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wina Mai 2022

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<strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

#5. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

05<br />

9 120001 135738<br />

Resilienz lehren und leben<br />

Die Lebensaufgabe der<br />

Auschwitz-Überlebenden und<br />

Psychologien Edith Eger<br />

Die Lage ist zu ernst, um<br />

Floskelkultur zu praktizieren<br />

Wissenschafterin Monika Schwarz-<br />

Friesel über Antisemitismus heute<br />

Die Gemeinde ist zusammengerückt<br />

Maxim Slutzki koordiniert die Ukraine-<br />

Hilfe der jüdischen Gemeinde<br />

„Die moralische Substanz<br />

einer demokratischen<br />

Gesellschaft muss gefühlt,<br />

getragen und tatsächlich<br />

gelebt werden.“<br />

Monika Schwarz-Friesel<br />

cover_0322.indd 1 10.05.22 11:57


Sehen Sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />

DiePresse.com/Sonntagsabo<br />

Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />

cover_0322.indd 2 10.05.22 11:57


Gedenkstätte Mauthausen:<br />

Ein lautes<br />

„Niemals wieder“ gewinnt<br />

nach 77 Jahren immer<br />

mehr an Bedeutung.<br />

© Harald Dostal / picturedesk.com<br />

Editorial<br />

Zum 77. Mal wurde heuer des Endes des 2. Weltkrieges<br />

und der Opfer der Shoah gedacht. Ein Erinnern, das<br />

ein unerträgliches Brennen in den Seelen der nur noch<br />

wenigen Überlebenden auslöst, aber auch bei jenen, die<br />

bloß eine vage Erinnerung an das unbeschreibliche Leid<br />

geerbt haben. Bilder, die immer verschwommener werden,<br />

je weiter wir uns von den Flammen entfernen. Sie<br />

haben sich jedoch tief in unser Unterbewusstsein eingebrannt<br />

– und sollen uns, Millionen kleiner Alarmanlagen<br />

gleich, warnen, wenn die Weltgeschichte wieder einmal<br />

eine Richtung einschlägt, die die Menschheit näher an<br />

die altbekannten Flammen führt.<br />

77 Jahre nach der Befreiung stehen wir den Flammen<br />

näher, als wir es uns jemals hätten vorstellen können.<br />

Der Krieg, der sich jederzeit wie ein<br />

Flächenbrand ausbreiten könnte, tobt und<br />

ein Ende ist nicht in Sicht. Massengräber,<br />

Flucht und Vernichtung an den Grenzen<br />

Europas sind nicht Szenen aus einer hollywoodgleich<br />

gestalteten Serie eines Streaming-Portals,<br />

sondern zum Nachrichtenalltag<br />

geworden. Und so vermehren sich<br />

auch Verschwörungstheoretiker, so sichern<br />

sich illiberale Demokraten ihre politische<br />

Machtstellung und so wachsen die Zahlen<br />

rassistischer und antisemitischer Vorfälle<br />

auf den Straßen Europas und den Highways<br />

des Internet.<br />

Erinnern und niemals vergessen – das,<br />

unter anderem, ist unsere Möglichkeit, die<br />

Weltgeschichte wieder in die Richtung zu lenken, die<br />

auch dem Mauthausen-Schwur aller ehemaligen politischen<br />

Gefangenen des Konzentrationslagers gerecht<br />

wird: „Wir werden einen gemeinsamen Weg beschreiten,<br />

den Weg der unteilbaren Freiheit aller Völker, den Weg<br />

der gegenseitigen Achtung, den Weg der Zusammenarbeit<br />

am großen Werk des Aufbaus einer neuen, für alle<br />

gerechten, freien Welt. Wir werden immer gedenken, mit<br />

welch großen blutigen Opfern aller Nationen diese neue<br />

Welt erkämpft wurde.“<br />

Der Staat Israel wurde vor 74 Jahren aus den Flammen<br />

der Shoah geboren, wie auch die Idee der Europäischen<br />

Union – in der Hoffnung, dass alle nachfolgenden<br />

Generationen in einem freien, gerechten und antifaschistischen<br />

Europa leben werden. Angesichts der aktuellen<br />

Entwicklungen und ihrer noch nicht absehbaren<br />

gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen<br />

Folgen, scheint diese Hoffnung in weite Ferne zu rücken.<br />

Ein lautes „Niemals wieder“ zu Faschismus, Krieg und<br />

Vernichtung gewinnt also nach 77 Jahren immer mehr<br />

an Bedeutung – und wir als Erben müssen mit allen unseren<br />

Möglichkeiten einer demokratischen Gesellschaft<br />

auf die Umsetzung eben dieser Mahnung hinarbeiten –<br />

auch in ewiger Erinnerung an die Flammen der Shoah.<br />

Julia Kaldori<br />

„Die Vergangenheit<br />

lässt sich<br />

nicht ausblenden,<br />

sie durchdringt<br />

mit Wucht<br />

die Gegenwart<br />

– und sie wird<br />

unsere Zukunft<br />

weiterhin gestalten,<br />

wenn man<br />

sich ihr nicht<br />

stellt und sie explizit<br />

beim Namen<br />

nennt.“<br />

Monika Schwarz-<br />

Friesel<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

Unbenannt-1 1 11.05.22 14:37


S.41<br />

Carl Bernstein, bekannt als Investigativreporter<br />

und Watergate-Aufdecker, erinnert<br />

sich in seinem Buch Chasing History<br />

an seine journalistischen Anfänge.<br />

INHALT<br />

„Nachdem ich von einem<br />

Ende zum anderen<br />

gegangen war,<br />

wusste ich, dass ich<br />

ein Zeitungsmann<br />

werden<br />

wollte.“<br />

Carl Bernstein<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

04 Die Lage ist zu ernst<br />

Monika Schwarz-Friesels Rede im<br />

Parlament anlässlich der Veranstaltung<br />

im Gedenken an die Opfer des<br />

Nationalismus.<br />

07 „Einfach allen helfen“<br />

Rabbi ner Moshe Kolo moitsev und<br />

Maxim Slutski koordinieren im Rahmen<br />

des JRCV die Ukraine-Hilfe der<br />

IKG.<br />

10 Anna mit dem Saxofon<br />

Fünf Tage nach Anna Kypiatkovas<br />

29. Geburtstag fielen Raketen auf<br />

Kiew. Nach einer gefährlichen Flucht<br />

möchte die junge Musikerin in Wien<br />

durchstarten.<br />

12 Ein klarer Ausstieg<br />

Der deutsch-persisch-israelische Politologe<br />

und Schriftsteller Arye Sharuz<br />

Shalicar schaffte es vom Gang-<br />

Mitglied in das Machtzentrum der<br />

israelischen Politik.<br />

14 Viele neue Player<br />

Die Technologieunternehmerin Eveline<br />

Steinberger-Kern im WINA-Interview<br />

über die Abhän gigkeiten von<br />

Energielieferanten und über einschlägige<br />

Innovationen.<br />

18 Am Seil auf den Carmel<br />

In Haifa ist die urbane Seilbahn zum<br />

Technion und zur Universität in Betrieb<br />

gegangen, gebaut vom Vorarlberger<br />

Unternehmen Doppelmayr.<br />

20 Letzte Ruhe in Kaufering<br />

Vor einem Jahr brachte Felix Schrott<br />

eine Gedenktafel für seinen Großvater<br />

Emanuel Schrott an der Gedenkwand<br />

des Lagers Kaufering an.<br />

23 Mit Amnesie bewältigen<br />

Diesen Jänner starb die Ho locaust­<br />

Überlebende Trude Simonsohn<br />

hundert jährig in Frankfurt, wo sie als<br />

Zeitzeugin aktiv war.<br />

24 Juwel in den Bergen<br />

Über die vielfältige Geschichte des jüdischen<br />

Lebens in Tirol vom Mittelalter<br />

bis heute erzählen das Jüdische<br />

Museum von Meran und sein Direktor<br />

Joachim Innerhofer.<br />

30 Bierfabrik der Kaiserstadt<br />

Zwei Zuwandererfamilien waren für<br />

die rasante Entwicklung der Schwechater<br />

Brauerei verantwortlich: die<br />

Drehers und die jüdischen Mautners.<br />

32 Nicht nur von rechts<br />

Ste phan Grigat und Martin Spetsmann<br />

­Kunkel werden künftig das<br />

Centrum für Antisemitismus und<br />

Rassismusstudien in Achen leiten.<br />

Hier erzählen sie über ihre Pläne und<br />

Schwerpunkte.<br />

S.31<br />

Barbra Streisand zum Achtziger<br />

„I’m a bagel on a plate full of onion rolls“, sagte sie einst<br />

in Funny Girl und am Beginn einer einzigartigen Weltkarriere.<br />

Auch WINA lässt diese große Künstlerin hochleben!<br />

„Denk daran, niemand<br />

kann dir das wegnehmen,<br />

was du in deinen<br />

Kopf hineingetan<br />

hast.“<br />

Edith Eger<br />

S.36<br />

2 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 2 10.05.22 09:31


Coverfoto: Juliana Raikowski / photocase.de<br />

KULTUR<br />

34 … trotzdem positiv<br />

Die Bücher der Überlebenden und US­<br />

Psychologin Edith Eger zeigen auf, wie<br />

viel Kraft man in aussichts los scheinenden<br />

Situationen noch aus sich<br />

selbst schöp fen kann.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

17 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

1341 Frames of Love and War: Der<br />

Dokumentarfilm ist die Lebensgeschichte<br />

Micha Bar-Ams und eine<br />

Chronik Israels. Von Gisela Dachs<br />

„Es galt, schnell das Wichtigste<br />

zu packen,<br />

da entschied<br />

ich mich für<br />

das Saxofon.“<br />

Anna Kypiatkova<br />

n,<br />

-<br />

36 Rächen, bis es bebt<br />

Die Ausstellung Rache. Geschichte und<br />

Fantasie in Frankfurt und ein neues<br />

Buch beschäftigt sich mit dem Thema<br />

der jüdischen Rache.<br />

38 Widerstand kräftigt<br />

Der polnische Automechaniker<br />

Stanisław Zalewski landete erst in<br />

Gestapo ­Haft und anschließend<br />

im Vernichtungslager Ausch witz-<br />

Birkenau.<br />

40 Nichts als die Wahrheit<br />

Der amerikanische Investiga tivreporter<br />

und Watergate-Aufdecker Carl Bernstein<br />

erinnert sich in seinem neuen<br />

Buch Chasing History an seine journalistischen<br />

Anfänge.<br />

42 Flucht vor dem Erbe<br />

In ihrem ersten Short-Story ­Band<br />

Ein Mann sein vermisst Nicole Krauss<br />

nicht nur das männliche Rollenspektrum<br />

in Zei ten fluider Geschlechteridentitäten<br />

neu.<br />

43 Virtuos gestammelt<br />

Tomer Gardi schreibt, wie viele<br />

Migran ten sprechen – in Broken German<br />

–, und hat damit eine Diskussion<br />

ausgelöst. Für Eine runde Sache hat<br />

er nun den Preis der Leipziger Buchmesse<br />

erhalten.<br />

28 Matok & Maror<br />

Neu in der Mochi-Familie – das<br />

o.m.k auf dem Hohen Markt.<br />

29 WINA_kocht<br />

Warum Solospargel und wie geht<br />

weniger süß an Schawuot?<br />

31 WINA_Lebensart<br />

Wir lassen Barbra Streisand zum 80.<br />

Geburtstag feierlich hochleben!<br />

44 WINA_Werkstädte<br />

Käthe Loewenthals Berner Voralpenlandschaft<br />

aus dem Jahr 1910<br />

45 Urban Legends<br />

Friedenslieder machen Mut,<br />

Demokratie bringt Frieden.<br />

Von Alexia Weiss<br />

46 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den <strong>Mai</strong><br />

48 Das letzte Mal<br />

Die Schriftstellerin Christina<br />

Maria Landerl über noch unbekannte<br />

Pessach-Bräuche und<br />

ihre Reise nach Tel Aviv.<br />

S.10<br />

Anna Kypiatkova. Nach<br />

einer gefährlichen Flucht<br />

aus Kiew möchte die junge<br />

Musikerin nun in Wien<br />

durchstarten.<br />

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3<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 3 10.05.22 09:31


Gedenkrede im Parlament<br />

Meine sehr geehrten Damen<br />

und Herren,<br />

bitte erwarten Sie von mir keine Sonntagsrede<br />

mit optimistischen Tönen. Die Lage ist<br />

zu ernst, um Floskelkultur zu praktizieren.<br />

Wir befinden uns – um es mit den Worten<br />

Fritz Sterns zu sagen – in einer Zeit<br />

der kulturellen Verzweiflung angesichts<br />

Verschwörungsdenken, Realitätsverdrehung,<br />

Propaganda, Demokratiezweifel –<br />

und angesichts eines brutalen Krieges, in<br />

dem auch die letzten ukrainischen Shoah-<br />

Überlebenden umgebracht werden.<br />

Der israelische Historiker Jacob Katz<br />

stellte vor 50 Jahren die Frage, ob der Holocaust<br />

als präzedenzloses Menschheitsverbrechen<br />

einen anhaltenden Katharsis-<br />

Effekt haben würde, um „endlich das alte<br />

Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens“<br />

beenden zu können.<br />

Heute wissen wir, dass es nicht die erhoffte<br />

flächendeckende Wende, nicht die<br />

tiefgreifende Zäsur gab.<br />

Die kollektive Emotion Judenhass, sie ist<br />

höchst präsent und aktiv. Einige Fakten aus<br />

der empirischen Forschung:<br />

Nein, Antisemitismus ist keineswegs<br />

primär ein Randgruppenphänomen von<br />

Rechtsradikalen und Islamisten. Ja, Judenfeindschaft<br />

ist ein gesamtgesellschaftliches<br />

Phänomen.<br />

Nein, der klassische Anti-Judaismus ist<br />

keineswegs zurückgedrängt. Ja, über zwei<br />

Drittel aller antisemischen Äußerungen<br />

und Verschwörungsfantasien im Netz 2.0<br />

basieren auf uralten Stereotypen. Und sie<br />

lassen das Echo der Vergangenheit in nie<br />

dagewesener Quantität erschallen.<br />

Nein, Antisemitismus ist kein austauschbares<br />

Vorurteil und auch nicht mit Rassismus<br />

oder Xenophobie gleichzusetzen. Ja,<br />

Judenfeindschaft ist eine singuläre kulturhistorische<br />

Denkkategorie, tief verankert<br />

im kollektiven Bewusstsein.<br />

Nein, Bildung und demokratische Einstellung<br />

schützen keineswegs immer vor<br />

einer judenfeindlichen Gesinnung. Ja,<br />

auch gebildete, modern agierende, renommierte<br />

Personen produzieren Antisemitismen.<br />

Judenfeindschaft kam stets aus der gebildeten<br />

Mitte. Der Großteil der abendländischen<br />

Kultur zeugt davon. Daher ist<br />

die inflationäre Schlagzeile „Judenhass<br />

Die Lage ist zu ernst<br />

Und es ist stets das alte Lied<br />

... Professorin Monika<br />

Schwarz-Friesels Rede<br />

bei der Gedenkveranstaltung<br />

gegen Gewalt und Rassismus<br />

im Gedenken an die<br />

Opfer des Nationalismus im<br />

Parlament über die Verstecke<br />

und Gefahren der sich<br />

mehrenden Antisemitismen.<br />

MONIKA SCHWARZ-FRIESEL<br />

wurde 1961 in Bensberg, Deutschland,<br />

geboren. Sie studierte deutsche und englische<br />

Philologie sowie Psychologie an der Universität<br />

Köln, wo sie auch promovierte und<br />

habilitierte. Sie etablierte mit ihrer Forschung<br />

die kritische Kognitionslinguistik, lehrte als<br />

Universitätsprofessorin für Textlinguistik und<br />

Pragmatik an der FSU Jena und bekleidet seit<br />

2010 einen Lehrstuhl an der TU Berlin.<br />

Monika Schwarz-Friesel, die mit dem israelischen<br />

Historiker Evyatar Friesel verheiratet ist,<br />

arbeitet u. a. zur Interaktion von Sprache, Kognition<br />

und Emotion, zu kognitiver Semantik<br />

und Metaphern sowie über verbale Manifestationen<br />

des aktuellen Antisemitismus.<br />

Anlässlich der Gedenkveranstaltung gegen<br />

Gewalt und Rassismus im Gedenken an die<br />

Opfer des Nationalsozialismus im Wiener<br />

Parlament Anfang <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong> hielt Monika<br />

Schwarz-Friesel den Keynote-Vortrag.<br />

habe die Mitte erreicht“ irreführend. Die<br />

Mitte ist nach wie vor die Quelle – und<br />

ihre geistige Substanz nährt die Ränder,<br />

nicht umgekehrt.<br />

Nehmen wir als aktuelles Beispiel die<br />

Universitäten. In den USA grassiert heute<br />

ein Campus-Antisemitismus: Immer mehr<br />

junge Juden werden dort attackiert. Akzeptanz<br />

findet nur, wer sich antiisraelisch äußert.<br />

Es zeigt sich, dass akademische BDS-<br />

Aktivitäten zu einer massiven Zunahme<br />

antisemitischer Vorfälle führen.<br />

Erinnern wir uns, dass viele Universitäten<br />

in Europa in den Dreißigerjahren<br />

zu den ersten Institutionen gehörten, die<br />

ihre jüdischen Mitglieder drangsalierten<br />

und vertrieben.<br />

Das antijüdische Ressentiment artikuliert<br />

sich im öffentlichen Kommunikationsraum<br />

seit Jahren wieder offener,<br />

selbstbewusster – und selbstverständlicher,<br />

ohne dabei immer die dringend benötigten<br />

Reaktionen in Politik und Zivilgesellschaft<br />

auszulösen.<br />

Da war der Friedensnobelpreisträger<br />

und Menschenrechtsaktivist, der sich gegen<br />

Rassismus engagierte, jedoch wiederholt<br />

den jüdischen Staat mit diffamierenden<br />

Phrasen stigmatisierte, der den Tod<br />

in den Gaskammern mit Apartheidsanalogien<br />

marginalisierte und stereotypfestigend<br />

„die jüdische Lobby“ beschuldigte,<br />

mächtig und angsterregend zu sein. Geschadet<br />

hat dies ihm und seinem weltweiten<br />

Ansehen nicht.<br />

Da ist der renommierte Postkolonialismus-Wissenschaftler,<br />

der mit antijudaistischen<br />

Floskeln Israel dämonisiert und<br />

den Holocaust relativiert. Die Personen<br />

aus der Kunst- und Kulturszene, die Meinungsfreiheit<br />

ausgerechnet für die antise-<br />

© Parlamentsdirektion/Johannes Zinner<br />

4 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 4 10.05.22 09:31


Alter und neuer Antisemitismus<br />

© Parlamentsdirektion/Johannes Zinner<br />

mitische Kampagne der BDS fordern. Die<br />

renommierte Kunst- und Kulturorganisation,<br />

die die Kunstfreiheit auch bei Israelhass<br />

für unantastbar hält. Die Friedensaktivisten<br />

und Antirassismusgruppen,<br />

die für alles und jeden Toleranz haben,<br />

nur in einem einzigen Punkt nicht: für<br />

das jüdische Bedürfnis, nach 2.000 Jahren<br />

Unterdrückung endlich ohne Belehrungen<br />

leben zu wollen.<br />

Im 21. Jahrhundert mutet man Jüdinnen<br />

und Juden viel zu. Ihre Ängste werden<br />

klein geredet, ihr Trauma heruntergespielt,<br />

ihre kollektive Trauer- und<br />

Leiderfahrung durch krude Vergleiche<br />

verhöhnt, die Shoah von einigen Historikern<br />

gar postkolonial usurpiert und damit<br />

trivialisiert.<br />

Stets begleitet von der Beteuerung, mit<br />

Antisemitismus habe all dies selbstverständlich<br />

nichts zu tun.<br />

Der aktuelle Antisemitismus aber, er<br />

lebt und nährt sich nicht nur vom antisemitisch<br />

Ausgesprochenen, sondern<br />

auch vom Dulden, Wegschauen und vom<br />

Leichtnehmen.<br />

Die Lehren, die mit Jahrzehnten der<br />

Verspätung aus Auschwitz und Mauthausen<br />

gezogen wurden, erfassen oft weder<br />

die Ursache noch die Tiefe der kulturellen<br />

Verankerung von judenfeindlichem Denken<br />

und Fühlen. Vor den Konzentrationslagern<br />

gab es über 19 Jahrhunderte lang<br />

ununterbrochen judenfeindliche Kommunikation<br />

als Norm, wohl gemerkt als<br />

Regel, nicht als Ausnahme.<br />

Über die toxischen Wurzeln des Judenhasses<br />

wissen wir nach Jahrzehnten der<br />

Forschung so viel, dass niemand mehr<br />

eine ernsthafte Diagnose für die Therapie<br />

mit dem Hinweis, man wisse noch zu<br />

wenig über Antisemitismus, in die Zukunft<br />

verschieben muss.<br />

Wir wissen sehr genau, wie sich Judenfeindschaft<br />

manifestiert, und kön-<br />

„Wer heute öffentlich den<br />

jüdischen Staat als Apartheidsregime<br />

diffamiert, der<br />

produziert genauso realitätsverzerrenden<br />

Antisemitismus<br />

wie die, die behaupten,<br />

Juden schlachteten<br />

Kinder für rituelle Zwecke. “<br />

nen klar Auskunft geben, wann eine Äußerung<br />

antisemitisch ist.<br />

Wir wissen, wie legitime Kritik abzugrenzen<br />

ist von Sprechakten der Diskriminierung<br />

und Diffamierung.<br />

Doch faktenresistent und wissenschaftsfeindlich<br />

halten viele fest an der<br />

Behauptung, man wolle die Meinungsfreiheit<br />

beschränken und es gebe ein<br />

Kritiktabu. Dabei offenbart sich allzu oft<br />

eine Doppelmoral, man könnte es auch<br />

Scheinheiligkeit nennen: Die toten Juden<br />

ehren, die lebenden als Landräuber, Kindermörder<br />

und Rassisten verunglimpfen.<br />

Ich halte es hier als Wissenschaftlerin mit<br />

Georges Steiner. Man kann eine mit Lügen<br />

gefüllte Sprache nur durch „drastischste<br />

Wahrheiten“ bekämpfen:<br />

Wer heute öffentlich den jüdischen<br />

Staat als Apartheidsregime diffamiert,<br />

der produziert genauso realitätsverzerrenden<br />

Antisemitismus wie die, die behaupten,<br />

Juden schlachteten Kinder für<br />

rituelle Zwecke.<br />

Wie dringend notwendig wären dazu<br />

Stimmen des Bedauerns ob des Missgriffs<br />

in die Schublade unangemessener Rhetorik.<br />

Doch stattdessen selbstgerechte<br />

Unterdrückungs- und Opferfantasien.<br />

Wer in unseren Demokratien von „Zensur“<br />

und von „Gesinnungsdiktatur“ fabuliert,<br />

der sollte beschämt den Blick auf<br />

Länder lenken, wo Menschen für ihre<br />

Meinungsfreiheit weggesperrt oder getötet<br />

werden.<br />

Ganz gleich, in welcher Form und von<br />

wem auch immer artikuliert: Judenfeindliche<br />

Äußerungen müssen ohne Ansehen<br />

der Person – ohne Wenn und Aber –<br />

zurückgewiesen werden. Und zwar auch<br />

dann, wenn es unbequem für die eigene<br />

Realpolitik ist. Abgelegt werden muss<br />

hierbei auch die Zurückhaltung, den<br />

lautstarken islamischen Judenhass unzweideutig<br />

anzusprechen.<br />

Und judenfeindliche Rhetorik nur bei<br />

Radikalen und Extremisten zu brandmarken,<br />

Bildungsbürgern im Feuilleton<br />

jedoch „kritische Reflexionen“ zugestehen:<br />

Das konterkariert jede Aufklärung.<br />

In der Bereitschaft, jedweden Antisemitismus<br />

zu kritisieren, zeigt sich, ob<br />

die rituell benutzten Sprüche „Mit aller<br />

Entschiedenheit“ und „Nie wieder“ ernst<br />

gemeint oder am Ende nur Worthülsen<br />

sind. Benötigt wird eine kommunikative<br />

Ethik und Praxis, die die Macht und das<br />

Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt<br />

und bei aller benötigten Meinungsfreiheit<br />

dann Einspruch erhebt,<br />

wenn vergiftende Wörter benutzt werden.<br />

Freiheit ohne moralische Begrenzung<br />

verliert sich in Intoleranz und Rücksichtslosigkeit.<br />

Die Begrenzung eben<br />

solcher destruktiven Aktivitäten macht<br />

jedoch am Ende eine wirklich humane<br />

Gesellschaft aus. Mit Blick auf die „offene<br />

Gesellschaft“ schrieb daher Karl Popper<br />

vor über 70 Jahren: „Im Namen der Toleranz<br />

sollten wir uns das Recht vorbehalten,<br />

die Intoleranten nicht zu tolerieren.“<br />

Die moralische Substanz einer demokratischen<br />

Gesellschaft muss gefühlt,<br />

getragen und tatsächlich gelebt werden.<br />

Und dies wäre die effektivste Waffe gegen<br />

Judenhass: Antisemitische Äußerungen<br />

immer als das zu kritisieren, was sie sind,<br />

ganz gleich, wie schöngefärbt sie erscheinen.<br />

Denn jeder öffentlich artikulierte<br />

Antisemitismus, der nicht mit aller Entschiedenheit<br />

als solcher angesprochen<br />

wird, verstärkt erneut – und rückwärts<br />

gewandt – das alte kulturelle Normalisierungsgefühl.<br />

Folglich würde Antisemitismus<br />

dann wieder habituell. In bestimmten<br />

Kreisen ist dies schon der Fall.<br />

Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden,<br />

sie durchdringt mit Wucht die<br />

Gegenwart – und sie wird unsere Zukunft<br />

weiterhin gestalten, wenn man sich ihr<br />

nicht stellt und sie explizit beim Namen<br />

nennt. Solange Antisemitismen im Namen<br />

von „Kritik“, „Kunstfreiheit“ oder<br />

„politischer Empörung“ akzeptiert werden,<br />

solange wird Antisemitismus bleiben<br />

und sein geistiges Gift ungehindert<br />

verbreiten.<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 5 10.05.22 09:31


