zugang zu gesperrten Seiten im Netz
verhelfen konnte. „Architektur?“, wunderte sich dieser, „also,
ich habe schon viele unmögliche Anfragen gehabt, aber Architektur?
Das ist nun wirklich was ganz Neues.“
So kam Karl-Friedrich zu einer riesigen Bibliothek, die
ausschließlich aus Texten und Bildern zur Architektur bestand.
Nachts, wenn alle im Haus schliefen, begann nun sein Tag,
indem er sich nicht nur in die Abbildungen vertiefte, sondern
sich ebenso dem Studium von Grundrissen, Schnitten und Ansichten
widmete. Er sah, welch schöne Häuser und Städte es
einmal gegeben haben musste, und nach einem Jahr kannte
er alle großen Namen, die die Architektur über Jahrhunderte
geprägt hatten.
Den Eltern blieb die Veränderung ihres Sohnes nicht verborgen.
Sie machten sich große Sorgen. Sie dachten darüber
nach, ihn, wie es üblich war, nicht mehr nur psychiatrisch
über den Bildschirm zuhause behandeln zu lassen, sondern
ihn außer Haus einem Spezialisten zuzuführen. Wie wunderten
sie sich aber, als Karl-Friedrich ihrer Absicht nicht nur
zustimmte, sondern ihnen darüber hinaus einen Vorschlag
für eine besonders wirksame Behandlung unterbreitete, die
allerdings eine Reise nach Technokratien voraussetzte. „Aber
da bist du ja in sichersten Händen“, riefen beide Eltern spontan,
halfen ihm die notwendigen Utensilien zusammenzupacken
und bestellten eine autonom fahrende Kapsel, die
Karl- Friedrich zum genannten Ort bringen sollte.
Er hatte die psychiatrische Praxis gut ausgesucht, lag sie doch
genau an der Grenze zum Nachbarland, von dem der Chief
Operator gesprochen hatte. Und nicht nur das, sie lag auch in
dem Gebäudekomplex, in dem sich die verschiedensten Einrichtungen
befanden, die die Gesetze, Regeln, Normen und
Verordnungen nicht nur ständig neu erfanden, sondern auch
über deren Einhaltung strengstens wachten.
Dass diese behördenartigen Stellen mit der psychiatrischen
Praxis eine Einheit bildeten, hatte natürlich seinen
Grund. Denn wie wir erfahren haben, handelte es sich um die
Grenzstation zwischen Technokratien und dem Land, das, wie
Karl-Friedrich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, Kulturien
hieß. Jenem Land also, in dem es noch Architektur geben
sollte. Man hatte die Ämter dorthin gebaut, um Flüchtlinge,
die von Kulturien auf die andere Seite wechseln wollten, zuerst
einmal in den Fragen der Sicherheit, der energetischen
und ökonomischen Felder, des Brandschutzes wie auch des
Controllings zu unterrichten. Die Psychiatrie war deshalb am
selben Ort untergebracht, weil man aus wissenschaftlichen Erhebungen
wusste, dass Flüchtlinge durch den abrupten Wechsel
zwischen den glaubensbasierten Grundlagen des einen
Landes und den belegbaren Wahrheiten der MINT-Fächer auf
der eigenen Landesseite einen Schock erleiden könnten. Allerdings
gab es zu diesem Thema noch keine belastbaren Zahlen,
weil es bislang auch keine Flüchtlinge gab, die die Grenze von
Kulturien nach Technokratien überschreiten wollten.
Wer aber in umgekehrter Richtung, also nach Kulturien
auszuwandern die Absicht hatte, musste zunächst im eigenen
Land Prüfungen bestehen, um die Flüchtenden vor einer zu
befürchtenden Gehirnwäsche der anderen Seite zu bewahren.
Denn man war, wie gesagt, der festen Überzeugung, selbst in
der besten aller möglichen Welten zu leben. Karl-Friedrich
hatte aber vor (wie wir leicht ahnen können), seiner Heimat
den Rücken zu kehren, weshalb er nach nicht ganz einfacher
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Antragstellung bei einer Auswahl von wichtigen Amtspersonen
vorsprechen musste.
Gerade als er sich der Tür näherte, wurde er von einer
steinalten Bettlerin, die rechts neben dem Eingang hockte, angesprochen.