HIGHLIGHTS | 01<br />

Entschädigungsfonds<br />

aufgelöst<br />

Ende April wurde der Entschädigungsfonds für Opfer<br />

des Nationalsozialismus nach vollständiger Erfüllung<br />

seiner Aufgaben aufgelöst.<br />

ie Arbeit des Allgemeinen Entschädigungsfonds hat, über die<br />

„Dgeleisteten Entschädigungen und Restitutionen hinaus, Bedeutung<br />

für das historische Selbstverständnis Österreichs. Der Nationalfonds<br />

versteht dies als Vermächtnis, das es weiterzutragen gilt“,<br />

sagte Generalsekretärin Hannah Lessing und bedankte sich bei allen<br />

Mitarbeiter:innen im Fonds.<br />

Eingerichtet wurde der Fonds 2001 auf Grundlage des Washingtoner<br />

Abkommens. Bis zum Antragsfrist 2003 stellten rund 21.000 Personen<br />

als Verfolgte oder als Erb:innen von Verfolgten einen Antrag.<br />

In Summe leistete der Entschädigungsfonds rund 215 Millionen<br />

US-Dollar an rund 25.000 Begünstigte.<br />

Zudem war auch die Schiedsinstanz für Naturalrestitution beim<br />

Entschädigungsfonds eingerichtet. Diese entschied über Anträge<br />

auf Restitution von öffentlichem Eigentum, vor allem über Liegenschaften<br />

und bewegliche Vermögenswerte. Bei der Schiedsinstanz<br />

langten insgesamt 2.307 Anträge ein, von denen 140 die Voraussetzungen<br />

des Entschädigungsfondsgesetzes für eine Naturalrestitution<br />

erfüllten. Sämtliche Empfehlungen der Schiedsinstanz wurden<br />

durch die öffentlichen Eigentümer:innen umgesetzt. Der Gesamtwert<br />

der zur Rückstellung empfohlenen Vermögenswerte beläuft<br />

sich auf geschätzte 48 Millionen Euro, davon wurden 9,8 Millionen<br />

Euro als vergleichbarer Vermögenswert ausbezahlt. red<br />

Shirat<br />

Dvora<br />

„Ve „Ve at at aliet aliet al kulana:<br />

Du Du erhebst dich dich über über allem“<br />

Ausstellung Dvora Barzilai<br />

Vernissage: Do, Do, 9.6.<strong>2022</strong>, 19:00 19:00<br />

Besichtigung: 10. 10. – 11.6. – 11.6. und und<br />

13. 13. – 14.6., – 14.6., jeweils jeweils 12:00 12:00 – 18:00 – 18:00<br />

Die Die Künstlerin Dvora Dvora Barzilai<br />

möchte in ihrer in ihrer Ausstellung<br />

„Shirat Dvora“ Dvora“ speziell die die<br />

weiblichen Figuren der der Thora Thora<br />

und und ihre ihre Stärken hervorheben.<br />

In ihrer In ihrer Kunst Kunst verbindet sie sie das das<br />

Religiöse mit mit dem dem Weltlichen.<br />

Mit Mit „Shirat Dvora“ Dvora“ möchte die die<br />

Künstlerin zeigen, dass dass Frauen<br />

auf auf allen allen Ebenen schon schon immer immer<br />

viel viel bewegt haben haben und und auch auch<br />

heutzutage eine eine tragende Rolle Rolle<br />

spielen.<br />

Kunstraum Nestroyhof,<br />

Nestroyplatz 1, 1020 1, 1020 Wien Wien<br />

6 wına | März Eintritt <strong>2022</strong>frei<br />

frei<br />

Krassimir Kolev<br />

Krassimir Kolev<br />

91<br />

Die<br />

-jährige<br />

Schoah-Überlebende<br />

Vanda Semjonowna<br />

Obiedkowa kam Anfang<br />

April in Mariupol ums<br />

Leben, als sie im Keller<br />

Schutz vor russischen<br />

Angriffen suchte.<br />

Vanda hat sich 1941<br />

als kleines Mädchen<br />

vor den Razzien der<br />

deutschen SS-Soldaten<br />

in Mariupol ebenfalls in<br />

einem Keller versteckt<br />

und überlebte so die<br />

Schoah. Sie war nun die<br />

zweite Überlebende, die<br />

im aktuellen Krieg gegen<br />

die Ukraine starb.<br />

„Sea Knight“:<br />

Unbemannte<br />

Schnellboote<br />

sollen nicht nur die<br />

Küste, sondern auch<br />

Förderplattformen<br />

bewachen.<br />

Schnellboote<br />

ohne Matrosen<br />

Nach unbemannten Flugzeugen<br />

und Panzern entwickelt jetzt ein israelisches<br />

Unternehmen Drohnen<br />

für den Einsatz auf hoher See.<br />

Die Gasfelder im Mittelmeer haben<br />

die Einsatzszenarien der israelischen<br />

Marine verändert. Seither geht es<br />

nicht mehr nur um die Schutz der eigenen<br />

Küsten, sondern auch um jenen<br />

der Förderplattformen – vor militärischen<br />

oder terroristischen Attacken.<br />

Dafür hat einer der wichtigsten israelischen<br />

Rüstungskonzerne im Staatsbesitz,<br />

Rafael Advanced Defense Systems,<br />

kleine unbemannte Kriegsschiffe<br />

entwickelt. Diese sind mit Tages- und<br />

Nachtkameras und zahlreichen Sensoren<br />

ausgestattet und lassen sich von<br />

bemannten Schiffen in der Nähe steuern<br />

oder von Kontrollzentren an Land.<br />

Als Bewaffnung haben sie ein Maschinengewehr<br />

an Bord, sie können aber<br />

auch mit Wasserkanonen Angreifer in<br />

kleinen Booten abwehren. Schließlich<br />

wurden vor Kurzem erstmals von<br />

einer derartigen Meeresdrohne<br />

auch Raketen abgefeuert, bei<br />

Tests vor der Küste von Ashkelon<br />

im Süden Israels. Die<br />

Raketen haben laut einem<br />

Rafael-Sprecher ihre angepeilten<br />

Ziele getroffen.<br />

Über die genaue Zahl der<br />

„Protector“ oder „Sea Knight“ genannten<br />

unbemannten Schnellboote<br />

hält sich die israelische Marine<br />

bedeckt. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur<br />

Reuters zeigt sich auch<br />

die amerikanische Navy an der neuen<br />

israelischen Technologie interessiert.<br />

Es sei bereits angedacht, gemeinsame<br />

Manöver großer US-Kriegsschiffe der 5.<br />

Flotte mit israelischen Meeresdrohnen<br />

durchzuführen. RE<br />

ERRATUM: Auf Seite 20 der WINA-April-Ausgabe ist der Autorin<br />

ein Fehler unterlaufen: Die Chabad-Bewegung ist im Jahre 1775<br />

von Rabbi Schneur Zalman von Liadi gegründet worden. Nach dem<br />

Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Zentrum in die USA verlegt.<br />

Erst 1951 übernahm Rabbi Menachem Mendel Schneerson offiziell<br />

die Führung als siebter Chabad-Rebbe. Er machte Chabad zur am weitesten<br />

verbreiteten jüdischen Bewegungen der Welt.<br />

© Rafael<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 6 10.05.22 09:31


Maxim Slutski. Seit<br />

Ende Februar ist der<br />

Immobilienspezialist ausschließlich<br />

mit Flüchtlingshilfe<br />

beschäftigt.<br />

Seit rund fünf Jahren gibt es in Wien<br />

die JRCV, die Jewish Russian Speaking<br />

Community Vienna. Der junge Rabbiner<br />

dieser Gemeinde ist ein Chabad-<br />

Schaliach, sein Name ist Moshe Kolomoitsev.<br />

Er stammt aus einer Stadt, die<br />

vielen erst seit Ausbruch des Angriffskriegs<br />

Russlands gegen die Ukraine ein<br />

Begriff ist: aus Dnipro. In der JRCV ist<br />

nun wie in der gesamten IKG seit Ende<br />

Februar alles einem untergeordnet: der<br />

Hilfe für aus der Ukraine geflüchtete<br />

Juden und Jüdinnen. Maxim Slutski,<br />

selbst in Kiew geboren und Mitbegründer<br />

der JRCV, wurde von IKG-Präsident<br />

Oskar Deutsch gebeten, die Ukraine-Hilfe<br />

der gesamten jüdischen<br />

Gemeinde zu koordinieren. WINA traf<br />

Kolomoitsev und Slutski in den JRCV-<br />

Räumlichkeiten in der Wollzeile.<br />

Text: Alexia Weiss , Fotos: Daniel Shaked<br />

„Die Gemeinde ist<br />

zusammengerückt“<br />

eindruckende Bücherwand. Hier sei eine<br />

jüdisch-russische Bibliothek im Aufbau,<br />

gesponsert von einem Philanthropen, erzählt<br />

Slutski. Wenn sie einmal fertiggestellt<br />

sein wird, wird sie die Namen von<br />

von den Nationalsozialisten ermordeten<br />

Juden tragen. An der Adresse gab es in der<br />

NS-Zeit ein Sammellager. „Alles, was hier<br />

gelernt wird, jedes Gebet wird für diese<br />

Menschen bestimmt sein“, so Slutski.<br />

Der wandelbare Mehrzweckraum ist<br />

einmal Synagoge, dann Bibliothek, aber<br />

An einem langen Tisch sitzen ein<br />

paar Frauen und unterhalten<br />

sich, das Smartphone immer in<br />

Griffweite. Sobald eine Nachricht<br />

eintrifft, gleitet der Blick sofort zum<br />

Telefon. Das Handy kann jederzeit eine<br />

Frohbotschaft oder etwas Niederschmetterndes<br />

verkünden. Die Bima ist zur Seite<br />

geschoben, der moderne Thoraschrein<br />

verschlossen, davor ein paar Sesselreihen.<br />

Um die Ecke stapeln sich weitere Stühle.<br />

An einer Wand entsteht gerade eine beauch<br />

Veranstaltungsraum. Hier wird gemeinsam<br />

gebetet, gelernt, gegessen und<br />

gefeiert, hier gibt es Programm für Kinder,<br />

für Studierende, Schiurim für Männer<br />

und Frauen, und einmal gab es auch<br />

schon eine Chuppa. Nun aber ist hier eine<br />

Art Dependance der IKG entstanden –<br />

eine Kommandozentrale in der Seitenstettengasse,<br />

eine zweite in der Wollzeile.<br />

In Letzterer gibt es ein ständiges Kommen<br />

und Gehen. Die Telefone von Slutski und<br />

Rabbiner Kolomoitsev klingeln in einer<br />

Tour, dann stöpseln sie ihre Earbuds in<br />

die Ohren und switchen ins Russische<br />

– beziehungsweise Ukrainische –, wobei<br />

beide erklären: Die Sprachen unterscheiden<br />

sich nicht massiv voneinander.<br />

Ein bisschen sei es so wie mit dem aschkenasischen<br />

und dem sephardischen Ritus<br />

in einem Gottesdienst.<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 7 10.05.22 09:31


Fuß fassen<br />

Rabbiner Moshe Kolomoitsev.<br />

„Und dann<br />

werden wir wieder Leute<br />

abholen. Wir werden niemanden<br />

im Stich lassen,<br />

wir werden helfen.“<br />

Wobei dieser Ritusunterschied<br />

dann doch<br />

wieder eine Rolle spielt,<br />

denn diese Gemeinde<br />

wurde mit Starthilfe von<br />

Chabad-Rabbiner Jacob<br />

Biderman für jene Juden<br />

und Jüdinnen aus der<br />

ehemaligen Sowjetunion<br />

gegründet, die zwar wie<br />

viele andere in Wien auch<br />

Russisch sprechen, aber<br />

eben Aschkenasen sind<br />

und daher im Sephardischen<br />

Zentrum, der Heimat<br />

der Wiener bucharischen,<br />

aber auch georgischen Juden,<br />

nicht so ganz zu Hause sind. Am Ende<br />

geht es dann eben doch um den kleinen<br />

Unterschied. Einerseits.<br />

„Für die Kinder<br />

ist es besonders<br />

schwer.<br />

Sie sind eines<br />

Tages aufgewacht<br />

und<br />

Bomben fielen.<br />

Damit zurechtzukommen,<br />

ist<br />

nicht leicht.“<br />

Rabbiner Moshe<br />

Kolomoitsev<br />

Andererseits besuchten<br />

die Synagoge in der<br />

Wollzeile bisher vor allem<br />

Ukrainer und Russen,<br />

aber auch Weißrussen<br />

und eben Russisch<br />

Sprechende aus anderen<br />

Regionen der ehemaligen<br />

Sowjetunion. Das tun<br />

sie weiterhin, doch inzwischen<br />

begann dieser<br />

Krieg und brachte eine<br />

Zäsur, jedenfalls von außen.<br />

Von innen allerdings<br />

nicht, wie der Rabbiner<br />

betont: „Menschen<br />

aus Russland kommen hierher, sie unterstützen<br />

uns und fragen, wie sie helfen<br />

können, und sagen: Wir entschuldigen<br />

uns für das, was da jetzt passiert.“<br />

Den 24. Februar <strong>2022</strong> werden Slutski<br />

und Rabbiner Kolomoitsev wohl ihr Leben<br />

lang nicht vergessen. Seit Wochen sei<br />

etwas in der Luft gelegen, und an diesem<br />

Tag sei er sehr früh, eigentlich noch mitten<br />

in der Nacht, aufgewacht, erzählt der<br />

Schaliach. „Um fünf Uhr habe ich meine<br />

Frau aufgeweckt, meine Schwiegermutter<br />

lebte ja in Dnipro.“ Diese habe dann<br />

schon ein Foto vom Brand beim Flughafen<br />

geschickt. „Das ist hart. Auch die Bilder<br />

im Fernsehen waren ein Schock. Man<br />

hat Familie dort, Freunde, Bekannte.“<br />

In Dnipro hatte er vor seiner Übersiedlung<br />

nach Wien als Rabbiner vor allem<br />

mit Studierenden gearbeitet, „es kennen<br />

mich einfach viele Leute.“ Er begann, enge<br />

Freunde anzurufen, um Hilfe anzubieten,<br />

zehn bis 15 Menschen seien dies gewesen.<br />

Sie erzählten anderen von der Möglichkeit,<br />

nach Wien zu flüchten, und so hörte<br />

das Telefon an diesem Tag nicht mehr auf<br />

zu klingeln. Slutski, dessen Frau ebenfalls<br />

aus Dnipro stammt, erging es ähnlich. Die<br />

beiden lotsten Flüchtende nach Wien, organisierten<br />

erste Wohnungen, Mahlzeiten,<br />

kümmerten sich um einen Arzt, als<br />

ein Kind erkrankte.<br />

Beiden sei aber nach einigen Tagen<br />

auch klar gewesen: Sie stoßen an die<br />

Grenzen des Machbaren. „Ich kann für<br />

eine Handvoll Freunde eine Woche eine<br />

Airbnb-Wohnung bezahlen, aber mehr<br />

geht nicht“, erzählt der Rabbiner. Inzwischen<br />

sei auch die Ukraine-Hilfe der IKG<br />

angelaufen, und der IKG-Präsident habe<br />

die Kräfte bündeln wollen und bei Slutski<br />

8 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 8 10.05.22 09:31


Unterstützung der IKG<br />

angefragt, ob er die Koordination<br />

übernehmen<br />

wolle. „Ich habe gesagt,<br />

dass ich da zuerst meine<br />

Frau fragen muss.“ Sie hat<br />

offensichtlich ja gesagt,<br />

denn seit Ende Februar<br />

ist Slutski mit nichts anderem<br />

mehr als Flüchtlingshilfe<br />

beschäftigt.<br />

Das, womit er sein Leben<br />

verdient, Geschäfte<br />

– vor allem im Immobilienbereich,<br />

aber auch anderer<br />

Art – einzufädeln<br />

und über die Bühne zu<br />

bringen, hat er hintangestellt.<br />

Nun können alle<br />

Menschen, die nach Wien<br />

kommen wollen, eingeladen<br />

werden.<br />

Neuankömmlinge. Anfang April, als WINA<br />

die beiden besuchte, waren bereits 750<br />

Juden und Jüdinnen aus der Ukraine<br />

in Wien angekommen und vorerst geblieben.<br />

„In den ersten Wochen schickten<br />

wir Busse, die die Menschen von der<br />

Grenze abholten“, berichtet Slutski. Andere<br />

kamen mit ihren Autos. Alle wurden<br />

zunächst in Hotels untergebracht, nach<br />

und nach wurden für sie Wohnungen<br />

gesucht. Das Gros war bis Pessach in die<br />

vorläufigen eigenen vier Wände übersiedelt.<br />

ESRA half bei der Registrierung und<br />

stützte dort, wo psychologische Stütze nötig<br />

war – vor allem bei den Kindern. „Für<br />

sie ist es besonders schwer“, sagt der Rabbiner.<br />

„Sie sind eines Tages aufgewacht<br />

und Bomben fielen. Damit zurechtzukommen,<br />

ist nicht leicht.“<br />

Für die Kinder wurden am Lauder-<br />

Chabad-Campus und an der Zwi-Perez-<br />

Chajes-Schule zudem Klassen eröffnet.<br />

Um alle Kinder unterrichten zu können,<br />

wurden inzwischen bereits Container<br />

aufgestellt, der Unterricht erfolgt im<br />

Team von ukrainischen Lehrern und Lehrerinnen,<br />

die ebenfalls geflüchtet sind,<br />

und ihren österreichischen Kollegen. Das<br />

JBBZ begann sich anzusehen, wer über<br />

welche Qualifikation verfügt.<br />

Aber nicht nur die Einrichtungen der<br />

IKG packten an, berichtet Slutski. „Einfach<br />

alle helfen, vom Beit Halevi bis zur<br />

Machsike Hadass, vom VBJ bis zur georgischen<br />

Gemeinde. Es wurden Hotels<br />

zur Verfügung gestellt, es wurde gespendet,<br />

viele Freiwillige sind im Einsatz. Der<br />

Zusammenhalt in der Wiener jüdischen<br />

Nicht nur die<br />

IKG-Einrichtungen<br />

– „Einfach<br />

alle helfen, vom<br />

Beit Halevi bis<br />

zur Machsike<br />

Hadass, vom<br />

VBJ bis zur georgischen<br />

Gemeinde.“<br />

Maxim Slutski, Koordinator<br />

der Ukraine-<br />

Hilfe in der IKG<br />

Gemeinde ist enorm. Die<br />

Gemeinde ist zusammengerückt“,<br />

streut er allen,<br />

die sich hier engagieren,<br />

Rosen. Allen – es seien einfach<br />

zu viele, um sie aufzuzählen,<br />

Einzelpersonen<br />

wie auch Organisationen.<br />

„Kol hakavod, was hier auf<br />

die Beine gestellt wird.“<br />

Das betont auch der<br />

Rabbiner. „Bevor dieser<br />

Krieg begonnen hat, haben<br />

wir alle ein bisschen<br />

in Parallelwelten gelebt“,<br />

meint er. „Aber jetzt sind<br />

wir einander sehr nahe.<br />

Die Flüchtlingshilfe ist<br />

ein trauriger Anlass. Auf<br />

der anderen Seite ist es<br />

ein Wunder, was uns allen gemeinsam da<br />

gelungen ist.“ Slutski, dessen Mutter in<br />

Deutschland lebt und sich dort ebenfalls<br />

für Geflüchtete aus der Ukraine einsetzt,<br />

sagt, was die Wiener Gemeinde hier vorzeige,<br />

sei beispiellos in Europa. Keine andere<br />

jüdische Gemeinde unterstütze die<br />

Ankommenden so umfassend, wie dies in<br />

Wien passiere.<br />

Rund 600 Mitglieder zählte die JRCV<br />

bisher – viele seien bisher keine Mitglieder<br />

der IKG gewesen. Auch Slutski selbst<br />

nicht, obwohl er hier vor vielen Jahren die<br />

Jugendabteilung der Kultusgemeinde begründete,<br />

dann aber eine andere berufliche<br />

Laufbahn einschlug und zwischenzeitlich<br />

mit seiner zweiten Frau und den<br />

gemeinsamen vier Kindern auch in London<br />

lebte. Nun sind er und seine Familie<br />

aber wieder in die IKG eingetreten, betont<br />

Slutski, und viele andere JRCV-Mitglieder<br />

würden das auch tun. „Was Oskar<br />

Deutsch hier an Hilfe ermöglicht hat, ist<br />

großartig. Wir sind ja auch aus der Ukraine.<br />

Das werden wir nie vergessen. Wenn<br />

wir hier nun die Gemeinde unterstützen<br />

können, dann machen wir das.“<br />

Sollten einige der Neuankömmlinge<br />

nun beschließen, in Wien zu bleiben,<br />

dann könnte die JRVC massiv wachsen. Je<br />

länger der Krieg andauere, je mehr Menschen<br />

würden bleiben, ist Slutski überzeugt.<br />

Einige wollten ursprünglich nur<br />

ein, zwei Nächte bleiben und dann weiterreisen,<br />

erzählt der Rabbiner. Doch die<br />

Unterstützung hier habe sie bewogen zu<br />

bleiben.<br />

Viele der Geflüchteten seien gut ausgebildet.<br />

Sobald sie hier beruflich Fuß fassen<br />

können, werden sie wohl nicht mehr<br />

in die Ukraine zurückgehen, vor allem<br />

dann nicht, wenn ihr Heimatort inzwischen<br />

zerbombt wurde.<br />

Anfang April war der Zustrom ukrainischer<br />

Juden etwas abgeebbt, fünf bis<br />

zehn Anrufe erhalte man pro Tag, nicht<br />

alle würden sich schließlich entscheiden,<br />

nach Wien zu kommen, erzählt Rabbiner<br />

Kolomoitsev. Die Frage sei, ob Russland<br />

auch Dnipro so ins Visier nehme wie Mariupol<br />

oder Charkiw. In Dnipro gibt es<br />

eine große jüdische Gemeinde mit mehreren<br />

zehntausend Mitgliedern. Dann erwarteten<br />

Slutski und der Rabbiner erneut<br />

einen großen Zustrom nach Wien. „Und<br />

dann werden wir wieder Leute abholen.<br />

Wir werden niemanden im Stich lassen,<br />

wir werden helfen.“ Ob dieser Fall zu Erscheinen<br />

dieser Ausgabe bereits eingetreten<br />

sein wird, war zu Redaktionsschluss<br />

nicht absehbar, ebenso wenig, ob der<br />

Krieg inzwischen ein Ende gefunden hat.<br />

Zur Normalität wird man in der Wollzeile<br />

dennoch nicht übergegangen sein,<br />

auch wenn der Rabbiner einräumt, dass<br />

dem Schock in den ersten Kriegstagen ein<br />

merkwürdiger Zustand der Gewöhnung<br />

gefolgt ist. „Man schaut die Nachrichten<br />

an, man sieht, was wieder zerstört wurde,<br />

es ist traurig, aber es ist so, man kann es<br />

nicht ändern. Das Einzige, was man tun<br />

kann, ist zu helfen.“<br />

Am langen Tisch nebenan essen inzwischen<br />

zwei der Frauen einen Teller Suppe.<br />

Ein Handwerker kommt, um von Slutski<br />

Geld zu holen, er muss Küchenmöbel<br />

kaufen und dann zusammenbauen,<br />

einige der Wohnungen, die von Tmicha,<br />

dem Hilfsverein der IKG, für Geflüchtete<br />

angemietet wurden, sind nicht möbliert.<br />

Schon haben die beiden den nächsten<br />

Termin, das Interview ist zu Ende geführt,<br />

beide Herren wurden fotografiert.<br />

Pessach steht zu diesem Zeitpunkt vor<br />

der Tür, man will einen Seder für Neuankömmlinge<br />

organisieren. Eine Feier hat<br />

man auch schon zu Purim organisiert, erzählt<br />

der Rabbiner, und ja, manche hätten<br />

in Frage gestellt, ob es passend sei,<br />

angesichts des Krieges ein Fest zu begehen,<br />

aber andererseits habe es vor allem<br />

den Kindern kurze Momente der Unbeschwertheit<br />

beschert, ein kleines Stückchen<br />

Normalität. Beim Verlassen des<br />

Zentrums der JRCV fällt eine Frau mittleren<br />

Alters auf. Etwas verloren steht sie<br />

im Eingangsbereich, sie schaut zu Boden<br />

und weint. Manche Wunden werden noch<br />

lange brauchen, um zu heilen, so sie dies<br />

jemals tun.<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 9 10.05.22 09:31


Krieg in der Ukraine<br />

Schauplatz ist das Theater Drachengasse<br />

im ersten Bezirk am ersten April-Samstag:<br />

Kaum ist die Musik verklungen,<br />

der Applaus verebbt, schultert<br />

die junge Frau den klobigen Koffer mit ihrem<br />

Saxofon und läuft in den Regen hinaus.<br />

Anna hat noch einen weiteren musikalischen<br />

Auftritt an diesem Abend, und<br />

sie muss pünktlich sein: Beide Gigs hat sie<br />

spontan durch persönliche Empfehlungen<br />

bekommen, und sie darf niemanden enttäuschen.<br />

Menschlicher Beistand ist jetzt ihr<br />

wertvollstes Gut: Anna Kypiatkova erreichte<br />

das sichere Wien erst vor einigen Wochen,<br />

nach einer überstürzten und gefährlichen<br />

Flucht aus Kiew.<br />

„Ich spiele mehrere Instrumente, aber<br />

als es galt, schnell das Wichtigste zu packen,<br />

entschied ich mich für das Saxofon.“<br />

Ein bemühtes Lächeln huscht über das<br />

zarte Gesicht der 29-Jährigen, als sie traurig<br />

anmerkt, dass sie nicht nur ihre Wohnung<br />

samt Inhalt, sondern auch ihren älteren<br />

Bruder und die gesellige Katze verlassen<br />

musste. „Am 19. Februar habe ich noch mit<br />

Freunden meinen Geburtstag gefeiert, ein<br />

paar Tage später wurde ich vom Detonationslärm<br />

über der Stadt frühmorgens aufgeschreckt.“<br />

Auf dem I-Phone fand sie nur<br />

besorgte Fragen und die schlimme Nachricht,<br />

dass Kiew bombardiert wird. „Ich<br />

lief verwirrt in der Wohnung herum, dann<br />

schnappte ich meinen Laptop, das Saxofon,<br />

den einzigen Goldring, den ich besitze,<br />

meine Katze und den Reisepass. Ich fuhr<br />

zum Bahnhof, um einen Zug nach Lemberg<br />

zu erwischen.“ Das aggressive Gedränge<br />

auf dem Bahnhof war so unerträglich, dass<br />

Anna bald kapitulierte.<br />

Dann ging alles sehr schnell: Annas Bruder<br />

Nikolaj setzte sich im 600 Kilometer südlich<br />

von Kiew entfernten Mykolajiw ins Auto<br />

und raste zur Schwester in die Hauptstadt.<br />

„Nikolaj wollte mich mit dem Wagen an die<br />

polnische Grenze bringen, denn Flüge gab<br />

es nach dem 24. Februar bald keine mehr“,<br />

berichtet die Musikerin. Kurz vor der Abfahrt<br />

rannte ihnen eine Frau mit Tochter<br />

entgegen und bettelte darum, mitfahren zu<br />

dürfen. Die Grenze zu Polen konnten die vier<br />

verschreckten Menschen nicht erreichen,<br />

weil sie auf den Ausfahrtsstraßen ständig<br />

unter Artilleriebeschuss kamen. „Wir mussten<br />

ständig wenden und nach Auswegen suchen.<br />

Dann schafften wir es endlich in Richtung<br />

Republik Moldau zum Grenzübergang<br />

Mamalyha.“<br />

Was Hilfsbereitschaft in diesen Tagen bedeutete,<br />

erfuhr Anna bereits an der Grenze:<br />

„Einzelne Frauen sprachen uns – wildfremde<br />

Anna mit<br />

dem Saxofon<br />

Fünf Tage nach ihrem 29. Geburtstag fielen<br />

Raketen auf Kiew. Nach einer gefährlichen<br />

Flucht möchte die junge Musikerin Anna<br />

Kypiatkova in Wien durchstarten.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

© Reinhard Engel; Privat<br />

10 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 10 10.05.22 09:31


Hoffnung auf Neuanfang<br />

© Reinhard Engel; Privat<br />

Menschen – an, luden uns in ihre<br />

Wohnung ein, wo sie uns mit allem<br />

versorgten. Es war unfassbar“, erinnert<br />

sich Anna. Der Ehemann der<br />

Quartiergeberin brachte sie dann bis<br />

zur rumänischen Grenze. „Dort traf<br />

ich auf einen Armenier, der mir auch<br />

zu essen gab. Er half mir, ein Bussticket<br />

nach Bukarest zu kaufen.“ Dort<br />

kam Anna total erschöpft nach einer<br />

15-stündigen Fahrt an.<br />

Ihr Zielort war Wien, denn da hat sie<br />

Freunde, unter anderen einen iranischen<br />

Musiker, der bereits zehn<br />

Jahre in Wien lebt und den sie von<br />

ihren musikalischen Tourneen<br />

kannte. Denn vor „normalen“ Reisen<br />

und professionellen Abenteuern<br />

in Friedenszeiten war Anna nie<br />

zurückgeschreckt – im Gegenteil, sie<br />

musizierte mit unterschiedlichen<br />

Formationen nicht nur in China,<br />

sondern auch in Saudi-Arabien. „Ich<br />

hatte sowohl ein israelisches Studenten-<br />

wie auch ein Arbeitsvisum im Reisepass,<br />

aber die Saudis haben nicht nachgefragt“,<br />

wundert sich die Tochter einer<br />

Ingenieurin und eines Ingenieur, die 1993<br />

in Mikolajiw in der Nähe von Odessa geboren<br />

wurde. Bereits mit sechs Jahren bekam<br />

Anna Gesangsunterricht, da die Mutter ihr<br />

gutes Gehör entdeckt hatte. „Ich war sehr<br />

schüchtern und habe eher leise gesungen,<br />

deshalb empfahl meine Lehrerin, dass ich<br />

Flöte lernen sollte, um meine Lungen zu<br />

stärken. Die Flöte lag mir nicht so sehr, ich<br />

entschied mich für das Saxophon, das war<br />

cooler und jazzy!“<br />

Das permanente Üben mit elf Jahren fiel<br />

Anna schwer, denn sie wollte lieber mit ihren<br />

Freundinnen Spaß haben. Aber mit 15<br />

kam die Wende: Ein außergewöhnlicher<br />

Lehrer und Musiker an der Musikschule<br />

in Mikolajiw begeisterte sie so sehr, dass<br />

sie nicht nur plötzlich fleißig wurde, sondern<br />

mit 17 Jahren befand, dass ihre Geburtsstadt<br />

für eine Karriere als Musikerin<br />

zu klein war, und so zog sie nach Kiew,<br />

um dort das Musikkonservatorium zu besuchen.<br />

„Ich stand um 6 Uhr früh auf und<br />

probte täglich fast sieben Stunden – es hat<br />

sich gelohnt“, weiß Anna. Gleich nach dem<br />

Studienabschluss engagierte man sie als<br />

Teil einer 20-köpfigen Künstlergruppe für<br />

eine zweimonatige Tournee durch sechs<br />

deutsche Städte, darunter Bremen, Hannover<br />

und München.<br />

„Das war eine wunderbare Erfahrung,<br />

und bald darauf folgten Auftritte in Indien.<br />

Anna Kypiatkova<br />

musste aus Kiew flüchten<br />

und fand in Wien Schutz<br />

und einen musikalischen<br />

Neubeginn.<br />

Dort engagierte man uns<br />

für Hochzeiten und Feste<br />

à la Bollywood“, lacht die<br />

Brünette, die sich manchmal<br />

die Haare auch feuerrot<br />

färbt. Die Indien-Tournee<br />

dauerte zwei Monate,<br />

mit dem Honorar konnte<br />

sie sich danach in Kiew eine Wohnung kaufen.<br />

„Es hält mich nicht lange an einem Ort,<br />

und so unterschrieb ich einen dreimonatigen<br />

Kontrakt für China.“ Das reine Frauenorchester<br />

spielte 2016 klassische Musik<br />

für chinesische Ohren. Danach formierte<br />

sich eine fünfköpfige weibliche Blasinstrumentengruppe,<br />

die in der Folge für eine<br />

Kreuzfahrt von St. Petersburg bis nach Miami<br />

und zu den karibischen Inseln führte.<br />

An dieser regen Auslandstätigkeit scheiterte<br />

auch ihre kurze Ehe, weil sie beide als<br />

Musiker ständig separat unterwegs waren.<br />

„Ich kann mich nicht erinnern, dass<br />

wir sehr religiös waren, aber mit 12 gingen<br />

ich und mein Bruder in die jüdische<br />

Schule und zu den Aktivitäten von Chessed<br />

Fund. Meine Großmutter war Mitglied<br />

„Ich lief verwirrt<br />

in der Wohnung<br />

herum, dann<br />

schnappte ich<br />

meinen Laptop,<br />

das Saxofon,<br />

den einzigen<br />

Goldring, den ich<br />

besitze, meine<br />

Katze und den<br />

Reisepass.“<br />

der jüdischen Gemeinde, wir gingen<br />

manchmal in die Synagoge.“<br />

Nach der <strong>Mai</strong>dain-Revolution 2014<br />

machten Großmutter, Mutter und<br />

der jüngere Bruder Alija nach Israel.<br />

Annas Vater war gestorben, als sie<br />

elf Jahre alt war. „2020 war ich sieben<br />

Monate im Oranim Academic<br />

College* in der Nähe von Haifa und<br />

habe dort Ivrith und jüdische Fächer<br />

studiert, aber ich wollte, ehrlich gesagt,<br />

in Europa leben und arbeiten“,<br />

erzählt sie. Verursacht durch<br />

die kulturlose Pandemie war Anna<br />

kurzfristig auch Geschäftsfrau: Mit<br />

ihrer Freundin und Geigerin eröffneten<br />

sie einen italienischen Eissalon<br />

in Kiew: „Wir mussten von etwas<br />

leben!“<br />

Kurz vor ihrem 29. Geburtstag<br />

kehrte Anna im Februar <strong>2022</strong><br />

von der Tournee aus Jedda nach<br />

Kiew zurück. „Wir waren zwei Monate<br />

dort, haben sogar für den Formel-1-Zirkus<br />

gespielt“,<br />

lacht sie. Als sie fünf<br />

Tage vor Kriegsbeginn<br />

mit Freunden feierte,<br />

konnte sie nicht ahnen,<br />

dass sie zwölf Tage später<br />

in Wien als Flüchtling<br />

landen würde. Ein<br />

Bekannter aus Kiew<br />

gab ihr die Kontaktdaten<br />

zur IKG in Wien.<br />

„Gleich hat mich Rabbi<br />

Moshe Kalamoizev für<br />

Schabbat eingeladen,<br />

dann habe ich sogar<br />

zwei Wochen für ihn arbeiten<br />

dürfen. Ich habe<br />

die Listen der anderen<br />

Geflüchteten zusammengestellt. Die Unterstützung<br />

und Hilfsbereitschaft war einfach<br />

überwältigend“, berichtet die Musikerin,<br />

die hier gerne Fuß fassen möchte.<br />

Ein englischsprachiges Ehepaar aus der<br />

jüdischen Gemeinde nahm Anna einige<br />

Tage bei sich auf, bis die IKG eine kleine<br />

Wohnung für sie zur Verfügung stellen<br />

konnte. Das Einzige, was noch zu ihrem<br />

neuen Glück fehlte, war das Saxofonspielen.<br />

Aber auch da traf sie auf offene Ohren<br />

und Herzen: Der Komponist und Chorleiter<br />

Roman Grinberg baute sie ebenso spontan<br />

in sein MuTh-Programm als Special<br />

Guest ein wie der Pianist und Musiker Belush<br />

Korenyi für die Auftrittsserie im Theater<br />

in der Drachengasse.<br />

* Oranim ist eine Pädagogische Hochschule im Norden Israels. Das College wurde<br />

1951 von der Vereinigten Kibbuz-Bewegung gegründet.<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 11 10.05.22 09:31


Jugend-Aufzeichnungen<br />

INTERVIEW MIT ARYE SHARUZ SHALICAR<br />

Wo der gelungene<br />

Ausstieg zum klaren<br />

Aufstieg wurde<br />

Vom Gang-Mitglied in Berlin-Wedding in das<br />

Machtzentrum der israelischen Politik schaffte<br />

es der deutsch-persisch-israelische Politologe<br />

und Schriftsteller. Wie das geht, erklärt er bisher<br />

in drei Büchern. Interview: Marta S. Halpert.<br />

WINA: „Er war ein König der Kleingangster in Berlin, damals<br />

in seiner Weddinger Jugend: Dealer, Sprayer, Messerstecher.<br />

Und er war Jude, angefeindet, bedroht. Arye<br />

Sharuz Shalicar suchte nach seiner Identität – und hat sie<br />

gefunden: Er ging nach Israel“, schreibt der Berliner Tagesspiegel<br />

2014 in einem Porträt über Sie. Was in der Beschreibung<br />

noch fehlt, ist Ihr Studium der Politologie, des Judaismus<br />

und des Islam – und Ihre Karriere als Sprecher der<br />

israelischen Armee sowie die Tatsache, dass Sie heute als<br />

Beamter für sicherheitspolitische Fragen im Kabinett von<br />

Regierungschef Bennet sitzen. Erst im Jahr 2010 – also neun<br />

Jahre nach der Alija – ist ihr erstes Buch* über Ihre Jugendzeit<br />

erschienen. Warum hat das solange gedauert?<br />

Arye Sharuz Shalicar: Es war Zufall, dass es überhaupt<br />

dazu gekommen ist. Bereits im Jahr 2000<br />

reiste ich nach Frankreich, Israel und nach Los Angeles<br />

und stellte mir dabei immer wieder die Frage,<br />

was ich aus meinem Leben machen möchte. Schon<br />

damals schrieb ich meine Erlebnisse und Gedanken<br />

auf lose Blätter. Als ich mich für Israel entschieden<br />

hatte, waren es knapp 300 Seiten. Diese Notizen waren<br />

eigentlich für meine Kinder gedacht: Auf ihre<br />

Fragen, wie „Papa, warum bist du aus Berlin weggezogen“,<br />

wollte ich mit diesen Aufzeichnungen antworten.<br />

Doch es kam anders?<br />

I Ja, denn ich habe damals für den ARD-Korrespondenten<br />

Richard C. Schneider in Tel Aviv gearbeitet,<br />

und in einem privaten Gespräch hat er mich befragt<br />

und danach gedrängt, das niederzuschreiben. Als ich<br />

meinte, das wäre doch alles sehr persönlich, großteils<br />

auch unangenehm, wegen der Drogen, wegen<br />

des Zustechens, lautete seine Antwort: „Aber das ist<br />

doch die Realität!“ Er hat mich sofort zu seinem Verleger<br />

in München vermittelt.<br />

Im September 2021 kam die Verfilmung Ihres ersten Buches<br />

ins deutsche Kino. Jüngst konnte man Ein nasser Hund ist<br />

Arye Sharuz<br />

Shalicar beim<br />

WINA-Interview in<br />

Wien.<br />

* Ein nasser Hund ist<br />

besser als ein trockener<br />

Jude. Die Gesychichte<br />

eines Deutsch-Iraners, der<br />

Israeli wurde. dtv 2010.<br />

besser als ein trockener Jude beim Jüdischen Filmfestival<br />

Wien sehen. Haben Sie diese Offenheit je bereut?<br />

I Nein, weil ich gemerkt habe, wie dieses Outing –<br />

das Buch, der Film – mir hilft, meine Vergangenheit<br />

zu bearbeiten.<br />

Sie sprechen noch immer in der Gegenwart, „hilft“. Sie wurden<br />

1977 in Göttingen geboren, Ihre jüdischen Eltern waren<br />

aus dem Iran geflohen. Sie sind 45 Jahre alt, verheiratet,<br />

haben zwei Kinder. Aber auch die Niederschrift hat Ihnen<br />

nicht geholfen, das Jugendtrauma in den Griff zu kriegen?<br />

I Das Schreiben hilft jedem bei der Traumabewältigung,<br />

der das als Instrument wählt. Mir hat das Schreiben<br />

sehr geholfen, und es hilft mir bis heute: Mein<br />

neuestes Buch, das im Herbst <strong>2022</strong> erscheint, heißt<br />

Shalom Habibi, und auch darin geht es um die Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft, denn es handelt<br />

vom muslimisch-jüdischen Verhältnis, was ich<br />

darüber weiß und was ich tagtäglich in meiner Arbeit<br />

wahrnehme. Da kommen meine Erfahrungen in<br />

Deutschland ebenso vor wie jene mit meinen muslimischen<br />

Freunden in der israelischen Armee und<br />

dank der beruflichen Reisen in der Region.<br />

Ihr zweites Buch Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden<br />

heute zu Deutschland? haben Sie 2018 veröffentlicht.<br />

Was war hier der Auslöser?<br />

© Marta S. Halpert<br />

12 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 12 10.05.22 09:31


Den Spiegel vorhalten<br />

© Marta S. Halpert<br />

ARYE SHARUZ SHALICAR,<br />

geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-persischisraelischer<br />

Politologe und Schriftsteller. Als Jugendlicher<br />

gründete er im Berliner Wedding Deutschlands<br />

berüchtigtste Graffiti-Gang Berlin Crime. Er<br />

diente in der Bundeswehr und wanderte 2001 nach<br />

Israel aus. An der Hebräischen Universität Jerusalem<br />

studierte er Nahostgeschichte und Politik und<br />

schloss 2006 (BA) und 2009 (MA) mit Auszeichnung<br />

ab. Danach diente er als offizieller Sprecher<br />

der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Seit 2017<br />

ist er für die israelische Regierung tätig.<br />

I 70 Jahre nach dem Holocaust frage ich mich, ob Juden<br />

heute zu Deutschland gehören und wie willkommen<br />

sie wirklich sind. Drei Generationen nach der<br />

Shoah frage ich mich, ob Deutschland sich in seiner<br />

Haltung den Juden gegenüber wirklich grundlegend<br />

verändert hat. Nur das Motto „Nie wieder“ zu predigen,<br />

reicht nicht mehr. Ich habe für dieses Buch<br />

fast sieben Jahre recherchiert, mit deutschen Spitzenpolitikern,<br />

NGOs, Journalisten, Polizisten, Bundeswehrsoldaten,<br />

Akademikern und christliche Pilgergruppen<br />

gesprochen: Es wird einem mit der Zeit<br />

übel, weil die Menschen teilweise mit ganz dummen<br />

und falschen Narrativen daherkommen. Verschwörungstheorien,<br />

die nun während der Corona-Pandemie<br />

hochgekommen sind, hörte ich schon Jahre<br />

früher. Daher habe ich mich in diesem Buch einiges<br />

getraut, denn ich habe es nicht für Israelis oder<br />

Juden, sondern nur für die Deutschen geschrieben,<br />

denen ich damit den Spiegel vorhalte.<br />

Welche Ratschläge findet man in Ihrem dritten Buch 100<br />

Weisheiten, um das Leben zu meistern: Selbst wenn du aus<br />

dem Ghetto stammst?<br />

I Seit meiner Autobiografie wurde ich bei vielen Gelegenheiten,<br />

ob bei Lesereisen oder als Sprecher der<br />

israelischen Armee, immer wieder gefragt: Wie kann<br />

es sein, dass du es geschafft hast, da rauszukommen<br />

und ein normales Leben zu führen? Da diese Fragen<br />

eigentlich nie aufhörten, wollte ich jungen Männern<br />

aus prekären Milieus Perspektiven geben und Wege<br />

in ein geregeltes Leben aufzeigen. Weil ich Jude bin,<br />

werde ich von Muslimen wahrscheinlich nicht gerne<br />

gelesen. Andererseits glaube ich, dass meine „Street<br />

Credibility“ wirkt: Wenn sie merken, dass ich weiß,<br />

wie sie ticken, dann lassen sie sich darauf ein.<br />

Sie waren im Sudan, Oman, in Ägypten, aber auch in<br />

Ländern, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel<br />

haben. Haben Sie für diese Aufgaben eine Geheimdienstausbildung?<br />

I Nein, ich bin Beamter ohne politische Zugehörigkeit<br />

oder Abhängigkeit. Als Israel Katz 2019 Außenminister<br />

wurde, reiste ich mit ihm in den Oman.<br />

So habe ich einfach das Glück, bestimmte Dinge zu<br />

sehen.<br />

Katz war von 2015 bis 2020 auch Minister für die Nachrichtendienste?<br />

I Ich arbeite seit 2017 als Abteilungsleiter für „Internationale<br />

Beziehungen“ im Büro des Premierministers<br />

in Jerusalem. Mein direkter Vorgesetzter ist<br />

jetzt auch der Minister für die Nachrichtendienste,<br />

Elazar Stern. Meine Aufgabe ist die Sicherheitspolitik:<br />

Wenn Israel Kontakte mit den Vereinigten Arabischen<br />

Emiraten aufnimmt, muss man im Vorfeld<br />

einiges vorbereiten. Ist der Frieden mit einzelnen<br />

arabischen Ländern noch sehr neu, muss man<br />

schauen, auf welchen Gebieten man sich näher kommen<br />

kann.<br />

Sie haben als Major – genauso wie Minister Stern – die israelische<br />

Armee verlassen. Davor waren Sie acht Jahre einer<br />

der vier offiziellen Sprecher der israelischen Armee und<br />

sind jetzt Militärsprecher in Reserve. Was bedeutet das<br />

konkret?<br />

I Zum Beispiel, dass ich während des Israel-Gaza-<br />

Konfliktes 2021 mit der Hamas als Sprecher der israelischen<br />

Streitkräfte wieder reaktiviert worden bin.<br />

Wenn morgen – G-tt behüte – Krieg ist, bin ich in<br />

Uniform.<br />

„Verschwörungstheorien,<br />

die nun<br />

während der<br />

Corona-Pandemie<br />

hochgekommen<br />

sind, hörte ich<br />

schon Jahre<br />

früher.“ Arye<br />

Sharuz Shalicar<br />

Tif vi di<br />

Nakht<br />

Konzert mit Ethel Merhaut<br />

23.05.<strong>2022</strong>, 20:30<br />

Porgy & Bess<br />

Belush Korenyi | Klavier<br />

Chris Kronreif | Klarinette und Saxophon<br />

Ilse Riedler | Saxophon<br />

Marc Osterer | Trompete<br />

Benjy Fox-Rosen | Kontrabass und Gesang<br />

Maria Petrova | Schlagzeug<br />

Gemeinsam mit ihrem Ensemble<br />

lustwandelt die Sängerin<br />

virtuos zwischen Chanson, Jazz<br />

und Swing. Sie entführt das<br />

Publikum in die goldene Ära der<br />

Film- und Unterhaltungsmusik.<br />

Mato Johannik<br />

Tickets: wına-magazin.at<br />

www.porgy.at 13<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 13 10.05.22 09:31