Er erschrak, hatte er doch noch nie solche Personen
gesehen. Ob sie wohl auch versucht hatte, die Grenze in
das andere Land zu überqueren und daran gescheitert war?
Das beschäftigte ihn, da er dieses Schicksal nicht teilen wollte.
Also nahm er sich ein Herz und fragte sie direkt, welche Umstände
dazu geführt hätten, dass sie nun in einer solch erbärmlichen
Verfassung neben dem Eingang kauerte.
Sie gab sich als ehemalige Mitarbeiterin eines öffentlichen
Bauamtes aus, das jedoch vor vielen Jahren schon geschlossen
worden war. Sie hätte die Aufgabe gehabt, die Honorare der
Architekten, die sie zu betreuen hatte, auf ein Minimum zu
kürzen, ihnen regelmäßig Versäumnisse und Mängel in der
Planung vorzuwerfen. Im Endeffekt hätte sie sich damit selbst
ein Bein gestellt, wollte doch kein Architekt mehr für das Bauamt
arbeiten, in dem sie tätig war. Da sei die Einrichtung eben
geschlossen worden, und sie sei von heute auf morgen auf der
Straße gelandet. Seit vielen Jahren – sie habe schon gar keine
Erinnerung mehr, wie viele es tatsächlich waren – versuche
sie nun, den Schaden, den sie angerichtet habe, wieder gut
zu machen und nach Kulturien auszuwandern. Und ebenso
lange bemühe sie sich, die Prüfungen, die ihr dafür auferlegt
würden, zu bestehen, was ihr aber immer wieder misslinge.
Karl-Friedrich hörte sich die Geschichte an, wusste aber nicht,
was er dieser Person sagen sollte, sprach sich selbst Mut zu
und betrat das große Gebäude.
Die Prozedur, der sich Karl-Friedrich dort zu unterziehen
hatte, fand in einzelnen, nach Themen geordneten Räumen
statt. Hatte man die Prüfung in einem Raum hinter sich gebracht,
führte der Weg zwangsläufig in einen zweiten und dritten
Raum und so fort.
Karl-Friedrich öffnete nun die Türe zu dem ersten Raum, der
ihm zugewiesen wurde. Über dem Türsturz flackerte grellrot
der Schriftzug „Brandschutz“. Mitten im Raum stand ein uniformierter
Feuerwehrmann mit Atemschutzmaske, der gleich
mehrere Feuerlöscher auf seinen Rücken geschnallt hatte. Unzählige
Feuerlöscher waren ebenfalls griffbereit im Raum verteilt.
Tausende von Löschdüsen zierten die Decke, die Wände
waren übersät von Brandschutzklappen und Fluchtschildern,
Rauchschutzvorhängen und Lautsprechern zur Schallarmierung.
Nachdem der Brandmeister seine Atemschutzmaske
abgenommen hatte, fragte er Karl-Friedrich, mit wie
vielen Toten das Land durch Hausbrand im Jahr zu rechnen
habe. „Vierhundert“, antwortete Karl-Friedrich, der sich gut
vorbereitet hatte, und fügte hinzu: „Man weiß aber nicht, wie
viele davon durch technische Fehler des Gebäudes oder durch
menschliches Versagen umgekommen sind.“ Diese Zahl
stimme zwar, fauchte der Mann, „aber das mit dem menschlichen
Versagen werden wir noch in den Griff bekommen. Wir
haben riesige Forschungsabteilungen, die Jahr für Jahr neue
Erkenntnisse gewinnen, um diese in Gesetzesform zu gießen.
Ist Ihnen überhaupt bewusst, welche immensen Summen wir
aufwenden, um die Rate von vierhundert weiter zu verringern?
Wir sprechen da nicht von Peanuts, sondern von vielen Millionen,
wenn nicht gar Milliarden.“ Karl-Friedrich meinte darauf,
er wisse, dass im Lande jährlich etwa 200.000 Menschen
an Krebs und ebenso viele an Herz-Kreislauf-Erkrankungen
stürben. 15.000 kämen durch Arztfehler zu Tode und 5.000
bis 6.000 durch Verkehrsunfälle. Würde man die Milliarden,
die für Forschung und die baulichen Maßnahmen aufgebracht
werden müssten, in die Vorbeugung und Behandlung von
Krebs- und Kreislaufkrankheiten stecken, könnten da nicht
erheblich mehr Menschenleben gerettet werden? Diese Frage
löste bei dem Prüfer einen Wutanfall aus. Er wurde krebsrot,
kleine Flämmchen zischelten aus Mund, Nase und Ohren. Da
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packte Karl-Friedrich einen der umherstehenden Feuerlöscher
am Griff und richtete den Strahl des Löschschaums in den
vor Wut weit geöffneten Mund seines Gegenübers. Dieser
verstummte augenblicklich, riss die Augen weit auf und sank
ohnmächtig zu Boden. Karl Friedrich aber ging zur Türe, die
zum nächsten Raum führte und die mit „Sicherheit bei Treppen,
Brüstungen und Fluchtwegen“ überschrieben war.
Dieser Raum war mehrgeschossig ausgebildet. Gegenüber
der Türe gab es in großer Höhe eine Galerie, die mit
einem überhohen Geländer den Raum überspannte. Verbunden
waren die Ebenen mit einer mehrläufigen Treppe, bei
der jede Stufe durch einen hellen und geriffelten Streifen an
der Vorderkante gekennzeichnet war. An der Wand hingen
große Plakate mit Treppen, alle mit einem roten Kreuz überpinselt.
Karl-Friedrich erkannte aufgrund seiner Studien sofort
alle durchgestrichenen Treppen: jene von Balthasar Neumann
und Leonardo da Vinci, die Scala Regia ebenso wie die Spanische
Treppe in Rom, aber auch die gewendelte Treppe von
Oscar Niemeyer oder Arne Jacobsens Treppe der Landesbank
in Kopenhagen. Plötzlich stand hinter ihm ein kleines, sehr
drahtig aussehendes und in einen unscheinbaren grauen
Anzug gekleidetes Männchen, das mit einem aufgeklappten
Meterstab wild in der Luft herumfuchtelte. „Das geht alles
nicht. Unsicher, gefährlich und verboten“, fauchte es. „Hier, so
muss eine Treppe sein.“ Das Männchen richtete den Meterstab
zur Treppe, die zur Galerie führte. Karl-Friedrich, durch den
Ausgang der ersten Prüfung ermutigt, rief spontan: „Aber wie
hässlich diese Treppe ist. Kein Untertritt, die vielen Handläufe
rechts und links und um die Podeste herum, die weißen Streifen,
die Beleuchtung der Stufen, da geht doch kein Mensch
gerne rauf oder runter.“ „Eine Treppe hat nicht schön zu sein,
sondern nur sicher, junger Mann“, belehrte ihn das Männchen.
„Ich gehe die Treppe sehr gerne, weil sie so sicher ist und darüber
hinaus so preiswert wie keines dieser fürchterlichen
Beispiele an der Wand. Wenn Sie es mir nicht glauben wollen,
dann zeige ich Ihnen, wie sie sich geht.“ Und er begann die
Treppe zur Galerie auf- und abzurennen. Oben hielt er sich am
überhohen Geländer kurz fest, als wolle er Karl-Friedrich „na
bitte!“ zurufen, machte kehrt und so ging das rauf und runter
in einem fort. Plötzlich blieb er bei der zehnten Runde mit
der Schuhspitze an einer der geriffelten Sicherheitsleisten an
der Vorderkante der vierunddreißigsten Stufe kurz hängen,
strauchelte und verhedderte sich mit der Krawatte an dem mit
senkrechten Stäben dicht besetzten Geländer. Nachdem sich
die Krawatte unglücklicherweise um seinen Hals geschlungen
hatte, bekam er keine Luft mehr, da sein Körper nach unten
der Schwerkraft folgte. Schließlich japste er nur noch in kurzen
Atemzügen, worauf Karl-Friedrich sich dem nächsten
Raum zuwandte.