Ausbau erneuerbarer Energien<br />

INTERVIEW MIT EVELINE STEINBERGER-KERN<br />

„Energiemarkt: eine Vielzahl von<br />

neuen Playern“Die österreichische Unternehmerin Eveline<br />

Steinberger-Kern, die seit acht Jahren in<br />

Israel in der Technologiebranche aktiv ist, im Interview<br />

mit Reinhard Engel über die Unterschiede<br />

zwischen Österreich und Israel, über Abhängigkeiten<br />

von Energielieferanten und über einschlägige<br />

Innovationen.<br />

WINA: Österreich und Israel sind von der Bevölkerung her vergleichbare<br />

Länder, und doch unterscheiden sich ihre Energiesysteme<br />

deutlich, bei den Verbrauchern, den Erzeugern und<br />

auch bei den Netzen. Beginnen wir bei den Verbrauchern.<br />

Steinberger-Kern: Von der Bevölkerung her liegen<br />

Österreich und Israel etwa gleich auf, was die Fläche<br />

betrifft, entspricht jene Israels etwa der von Niederösterreich.<br />

Tatsächlich ist aber die Situation, was<br />

die Verbraucher angeht, in Israel eine etwas andere.<br />

Wir haben dort im Vergleich zu Österreich, aber auch<br />

zu anderen europäischen Ländern oder zu den USA<br />

deutlich weniger Verbrauch durch die Industrie. Es<br />

gibt einfach weniger Schwerindustrie im Land.<br />

Und die geografische Lage?<br />

Eine wesentliche Rolle spielt natürlich das Klima. Im<br />

Sommer hat es immer wieder weit über 40 Grad, die<br />

Kühlung von Kraftwerken, Büros oder Wohnungen<br />

benötigt extrem viel Energie. Und es gibt eine andere<br />

Bürokultur, es wird sehr stark klimatisiert. Vor<br />

den großen Gasfunden im Mittelmeer und dem Ausbau<br />

neuer Gaskraftwerke hat es an sehr heißen Tagen<br />

schon Engpässe beim Strom gegeben, einzelne<br />

Verbraucher mussten ihren Energieverbrauch reduzieren.<br />

Wie vergleicht sich der Energieverbrauch insgesamt in beiden<br />

Ländern?<br />

Der Stromverbrauch in Israel ist in den letzten 20 Jahren<br />

stark gestiegen und wird auch weiter steigen. Pro<br />

Kopf ist der Verbrauch durchaus mit Österreich vergleichbar.<br />

Eveline Steinberger-<br />

Kern hat seit 2014 vier<br />

eigene Unternehmen<br />

im Bereich der digitalen<br />

Services in Wien und Tel<br />

Aviv gegründet.<br />

Wie unterscheiden sich die Energiequellen der beiden Länder<br />

– von Importen von Kohle, Öl und Gas bis zur eigenen<br />

Stromerzeugung und der eigenen Förderung von Kohlenwasserstoffen?<br />

Österreich ist ja etwa auf der Gas-Seite sehr<br />

von russischen Lieferungen abhängig, hat Israel hier besser<br />

diversifiziert?<br />

Zunächst muss man zu Österreich sagen, dass wir<br />

trotz der vielen Wasserkraft auch beim Strom ein Importland<br />

sind, etwa zehn Prozent unseres Strombedarfs<br />

können wir derzeit nicht selbst decken. Aber<br />

insgesamt ist Österreich bei den erneuerbaren Energiequellen<br />

bei der Stromerzeugung sehr weit, diese<br />

machten zuletzt etwa 78 Prozent aus, der EU-Schnitt<br />

liegt nur bei knapp über 30 Prozent. Die Abhängigkeiten<br />

beim Gas sind offensichtlich; der aktuelle Energiepreisanstieg<br />

trifft in Österreich die Industrie hart.<br />

Israel hat seine eigenen großen Gasfunde im Mittelmeer,<br />

die beiden Felder Tamar und Leviathan liefern<br />

seit 2013 und 2019. Ein Gutteil von diesem Gas<br />

wird verstromt, einige der alten Kohlekraftwerke<br />

wurden bereits umgestellt, neue Gaskraftwerke<br />

wurden gebaut. 2020 war der Schlüssel 67 Prozent<br />

Gas und 18 Prozent Kohle. Von Letzterer wurde ein<br />

Teil aus Russland geliefert, aber dieser dominierte<br />

nicht. Sechs Prozent der Energie kam aus erneuerbaren<br />

Energiequellen. Das steigt aber nun rasch an.<br />

Damit liegt Israel bei den erneuerbaren Energiequellen doch<br />

deutlich zurück?<br />

© Reinhard Engel<br />

14 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 14 10.05.22 09:31


Innovatives Israel<br />

© Reinhard Engel<br />

I Ja, aber das wird sich schon in kurzer Zeit ändern.<br />

Das Ziel für so genannte Renewables für 2025 ist im<br />

Vergleich zur Ausgangssituation ambitioniert: 21 Prozent.<br />

Der Ausbau wird jetzt massiv angekurbelt. Natürlich<br />

hat hier Israel eine andere Ausgangslage als<br />

Österreich, kaum Wasserkraft, wenig Wind. Aber es<br />

gibt auch interessante einzelne Beispiele, etwa den<br />

Kibbuz Maale Gilboa mit einem Pumpspeicherkraftwerk.<br />

Insgesamt dominiert natürlich die Energie aus<br />

Fotovoltaik, und diese wird jetzt massiv ausgebaut.<br />

Warum hat das bisher so lang gebraucht? War die nationale<br />

Stromgesellschaft IEC der Bremser?<br />

I Das lag nicht nur an der IEC. Die Energiemarktliberalisierung<br />

hinkt hinter jener in der EU hinterher.<br />

So musste der Marktführer schon einige Gaskraftwerke<br />

abgeben. Die IEC hat kein Monopol mehr, sie<br />

war 2020 noch für 61 Prozent der Stromerzeugung<br />

verantwortlich, das Ziel Israels ist es, die IEC auf ein<br />

Drittel des Marktes zu beschränken. Dabei hilft auch<br />

die intensive staatliche Förderung von Fotovoltaikanlagen<br />

– nicht für Private, sondern für Unternehmen.<br />

Hier tut sich wirklich wahnsinnig viel, es gibt<br />

eine Vielzahl von neuen Playern mit neuen Geschäftsmodellen,<br />

ich sehe das auch in meinen eigenen Aktivitäten<br />

der Blue Minds Group in Israel. Telekom-<br />

Provider, Supermarktketten, Immobilienentwickler<br />

nutzen alle ihre Flächen auf den Dächern für neue<br />

Sonnenkollektoren und kombinieren das auch mit<br />

Batterien für die Nächte, um insgesamt unabhängiger<br />

von fossilen Energieträgern zu werden.<br />

Ist das für den Eigenbedarf, oder speisen sie auch ins Stromnetz<br />

ein?<br />

I Sowohl als auch. Das Einspeisen hängt natürlich<br />

auch davon ab, wie attraktiv die Preise zum jeweiligen<br />

Zeitpunkt sind. Dafür braucht es neue Software-<br />

Lösungen, wie wir sie etwa mit Start-ups entwickelt<br />

haben, um dieses Angebot-Nachfrage-Spiel bewältigen<br />

zu können. Diese Lösungen können aufzeigen, zu<br />

welchem Zeitpunkt es besser ist, selbst zu konsumieren,<br />

und wann ist es besser, einzuspeisen oder umgekehrt<br />

vom Netz zuzukaufen.<br />

Und schließlich zeigen auch die Netze deutliche Unterschiede,<br />

von der Einbindung in die jeweilige Region bis zur<br />

Gestaltung im eigenen Land.<br />

I Israel hat auf Grund der geopolitischen Lage keine<br />

vergleichbare Einbettung in die Region wie europäische<br />

Länder. Es hat immer wieder Überlegungen gegeben,<br />

von diesem Inseldasein wegzukommen. Man<br />

hat versucht, das Stromnetz mit Jordanien zusammenzuschließen,<br />

zwischen Eilat und Akaba. Das ist<br />

gescheitert. Später hat man versucht, mit der Türkei<br />

eine Stromverbindung herzustellen, das wurde<br />

durch die Verschlechterung der politischen Situation<br />

verhindert. Der neueste Versuch ist jetzt ein Eurasia-<br />

Interconnector, ein Unterseestromkabel zwischen Israel,<br />

Kreta, Zypern und dem europäischen Festland.<br />

Das soll 2024 gebaut werden.<br />

Kommen wir zu Ihrem eigenen Geschäft. Wo sehen Sie momentan<br />

im Bereich Start-ups und Energie Bewegung?<br />

I Israel ist seit mehreren Jahrzehnten führend, was<br />

digitale Transformation angeht, und hat ein außergewöhnlich<br />

fortgeschrittenes Innovationsökosystem.<br />

Das wird von staatlicher Seite,<br />

vom Innovationsministerium, besonders<br />

gut gefördert, Risiko in<br />

der Frühphase wird übernommen,<br />

es gibt zahlreiche Inkubatoren etc.<br />

Das war bisher vor allem in anderen<br />

Sektoren konzentriert, bei Halbleitern,<br />

im Bereich Cyber Security,<br />

Agrartechnologie, Medizintechnik<br />

und Pharmazie. Seit Neuestem,<br />

und das ist eine schöne Entwicklung,<br />

wird jetzt großes Augenmerk<br />

auf den wichtigen Bereich Energie<br />

und Klimaschutz gelegt. Die Israelis<br />

sind wirklich ein Phänomen:<br />

Sie können sich innerhalb kürzester<br />

Zeit adaptieren und auf einen<br />

neuen Trend setzen, Ressourcen<br />

neu konzentrieren. Staatliche Programme<br />

unterstützen das ebenso<br />

wie Risikoinvestoren. Einschlägige<br />

Universitätsinstitute gab es ja schon<br />

länger, aber jetzt wird dort verstärkt<br />

gegründet, es entstehen junge Unternehmen<br />

mit neuen Geschäftsmodellen.<br />

Wir haben das sehr erfreut<br />

wahrgenommen.<br />

Sie sind ja selbst in diesem Umfeld aktiv.<br />

I Die Blue Minds Group beschäftigt sich seit ihrem<br />

Start 2014 genau damit: mit Start-ups, Venturing<br />

und neuen Geschäftsmodellen. Das tun wir etwa mit<br />

unserer Tochterfirma FSIGHT. Da geht es mit Hilfe<br />

von künstlicher Intelligenz um die Optimierung von<br />

schwankendem Verbrauch und unterschiedlicher<br />

Nachfrage in einem volatilen Umfeld. Es freut mich<br />

auch, dass die Blue Minds Group in diesem Jahr bei<br />

einem internationalen Konsortium dabei sein und<br />

einen Climate Tech Incubator aufbauen kann, den<br />

das Innovationsministerium ausgeschrieben hat.<br />

Der internationale Mitbewerb war sehr groß. Wir<br />

sind mit einer israelischen Gruppe, OSEG, ins Rennen<br />

gegangen, gemeinsam mit der französischen<br />

TOTAL und mit weiteren europäischen Unternehmen<br />

aus der Erneuerbaren-Branche, EREN Industries<br />

aus Luxemburg oder DK Innovation aus Irland.<br />

EVELINE STEINBERGER-KERN<br />

wurde 1972 in der Obersteiermark geboren.<br />

Sie promovierte an der Grazer Karl-Franzens<br />

Universität in Wirtschaftswissenschaften. An der<br />

INSEAD in Frankreich absolvierte sie zusätzlich<br />

ein Executive-Management-Studium. Sie ist<br />

Unternehmerin in neuen Technologiefeldern<br />

(künstliche Intelligenz, Big Data, Augmented<br />

Reality, 3D, Robotics etc.) und war 20 Jahre in<br />

verschiedenen leitenden Positionen in den Bereichen<br />

Energie und Infrastruktur mit internationaler<br />

Verantwortung tätig, etwa bei Verbund und<br />

Siemens. Seit 2014 hat sie vier eigene Unternehmen<br />

(FSIGHT, Digital Hero, 12energy, Techhouse)<br />

im Bereich der digitalen Services in Wien und Tel<br />

Aviv gegründet und entwickelt. 2014 gründete<br />

sie auch die The Blue Minds Company, die sich<br />

mit Fragen der globalen Energiewende, der<br />

Entwicklung von Geschäftsmodellen auf Basis<br />

der Digitalisierung und Investitionen in Start-ups<br />

beschäftigt. In der italienischen Bank Unicredit<br />

Bank Austria und dem bayrischen Renewables-<br />

Player BayWa r.e. sitzt sie im Aufsichtsrat.<br />

„Israel ist seit<br />

mehreren Jahrzehnten<br />

führend,<br />

was digitale<br />

Transformation<br />

angeht, und hat<br />

ein außergewöhnlich<br />

fortgeschrittenes<br />

Innovationsökosystem.<br />

Eveline<br />

Steinberger-Kern<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 15 10.05.22 09:31


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Nahaufnahmen in<br />

Schwarz-Weiß<br />

Der eineinhalbstündige Dokumentarfilm 1341<br />

Frames of Love and War erzählt die Lebensgeschichte<br />

von Micha Bar-Am – und damit eine<br />

Chronik Israels – anhand seiner Bilder.<br />

Es wird erdrückend still im Saal, während<br />

der israelische Dokumentarfilm 1341<br />

Frames of Love and War erstmals auf der<br />

Berlinale im Februar <strong>2022</strong> über die Leinwand<br />

läuft. Der Streifen beginnt langsam mit einer<br />

Schwarzweißaufnahme von endlosen Sanddünen<br />

und führt dann fast ausschließlich mit Fotografien<br />

durch die konfliktreiche Geschichte Israels. Nach<br />

eineinhalb Stunden waren die Zuschauer zugleich<br />

versunken und hellwach in ihren Sesseln ob der Intensität<br />

der vor ihnen in Großformat ausgebreiteten<br />

Bilder, als hätten sie in ein Riesenalbum durchgeblättert.<br />

Der Film dreht sich um das Lebenswerk des<br />

91-jährigen Fotografen Micha Bar-Am, also um<br />

seine Bilder. Die Weltpremiere fand in seiner Geburtstagstadt<br />

Berlin statt. Ohne ihn. Wegen Corona<br />

war er nicht aus Israel angereist. Diejenigen, die<br />

an diesem Abend kamen, saßen mit Abstand und<br />

Masken. Das war noch vor dem russischen Einmarsch<br />

in der nur 846 Kilometer entfernten Ukraine.<br />

Krieg schien da für die meisten Besucher der<br />

Berlinale noch etwas, das allenfalls auf einem<br />

fernen Kontinent, wie in diesem Fall im Nahen<br />

Osten, passiert. Im Saal aber befanden<br />

sich auch Israelis, jüngere und ältere. Exis-<br />

Von Gisela Dachs<br />

Sein ganzes Leben lang hat er die Welt<br />

um sich herum fotografiert, eine halbe<br />

Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im<br />

Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze.<br />

tenzkampf und Konflikt sind seit jeher mit ihrem<br />

Land verbunden. Und Micha Bar-Am ist einer der<br />

herausragenden Chronisten.<br />

Im Film sieht man ihn nur selten. Wenn, dann<br />

ist sein Gesicht hinter seiner Kamera und von einem<br />

buschigen Vollbart versteckt. Sein ganzes Leben<br />

lang hat er die Welt um sich herum fotografiert,<br />

eine halbe Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im<br />

Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze. Man<br />

sieht Soldaten, Tote, Verletzte und Gefangene vor,<br />

während und nach Gefechten im Sechstagekrieg,<br />

Jom-Kippur-Krieg, Libanonkrieg, Golfkrieg, aber<br />

auch andere Orte des Traumas, wie den Eichmann-<br />

Prozess. Manche Szenen zerreißen einen fast beim<br />

Hinschauen. Andere wärmen das Herz. Sie sind das<br />

Material, von dem der Film lebt, als wären es laufende<br />

Bilder, begleitet von O-Tönen aus Interviews,<br />

die der Regisseur Ran-Tal mit Micha Bar-Am, seiner<br />

Frau Orna und den Söhnen geführt hat. Ab und zu<br />

streitet sich Micha mit seiner Frau, wenn es um die<br />

genaue Zuordnung seiner Aufnahmen geht. Orna,<br />

die ihr Talent als Malerin zeitlebens der Karriere<br />

ihres Mannes untergeordnet hat, scheint da oft einen<br />

besseren Überblick behalten zu haben als er.<br />

Das Archiv befindet sich im Keller seines Hauses<br />

in Ramat Chen, ordentlich sortiert und beschriftet,<br />

wie es sich für Jekkes gehört. Man sieht, wie er<br />

dort als Fünfjähriger im Schnee stapft, aufgenommen<br />

von seinem Vater mit einer 16-mm-Kamera.<br />

Die privilegierte Kindheit endet abrupt. 1936 emigriert<br />

die Familie nach Palästina, von da an will der<br />

kleine Junge aus Deutschland nur mehr Israeli sein,<br />

dazugehören, er kämpft in der Palmach im Unabhängigkeitskrieg,<br />

in den 1950er-Jahren ändert er<br />

seinen Namen um in „Bar-Am“, Sohn der Nation.<br />

© Micha Bar-Am<br />

16 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 16 10.05.22 09:31


Eines von vielen Bildern,<br />

die Micha Bar-Ams von den<br />

Kriegsschauplätzen dieser<br />

Welt gemacht hat und die<br />

heute vielfach zu Ikonen<br />

geworden sind und stetig an<br />

Bedeutung gewinnen.<br />

© Micha Bar-Am<br />

Damals gehört er zu den Gründern des Kibbuz Malkiya<br />

in Galiläa und beginnt mit einer geliehenen Kamera<br />

das Leben dort festzuhalten. Dann arbeitet er<br />

mehrere Jahre als Fotograf bei der israelischen Armee.<br />

Zu dieser Zeit sind seine Vorbilder die Fotografen,<br />

die für Illustrierte wie das Life Magazin arbeiten.<br />

1968 wird er Mitglied von Magnum, der 1947 vom<br />

legendären Robert Capa gegründeten amerikanischen<br />

Fotoagentur. Seine Bilder erscheinen jahrelang<br />

in der New York Times. An Capas Diktum „Wenn<br />

deine Bilder nicht gut sind, bist du nicht nah genug<br />

dran“, hat sich Micha Bar-Am stets orientiert. Sein<br />

Mentor verwies dabei aber auch die andere Seite<br />

der Medaille: „Wenn du zu nahe dran bist, verlierst<br />

du die Perspektive.“<br />

Weil Micha Bar-Am aber in jedem Fall oft nah<br />

dran ist, fragt man sich, und er fragt sich im Film<br />

auch selbst, welche Spuren das in der Psyche hinterlassen<br />

hat. Seine Söhne beklagen sich rückblickend<br />

über einen Vater, der oft abwesend war und<br />

aufbrausend sein konnte, wenn er zuhause war. Sie<br />

erzählen, wie sie dann alle mehr oder weniger im<br />

Rhythmus der halbstündigen Radionachrichten<br />

lebten, weil Micha Bar-Am immer am Sprung war.<br />

Familienalben gibt es bei den Bar-Ams nicht, dafür<br />

viele Bilder von Frau und Kindern, die sich über<br />

das Archiv verteilen und oftmals geschossen wurden,<br />

wenn es darum ging, noch schnell eine angefangene<br />

Filmrolle zu Ende zu bringen. „Ich bin den<br />

Kriegen nicht gefolgt“, sagt er heute, „sondern habe<br />

mir eine aufregenden Job gesucht, von dem ich auch<br />

noch leben konnte“.<br />

Manche seiner Aufnahmen sind längst zu Ikonen<br />

geworden, haben auch oft im Nachhinein noch an<br />

Bedeutung gewonnen. Dazu gehört das berühmte<br />

Bild des Fallschirmspringers, der nach dem Sechstagekrieg<br />

mit einer gestrickten Kippa auf dem Kopf<br />

vor der Klagemauer steht, eine Gewehrkugelkette<br />

um den Hals, was ein wenig so aussieht, als hätte er<br />

einen Gebetsschal um. Später konnte Micha Bar-Am<br />

dann lesen, dass sein Bild für Historiker jenen Moment<br />

darstellt, an dem sich Religiosität mit militärischer<br />

Macht vereint.<br />

1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im<br />

Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann<br />

ein ausländisches Publikum aber einen solchen<br />

Film überhaupt verstehen und einordnen?<br />

1341 Frames of<br />

Love and War.<br />

Regie: Ran Tal,<br />

Israel/GB/USA <strong>2022</strong>,<br />

89 Min., Farbe &<br />

Schwarz-Weiß<br />

1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im<br />

Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann<br />

ein ausländisches Publikum aber einen solchen Film<br />

überhaupt verstehen und einordnen? „Es ist nicht<br />

leicht, vor allem die jüngeren Generationen durch<br />

all die historischen Geschehen zu führen; es ist aber<br />

auch okay, wenn dabei etwas verloren geht“, sagt<br />

Produzent Sarig Peker. Der Film verlange einiges ab,<br />

sei aber auch lohnend.<br />

Im Film sieht man immer wieder die kleine Küche,<br />

in der bei den Bar-Ams bis heute viel diskutiert<br />

wird. Auch ich bin dort schon öfters mit ihm und<br />

seiner Frau gesessen. Dabei erwähnte er auch einmal<br />

die Grenzen seiner Arbeit. „Die Menschen wollen<br />

nicht immer neue Dramen, sie wollen das Bekannte,<br />

sie sind auf bestimme Sachen fixiert, und<br />

es ist oft zu viel Arbeit, die Komplexität der Realität<br />

zu erklären.“<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 17 10.05.22 09:31


Innerstädtische Mobilität<br />

Am Seil auf den Carmel<br />

Im April ist in Haifa die urbane Seilbahn zum Technion und zur Universität in<br />

Betrieb gegangen, gebaut vom Vorarlberger Unternehmen Doppelmayr.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Seilbahn Rakavlit. In<br />

20 Minuten zu zwei Hochschulen:<br />

dem Technion<br />

und der Universität Haifa.<br />

rael, aber nicht das erste derartige<br />

Projekt, das Doppelmayr<br />

verwirklicht hat. So gibt<br />

es etwa ein ähnliches, sogar<br />

deutlich größeres innerstädtische<br />

Transportmittel in der<br />

bolivianischen Andenstadt<br />

La Paz. Dort verbinden drei<br />

Linien verschiedene Stadtteile<br />

miteinander, hoch über<br />

dem Häusermeer, das sich<br />

über steile Hügel ausbreitet.<br />

Für derartige Anwendungen<br />

gibt es gute ökonomische und<br />

ökologische Argumente: hohe<br />

Transportleistung bei niedrigem<br />

Energieverbrauch sowie<br />

im Vergleich mit U-Bahnen<br />

und deren aufwändiger Tunnelbohrung<br />

geringere Investitionskosten<br />

und kürzere Bauzeiten. Solche<br />

Projekte sind besonders dort interessant,<br />

wo es entweder gilt, große Höhenunterschiede<br />

zwischen Unter- und Oberstadt zu<br />

überwinden, oder wo eine dichte Verbauung<br />

zu ebener Erde keinen Platz für zusätzliche<br />

Straßen- oder Schnellbahnen bietet.<br />

Seit die großen Skigebiete weitgehend<br />

erschlossen sind und bei den Seilbahnbauern<br />

oft nur mehr Ausbauten oder Wartung<br />

bestellt wird, hat Doppelmayr verstärkt<br />

Für derartige<br />

Anwendungen<br />

gibt es gute<br />

ökonomische<br />

und ökologische<br />

Argumente:<br />

hohe Transportleistung<br />

bei niedrigem<br />

Energieverbrauch,<br />

[…] geringere<br />

Investitionskosten<br />

und kürzere<br />

Bauzeiten.<br />

Nein, das ist nicht Kitzbühel,<br />

Lech oder St. Moritz. Die Zehner-Gondeln<br />

starten mitten<br />

in einer mediterranen Küstenstadt<br />

und führen hoch hinauf auf einen<br />

grünen Berg zu zwei Hochschulen, der<br />

Technischen Universität Technion und der<br />

Universität Haifa. Eröffnet wurde die urbane<br />

Seilbahn Rakavlit im April, gebaut von<br />

österreichischen Spezialisten aus dem Vorarlberger<br />

Wolfurt: Doppelmayr.<br />

Insgesamt knapp 20 Minuten dauert die<br />

Fahrt für die vier Kilometer lange Strecke<br />

und bietet einen spektakulären Blick vom<br />

Carmel hinunter auf die Altstadt und das<br />

Meer. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt am<br />

zentral gelegenen Bahnhof und Busterminal<br />

„HaMifrats“ und ist damit direkt an die<br />

anderen öffentlichen Verkehrsmittel angebunden.<br />

Laut Hersteller können 20.000<br />

Fahrgäste pro Tag mit der Gondelbahn befördert<br />

werden. Potenzial gibt es genug: An<br />

den beiden Hochschulen sind insgesamt<br />

mehr als 30.000 Studierende eingeschrieben,<br />

dazu kommen noch Lehrpersonal und<br />

Servicemitarbeiter. Für sie soll sich mit der<br />

direkten Linie nach oben die Anfahrtszeit<br />

zu ihrem Studien- oder Arbeitsplatz um bis<br />

zu 25 Minuten verkürzen.<br />

Die neue Seilbahn zur Universität Haifa<br />

ist zwar die erste urbane Gondelbahn in Isunterschiedliche<br />

Massentransportmittel<br />

für<br />

Städte entwickelt. Beispiele<br />

finden sich in Algier<br />

und in London, in<br />

Istanbul, in Oakland<br />

oder in Venedig. Dabei<br />

hängen teils Kabinen an<br />

Seilen, teils fahren Waggons<br />

autonom auf Schienen<br />

wie der People Mover<br />

zwischen dem Parkplatz<br />

Tronchetto und der Piazzale<br />

Roma am Rand der<br />

historischen Altstadt von<br />

Venedig.<br />

Haifa hatte bereits bisher<br />

eine Bergbahn: Carmelit-Haifa.<br />

Diese fährt<br />

allerdings – von einem<br />

Kabel gezogen – unterirdisch. Ihre Strecke<br />

führt vom Paris Square im Zentrum, nahe<br />

am Hafen, 1,8 Kilometer hinauf auf den<br />

westlichen Carmel zur Gan-Ha’em-Station<br />

in eine gartenähnliche Wohngegend,<br />

in der sich auch das Bahai-Zentrum und<br />

einige der bekanntesten Hotels befinden.<br />

Sie wurde Ende der 1950er-Jahre von einem<br />

französischen Unternehmen gebaut<br />

und später von einer Tochter der Doppelmayr-Garaventa-Gruppe<br />

modernisiert.<br />

© Doppelmayr Seilbahnen GmbH<br />

18 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 18 10.05.22 09:31


HIGHLIGHTS | 02<br />

Hochkarätige literarischmusikalische<br />

Sommerfrische<br />

Der Kultur.Sommer.Semmering hat mit dem Grandhotel<br />

Panhans eine neue spektakuläre Spielstätte gewonnen.<br />

Nostalgiker unter uns werden<br />

sich vielleicht noch<br />

an das luxuriöse Hotel<br />

Panhans im Vollbetrieb erinnern.<br />

Da gab es Tanzabende,<br />

Bälle, Five o’Clock Teas, Kinovorstellungen<br />

und ein Café auf der Terrasse<br />

mit Blick in die Bergwelt. Das Panhans<br />

wurde schließlich in den späten 1960er-<br />

Jahren geschlossen und erlebte, „revitalisiert“<br />

ab den 1980ern, eine vergleichsweise<br />

kurze Renaissance. Seit 2018 ist der<br />

Hotelbetrieb eingestellt.<br />

Als dem mittlerweile auch schon traditionellen<br />

Kultur.Sommer.Semmering<br />

seine stilvolle Spielstätte im ehemaligen<br />

Südbahn-Hotel relativ kurzfristig bereits<br />

für diese Saison nicht mehr zur Verfügung<br />

stand, eröffnete sich glücklicherweise<br />

mit dem Hotel Panhans eine neue<br />

spektakuläre Alternative.<br />

Mit dem Einzug in das historische<br />

Grandhotel erlebt das Festival unter der<br />

Intendanz von Florian Krumpöck einen<br />

Das Hotel<br />

Panhans wurde<br />

schon bald<br />

nach seiner<br />

Gründung zu<br />

einem „Kurort<br />

ersten Ranges“.<br />

zukunftsweisenden Szenenwechsel.<br />

Doch nicht nur das<br />

Traditionshaus selbst öffnet<br />

seine Tore: Inspiriert von der<br />

ehemaligen Orangerie auf<br />

dem Aussichtsplateau vor<br />

dem Grandhotel errichtet der Kultur.<br />

Sommer.Semmering eine neue Spielstätte<br />

mit Panoramablick über die malerische<br />

Berglandschaft – den Kulturpavillon.<br />

Neun Wochen lang, vom 8. Juli bis<br />

4. September, werden auf 1.000 Metern<br />

Seehöhe im Rahmen von über 80 Vorstellungen<br />

einige der herausragendsten<br />

Protagonist:innen der österreichischen<br />

Kulturwelt zu erleben sein, darunter<br />

heuer erstmals Klaus Maria Brandauer<br />

zur feierlichen Eröffnung, Lars Eidinger,<br />

Adele Neuhauser, Josef Hader oder<br />

Kammersänger Michael Schade. Zahlreiche<br />

Publikumslieblinge kehren inspiriert<br />

von der geschichtsträchtigen Atmosphäre<br />

des Semmering auch gerne<br />

jährlich wieder. A.P.<br />

www.tipp<br />

CHUZPE mit Mirna Funk<br />

In der aktuellen Chuzpe-Podcastfolge<br />

spricht Moderatorin Avia Seeliger mit der<br />

Journalistin und Autorin und feministische<br />

Ikone Mirna Funk. Ihr neues Buch Who Cares!<br />

Von der Freiheit, Frau zu sein erscheint<br />

demnächst im dtv-Verlag. Zum Aufwärmen<br />

fagten wir Mirna, was für sie<br />

Chuzpe ist:<br />

Den Mut zu haben, frei zu sein.<br />

Kunst ist:<br />

Ein großer Teil meines Lebens.<br />

Erfolg ist:<br />

Es ist, wonach ich strebe.<br />

Judentum ist:<br />

Der Kern, der mein Sein ausmacht.<br />

Wien ist:<br />

Es ist für mich weit weg.<br />

die Pandämie ist:<br />

Sie ist für mich sowas von over.<br />

www.ikg-wien.at/podcast-chuzpe<br />

www.mirnafunk.com<br />

„Als Jüdin sehe ich mich<br />

oft mit einem diffusen<br />

Schuldgefühl konfrontiert,<br />

das seinen eigenen<br />

Ursprung gar nicht kennt. “<br />

Mirna Funk<br />

KARTENBESTELLUNG & INFOS:<br />

Tourismusbüro Semmering<br />

Tel.: +43/(0)2664/20 025<br />

kultursommer-semmering.at<br />

© Archiv Dr. Samsinger / Imagno / picturedesk.com; © Markus Witte<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 19 10.05.22 09:31


Lebendige Erzählungen<br />

Letzte Ruhe in Kaufering<br />

Felix Schrotts Großvater ist lange vor seiner Geburt von<br />

den Nazis ermordet worden und dennoch sein ganzes Leben<br />

lang präsent. Inzwischen hat er den Ort gefunden, an dem<br />

Emanuel Schrott, der am 15. März 1945 in einer Außenstelle<br />

des KZ Dachau – dem Lager Kaufering VII – starb, begraben<br />

wurde. Vor einem Jahr brachte er dort eine Gedenktafel an, dieses<br />

Frühjahr wurden dafür auch die Kosten vom Nationalfonds<br />

übernommen. Über eine Geschichte, die damit einen Schlusspunkt<br />

findet, aus der sich aber eine Verantwortung ergibt,<br />

der sich auch der Urenkel Samuel „Samy“<br />

Schrott verpflichtet sieht.<br />

Von Von Alexia Weiss<br />

© Daniel Shaked<br />

20 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 20 10.05.22 09:31


Schuften in der Kälte<br />

Drei Generationen der<br />

Familie Schrott. Samy,<br />

der Urenkel, Felix, der<br />

Enkel, und Kitty Schrott,<br />

die Schwiegertochter,<br />

mit ihrem Hochzeitsfoto<br />

gemeinsam mit ihrem<br />

Mann Herbert, dem Sohn<br />

von Emanuel Schrott.<br />

© Daniel Shaked<br />

Familiengeschichte<br />

setzt sich nicht nur<br />

aus Namen und Daten,<br />

sondern aus all<br />

diesen kleinen und<br />

größeren Erzählungen zusammen,<br />

die von einer Generation der nächsten<br />

erzählt werden. Ein Motiv, das sich<br />

durch die Familiengeschichte der Schrotts<br />

zieht, ist der Fußball. Seit mehr als 100 Jahren<br />

gehen sie auf den Fußballplatz und<br />

schauen ihren Clubs zu.<br />

Felix’ Vater Herbert Schrott (19262021)<br />

ging mit seinem Vater Emanuel (18981945)<br />

in der Zwischenkriegszeit zur Vienna und<br />

zur Hakoah, Emanuel erlebte Letztere sogar<br />

1925 als österreichischen Fußballmeister.<br />

Herbert setzte diese Tradition mit Felix<br />

(geb. 1965) fort – „er hat dann noch in<br />

den 70ern diese Geschichten erzählt vom<br />

Viertel, der kein Achtel Wert ist“, erinnert<br />

sich der Sohn heute –, und auch Felix und<br />

Samy (geb. 1996) sind nun oft gemeinsam<br />

auf dem Fußballplatz oder im Stadion anzutreffen.<br />

Felix stattete mit seiner Handelsagentur<br />

zudem die Vienna und Maccabi<br />

mit Dressen von Errea aus. Ja, Fußball<br />

schweißt hier die Generationen zusammen.<br />

Aber es sind auch die Leerstellen, die<br />

verbinden. Felix wurde mit den Erzählungen<br />

seines Vaters über den Großvater groß<br />

und Samy mit ebendenselben über seinen<br />

Urgroßvater. Besonders lebendig werden<br />

sie, wenn man sie in einer Dokumentation<br />

aus der Reihe Spricht mit mir von Fabian<br />

Eder und Katharina Stemberger präsentiert<br />

bekommt, in der Herbert und Samy<br />

gemeinsam Zug fahren und sich über die<br />

Kindheit des Großvaters unterhalten.<br />

Aufgewachsen ist Emanuel in einer<br />

kleinen Wohnung in der Lerchenfelder<br />

Straße, die Arbeitslosigkeit war hoch, die<br />

wirtschaftliche Situation schwierig. Was<br />

auf sie als Juden zukommen könnte, hat<br />

man auch nach dem „Anschluss“ 1938<br />

nicht wahrhaben wollen, stets hieß es, „es<br />

wird nicht so arg sein.“ Selbst als ein Nachbar<br />

der Schrotts, ein Polizist, Herbert aufforderte,<br />

seinem Vater<br />

„Kämpfen<br />

klingt vielleicht<br />

radikal<br />

oder brutal.<br />

Ich meine<br />

damit, die<br />

Geschichten<br />

weiterzuerzählen.“<br />

Samy Schrott<br />

auszurichten, „sag deinem<br />

Vatern, dass ihr<br />

alle auf Polen kommt“,<br />

habe dieser gesagt, „es<br />

wird nicht so arg sein,<br />

die Leute übertreiben.“<br />

„Noch in Theresienstadt<br />

hat mein Vater<br />

gesagt, es wird nicht<br />

so arg“, erinnerte sich<br />

Herbert im Gespräch<br />

mit dem Enkel.<br />

Worüber er auf dieser<br />

Zugfahrt auch<br />

spricht: die gemeinsamen<br />

Leidensstationen<br />

mit dem Vater – zunächst ab 1942<br />

Theresienstadt, im Rückblick zwar „ein<br />

Potemkin’sches Dorf“, aber dort habe es<br />

durchaus noch schöne Momente gegeben,<br />

dann Auschwitz, wo sie allerdings<br />

nur wenige Tage blieben, und schließlich<br />

Kaufering VII, ein Außenlager des KZ Dachau.<br />

Während Herbert, der in Theresienstadt<br />

das Tischlerhandwerk erlernt hatte,<br />

dort im Warmen in einer Werkstatt arbeiten<br />

konnte, musste der Vater Emanuel<br />

im Freien schuften. Er war erschöpft, erkrankte<br />

an Typhus und erlebte das Ende<br />

des Krieges und die Befreiung nicht mehr.<br />

Was den Enkel Felix heute besonders<br />

traurig macht? Aus einer Korrespondenz<br />

mit Verwandten erfuhr er, dass es<br />

den Versuch der Familie gab, ein Visum<br />

für die USA zu bekommen. Doch einerseits<br />

fiel diese Entscheidung wohl viel zu<br />

spät, da der Großvater die Lage eben leider<br />

nicht richtig eingeschätzt hatte, und<br />

andererseits fehlte es am Ende am Geld.<br />

Und dann ist da auch noch die unglückliche<br />

Wetterlage in den letzten Monaten vor<br />

Kriegsende. Im Frühjahr 1945 sei es bitterkalt<br />

gewesen, „mein Vater Herbert ist noch<br />

im <strong>Mai</strong> kurz vor der Befreiung im Schnee<br />

gestapft“, weiß Felix.<br />

Als Felix im Sommer 2019 mit seiner<br />

Frau nach einem Festspielbesuch in Bregenz<br />

erstmals nach Kaufering fährt, um<br />

sich den Ort anzusehen, an dem sein Vater<br />

und Großvater von den Nazis interniert<br />

worden waren, hat er die Schilderungen<br />

seines Vaters im Ohr. Schnee schaufeln<br />

habe Emanuel müssen bei Minusgraden,<br />

in zu dünner Kleidung und mangelernährt.<br />

„Und dass diese Saukälte schuld an<br />

seinem Tod war.“<br />

Von dieser Kälte war bei dem Besuch im<br />

Sommer 2019 nichts zu spüren. Das Gros<br />

der Lager in Kaufering ist heute nicht<br />

mehr erhalten, über sie ist Gras gewachsen,<br />

und man sieht nichts als Wiesen. Nur<br />

ein Lager – genau das Lager VII – sei noch<br />

erhalten und werde heute als Gedenkstätte<br />

geführt. In seiner Nähe befinde sich – wie<br />

für die anderen Lager auch – ein Gräberfeld,<br />

beschriftet als Gräberfeld des Lagers<br />

VII. „Als ich dort gestanden bin, habe ich<br />

mir schon gedacht, hier ist er gestorben,<br />

hier liegt er.“ Und da war dem Enkel auch<br />

klar, dass er gerne eine Erinnerungstafel<br />

für Emanuel anbringen würde.<br />

Er trat in Kontakt mit der Gedenkstätte,<br />

stellte beim Kultusamt in München einen<br />

entsprechenden Antrag und erhielt eine<br />

Genehmigung. Als er wegen einer Übernahme<br />

der Kosten dafür anfragte, wurde<br />

diese abgelehnt. Sein Vater Herbert sei<br />

da noch am Leben gewesen und habe gemeint,<br />

dann solle er das halt selbst zahlen,<br />

doch das widerstrebte Felix. „Das ist einfach<br />

eine Prinzipsache.“ Schließlich übernahm<br />

der Nationalfonds der Republik Österreich<br />

– über Antrag des S.C. Hakoah im<br />

Gedenken an einen „Alt-Hakoahner“ – dieses<br />

Frühjahr die Kosten.<br />

Platz an der Gedenkwand. Die Reise, um<br />

die in Wien angefertigte schwarze Tafel in<br />

Form einer Grabsteinplatte mit den Maßen<br />

60 mal 40 Zentimeter am Rand des Gräberfeldes<br />

in Kaufering anzubringen, trat<br />

Felix allein an. „Mein Vater wollte nicht<br />

noch einmal hinfahren. Diesen Ort auf-<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 21 10.05.22 09:31


Geschichte weitertragen<br />

Gedenktafel für<br />

Emanuel Schrott an<br />

der Gedenkwand in Kaufering,<br />

einem Außenlager<br />

von Dachau.<br />

„Als er einmal nach<br />

Auschwitz eingeladen<br />

wurde, da sagte er, ‚ich<br />

war schon in Auschwitz.‘“<br />

Felix Schrott<br />

zusuchen, das war allein meine Motivation.<br />

Er war einmal in den 1980er-Jahren<br />

in Theresienstadt, das war eine Hakoah-<br />

Reise, das hat ihn sehr gefreut, und er hat<br />

sich alles genau angeschaut, aber an Theresienstadt<br />

hatte er ja auch schöne Erinnerungen.<br />

Als er einmal nach Auschwitz eingeladen<br />

wurde, da sagte er, ‚ich war schon<br />

in Auschwitz.‘ Und er wollte eben auch<br />

nicht mehr nach Kaufering.“ Nun stand<br />

also der Enkel an einem schönen <strong>Mai</strong>tag<br />

vor einem Jahr auf dem Areal dieses früheren<br />

Dachau-Außenlagers in Bayern, unterstützt<br />

von Vertretern der Gedenkstätte,<br />

schraubte die Tafel an die Gedenkwand neben<br />

dem Gräberfeld und sprach ein Schma<br />

Israel für Emanuel. Insgesamt waren und<br />

23.000 Häftlinge in den Lagern Kaufering<br />

interniert, 6.500 von ihnen starben auf<br />

dem Gelände.<br />

Sein letzter Besuch in Kaufering wird<br />

das allerdings nicht gewesen sein, betont<br />

Felix. Denn er habe von seinen Eltern – der<br />

Vater Herbert überlebte Theresienstadt,<br />

Auschwitz und Kaufering, die Mutter Kitty<br />

war nach der Flucht mit ihrer Familie auf<br />

Mauritius interniert (angepeilt war eigentlich<br />

Israel) – einen wichtigen Auftrag mitbekommen:<br />

Die Überlebenden und auch<br />

ihre Nachkommen haben den Auftrag, die<br />

Geschichte nicht in Vergessenheit geraten<br />

zu lassen. Kitty Schrott – ihre Geschichte<br />

kann übrigens detailreich auf centropa.org<br />

nachgelesen werden – meint dazu heute:<br />

„Ich halte diese Aufklärung für wichtig.<br />

Gleichzeitig hat George Bernard Shaw gesagt:<br />

‚Hegel hatte Recht, als er sagte, dass<br />

uns die Geschichte lehrt, dass wir nie irgendetwas<br />

aus der Geschichte gelernt haben.‘“<br />

Felix will also auch in Zukunft Kontakt<br />

mit der KZ-Gedenkstätte in Bayern halten<br />

und auch jenen Verein unterstützen, der in<br />

Kaufering ein Museum errichten möchte.<br />

„Ich sehe eine Verpflichtung, hier weiterzuarbeiten.“<br />

Gerade Menschen, die noch eine<br />

emotionale Verbindung zu ehemaligen Insassen<br />

des Lagers hätten, komme hier eine<br />

wichtige Rolle zu. Er werde zudem auch Dokumente<br />

an den Verein übergeben.<br />

Sein Sohn Samy sieht hier für sich ebenfalls<br />

einen Auftrag. In der Filmdokumentation<br />

verspricht er seinem Großvater zu<br />

kämpfen. Was das konkret für ihn bedeutet?<br />

„Kämpfen klingt vielleicht radikal oder<br />

brutal. Ich meine damit, die Geschichten<br />

weiterzuerzählen. Aber auch auf die Straße<br />

zu gehen, wenn man auf etwas aufmerksam<br />

machen muss.“ Die Geschichten, mit<br />

denen er groß wurde, seien zwar großteils<br />

schreckliche gewesen, aber teilweise auch<br />

lustige. Eine dieser humorigen Anekdoten<br />

war die Selbstbezeichnung von Herbert<br />

Schrott und seinen Freunden: „Häfenbrüder“<br />

hätten sie sich genannt. Über diese<br />

„Häfenbrüder“ kann Samy Schrott heute<br />

zum Beispiel, wenn es sich ergibt, den Kindern<br />

erzählen, die er als Freizeitpädagoge<br />

betreut. Und ja, auch das eint die Schrotts:<br />

Sie sind politische Menschen und wollen<br />

nicht, das sich eines wiederholt: dass sie die<br />

Zeichen der Zeit falsch deuten und meinen:<br />

„Es wird schon nicht so arg.“<br />

© Alexia Weiss<br />

nach Baden<br />

Jüdische Häuser erzählen Geschichte(n)<br />

Ausstellung 23.4. bis 6.11.<strong>2022</strong>, Kaiserhaus, Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />

22 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong> Dienstag – Sonntag und Feiertage 10 – 18 Uhr, www.kaiserhaus-baden.at<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 22 10.05.22 09:31


Mit Amnesie den<br />

Horror bewältigen<br />

Simonsohn nimmt die Leserin und<br />

den Leser mit auf die Reise durch<br />

ihr Leben: eine glückliche Kindheit<br />

in Olmütz, obwohl nicht mehr Teil<br />

der k.u.k. Monarchie, dennoch noch Wienerisch<br />

geprägt, sie besucht die Deutsche<br />

Schule. Dann wird ihre Schulzeit jäh unterbrochen.<br />

Wegen ihres illegalen Engagements<br />

im Rahmen einer zionistischen<br />

Gruppe wird sie verhaftet, man wirft ihr<br />

vor, Kommunistin zu sein. Wochen der<br />

Einzelhaft setzen ihr hart zu.<br />

Die nächste Station ist Theresienstadt,<br />

dort kümmert sie sich um Kinder, dort<br />

lernt sie ihren späteren Mann kennen.<br />

Auschwitz überlebt sie, allerdings ohne<br />

sehr genaue Erinnerungen. „Ich weiß<br />

auch nicht, wie lange ich in Auschwitz<br />

war. Ich vermute, sehr kurz, aber ich weiß<br />

es nicht. Viel später, als ich zum ersten Mal<br />

darüber gesprochen habe, wurde ich gefragt,<br />

wie ich mir diese Amnesie erkläre.<br />

Da ist mir klargeworden: Wenn man sehr<br />

große körperliche Schmerzen hat, kann es<br />

geschehen, dass man ohnmächtig wird.<br />

Das ist ein Segen. Man spürt die Schmerzen<br />

nicht mehr. Ich glaube, dass auch die<br />

Seele ohnmächtig werden kann.“<br />

Und so ist das Interessante an diesen<br />

Erinnerungen vor allem das, was die Erzählerin<br />

im Dunkeln lässt, was sie nicht<br />

erzählt. Man merkt, Gefühle lässt sie nicht<br />

mehr an sich heran. Das wird auch spürbar,<br />

wenn sie schildert, dass sie sich kaum<br />

an ihre erste Liebe erinnern konnte. Später<br />

in ihrem Leben, als sie diese wiedertraf,<br />

sollte das zu einem Zerwürfnis zwischen<br />

den beiden führen.<br />

Diesen Jänner starb die Holocaust-Überlebende<br />

Trude<br />

Simonsohn 100-jährig in<br />

Frankfurt, wohin sie 1955 mit<br />

ihrem Mann Berthold gezogen<br />

war. Das Ehepaar hatte<br />

sich nach Kriegsende viele<br />

Jahre für das jüdische Gemeinwohl<br />

in Deutschland<br />

eingesetzt. Ab 1975 war die<br />

langjährige Sozialarbeiterin<br />

als Zeitzeugin aktiv, erzählte<br />

über das, was sie erlebt und<br />

überlebt hatte: Theresienstadt,<br />

dann Auschwitz. „Wer<br />

von uns darüber sprechen<br />

kann, der muss auch darüber<br />

sprechen. Das sind wir<br />

den Ermordeten schuldig“,<br />

schrieb Trude Simonsohn in<br />

ihren Lebenserinnerungen<br />

Noch ein Glück. Der Wallstein<br />

Verlag hat diese nun als Taschenbuch<br />

neu aufgelegt.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Trude Simonsohn<br />

Noch ein Glück.<br />

Erinnerungen.<br />

Wallstein <strong>2022</strong>,<br />

152 S., € 15,95<br />

„Man geht nicht unversehrt<br />

durch die Hölle.<br />

[...] Die Hölle bleibt<br />

in uns drinnen.“<br />

Trude Simonsohn<br />

„Man geht nicht unversehrt durch die<br />

Hölle“, hält sie an einer Stelle fest. Und<br />

an einer anderen: „Die Hölle bleibt in uns<br />

drinnen.“ Besonders schmerzhaft zu lesen<br />

sind jene Passagen, in denen sie über ihren<br />

Sohn Mischa schreibt. „Ich fürchte,<br />

ein wenig von der Hölle, die unsere Seelen<br />

nie ganz freigegeben hat, haben Bertl<br />

und ich an unseren Sohn weitergegeben.“<br />

Demgegenüber steht ein Leben voll Engagement<br />

für andere: In Theresienstadt<br />

betreute Trude Simonsohn Mädchen,<br />

nach Kriegsende leistete sie Flüchtlingshilfe<br />

in der Schweiz, später kümmerte sie<br />

sich dort um traumatisierte jüdische Kinder.<br />

In Deutschland war sie viele Jahre in<br />

der Sozialarbeit der Jüdischen Gemeinde<br />

in Frankfurt tätig. Das spiegelte sich auch<br />

in den Nachrufen wider: Sie sei „eine bemerkenswerte,<br />

herausragende Frau“ gewesen,<br />

„die stets zum Wohle ihrer Mitmenschen<br />

gehandelt hat“, sagte Salomon<br />

Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde<br />

Frankfurt. Und Meron Mendel,<br />

Direktor der Bildungsstätte Anne Frank,<br />

meinte: „Ich habe noch nie so einen starken<br />

und lebensfröhlichen Menschen gekannt.“<br />

© Andreas Arnold / dpa / picturedesk.com<br />

23 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 23 10.05.22 09:31


Lebendige Gemeinde<br />

JÜDISCHES MERAN:<br />

Ein kleines Juwel<br />

in den Bergen<br />

Die ersten Spuren jüdischen Lebens in Tirol<br />

führen zurück bis in das Mittelalter. Über die<br />

vielfältige Geschichte bis heute erzählen das<br />

Jüdische Museum von Meran und sein Direktor<br />

Joachim Innerhofer.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Fotos: Reinhard Engel<br />

tensiv mit seiner Familiengeschichte und<br />

dem Judentum zu beschäftigen. „Nach<br />

meinen Recherchen habe ich mich an die<br />

Gemeinde gewandt, es war kein Problem,<br />

Mitglied zu werden.“<br />

Die Zahl der eingeschriebenen Gemeindemitglieder<br />

ist nicht höher als 49,<br />

es gibt aber auch zahlreiche Ehepaare, von<br />

denen ein jüdischer Partner gerne an den<br />

angebotenen Aktivitäten teilnimmt. „Unser<br />

Glück ist, dass trotz der Überalterung<br />

der einheimischen Mitglieder mehrere<br />

Familien mit kleinen Kindern hierher<br />

ziehen“, freut sich der Direktor. „Das sind<br />

zum Beispiel israelische Frauen, die Italiener<br />

geheiratet haben und aus beruflichen<br />

Gründen hier leben. Nächstes Jahr haben<br />

wir eine Bar Mitzwa aus so einer Familie.“<br />

Innerhofer ist auch froh, dass eine israelische<br />

Wissenschaftlerin, die in Bozen und<br />

Trier an den Universitäten unterrichtet,<br />

mit fünf Kindern nach Meran gezogen<br />

ist. „Es sind Architekten, Ingenieure darunter,<br />

die mit ihren Kindern zu Purim,<br />

Chanukka und den Herbstfeiertagen zu<br />

uns kommen.“ Kulturell kann man nicht<br />

viel bieten, obwohl ein Anne-Frank-Kulturzentrum<br />

gleich gegenüber der Synagoge<br />

und des Museums existiert. Hier<br />

sind auch die kleine Bibliothek und das<br />

Sekretariat der Gemeinde untergebracht,<br />

die koschere Küche kann auf Anfrage und<br />

Auf den Stiegen und im Keller<br />

des Museumsgewölbes ist es<br />

ganz still. Man hört sie nicht,<br />

man sieht sie nur: Ungefähr<br />

ein Dutzend Mädchen eines Oberstufen-<br />

Gymnasiums lauschen aufmerksam und<br />

konzentriert den Ausführungen von<br />

Joachim Innerhofer. Der Direktor des<br />

Jüdischen Museums von Meran erzählt<br />

die Geschichte der Juden dieser Stadt.<br />

„Die Initiative für diese Besuche kommt<br />

vom Lehrkörper diverser Schulen, sogar<br />

Volksschulklassen kommen hierher. Das<br />

Interesse ist enorm groß, teilweise müssen<br />

wir sie auf spätere Termine vertrösten,<br />

auf Monate hinaus“, freut sich der<br />

gebürtige Meraner mit der Häkel-Kippa<br />

auf dem grau melierten Haar.<br />

Gut formulieren und erzählen kann<br />

Joachim Innerhofer, der nach seinem<br />

Studium an der Universität Innsbruck<br />

mehrere Jahre als Redakteur für die Neue<br />

Südtiroler Tageszeitung gearbeitet hat. „Unsere<br />

Gemeinde-Präsidentin fragte mich,<br />

ob ich nicht das Museum leiten möchte.<br />

Es ging darum, allen Besuchern das<br />

Judentum näher zu bringen – und das<br />

versuche ich aktiv seit 2008“, lacht Innerhofer,<br />

dessen jüdische Wurzeln mütterlicherseits<br />

liegen. Erst mit fünfzehn<br />

Jahren erfuhr er von seinem Onkel, dass<br />

er Jude sei. Daraufhin begann er sich innach<br />

Bedarf betrieben werden. „Unsere<br />

Präsidentin, Dr. Elisabetta Rossi-Borenstein,<br />

ist im Vorstand des jüdischen gesamtitalienischen<br />

Verbands vertreten.<br />

Die Meraner Gemeinde gehört zur UCEI –<br />

Unione delle Comunità Ebraiche Italiane,<br />

deren Sitz in Rom ist.<br />

Aber auch den wenigen jüdischen<br />

Menschen bietet man Shiurim (eine Art<br />

Talmud-Thora) und religiöse Dienste an.<br />

Der ehemalige Oberrabbiner von Triest,<br />

Umberto Piperno, der jetzt hauptberuflich<br />

in Verona ist, kommt für den Unterricht<br />

und die Feiertage in die Stadt. Simone<br />

Bordon, der Chassan (Kantor), stammt<br />

aus Genua, lebt aber in Bozen und hat es<br />

daher nicht weit nach Meran.<br />

Der jüdische Beitrag zur Blüte des Kurortes<br />

Meran. Bereits aus dem Mittelalter sind erste<br />

Spuren jüdischen Lebens in Tirol überliefert.<br />

In der Stadtchronik heißt es, dass<br />

bereits 1297 „der Jude <strong>Mai</strong>sterlino auf der<br />

Töll“ oberhalb von Meran Steuereintreiber<br />

war. Um 1311 verwaltete ein Jude aus Görz<br />

namens Bonisak die Meraner Münzstätte.<br />

Im Jahr 1403 erhalten Isaak und Samuel<br />

mit ihren Familien von Bischof Ulrich II.<br />

das Privileg, in Brixen eine Kreditbank zu<br />

betreiben.<br />

Kaiser Maximilian I. erließ 1520 die<br />

Ausweisung aller in Tirol ansässigen Ju-<br />

24 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 24 10.05.22 09:31


Vorurteile abbauen<br />

Aren Tänzer, einst Landesrabbiner<br />

von Tirol, in<br />

der Uniform eines k. u. k.<br />

Militärkaplans mit seinen<br />

beiden Söhnen um 1905.<br />

Die Synagoge<br />

von Meran. Sie<br />

wurde 1901 als<br />

erstes jüdisches<br />

Bethaus Tirols<br />

eröffnet.<br />

den. Da Bozener Juden<br />

davon ausgenommen waren,<br />

zogen einige Tiroler<br />

Juden dorthin. Doch nur<br />

wenige Jahrzehnte später,<br />

1573, verordnete Ferdinand<br />

II. für die Grafschaft<br />

Tirol, dass in Bozen wohnhafte<br />

Juden und Juden,<br />

die nur auf der Durchreise<br />

waren, ein Kennzeichen tragen mussten.<br />

Das „Judensymbol“ bestand aus einem<br />

kreisförmigen gelben Stoffstück mit<br />

einem Durchmesser von 8,5 cm und hatte<br />

gut sichtbar aufgenäht zu werden.<br />

Jüdische Familien prägten und veränderten<br />

Meran und das südliche Tirol,<br />

besonders die Familien Schwarz, Biedermann<br />

und Bermann (siehe dazu Kasten).<br />

Ihre Namen stehen dafür, dass Bozen und<br />

Meran, Letzteres noch ein unbedeutendes<br />

Provinzstädtchen, sich zu angesehenen<br />

Handels- und Tourismuszentren entwickelten.<br />

Die Familie Schwarz förderte<br />

mit ihrer Privatbank den Ausbau der Infrastruktur<br />

in Südtirol, im Trentino und<br />

in Meran. Mitglieder der Familie bauten<br />

unter anderem die Eisenbahn in Garda<br />

und die Standseilbahn auf den Virgl<br />

bei Bozen, die bei ihrer Eröffnung 1907 als<br />

steilste Standseilbahn Europas galt.<br />

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-<br />

„Unser Glück ist,<br />

dass trotz der Überalterung<br />

der einheimischen<br />

Mitglieder<br />

mehrere Familien mit<br />

kleinen Kindern hierher<br />

ziehen.“<br />

Joachim Innerhofer<br />

derts kamen viele Juden in die Stadt an der<br />

Passer: Händler, Ärzte, aber auch einfache<br />

Menschen. Die Meraner Kultusgemeinde<br />

entstand im späten 19. Jahrhundert. Ab<br />

1894 lud die Königswarter Stiftung Kurgäste<br />

und die jüdischen Einwohner Merans<br />

zu Gottesdiensten in den Betsaal des<br />

Asyls für mittellose Juden, das ein Jahr zuvor<br />

aus weltweiten Spenden eröffnet worden<br />

war. Diese Räumlichkeit wurden bald<br />

zu klein: Die Meraner Synagoge wurde am<br />

27. März 1901 als erstes jüdisches Bethaus<br />

Tirols eröffnet. Aron Tänzer, damals noch<br />

Landesrabbiner für Tirol und Vorarlberg<br />

und später, von 1905 bis 1907, Rabbiner<br />

in Meran, nahm die Einweihung vor. Die<br />

Synagoge wurde während Südtirols NS-<br />

Besetzung von September 1943 bis April<br />

1945 als Magazin verwendet, das Gebäude<br />

und ein Teil der Einrichtung blieben jedoch<br />

erhalten.<br />

Eigenständig wurde die Meraner Gemeinde<br />

erst Ende des Jahres 1921, nachdem<br />

die völkerrechtlichen Aspekte der<br />

Übernahme Südtirols durch Italien geklärt<br />

waren. In den 1920er-Jahren lebten<br />

rund 50 jüdische Familien in Meran. Innerhalb<br />

nur eines Jahrzehnts vergrößerte<br />

sich die Zahl der hier lebenden Juden auf<br />

knapp 1.000: Die meisten waren als Ärzte,<br />

Kaufleute, Intellektuelle und Künstler<br />

aus Deutschland und der einstigen Habsburger<br />

Donaumonarchie eingewandert,<br />

einige kamen aber auch aus Osteuropa.<br />

Bis 1938 stieg ihre Zahl auf rund 1.500,<br />

dazu zählten bereits einige hundert<br />

Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen<br />

Deutschland und Österreich.<br />

In Südtirol gab es einen religiösen<br />

Antisemitismus, wie seit Jahrhunderten,<br />

aber keinen politischen. Allerdings<br />

war Meran 1933 auch die einzige Stadt<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 25 10.05.22 09:31