„Controlling, Projektsteuerung, Investing, BIM“ las er
auf der elektronischen Anzeigetafel. Schon beim Eintreten
erkannte Karl-Friedrich, dass der nächste Prüfer, ein smarter
junger Mann, nicht nur einen teuer aussehenden Nadelstreifenanzug
trug, sondern auch, dass eine Rolex-Uhr sein
Handgelenk umspannte. Lässig spielte dieser mit einem Fahrzeugschlüssel,
auf dessen Anhänger ein schwarzes, sich aufbäumendes
Pferd abgebildet war. Außerordentlich eloquent
begann er mit einem Anflug von Lächeln über die Erfolge des
Controllings und der Projektsteuerung, mit denen inzwischen
alle denkbaren Bereiche des Lebens zu erfassen seien, auf
unseren Freund einzureden. Karl-Friedrich fuhr dazwischen,
indem es völlig unkontrolliert aus ihm herausbrach: „Wie ich
sehe, haben Sie eine exzellente Sprachschulung erhalten, mit
der Sie mich von der Richtigkeit Ihres Denkens und Handelns
überzeugen wollen. Übrigens, wenn ich Sie so betrachte, sehe
ich, dass der Anzug, den Sie tragen, aus billigen Kunstfasern ist,
Ihre Uhr ein Piratenprodukt aus Fernost und der Schlüssel an
diesem albernen Anhänger gehört zu dem Erste-Hilfe-Kasten
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hier neben der Tür. Im Übrigen sparen Sie am meisten Geld,
wenn Sie mich sofort abschieben.“
Der Prüfer war vom spontanen und im Übrigen beleidigenden
Ausbruch Karl-Friedrichs geradezu überrumpelt
worden, wusste nichts zu entgegnen und hatte in Sekundenbruchteilen
eine Blutdruckerhöhung jenseits der messbaren
Skalabereiche. Er riss wortlos eine bislang unsichtbare
Tapetentüre hinter sich auf, die sich geradewegs zum Nachbarland
öffnete, und schubste Karl-Friedrich ins Freie.
So gelangte unser Held, ohne sich weiteren Prüfungen
unterziehen zu müssen, nach Kulturien und dort zur Architektur.
Er studierte, lernte Theater und Konzerte kennen und
wurde mit Dichtung und Philosophie vertraut. Nicht, dass
er die Fragen der Ökonomie und der Sicherheit gänzlich
vernachlässigte. Nein, er baute die schönsten Treppen, die
schönsten Geländer, die schönsten Häuser und Straßen und
die schönsten Städte. Mag sein, dass nicht alles so sicher und
geregelt war wie in seiner Heimat. Aber die Menschen hatten
Freude an seinen Häusern und Städten. Sie tanzten, sangen
in den Räumen, die er entwarf, und freuten sich an den Erzählungen
der Architektur. Und sie lernten dabei, gleichsam
im Spiel die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen,
so dass es keiner exzessiven Regelungen durch den Staat bedurfte.
Denn durch die ästhetische Erziehung, die er durch
das Studium eines seiner Lieblingsdichter genossen hatte, war
dessen nachstehender Leitspruch in Wort und Gedanken fortan
sein ständiger Begleiter: „Der Mensch spielt nur, wo er in
voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt.“ 3
1 Martin Luther: „Also dass es erlogen und erstunken ist (…), wer da sagt, dass
die Christenheit zu Rom oder an Rom gebunden sei.“
2 Voltaire: „Candide oder der Optimismus“, 1759
3 Friedrich Schiller: „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 1795
IMPRESSUM
© 2023 by jovis Verlag GmbH. Das Copyright für die Texte
und für die Umschlagzeichnung liegt bei Arno Lederer.
Alle Rechte vorbehalten.
HERAUSGEBERIN Jórunn Ragnarsdóttir
KONZEPT UND GESTALTUNG
Bucharchitektur \ Kathrin Schmuck und Jórunn Ragnarsdóttir
TEXTREDAKTION UND LEKTORAT Amber Sayah
UMSCHLAGZEICHNUNG Arno Lederer
LITHOGRAFIE Bild1Druck, Berlin
HERSTELLUNG jovis Verlag, Susanne Rösler
DRUCK UND BINDUNG Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
PAPIER INHALT 100 g / m2 Munken Lynx Rough
PAPIER BANDEROLE, VOR- UND NACHSATZ Gmund Colors Matt 01
SCHRIFT Scala Pro und Scala Sans Pro
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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jovis-Bücher sind weltweit im ausgewählten Buchhandel erhältlich.
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ISBN 978-3-86859-872-8