Späte Anerkennung<br />

Museumsdirektor Joachim<br />

Innerhofer. Als er mit 15 Jahren von<br />

seiner jüdischen Herkunft erfuhr, begann<br />

er sich intensiv mit seiner Kultur<br />

auseinanderzusetzen.<br />

FAMILIE BERMANN:<br />

von Mähren über<br />

Meran nach St. Moritz<br />

Wer in unserer Gemeinde in den späten<br />

1970er-Jahren über ein gut gefülltes<br />

Portemonnaie verfügte und die Strapazen<br />

vor und während der Pessach-Feiertage<br />

vermeiden wollte, fuhr in das koschere Hotel<br />

Edelweiss in St.Moritz. Hatte man Kinder<br />

im heiratsfähigen Alter, ergab sich noch eine<br />

tolle Ausrede: Ins Edelweiss reisten auch Familien<br />

aus Zürich, Antwerpen, London und<br />

Milano an – und so blühte hier der Heiratsmarkt.<br />

Die Wirtsleute Bermann waren streng und<br />

nicht übermäßig herzlich, aber wer auf koscheres<br />

Essen und Minjanim (Gemeinschaftsgebete)<br />

Wert legte, hatte nicht viel<br />

Auswahl. Israel war damals noch kein attraktives<br />

Ziel.<br />

Bei der Recherche über das jüdische Meran<br />

entdeckte ich die beeindruckende Familiengeschichte<br />

der Bermanns. Die Chronik<br />

beginnt mit Josef Bermann, geboren 1827<br />

in Kremsier in Mähren, der zuerst im slowakischen<br />

Brezova nahe dem Kurort Piest’any<br />

lebte und anschließend in Kobersdorf, einer<br />

der Siebengemeinden des Burgenlands, die<br />

damals beide zu Ungarn gehörten. Um 1870<br />

kam die Familie nach Meran und eröffnete<br />

drei Jahre später Bermann’s Koscher-Restauration.<br />

15 Jahre danach kauften Josef und Katarina<br />

Bermann die Pension Starkenhof, bauten<br />

auch diese in einen koscheren Betrieb aus<br />

und trugen so wesentlich zur Blüte der Kurstadt<br />

bei.<br />

Die Geschichte des Edelweiss in St. Moritz<br />

beginnt mit einem Wunsch des Baron Willi<br />

von Rothschild, der im Meraner Starkenhof<br />

Stammgast war: Der Baron wollte auch nach<br />

St. Moritz zur Kur, doch nicht auf eine koschere<br />

Verpflegung verzichten. Er engagierte<br />

den Sohn von Josef Bermann, Leopold, zuerst<br />

als Schächter in St. Moritz. 1896 eröffnete dieser<br />

dann das Hotel Edelweiss, das wiederum<br />

dessen Sohn Josef und von 1953 bis 2006 sein<br />

Enkel Leopold weiterführte. Nach vier Generationen<br />

Bermann wurde im Sommer 2010<br />

das Hotel Edelweiss für immer geschlossen.<br />

in Italien, in der es zu antisemitischen<br />

Aktionen kam: Bereits seit 1931 gab es in<br />

der Stadt eine NSDAP-Ortsgruppe, die aus<br />

reichsdeutschen Staatsbürgern bestand.<br />

Als die italienischen Rassengesetze im<br />

Jahr 1938 in Kraft traten, mussten Juden<br />

ohne italienische Staatsbürgerschaft das<br />

Land verlassen. Bereits davor schloss man<br />

sie aus dem öffentlichen Dienst aus.<br />

1940 wurde ein Teil der noch in Meran<br />

lebenden Juden inhaftiert, einige Tage<br />

später aber wieder freigelassen. Wer danach<br />

nicht untertauchen konnte, musste<br />

Zwangsarbeit leisten. Unmittelbar nach<br />

dem Einmarsch der deutschen Truppen<br />

am 8. September 1943 begann die Jagd<br />

des Südtiroler Ordnungsdienstes (SOD)<br />

und des Sicherheitsdienstes auf die hier<br />

noch lebenden Juden – darunter auch<br />

Menschen, die vor der nationalsozialistischen<br />

Verfolgung Zuflucht gefunden<br />

hatten. Ihr Leidensweg führte über das<br />

Lager Reichenau (bei Innsbruck) geradewegs<br />

in das Vernichtungslager Auschwitz-<br />

Birkenau. Man plünderte die verlassenen<br />

Wohnungen der deportierten Juden, ihr<br />

Eigentum wurde konfisziert. Mindestens<br />

50 Juden aus Meran wurden Opfer der<br />

Shoah.<br />

Ein Bericht über die „mörderische Heimat“.<br />

„Nach 1945 weigerte man sich, Überlebende<br />

für ihre materiellen Verluste zu<br />

entschädigen. Die Erinnerung an die jüdischen<br />

Nazi-Opfer wurde lange verdrängt“,<br />

erzählt Joachim Innerhofer, der gemeinsam<br />

mit Sabine Mayr auch durch das Buch<br />

Mörderische Heimat (2015) diesem Zustand<br />

ein Ende setzte. „Südtirols Juden liebten<br />

ihre Heimat und leisteten unschätzbare<br />

Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und<br />

im Tourismus. Indem wir die Spuren jüdischen<br />

Lebens in der Geschichte Südtirols<br />

aufzeigen, wird ihnen wenigstens eine<br />

kleine, wenn auch sehr späte Anerkennung<br />

zuteil.“ Den von den Nazis ermordeten Meraner<br />

Juden wurde lange Zeit das Andenken<br />

verweigert. Sie tauchten auch nicht in<br />

der Südtiroler Opferliste auf. Ebenso hüllte<br />

die offizielle Geschichtsschreibung einen<br />

Mantel des Schweigens um die rege NS-<br />

Mittäterschaft.<br />

Wenn man heute in der Schillerstraße<br />

den begrünten Hof zur Synagoge betritt,<br />

kommt man an einer großen Steintafel<br />

vorbei, auf der alle Meraner Shoah-Opfer<br />

namentlich verewigt sind. Die Ehrentafel<br />

des Friedhofs enthält bekannte Namen:<br />

jenen des Schriftstellers Karl Wolf, des<br />

Arztes Franz Tappeiner, nach dem das<br />

Krankenhaus und der Panoramaweg benannt<br />

sind, oder des Buchhändlers und<br />

Druckers Wilhelm Ellmenreich, Mitgründer<br />

der Spar- und Vorschusskasse,<br />

der heutigen Volksbank. Hier findet man<br />

auch den Namen von Davide Wischkin,<br />

1910 in Riga, Lettland, geboren, in Meran<br />

1976 gestorben. „Wischkin war Allgemeinarzt<br />

und für die Meraner Spitäler<br />

St. Anna und Lorenz Böhler tätig“, weiß<br />

Chaim Lazar, Wischkins Großneffe und<br />

Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde<br />

in Meran.<br />

Die Synagoge in Meran strahlt heute<br />

eine würdevolle Stimmung aus: Warmes<br />

braunes Holz vertäfelt die Wände,<br />

schweres rotes Tuch ist zu sehen, goldene<br />

Leuchter, der Thoraschrein und Kultgegenstände.<br />

Indessen versammelt sich<br />

draußen schon die nächste Touristengruppe:<br />

Diesmal sind es Israeli, die die<br />

umtriebige Dalit Katzenellenbogen von<br />

der israelischen Reiseagentur Italia Viva<br />

herangekarrt hatte. „Es besuchen uns<br />

Menschen aus der ganzen Welt, von nicht<br />

jüdischen Polen bis zu den ultraorthodoxen<br />

Besuchern, den Breslauer Chassidim“,<br />

schmunzelt Joachim Innerhofer.<br />

„Wir freuen uns über jedes Interesse, egal<br />

aus welchem Eck es kommt. Aber für die<br />

Bildung der Jugend, die es in die nächsten<br />

Generationen trägt, ist es besonders<br />

wichtig. Damit endlich die Vorurteile gegen<br />

Juden abgebaut werden“, hofft der<br />

Optimist in Meran.<br />

© privat J.I.<br />

26 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 26 10.05.22 09:31


LEBENS ART<br />

Abrakabarbara<br />

Gerade hat sie ihren 80. Geburtstag gefeiert – und das war nicht nur für das Jüdische Filmfestival Wien, das ihr<br />

heuer eine Personalie widmete, ein Grund, die zauberhafte Barbra Streisand hochleben zu lassen!<br />

Talmund und Himbeere<br />

1983 erscheint Yentl, Streisands erster Film als<br />

Produzentin, Regisseurin, Hauptdarstellerin<br />

und Sängerin in Personalunion. Für den<br />

vielgelobten Film über das jüdische Mädchen,<br />

das sich für das Talmud-Studium<br />

als Mann verkleidet, heimste Streisand allerdings<br />

auch eine „Goldene Himbeere“-<br />

Nominierung ein: für die schlechteste<br />

männliche Hauptrolle.<br />

Hollywoodreife Leistung<br />

Zwei Oscars, neun Golden Globes, 14 Grammys – und kein einziges<br />

Mal im Schampus-Rausch! „Ich war noch nie betrunken.<br />

Ich bin ein Kontrollfreak“, erklärte La Streisand einmal. Und bekommt<br />

von WINA dafür das Goldene Kaffeehäferl verliehen.<br />

Tasse über fineartamerica.com<br />

Profi mit Profil<br />

Sie selbst bezeichnete sich einmal als das „Mädchen<br />

mit den langen Krallen und der Nase eines<br />

Ameisenbären“. Die perfekt manikürten Fingernägel,<br />

die markante Nase und der leichte Silberblick<br />

wurden zu ihrem Markenzeiche.<br />

Schwarz-weiß-Poster über fruugo.at<br />

Sing Star<br />

Nicht für ihre Rolle der talentierten<br />

Sängerin Esther<br />

im Film A Star is Born erhielt<br />

Barbra Streisand den<br />

Oscar – aber für den „besten<br />

Song“ (Evergreen)! Damit<br />

war sie die erste Frau, die<br />

für eine Komposition mit einem<br />

Academy Award prämiert wurde.<br />

Spätgeborene kennen die Hollywood-<br />

Story als Verfilmung mit Bradley Cooper<br />

und Lady Gaga aus dem Jahr 2018.<br />

Doppelt hält besser<br />

145 Millionen Platten hat das Musiktalent<br />

Barbra Streisand verkauft. Insgesamt<br />

veröffentlichte sie mehr als<br />

sechzig Alben, für die sie mit über 50<br />

Goldenen, über 30 Platin- und mehr als<br />

18 Multi-Platin-Schallplatten ausgezeichnet<br />

wurde. Puh. Unser heimlicher Favorit:<br />

Duets, auf denen sich Stars wie<br />

Celine Dion, Frank Sinatra, Judy Garland<br />

u. v. m. die Ehre geben.<br />

Z.B. über amazon.de<br />

Lieblingszitat! Mit unerschütterlicher Zuversicht treibt die<br />

rothaarige Fanny Brice (Barbra Streisand in Funny Girl) ihre<br />

Karriere voran. Zwischen all den Follies-Showgirls fühle sie sich<br />

jedoch wie ein „Bagel auf einem Teller voller Zwiebelbrötchen“.<br />

„I’m a bagel on a plate full of onion rolls.“<br />

Schöne Hochstaplerin<br />

Nicht nur Amy Winehouses Look wäre ohne Barbra nicht denkbar<br />

gewesen: Ihre Hochsteckfrisur mit stark toupiertem Hinterkopf wurde<br />

in den Sechzigerjahren als „Bienenkorb“ bekannt. Auf diesem T-Shirt<br />

wird die Haarpracht (und unser Geburtstagskind!) gefeiert.<br />

Über society6.com<br />

Fotos: Hersteller; Pexels/Marina Leonova<br />

27 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 27 10.05.22 09:31


MATOK & MAROR<br />

Das o.m.k am Hohen Markt garantiert<br />

„Mochi“-Flair und Qualität<br />

In zehn Jahren hat sich die Mochi-Familie stark vergrößert.<br />

Eddi Dimant im<br />

neuen o.m.k – das<br />

steht für „omochikaeri“,<br />

Greißlerei auf<br />

Japanisch.<br />

„Wir wussten genau,<br />

was wir wollten:<br />

authentische japanische<br />

Gerichte mit<br />

internationalem Einschlag.“<br />

Eddi Dimant<br />

Dimant und seine Freunde<br />

bringen mit exquisiten Sushi-<br />

„Eddi<br />

Kreationen weltstädtisches Flair<br />

in die Leopoldstadt.“ So lautete unser Vorspann<br />

in der WINA-Gastro-Kolumne, als das<br />

Mochi vor zehn Jahren auf der Praterstraße<br />

eröffnete. Auch unser Magazin war damals<br />

noch ein Baby, wenn auch nicht so reizend<br />

wie der drei Monate alte Elias, den Nicole Dimant<br />

im Arm wiegte. Im Lokal war manches<br />

noch im Entstehen, einiges auch improvisiert.<br />

Mit dem ersten Jahrzehnt ist aber nicht<br />

nur die Dimant-Familie gewachsen, Elias<br />

hat noch zwei Brüder bekommen,<br />

Noah und Jamie, sondern auch das<br />

Mochi-Universum: Mit den ausgefallenen<br />

sowie traditionell japanischen<br />

Speisen der Extraklasse hat<br />

sich das Unternehmen erfolgreich<br />

an mehreren Standorte in Wien<br />

etabliert.<br />

„Das o.m.k am Hohen Markt ist<br />

die Schwester unseres Stammhauses<br />

in der Praterstraße. Ein Asian Gourmet<br />

Shop mitten in der Stadt, wo man gleich essen<br />

oder mitnehmen kann“, erzählt der 46-jährige<br />

Eduard Dimant, der die gesamte kulinarisch-qualitative<br />

Verantwortung trägt. Beim<br />

ehemaligen Stross, wo bis Ende 2020 Textilien<br />

geputzt wurden, werden jetzt kleinere<br />

und größere Köstlichkeiten weggeputzt – an<br />

Stehtischen mit Barhockern.<br />

Aber wenn schon Mochi-Qualität, warum<br />

dann kein gleichwertiges Restaurant wie das<br />

Original? „Genau das war unsere Absicht,<br />

aber wir konnten die Genehmigung dafür<br />

nicht bekommen, weil einige der Wohnungseigentümer<br />

im Haus dagegen waren“, erläutert<br />

Dimant, der in Naharija geboren wurde<br />

und bald darauf mit seiner Familie nach Berlin<br />

zog. Nach einem BWL-Studium begann er<br />

mit 24 Jahren die Lehre und Ausbildung zum<br />

Sushi-Meister in Berlin. „Denn ich wusste<br />

schon mit 16 Jahren, dass ich japanisch kochen<br />

möchte“, lacht Dimant. Sein beruflicher<br />

Weg führte ihn direkt in die Spitzengastronomie:<br />

Vom Grand Hyatt in Berlin ging es<br />

zu diversen Starköchen nach Paris. Es folgten<br />

Jobs im Park Hyatt Zürich und im Hotel Banyan<br />

in Seoul. Mit 32 Jahren leitete Eddi Dimant<br />

bereits das Do & Co Club Restaurant in<br />

München. Mit seinem Freund Tobias Müller<br />

wurde er dann in das Do & Co am Stephansplatz<br />

engagiert, wo beide für die Entwicklung<br />

von nah- und fernöstlichen Speisen<br />

zuständig waren.<br />

Zu viert, jeder hatte inzwischen eine<br />

Partnerin, wagten sie in Wien den Sprung<br />

in die Selbstständigkeit. Bereits vier Monate<br />

nach der Eröffnung wurde das Mochi<br />

für das beste Szene-Gastrokonzept mit der<br />

Trophée Gourmet A la Carte ausgezeichnet.<br />

„Wir wussten genau, was wir wollten: authentische<br />

japanische Gerichte mit internationalem<br />

Einschlag; daher kommt auch der<br />

Name: Mochi sind japanische Klebereisbäll-<br />

chen“, erklärt der Spitzenkoch,<br />

der auch als erfolgreicher<br />

Geschäftsmann noch<br />

träumen kann.<br />

Fünf dieser Träume hat<br />

das Mochi-Team schon realisiert:<br />

Außer dem Stammhaus<br />

in der Praterstraße 15<br />

kamen noch fünf Projekte<br />

dazu:<br />

2014 das o.m.k Take Away<br />

& Deli gegenüber dem<br />

Hauptlokal, in der Praterstraße<br />

16.<br />

2017 die Mochi Ramenbar auf dem Vorgartenmarkt,<br />

Stand 12–29, als eine Hommage<br />

an die Nudelsuppenküche Japans.<br />

2019 die Kikko B in der Schleifmühlgasse 8<br />

(1040 Wien), wo der Fokus auf Sake und Naturweinen,<br />

aber auch auf kreativen Snacks<br />

liegt.<br />

2020 das Mochi am Markt auf dem Vorgartenmarkt,<br />

Stand 16. Hier trifft Japan auf<br />

Peru und auch auf Mexiko.<br />

2021 die Kochwerkstatt K b in der Ferdinandstraße<br />

13 (1020 Wien). Ramen- und Sushi-Masterclasses<br />

sowie andere Kurse werden<br />

hier abgehalten; außerdem ist sie für die<br />

eigene Kochmannschaft ein Ort des Austauschs<br />

und eine Versuchsküche für Dimant<br />

und für alle, die selbst asiatische Köstlichkeiten<br />

zaubern möchten.<br />

„Während der Pandemie-Lockdowns hat<br />

uns das Take-out-Konzept über Wasser gehalten,<br />

daher sind wir jetzt mit dem o.m.k<br />

auf dem Hohen Markt auch glücklich – sollte<br />

neuerlich etwas passieren“, gesteht der dreifache<br />

Vater. Und so drängen sich im neuen<br />

„o.m.k 1010“ die Hungrigen und Durstigen,<br />

um an die köstliche Auswahl an Sushis,<br />

Donburis (heißer Reis mit pikanter Auflage),<br />

Salaten, Nudelsuppen und natürlich<br />

auch Desserts heranzukommen. Neben den<br />

Speisen werden auch japanische Lebensmittel<br />

sowie ein Sortiment an Getränken wie<br />

Kaffee, Matcha, hausgemachte Limonaden<br />

und Craft-Biere angeboten. Apropos: o.m.k.<br />

steht für „omochikaeri“ – das japanische Pendant<br />

zur Greißlerei. <br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

28 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 28 10.05.22 09:31


WINAKOCHT<br />

Warum ist der Spargel solo,<br />

aber selten Single, ...<br />

... und geht es an Schawuot auch weniger süß? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher<br />

Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder<br />

Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Servus liebe WINA-Redaktion,<br />

ich bin, wie man so schön sagt, keine Süße. Mir<br />

ist daher Schawuot einen Tick zu klebrig. Habt<br />

ihr vielleicht ein Rezept, das Milchiges und Honig<br />

der Tradition folgend einbindet, aber meinen<br />

Geschmackssinn nicht verpickt?<br />

Hanna R.<br />

Schawuot ohne Käsekuchen? Das wäre<br />

undenkbar oder anders gesagt: ein<br />

ziemlicher Topfen! Zu Ihrem kulinarischen<br />

Glück ist der Käsekuchen ein<br />

Tausendsassa. Es gibt ihn mit Schokolade<br />

und Obst, aber auch in salzigen Varianten.<br />

Eine davon verraten wir Ihnen<br />

im Rezept anbei, in der sich der Käsekuchen<br />

nicht nur in Form und Farbe,<br />

sondern auch zutatentechnisch seinem<br />

deutschen Namensgeber Käse annähert.<br />

Der von uns vorgeschlagene Kuchen<br />

schmeckt übrigens mit süßen Beilagen<br />

genauso gut wie mit salzigen. So passen<br />

etwa Spinatsalat – mit etwas Honig in<br />

der Vinaigrette – oder auch Obstsalat gut<br />

dazu. Wir empfehlen eine Mischung aus<br />

Zitrusfrüchten, Granatapfel und Physalis.<br />

Die Früchte können ihrerseits mit etwas<br />

Honig gesüßt werden.<br />

Egal ob Feldfrüchte oder Obst als Beilage:<br />

Sie bringen auch noch die Ebene<br />

des Erntedankes mit auf den Tisch. Und<br />

wenn Sie den Obstsalat dann zusätzlich<br />

mit etwas Rosenwasser parfümieren<br />

(dafür 2 TL Rosenwasser, 4 EL Zitronensaft<br />

und 4 EL Honig verrühren), ist<br />

der rituelle Rundumschlag vollends geglückt.<br />

Denn so kann man auch die Tradition<br />

der Sepharden einbinden, die das<br />

Wochenfest auch Fest der Rosen nennen<br />

und Rosenblüten auf die Thorarollen<br />

streuen.<br />

SALZIGER KÄSEKUCHEN<br />

ZUTATEN für ca. 16 Stück<br />

Für den Keksboden:<br />

150 g Cracker (salzig)<br />

100 Gramm Butter<br />

Für die Füllung:<br />

350 g Mascarpone<br />

350 g Magertopfen<br />

150 Gramm reifer, geriebener Gouda<br />

(z. B. über koshercheese.nl/de/koscherergouda-kaese)<br />

6 Eier<br />

400 g Sauerrahm<br />

½ Biozitrone<br />

60 g Speisestärke<br />

Salz, Pfeffer (frisch gemahlen), Muskat<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Cracker in ein Gefriersackerl geben, verschließen<br />

und mit dem Nudelholz fein zerdrücken.<br />

Butter schmelzen und in einer Schüssel unter<br />

die Brösel rühren. Eine Springform (Ø 26 cm)<br />

mit Backpapier auslegen und die Brösel mit den<br />

Händen zu einem festen Boden drücken. Form<br />

für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen.<br />

Mascarpone, Topfen, Gouda und eine Prise<br />

Salz verrühren. Eigelb und Sauerrahm unterrühren.<br />

Die Schale der Zitrone fein abreiben,<br />

Saft auspressen. Zitronenschale, Saft und Speisestärke<br />

unter die Topfenmasse rühren. Das<br />

Eiweiß steif schlagen und unterheben. Mit<br />

Salz, Pfeffer und Muskat abschmecken. Masse<br />

auf dem Kuchenboden verteilen.<br />

Backrohr auf 200°C vorheizen. Den<br />

Kuchen im vorgeheizten Backrohr<br />

auf der unteren Schiene etwa eine<br />

Stunde backen. Nach 30 Minuten<br />

mit Backpapier abdecken, so wird<br />

er nicht zu dunkel. Im geöffneten<br />

Ofen 15 Minuten auskühlen lassen.<br />

Der Kuchen kann lauwarm oder kalt<br />

serviert werden.<br />

Liebe WINA-ExpertInnen,<br />

eine Frage bitte zur Spargelsaison: Wieso findet<br />

diese Delikatesse so oft als „Solospargel“<br />

ausgewiesen, obwohl man doch selten lediglich<br />

eine weiße Stange auf dem Teller serviert?<br />

Judith H.<br />

Freche Zungen behaupten ja, die Bezeichnung<br />

käme daher, weil man<br />

nach dem Spargelgenuss besser „solo“<br />

die Toilette aufsuchen sollte, des Uringeruchs<br />

wegen. Richtig ist natürlich,<br />

dass es sich bei „Solo“ um eine Qualitätsbezeichnung<br />

handelt: Der Albinospargel<br />

erwirbt diese ab einem Durchmesser<br />

von 20 bis 25 mm.<br />

Eines noch zur Beruhigung: Die<br />

Wahrnehmung der stark riechenden<br />

Spargelabbauprodukte im Urin ist übrigens<br />

genetisch bedingt. Nur ein Teil<br />

der Menschheit kann die entstehenden<br />

Gerüche wahrnehmen. Außerdem<br />

gibt es Menschen, denen die Enzyme<br />

zur Metabolisierung der Spargelaromastoffe<br />

fehlen. Ihrem Urin fehlt daher<br />

der charakteristische Geruch nach<br />

dem Delikatessenessen.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at 29<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 29 10.05.22 09:31


Neue Brautechniken<br />

Die Bierfabrik der Kaiserstadt<br />

Zwei Zuwandererfamilien waren für die größte Brauerei Wiens<br />

verantwortlich: die christlichen Drehers aus Süddeutschland und<br />

die jüdischen Mautners aus Böhmen. Ein aktueller Bildband<br />

beschreibt die Geschichte des Schwechater Biers.<br />

Von Reinhard Engel<br />

„<br />

Vor 180 Jahren gab es in Wien eine<br />

fast revolutionäre Entwicklung<br />

in der Brautechnik, die Auswirkungen<br />

auf die ganze Welt hatte.<br />

Anton Dreher braute in Schwechat erstmals<br />

sein Lagerbier, das als neuer Biertyp<br />

einen erfolgreichen Siegeszug durch alle<br />

Kontinente antrat. Zugleich begann Adolf<br />

Ignaz Mautner (später von Markhof) seine<br />

Brautätigkeit in einem damals kleinen Betrieb<br />

in St. Marx am Beginn der Simmeringer<br />

Hauptstraße“, heißt es im Vorwort des<br />

Bildbandes Die Geschichte der Brauerei Schwechat<br />

von Alfred Paleczny, Christian Springer<br />

und Andreas Urban.<br />

Die beiden Brauerei-Gründungen lagen<br />

nur wenige Kilometer voneinander entfernt<br />

und sollten sich etwa 70 Jahre später<br />

in einer Aktiengesellschaft zusammenschließen.<br />

„25 Jahre danach übernahm die<br />

Familie Mautner Markhof diese Brauerei<br />

und führte sie als ,Brauerei Schwechat‘ ein<br />

halbes Jahrhundert als eines der größten<br />

Brauunternehmen Österreichs weiter, bis<br />

sie 1978 ein Tochterbetrieb der heutigen<br />

Brau Union Österreich AG wurde.“<br />

Franz Anton Dreher aus dem schwäbischen<br />

Pfullendorf zog es in der zweiten<br />

Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Wien. Er<br />

war ein Nachgeborener, der älteste Bruder<br />

übernahm zu Hause die Gastwirtschaft,<br />

so suchte Franz Anton sein Glück in der<br />

Fremde. In Wien arbeitete er erst als Bäcker<br />

und Bierkellner, dann wagte er sich in<br />

die Selbstständigkeit und pachtete mit der<br />

Mitgift seiner Frau die Herrschaftsbrauerei<br />

der Grafen Königsegg-Aulendorf in Oberlanzendorf.<br />

„Die Brauerei in Oberlanzendorf<br />

war sehr klein“, liest man in Die Ge-<br />

schichte der Brauerei Schwechat. „Sie besaß als<br />

Zugkraft nur eine Kuh. […] Wir wissen von<br />

Franz Anton, dass er bei wirtschaftlichen<br />

Schwierigkeiten manchmal mit seiner Frau<br />

eine Wallfahrt nach Mariazell unternahm,<br />

um Gottes Segen zu erbitten.“<br />

Dreher suchte daher neue, bessere<br />

Chancen und fand sie<br />

1782 im Leopoldstädter<br />

Brauhaus, das er nun<br />

pachtete. Der tüchtige<br />

Anton Dreher<br />

braute in<br />

Schwechat erstmals<br />

sein Lagerbier,<br />

das als<br />

neuer Biertyp<br />

einen erfolgreichen<br />

Siegeszug<br />

durch alle Kontinente<br />

antrat.<br />

Unternehmer brachte<br />

den Betrieb in Schwung<br />

und konnte 14 Jahre später<br />

das Brauhaus Klein<br />

Schwechat kaufen. Die<br />

Pacht des Leopoldstädter<br />

Brauhauses gab er dann<br />

zurück. Sein Sohn Anton<br />

„der Ältere“ sollte für den<br />

geradezu kometenhaften<br />

Aufstieg der Schwechater<br />

Brauerei verantwortlich<br />

zeichnen. Dafür waren<br />

Wagemut und neue<br />

Technologien vonnöten.<br />

Doch am Anfang stand eine „teils unverschämte<br />

Industriespionage“ für die Beschaffung<br />

der neuen Brautechniken. Anton<br />

Dreher reiste – gemeinsam mit einem<br />

Junior der Münchner Spaten-Brauerei –<br />

nach Böhmen, Thüringen und schließlich<br />

nach England, um den aktuellen Stand der<br />

Brauindustrie zu erkunden. Dabei ging es<br />

etwa um den Einsatz von Dampfmaschinen<br />

oder um die Kühlung des Biers, um es haltbarer<br />

zu machen. Die jungen Männer aus<br />

Kontinentaleuropa waren dabei recht einfallsreich.<br />

Wenn man ihnen bei Betriebsbesuchen<br />

nicht erlaubte, Proben zu ziehen,<br />

taten sie das etwa heimlich mit einem Spazierstock,<br />

der ein Ventil und einen röhrenförmigen<br />

Behälter aus Blech enthielt.<br />

Nach seiner Rückkehr nach Wien begann<br />

Dreher, die ersten Modernisierungsschritte<br />

zu setzen, konzentrierte sich immer<br />

mehr auf das so genannte niedergärige<br />

Bier, das sich bei korrekter Kühlung mona-<br />

telang frisch hielt, und wurde<br />

ab Anfang der 1840er-Jahre<br />

außergewöhnlich erfolgreich.<br />

„Die Kombination von<br />

hellem Malz, das gemäß englischer<br />

Mälzungstechnologie<br />

hergestellt wurde, und die<br />

lange kühle Lagerung, entsprechend<br />

der untergärigen<br />

Gärmethode, waren Teil des<br />

Erfolges. Der Wiener Bierstil<br />

eroberte ab 1841 die Welt, die<br />

Art des Herstellverfahrens revolutionierte<br />

das Brauwesen.“<br />

Parallel zur Erweiterung<br />

der Kapazitäten mit den<br />

neuen Produktionsmethoden<br />

baute die Schwechater Brauerei systematisch<br />

ihr Vertriebssystem aus, belieferte immer<br />

mehr Gaststätten in Wien – dem entsprach<br />

natürlich auch ein Sterben kleiner<br />

Brauhäuser. Und die Zahlen gingen steil<br />

nach oben: 1851 erzielte man schon einen<br />

Ausstoß von fast 100.000 Hektoliter, damit<br />

„führte Dreher bereits die größte Brauerei<br />

der Monarchie“. 1860 galt sie als größte<br />

des europäischen Festlandes, nur die englischen<br />

Konkurrenten erzeugten mehr.<br />

Überdies hatte man Betriebsstätten in Ungarn,<br />

Triest und Mähren erworben. Anton<br />

Dreher starb 1863, sein Sohn Anton „der<br />

Jüngere“ war da erst 14 Jahre alt.<br />

Es gelang dem Management dennoch,<br />

die Firma solide weiterzuführen, und als<br />

der Erbe volljährig war, baute er wiederum<br />

aus, investierte daneben auch in Immobilien<br />

und andere Branchen. Am Vorabend<br />

des Ersten Weltkriegs, 1913, kam es dann<br />

zur großen Wiener Braufusion zur „Verei-<br />

© 123RF<br />

30 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 30 10.05.22 09:31


Revolutionäre Kühlmethoden<br />

© 123RF<br />

nigten Brauereien Schwechat, St. Marx,<br />

Simmering – Dreher, Mautner, Meichl Aktiengesellschaft“.<br />

Erfolgreiches Comeback. Die zweite Gruppe,<br />

die in diesem Konzern eine Rolle spielte,<br />

gehörte der Familie Mautner. Diese wiederum<br />

hatte – wie ein halbes Dutzend anderer<br />

– neben Dreher in den 1840er-Jahren<br />

in Wien ebenfalls mit neuen Brautechniken<br />

zu experimentieren begonnen. Diese<br />

Unternehmer stammten zum Teil auch<br />

aus anderen Kronländern, wie Adolf Ignaz<br />

Mautner, der 1840 von Böhmen nach St.<br />

Marx gekommen war und ebenfalls revolutionäre<br />

Methoden, vor allem beim Kühlen,<br />

anwendete.<br />

Adolf Ignaz war freilich sein geänderter<br />

Name, ursprünglich hatte er Abraham<br />

Isaac geheißen. Neben den neuen Braumethoden<br />

– etwas anders als jene der Drehers<br />

– entwickelte er gemeinsam mit steirischen<br />

Brauern industrielle Techniken zur<br />

Hefeproduktion. Um seinen ökonomischen<br />

Aufstieg zu erleichtern, ließ er sich<br />

1846 taufen. Und dieser Aufstieg erfolgte<br />

fast ebenso rasant wie jener der Drehers.<br />

1870 war die St. Marxer Brauerei der Mautners<br />

die drittgrößte auf dem europäischen<br />

Festland, und auch sie verfügte über weitere<br />

Dependancen in der Monarchie. 1872<br />

wurde Adolf Ignaz Mautner zum Ritter von<br />

Markhof nobilitiert.<br />

Der Zusammenschluss der Brauereien<br />

im Großraum Wien – die dritte, kleinere<br />

war jene der Meichls – erfolgte 1913 freilich<br />

nicht nur aus reiner Freude. Es krachte<br />

schon im Gebälk, nicht alle Betriebsstätten<br />

waren auf dem Stand der Zeit, man ver-<br />

suchte sich nach vorne in die Größe zu retten.<br />

Krieg und Elend der Folgejahre sollten<br />

sich auch äußerst negativ auf die ganze<br />

Branche auswirken, die Produktionszahlen<br />

gingen teils dramatisch zurück, früher<br />

profitable Tochterbetriebe befanden<br />

sich auf einmal in anderen Ländern und<br />

mussten verkauft werden. In den 1930er-<br />

Jahren hielten bereits die Banken die Aktienmehrheit<br />

an der Brauerei, die Mautners<br />

hatten sich schwerpunktmäßig auf<br />

ihre Lebensmittelindustrie zurückgezogen.<br />

Doch dann gelang der nächsten Generation<br />

„ein sehr erfolgreiches Comeback“.<br />

Unter der Leitung von Georg III. schafften<br />

es vier Brüder bzw. Cousins, die Aktienmehrheit<br />

zu erwerben, vor allem die<br />

Creditanstalt hatte durchblicken lassen,<br />

dass sie ihre Industriebeteiligungen reduzieren<br />

wollte. Es wurde ein komplexes<br />

Geschäft, aber Ende 1936 hatten es die<br />

Mautners geschafft. Doch bald wurde Österreich<br />

von Nazi-Deutschland annektiert,<br />

und nun ging der Kampf um die Brauerei<br />

weiter. Mit Verhaftungen versuchten die<br />

neuen Machthaber, die Besitzer zur Übergabe<br />

zu erpressen, aber die lange zurückliegende<br />

Taufe des Vorfahren Ignaz gab<br />

keine aktuelle Handhabe nach den NS-<br />

Rassengesetzen, die Mautners galten nur<br />

mehr als „Achteljuden“.<br />

Man konnte<br />

ihnen die Fabriken<br />

nicht einfach wegnehmen,<br />

zwang sie<br />

aber, aus der Geschäftsführung<br />

abzutreten.<br />

Nach dem Krieg<br />

sollten dann zwei<br />

Generationen von<br />

Mautners – Manfred<br />

Mautner Markhof I.<br />

und später Manfred<br />

II. – als Brauer,<br />

Industrielle und<br />

Kultursponsoren<br />

das Außenbild der<br />

Schwechater Brauerei<br />

prägen. Doch<br />

Ende der 1970er-<br />

Jahre schrieb man<br />

Verluste, und 1978<br />

kam es zur ersten<br />

Fusion mit der<br />

Brau-Holding der<br />

Linzer Brau AG.<br />

1998 schloss man<br />

sich noch mit der<br />

Steirerbrau zusammen, 2003 übernahm<br />

schließlich der niederländische Heineken-<br />

Konzern. Aktuell ist Schwechater eine Biermarke<br />

in einem internationalen Portfolio,<br />

gebraut wird nach wie vor am alten Standort,<br />

Lagerbier, Zwickl und Wiener Lager.<br />

Zusätzlich füllt man andere Konzernmarken<br />

in Dosen ab, das Bier wird dafür aus<br />

Göss oder Wieselburg in Tankwagen angeliefert.<br />

„Heute Abend:<br />

So wie musikalisch,<br />

aber leakalisch!“<br />

Konzert: Lea Kalisch &<br />

Bela Koreny<br />

14.06.<strong>2022</strong>, 20:00<br />

Porgy & Bess<br />

Zusammen mit Bela Koreny<br />

wird Lea Kalisch jiddische<br />

Evergreens „aufpeppen“,<br />

vergessenen Melodien<br />

neues Leben einhauchen und<br />

Eigenkompositionen vortragen.<br />

Sie performt eigenwillig und<br />

manchmal ungeschliffen – ist<br />

aber immer darauf aus, die<br />

Neshume (jiddisch „Seele“)<br />

zu berühren und einen Hüftschwung<br />

herauszukitzeln.<br />

Tickets: www.porgy.at<br />

Porgy & Bess<br />

Riemergasse 11<br />

1010 Wien<br />

Alfred Paleczny, Christian<br />

Springer, Andreas Urban:<br />

Die Geschichte der<br />

Brauerei Schwechat.<br />

Von den Bierbaronen Dreher<br />

und Mautner Markhof in die<br />

Gegenwart. Böhlau 2021,<br />

280 S.,€ 36<br />

Liz Daza<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 31 10.05.22 09:31


Neuer Standort für Rassismus-Studien<br />

Weil Antisemitismus nicht nur<br />

von rechts kommt<br />

Am Standort Aachen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen<br />

wurde Ende 2020 das Centrum für Antisemitismus-<br />

und Rassismusstudien (CARS) gegründet. Stephan<br />

Grigat, der seit vielen Jahren an der Universität Wien<br />

lehrt, hat dort nun eine Professur für Theorien und Kritik<br />

des Antisemitismus übernommen. Gemeinsam mit dem<br />

Politikwissenschafter Martin Spetsmann-Kunkel wird er<br />

zudem das Centrum leiten. Beide machen gegenüber WINA<br />

klar: Das CARS werde andere Schwerpunkte setzen als vergleichbare<br />

Einrichtungen im deutschsprachigen Raum.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Traditionell setzen sich Universitäten<br />

vor allem mit dem rechten<br />

Antisemitismus auseinander. Der<br />

linke Antisemitismus beziehungsweise<br />

der israelbezogene Antisemitismus, aber<br />

auch die Judenfeindlichkeit von muslimischer<br />

Seite sind eher im Bereich von politischen<br />

Initiativen Thema. In Aachen will<br />

man sich nun „mit allen Erscheinungsformen<br />

des Antisemitismus“ befassen, wie<br />

Grigat betont. Besonderes Augenmerk<br />

soll dabei aber auf den israelbezogenen<br />

und den islamischen Antisemitismus gelegt<br />

werden.<br />

Ersterer sei vor allem in der Linken anzutreffen,<br />

zweiterer sei in der politischen<br />

Rechten ein Thema, in der Linken gebe<br />

es allerdings Hemmungen, diesen zu thematisieren,<br />

„weil immer die Angst da ist,<br />

man könnte in Rassismus abgleiten“. Grigat<br />

erklärt, hier gehe es auch darum, gegen<br />

Irrwege spezifischer Ausformungen<br />

eines Pseudoantirassismus aufzutreten.<br />

Was er damit meint? Eine gewisse Form<br />

der Identitätspolitik, der es nur mehr um<br />

Anerkennung und nicht mehr um gesellschaftspolitische<br />

Rassismuskritik gehe.<br />

Die Hochschule ist eine kirchliche – wie<br />

sieht es da mit christlichem Antisemitismus<br />

aus? „Nach meiner Überzeugung<br />

muss für ein Centrum an einer deutschen<br />

Hochschule in katholischer Trägerschaft<br />

das Eingeständnis der<br />

Schuld von Deutschen<br />

und Christen und Christinnen<br />

für die Shoah und<br />

die damit verbundene<br />

historische Verantwortung<br />

leitend sein“, sagt<br />

Besonderes<br />

Augenmerk<br />

soll dabei auf<br />

den israelbezogenen<br />

und<br />

den islamischen<br />

Antisemitismus<br />

gelegt<br />

werden.<br />

dazu Spetsmann-Kunkel.<br />

Anders als andere<br />

Einrichtungen an Hochschulen<br />

positioniert sich<br />

das CARS dabei nicht nur<br />

als Forschungsstelle, man<br />

bezieht auch Position.<br />

Dazu Spetsmann-Kunkel: „Das Centrum<br />

erklärt sich solidarisch mit dem Staat<br />

Israel und dem jüdischen Volk. Dies beinhaltet<br />

– nach meiner tiefsten Überzeugung<br />

– auch die Verpflichtung, die Existenz,<br />

das Selbstbestimmungsrecht und Selbstverteidigungsrecht<br />

Israels zu unterstützen<br />

und sich für die Anerkennung Israels<br />

durch die arabischen Nachbarn einzusetzen.<br />

Die Mitglieder des Centrums verurteilen<br />

jegliche Form von Antisemitismus.<br />

Das schließt den israelbezogenen Antisemitismus<br />

ein.“<br />

All das wird sich auch im Tätigkeitsbereich<br />

des Centrums widerspiegeln. Einerseits<br />

soll es projektbezogene Forschung geben,<br />

anderseits Publikationen. Die erste<br />

wird sich mit den unterschiedlichen Er-<br />

scheinungsformen des israelbezogenen<br />

Antisemitismus befassen, kündigt Grigat<br />

an. Im Rahmen seiner Professur wird er<br />

vor allem aber auch lehren. An der Hochschule<br />

werden künftige Sozialarbeiter<br />

und Sozialarbeiterinnen ausgebildet. Sie<br />

für Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren,<br />

sei „ein drängendes Thema:<br />

Die Sozialarbeit ist aktiv mit dem Thema<br />

konfrontiert.“ Wichtig sei es da etwa auch,<br />

über die Geschichte des Nahostkonflikts<br />

Bescheid zu wissen. Theoretischer Bezugspunkt<br />

soll dabei die Kritische Theorie sein<br />

und damit die Ideenwelt von Theodor W.<br />

Adorno und Max Horkheimer.<br />

Das CARS will sich aber auch mit Einrichtungen<br />

und Organisationen<br />

international vernetzen,<br />

beispielsweise mit<br />

dem Institute for the Study<br />

of Contemporary Antisemitism<br />

an der University<br />

of Indiana in Bloomington<br />

und dem in Gründung begriffenen<br />

London Center for<br />

the Study of Contemporary<br />

Antisemitism. Auch mit zivilgesellschaftlichen<br />

Institutionen<br />

und antisemitismuskritischen<br />

Initiativen<br />

wie der Amadeo Antonio<br />

Stiftung und der Recherche-<br />

und Informationsstelle Antisemitismusstelle<br />

(RIAS) in Deutschland oder<br />

MENA Watch in Österreich kann Grigat<br />

sich eine Zusammenarbeit gut vorstellen.<br />

„Wenn es um eine Kritik des Antisemitismus<br />

einerseits und eine adäquate Darstellung<br />

des Nahostkonflikts andererseits<br />

geht, wären das naheliegende Kooperationspartner.“<br />

Eine enge Zusammenarbeit<br />

wird es zudem mit dem Gordon College<br />

in Haifa geben, einer der ältesten Lehrerausbildungsstellen<br />

in Israel. Ein Vertrag<br />

über die konkrete künftige Zusammenarbeit<br />

ist dazu derzeit in Ausarbeitung. Ein<br />

Fokus dieser Kooperation soll jedenfalls<br />

im Bereich Holocaust Education liegen.<br />

katho-nrw.de/forschung-und-transfer/forschungsinstitute/centrum-fuer-antisemitismus-und-rassismusstudien-cars<br />

32 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 32 10.05.22 09:31


HIGHLIGHTS | 03<br />

Detail um Detail<br />

Eine opulente Pariser Schau über Marcel<br />

Prousts Jude-Sein.<br />

Auch <strong>2022</strong> ist Proust-Jahr. Denn Marcel Prousts<br />

Todestag jährt sich am 18. November zum 100.<br />

Mal. Mit Marcel Proust – Du côté de la mère widmet<br />

das Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme<br />

dem Großepiker eine beeindruckende, Augen öffnende<br />

Schau. Mit 230 Kunstwerken und Dokumenten<br />

wird opulent nachgezeichnet, wie er sich durch<br />

die Belle Époque bewegte und doch auf Distanz gehalten<br />

wurde – weil Jude. Prousts Urgroßvater Baruch<br />

Weil (1780–1828) hatte die französische Staatsbürgerschaft<br />

erst mit zehn erhalten, Baruchs Vater<br />

signierte noch mit hebräischen Schriftzeichen. Evelyne<br />

Bloch-Dano, die Biografin von Marcel Prousts<br />

Mutter, einer geborenen Weil: „Ein Architekt, ein<br />

Börsenmakler, ein Industrieller, ein Militär, ein Richter<br />

und ein Bankier: Moïse Weil, Nathé Weil, Lazare<br />

Weil, dazu Abraham Weil, Benoît Cohen und Joseph<br />

Lazarus, die Söhne und Schwiegersöhne<br />

Baruch Weils – Elsässer und ein Holländer<br />

–, waren in ihren Berufen alle<br />

erfolgreich. Diese Männer hatten<br />

nicht die Leichtigkeit der begüterten<br />

aristokratischen Müßiggänger und<br />

verstanden sich nicht darauf, ihr Vermögen<br />

leichtfertig zu genießen. Dank<br />

harter Arbeit, Hartnäckigkeit und ehrgeizigen<br />

Bemühungen hatten sie die<br />

gesellschaftliche Leiter Frankreichs<br />

erklommen. Sie stehen für die erste<br />

Generation Juden, die als französische<br />

Staatsbürger geboren wurden.“ A.K<br />

MARCEL PROUST – DU CÔTÉ DE LA MÈRE<br />

Pariser Musée d’art et d’histoire<br />

28. August <strong>2022</strong><br />

mahj.org<br />

Rache: der<br />

Baseballschläger<br />

aus Inglourious<br />

Basterds.<br />

Marcel Proust (1871–1922)<br />

nach einer Fotografie von<br />

Otto Wegener von Jean-<br />

Baptiste Chevalier.<br />

MUSIKTIPPS<br />

Rächt euch!<br />

Ausstellungsraum der<br />

aktuellen Schau im<br />

Museum Frankfurt.<br />

Zahn um Zahn<br />

Eine anregend oszillierende Schau im<br />

Jüdischen Museum Frankfurt<br />

Darf man das? Oder ist man da schon in den<br />

intellektuellen Niederungen US-amerikanischer<br />

Fernsehkrimis, in denen Opfer oder Nachkommen<br />

Hingemetzelter Gerechtigkeit einfordern<br />

– im Grunde aber Alttestamentarisches<br />

meinen, Auge um Auge, also: Rache?<br />

Sprachhistorisch ist es wohl kein Zufall, dass<br />

von „Rachedurst“ die Rede ist. In so mancher<br />

Barockoper wird furios Leiden in Rache umgewandelt.<br />

Sozialpsychologisch wird Rache eher<br />

umtänzelt. Und sie ist museal nie wirklich beleuchtet<br />

worden. Bis jetzt.<br />

Rache. Geschichte und Fantasie ist die mit<br />

rund 80 Exponaten bestückte Schau im Jüdischem<br />

Museum in Frankfurt am <strong>Mai</strong>n überschrieben.<br />

Spiritus rector ist der Berliner Max<br />

Czollek. Die Museumsdirektorin Mirjam Wenzel<br />

stieß in seinem Buch Desintegriert Euch! auf ein<br />

Kapitel über Rache. Gemeinsam erarbeiteten<br />

sie diese anregende, anregend oszillierende kulturhistorische<br />

Schau, die von Judith und Samson<br />

bis zur Shoah und der unmittelbaren Gegenwart<br />

reicht. Ein abgedunkelter Raum. Darin<br />

nur ein Objekt. Ein Baseballschlager aus hartem<br />

Holz. Eingekratzt: Namen in lateinischer Schrift<br />

und auf Hebräisch. Es ist das Sportgerät, das<br />

Donny Donowitz in Quentin Tarantinos Rache-<br />

Film Inglorious Basterds verwendet, um Rache<br />

zu nehmen und einen deutschen Soldaten totzuschlagen.<br />

Und im Museumscafé gibt es sogar<br />

einen kühlen Drink mit Namen Rache. A.K.<br />

RACHE. GESCHICHTE UND FANTASIE<br />

Jüdisches Museum Frankfurt<br />

bis 17. Juli <strong>2022</strong><br />

juedischesmuseum.de<br />

HERSCH<br />

Woran liegt es, dass der Jazzpianist<br />

Fred Hersch trotz Auszeichnungen<br />

und vieler Einspielungen bei der<br />

breiten Masse noch immer eher in der Rubrik<br />

„Geheimtipp“ unterwegs ist? Breath by<br />

Breath (Palmetto) nahm er auf nach vielen Covid-Heimkonzerten.<br />

Jetzt wollte er wieder live<br />

spielen. Und zwar mit einem Streichorchester.<br />

Das Ganze: schwebend meditativ. Transparent.<br />

Gelassen. Und beschwingt melancholisch.<br />

LEONSKAJA<br />

Elisabeth Leonskaja, einst Wunderkind,<br />

lebt nun schon seit einem<br />

halben Jahrhundert in Wien. Erst jetzt, mit 75,<br />

wagt sie sich an eine Mozart-Kompletteinspielung.<br />

Auf den sechs CDs von Mozart – Klaviersonaten<br />

Nr. 1– 18 (Warner) ist ihr Pianospiel so<br />

anmutig irisierend leicht wie klar und klug<br />

durchdacht – und dabei in nur neun (!) Tagen<br />

aufgenommen. Keine Romantisierung. Dafür<br />

Intensität. Und Glück. Großartig.<br />

KARMON GULDA<br />

Erst Hillers Gebet. . Eine Mozart-<br />

Kantate. Salomon Sulzers Trost.<br />

Eyal Bats 3 Lieder für Else Lasker-Schüler. . Berg.<br />

Bernsteins So pretty. . Das Programm, das die<br />

Sängerin Shira Karmon und der Pianist Paul<br />

Gulda 2018 zusammenstellten und jetzt als<br />

Pieces of Hope/Hopes for Peace (Gramola)<br />

pressen ließen, ist so originell wie überra-<br />

schend. Anrührend universell. Musikalisch<br />

humanistisch. Und wichtiger denn je. A.K.<br />

© Pariser Musée d’art et d’histoire /© Otto Wegener / TopFoto / Roger-Viollet Mise en couleur Jean-Baptiste Chevalier © Doc Levin; Lukas Pichelmann; Norbert Miguletz / Jüdischen Museum Frankfurtl<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 33 10.05.22 09:31


Fürs Überleben tanzen<br />

Schon vor der weltweiten Pandemie<br />

litten Menschen unter zunehmender<br />

Arbeitsverdichtung, aber auch<br />

Abgrenzungsproblemen: Wo endet<br />

der Job, wo beginnt das Private? Checke ich<br />

noch spätnachts meine <strong>Mai</strong>ls oder nehme<br />

berufliche Anrufe entgegen? Bin ich dann<br />

beim Einschlafen mit dem Kopf beim<br />

nächsten Meeting oder doch der Frage,<br />

was ich in meiner Freizeit am nächsten<br />

Wochenende unternehmen möchte? Entgrenztes<br />

Arbeiten sagen die Fachleute dazu.<br />

Dieses führt wiederum zu Konflikten in der<br />

Beziehung, das Familienleben leidet.<br />

Die Coronakrise zeigte diese und weitere<br />

Phänomene wie mit einer Lupe nochmals<br />

klar auf. Sie offenbarte die Defizite<br />

im Schulwesen, das zwar schon seit mittlerweile<br />

Jahrzehnten Digitalisierung predigte,<br />

diese aber nicht umsetzte. Sie verstärkte<br />

den Pflegenotstand und führte vor,<br />

dass gerade die Berufe, die als systemerhaltend<br />

gelten, oft, weil weiblich dominiert,<br />

viel zu niedrig entlohnt werden. Kurzarbeit<br />

oder gar Kündigungen, die Überbelastung<br />

der einen, etwa jener, die in Spitälern<br />

arbeiten, die zu große Nähe auf zu<br />

engem Raum in Familien, in denen nicht<br />

jedes Kind sein eigenes Zimmer hat, spitzten<br />

die Situation weiter zu. Psychische Probleme<br />

nahmen zu, Ängste verstärkten sich,<br />

manche radikalisierten sich.<br />

Doch was all dem entgegensetzen? Hier<br />

kommt die Resilienz ins Spiel. Sie bezeichnet<br />

die Fähigkeit, trotz widriger Umstände<br />

sein Leben ohne Schaden zu nehmen meistern<br />

zu können. Achtsamkeit, Psychohygiene,<br />

Entschleunigung, Nachhaltigkeit sind<br />

hier weitere Mosaiksteine zu einem gelingenden<br />

Leben. Doch wie wird man resilient?<br />

Und kann man das lernen?<br />

Interessanterweise haben hier gerade<br />

Menschen wie eben Frankl oder Eger viel<br />

zu geben. Sie durchlebten die Hölle, gaben<br />

aber niemals auf. Eger ist dabei<br />

noch ein Stück selbstreflexiver als einst<br />

Frankl – vielleicht ist das auch dem Umstand<br />

geschuldet, dass sie nun erst in hohem<br />

Alter, mit 90 Jahren, ihre Lebenserinnerungen<br />

veröffentlichte, die sie allerdings<br />

mit einer Botschaft verquickte: Es gilt, innere<br />

Freiheit zu erreichen. Sie überlebte<br />

Auschwitz – und blieb dennoch gefühlt frei,<br />

auch während der Inhaftierung an einem<br />

Ort, an dem versucht wurde, Menschen zu<br />

entmenschlichen.<br />

Eger kam 1927 in Košice/Kassa (zunächst<br />

tschechoslowakisch, dann ungarisch) zur<br />

Welt, wo sie auch aufwuchs. Wichtig waren<br />

ihr in ihrer Kindheit und Jugend der Balletttanz<br />

und die Gymnastik. Als sie 1944 in<br />

Auschwitz ankam, schafften es ihre Schwester<br />

und sie durch die Selektion Josef Mengeles<br />

– ihre Mutter aber wurde sofort ins Gas<br />

geschickt. Sie selbst musste in ihrer Baracke<br />

für Mengele tanzen. Die Schilderung dieser<br />

Szene ist einer der Schlüsselmomente ih-<br />

Trotz allem positiv in<br />

die Zukunft schauen<br />

res Buches In der Hölle tanzen. Wie ich Auschwitz<br />

überlebte und meine Freiheit fand.<br />

Viktor Frankls Buch, in dem<br />

er über seine Zeit im Konzentrationslager<br />

schreibt und<br />

gleichzeitig betont, dennoch<br />

gebe es einen Sinn im Dasein<br />

– ... trotzdem Ja zum Leben sagen<br />

– ist seit Jahrzehnten ein<br />

Klassiker. Im deutschsprachigen<br />

Raum noch weniger<br />

bekannt sind die Bücher der<br />

US-Psychologin Edith Eger,<br />

die sie 2017 und 2020 veröffentlichte<br />

und die inzwischen<br />

auch auf Deutsch erschienen<br />

sind. Auch sie ist eine Überlebende,<br />

auch sie zeigt auf, wie<br />

viel Kraft man in aussichtslos<br />

scheinenden Situationen<br />

noch aus sich selbst schöpfen<br />

kann. Aktuell wird uns<br />

allen viel Kraft abverlangt:<br />

Die Pandemie ist immer noch<br />

nicht überstanden, der Krieg<br />

in der Ukraine brachte einen<br />

weiteren Einschnitt, dazu<br />

zeichnet sich durch hohe Inflation<br />

und massive Preissteigerungen<br />

vor allem bei Rohstoffen<br />

eine wirtschaftlich<br />

schwierige Phase ab. Die Lektüre<br />

von Egers Büchern verscheucht<br />

dabei eindrucksvoll<br />

das Gefühl von Hoffnungslosigkeit.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Die Opferrolle ist optional. „Als Erstes der<br />

hohe Kick. Dann die Pirouette und die Drehung.<br />

Der Spagat. Und wieder hoch. Während<br />

ich schreite, mich beuge und herumwirble,<br />

höre ich, wie Mengele mit seinem<br />

Assistenten spricht. Er wendet seine Augen<br />

nie von mir ab, aber während er zusieht,<br />

kommt er seinen Pflichten nach. Ich höre<br />

seine Worte durch die Musik hindurch. Er<br />

unterhält sich mit dem anderen Aufseher<br />

darüber, welche der hundert anwesenden<br />

Mädchen die Nächsten sind, die ermordet<br />

werden. Wenn mir ein Schritt misslingt,<br />

wenn ich etwas mache, was ihm missfällt,<br />

könnte ich darunter sein. Ich tanze. Ich<br />

tanze. Ich tanze in der Hölle. Ich ertrage<br />

es nicht, den Henker zu sehen, der gerade<br />

unser Schicksal bestimmt. Ich schließe die<br />

Augen. Ich konzentriere mich auf meinen<br />

Tanz, auf mein jahrelanges Training. [...]<br />

In der geheimen Finsternis in meinem Inneren<br />

höre ich wieder die Worte meiner<br />

Mutter, als wäre sie hier in diesem trostlosen<br />

Raum und raunte mir unter den Klängen<br />

der Musik zu: Denk daran, niemand<br />

kann dir das wegnehmen, was du in deinen<br />

Kopf hineingetan hast. Doktor Mengele<br />

verschwindet, meine bis auf die Knochen<br />

abgemagerten Mitgefangenen, die<br />

Trotzigen, die überleben werden, und die<br />

bald schon Toten, sogar meine geliebte<br />

Schwester, verschwinden, und die einzige<br />

Welt, die existiert, ist die Welt in meinem<br />

Kopf. [...] Der Fußboden der Baracke wird<br />

© dreditheger.com<br />

34 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 34 10.05.22 09:31


Konstruktiv weiterleben<br />

© dreditheger.com<br />

„Denk daran,<br />

niemand kann<br />

dir das wegnehmen,<br />

was<br />

du in deinen<br />

Kopf hineingetan<br />

hast.“<br />

Edith Eger<br />

Edith Eger:<br />

In der Hölle tanzen.<br />

Wie ich Auschwitz<br />

überlebte und meine<br />

Freiheit fand.<br />

btb, 480 S.,<br />

€ 12,90<br />

Edith Eger:<br />

Das Geschenk.<br />

12 Lektionen für<br />

ein besseres Leben.<br />

btb, 256 S.,<br />

€ 20,95<br />

hen zu lernen, zu studieren, eine Ausbildung<br />

abzuschließen, wird sie dadurch<br />

immer wieder zurückgeworfen, doch am<br />

Ende macht sie ihren<br />

Weg: Sie wird zunächst<br />

Lehrerin, studiert weiter<br />

und kann schließlich<br />

1978 beginnen, als Psychologin<br />

zu arbeiten. Da<br />

ist sie 51 Jahre alt.<br />

Viele ihrer Patienten<br />

haben schwere Traumata<br />

erlitten, unter ihnen<br />

auch Soldaten. Ihnen<br />

hilft sie, dennoch mit Zuversicht<br />

in die Zukunft zu<br />

schauen. An diesen Fallgeschichten<br />

lässt Eger<br />

den Leser in ihren Lebenserinnerungen<br />

ebenfalls<br />

teilhaben. So verdichtet<br />

sie anhand vieler<br />

Beispiele, wie es trotz<br />

schlechter Ausgangslage<br />

möglich ist, konstruktiv<br />

weiterzuleben.<br />

Was an ihren Ausführungen<br />

berührt: Sie beschönigt<br />

nichts. Sie leitet<br />

niemanden mit Kalendersprüchen<br />

an, immer<br />

das Licht zu sehen, selbst<br />

wenn da Schatten ist.<br />

Nein, sie schreibt, dass<br />

sie selbst bis heute an Flashbacks und Albträumen<br />

leidet. Sie thematisiert ihre Überlebensschuld<br />

und fragt sich bis heute, ob<br />

ihre Antwort auf Mengeles Frage „Mutter<br />

oder Schwester?“, die sie mit „Mutter“ beantwortete,<br />

möglicherweise Ausschlag gebend<br />

dafür war, dass die Mutter noch am<br />

Tag der Ankunft in Auschwitz ermordet<br />

wurde. Eger warnt davor, die traumatisierenden<br />

Erlebnisse zur Seite zu schieben<br />

und zu verdrängen. Man muss sich ihnen<br />

stellen. Aber man darf sich nicht von ihnen<br />

gefangen nehmen lassen. Und genau<br />

das ist ihre Botschaft: Jeder ist frei, die Entscheidung<br />

zu treffen, nicht im Leid zu verzur<br />

Bühne des Budapester Opernhauses.<br />

Ich tanze für meine Bewunderer im Publikum.<br />

Ich tanze im Schein heißer Scheinwerfer.<br />

[...] Ich tanze für Leben.“<br />

Und während dieses Tanzes mit geschlossenen<br />

Augen, vor Mengele, der jeden<br />

Moment das Todesurteil treffen<br />

könnte, formiert sich im Kopf der 16-Jährigen<br />

ein Gedankenkonstrukt, das ihr<br />

ganzes weiteres Leben – positiv – bestimmen<br />

sollte. „Mitten in meinem<br />

Tanz entdeckte ich ein<br />

Stück Weisheit, das ich nie<br />

vergessen habe. Ich werde<br />

nie erfahren, welches Wunder<br />

der Gnade mir diese Einsicht<br />

gewährt, Es wird mein<br />

Leben viele Male retten, auch<br />

dann noch, als das Grauen<br />

vorüber ist. Ich erkenne,<br />

dass Dr. Mengele, der erfahrene<br />

Mörder, der erst heute<br />

Morgen meine Mutter ermordet<br />

hat, bemitleidenswerter<br />

ist als ich. Ich bin frei<br />

in meinem Kopf, was er niemals<br />

sein kann. Er wird immer<br />

mit dem leben müssen,<br />

was er getan hat. Er ist gefangener,<br />

als ich es bin.“<br />

Eger sollte noch viele Höllentage<br />

durchleben, aber sie<br />

überlebte, mehr schlecht als<br />

recht. Viel später hätte die<br />

Befreiung nicht stattfinden<br />

dürfen, sie war krank, sie war<br />

massiv abgemagert. 35 Kilo<br />

habe sie bei Kriegsende gewogen,<br />

erinnert sie sich, sie<br />

musste langsam wieder zu<br />

Kräften kommen, an Gewicht<br />

zunehmen und eine Lungenerkrankung<br />

auskurieren. Was sollte aber nach Auschwitz<br />

noch kommen? Nun, das Leben hielt<br />

für Eger noch so manche Misslichkeit bereit.<br />

Die Inhaftierung ihres Mannes im<br />

kommunistischen Ungarn – sie holt ihn<br />

mit einem Kleinkind am Arm aus dem Gefängnis,<br />

sie fliehen zunächst nach Wien,<br />

emigrieren dann weiter in die USA. Dort<br />

schwierige Anfangsjahre mit belastender<br />

Fabriksarbeit und mühsamem Erlernen<br />

des Englischen, von ihren drei Kindern<br />

kommt eines mit einer Beeinträchtigung<br />

zu Welt, eine Ehekrise inklusive Scheidung<br />

und Wiederverheiratung. In ihrem Bemüharren,<br />

sondern das Beste aus dem weiteren<br />

Leben zu machen.<br />

In ihrem Buch Das Geschenk leitet sie<br />

die Leserinnen in zwölf Lektionen an, wie<br />

sie selbst zu diesem Punkt, zu dieser Entscheidung<br />

kommen können. Ein wesentliches<br />

Moment dabei: sich aus der Opferrolle<br />

zu befreien. „Meiner Erfahrung nach<br />

fragen Opfer: ‚Warum ich?‘ Kämpfernaturen<br />

fragen: ‚Was jetzt?‘ Leiden ist universell.<br />

Aber die Opferrolle ist optional.<br />

Es gibt keine Möglichkeit, Menschen oder<br />

Umständen zu entkommen, die uns verletzen<br />

oder unterdrücken. Die einzige Garantie<br />

besteht darin, dass wir, egal wie freundlich<br />

wir sind oder wie schwer wir arbeiten,<br />

Schmerz empfinden werden. Wir werden<br />

von Umwelt- oder genetischen Faktoren<br />

beeinflusst werden, über die wir wenig<br />

oder gar keine Kontrolle haben. Aber wir<br />

alle haben die Wahl, ob wir in der Opferrolle<br />

bleiben oder nicht. Wir können nicht<br />

auswählen, was uns widerfährt, aber wir<br />

können sehr wohl wählen, wie wir mit unserer<br />

Erfahrung umgehen.“<br />

Auch in diesem Buch webt sie einerseits<br />

persönliche Erfahrungen, andererseits<br />

Fallgeschichten ihrer Patienten mit<br />

ein. Sie haben entweder Traumata erfahren<br />

oder leben in belastenden Beziehungsgeflechten<br />

oder sind schwer erkrankt. Was<br />

Eger hier klar herausarbeitet: Es ist das<br />

Leid des einen nicht schwerer oder leichter<br />

als das Leid der anderen. Es gibt hier<br />

keine Hierarchie. Oder anders formuliert:<br />

Man muss nicht in Auschwitz gewesen sein,<br />

um die Dinge nur mehr düster und keinen<br />

Ausweg mehr zu sehen. Indem sie aber beschreibt,<br />

wie sie all diese Menschen unterstützte,<br />

die innere Freiheit zu erkennen<br />

und auszuleben, nimmt sie auch die Leserinnen<br />

an der Hand und leitet sie an, Gefängnisse<br />

nicht nur von außen nicht zuzulassen,<br />

sondern auch nicht innerlich selbst<br />

aufzubauen. Und so schrecklich ihre Schilderungen<br />

der NS-Zeit sind: Sie schafft es<br />

eindrücklich, Zuversicht zu vermitteln<br />

und, ja, aufzuzeigen, wie Resilienz dennoch<br />

möglich ist.<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 35 10.05.22 09:31


Geschichte der Vorurteile<br />

„RÄCHEN, DASS DI<br />

GRUNDFESTEN E<br />

Das Thema der jüdischen<br />

Rache war nach dem Krieg<br />

lange ein Tabu, auf Seiten<br />

der NS-Täter und ihrer Nachkommen<br />

aus Angst vor den<br />

Rächern, jüdischerseits oft<br />

aus Angst, damit erneut antisemitische<br />

Ressentiments<br />

hervorzurufen. Ganz ohne<br />

Scheu widmen sich nun die<br />

Ausstellung Rache. Geschichte<br />

und Fantasie in Frankfurt und<br />

ein neues Buch diesem verdrängten<br />

Sujet.<br />

Von Anita Pollak<br />

Max Czollek, Erika Riedel, Miriam Wenzel:<br />

Rache. Geschichte und Fantasie.<br />

Hanser <strong>2022</strong>,<br />

176 S., € 26,80<br />

Die gleichnamige Ausstellung im<br />

Jüdischen Museum Frankfurt ist bis<br />

17. Juli <strong>2022</strong> zu sehen.<br />

juedischesmuseum.de<br />

„Die wenigen<br />

aber, die bleiben<br />

werden, müssen<br />

ihre ermordeten<br />

Brüder rächen.“<br />

Vom so gern missgedeute-<br />

ten Bibelvers „Aug um Auge“<br />

bis zum Bild „Wie Schafe<br />

zur Schlachtbank“, also von<br />

der „alttestamentarischen“<br />

Rachsucht der Juden bis hin zu ihrer Op-<br />

ferrolle in der Shoah spannt sich ein Bogen<br />

der Vorurteile in der Geschichte.<br />

Gleichsam in Bestätigung des Klischees,<br />

„die dritte Generation will sich an das er-<br />

innern, was die zweite<br />

zu vergessen sucht“,<br />

beleuchten gerade An-<br />

gehörige der besagten<br />

dritten<br />

Generation<br />

diese Vorurteile und<br />

ihre Folgen.<br />

Bereits in sei-<br />

ner Streitschrift Des-<br />

integriert euch! (2018)<br />

hatte der junge Pub-<br />

lizist und Lyriker Max<br />

Czollek gegen das<br />

deutsche<br />

„Versöh-<br />

nungstheater“ gewettert, in dem „Juden<br />

für Deutsche“ ihre scheinbar einzig mögliche<br />

Rolle spielen. Czolleks Idee, das Su-<br />

jet „Rache“ in einem Ausstellungsprojekt<br />

aufzuarbeiten, wurde vom Jüdischen Mu-<br />

seum in Frankfurt aufgenommen und jetzt<br />

verwirklicht. Auch ohne vor Ort zu sein,<br />

gibt der Begleitband zur Schau einen viel-<br />

stimmigen Einblick in das kontroverse<br />

Thema von der Bibel bis hin zur Pop- und<br />

Digitalkultur.<br />

Aus jüdisch religiöser Sicht scheint es<br />

sehr komplex zu sein. Eine moralische<br />

Margarete<br />

Bolchower<br />

36 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 36 10.05.22 09:31


Racheverbot der Thora<br />

IE WELT IN DEN<br />

ERBEBT“<br />

„Die Zeit heilt keine Wunden!“<br />

Michel Bergmann<br />

Rechtfertigung findet Rache zwar schon<br />

in der Bibel, wie Admiel Kosman in einem<br />

Essay des Katalogs aufzeigt, beginnend von<br />

der göttlichen Strafe für die Ägypter, die<br />

die Juden versklavten. Doch auch Warnungen<br />

davor, „sich der Rache G’ttes zu er-<br />

freuen, weil auch die Feinde Israels seine<br />

Geschöpfe seien“, und sogar explizite Racheverbote<br />

lassen sich in der Thora nach-<br />

weisen.<br />

Nach Jahrzehnten einer „Erinnerungskultur“,<br />

die sowohl tatsächliche Rache-<br />

handlungen wie auch entsprechende<br />

Fantasien tabuisierte, öffnete Quentin<br />

Tarantinos Film Inglourious Basterds 2009<br />

gleichsam ein Ventil, auch wenn die Be-<br />

geisterung über jüdische Partisanen, die<br />

Nazis zur Strecke brachten, in Tel Aviv und<br />

New York weit größer war als beim deut-<br />

schen Publikum. Der Baseballschläger,<br />

der im Film für einen Racheakt an einem<br />

Wehrmachtssoldaten genutzt wurde, ist<br />

nun eines der symbolischen Exponate der<br />

Frankfurter Schau. Inspiriert wurde der<br />

Streifen von tatsächlichen Vergeltungsak-<br />

ten der „Jewish Brigades“ der britischen<br />

Armee. Doch diese waren nur eine von<br />

mehreren Organisationen, die Täter aufspürten,<br />

verfolgten und an ihnen Selbst-<br />

justiz übten. So entwarf insbesondere auch<br />

die Gruppe „Nakam“ (hebr. Rache) um<br />

Abba Kovner nach 1945 diverse Pläne, um<br />

sich an möglichst vielen Deutschen für das<br />

vergossene jüdische Blut zu rächen. Den<br />

Auftrag und die Legitimation dazu wollen<br />

sie von den Toten selbst erhalten haben.<br />

Achim Doerfer:<br />

Irgendjemand<br />

musste die Täter ja<br />

bestrafen.<br />

Kiepenheuer & Witsch,<br />

368 S., € 24,95<br />

EIN ANWALT FÜR<br />

DIE VERGELTUNG<br />

Familiär geprägt als Angehöriger der<br />

dritten Generation, geht Achim Doerfer,<br />

ein deutscher Anwalt Jahrgang 1965, in<br />

seinem Buch Irgendjemand musste die Täter ja<br />

bestrafen dem „Märchen deutsch-jüdischer<br />

Versöhnung“ und dem Wunsch nach Vergeltung<br />

nach.<br />

Wie sich entgegen dem Klischee der<br />

wehrlosen jüdischen „Schafe“ Widerstandsgruppen<br />

in Deutschland, in den Ghettos,<br />

in den Konzentrationslagern formierten<br />

und arbeiteten, wie jüdische Partisanen<br />

um Abba Kovner und die Jewish Infantry<br />

Brigade Group Racheakte planten und<br />

ausführten, kann man hier gut recherchiert<br />

im Detail nachlesen.<br />

Das Versagen der deutschen Justiz nach<br />

1945, das Täter systematisch verschonte<br />

und damit wieder in die Gesellschaft<br />

eingliederte, zeigt er in einem weiteren Teil<br />

einerseits akribisch genau, andererseits mit<br />

spürbarer Emotion und Wut auf.<br />

Mit diesen beiden nahezu synchronen<br />

Stimmen scheint die intellektuelle Debatte<br />

um das so lange totgeschwiegene Thema<br />

Rache eröffnet, sie ist aber sicher noch<br />

lange nicht zu Ende.<br />

„Die wenigen aber, die bleiben werden,<br />

müssen ihre ermordeten Brüder rächen.<br />

Rächen, dass die Welt in den Grundfesten<br />

erbebt. Sonst werden die in den Mas-<br />

sengräbern keine Ruhe finden“, schrieb<br />

Margarete Bolchower 1943 aus ihrem Versteck<br />

in Galizien. Es ist nur eines der er-<br />

schütternden Zeugnisse, in denen Opfer<br />

zur Vergeltung aufrufen.<br />

Rachefantasien sind wohl allen Menschen<br />

vertraut, sie auszuleben verbie-<br />

ten Vernunft, moralische Schranken<br />

und manchmal auch Mut. Enttäuscht<br />

und frustriert von der Nachkriegsjustiz<br />

in Deutschland und Österreich brei-<br />

teten sich in jüdischen Kreisen vielfach<br />

Rachefantasien oder symbolische Rachehandlungen<br />

aus. Gleichsam in Umkeh-<br />

rung der Nazi-Parole „Kauft nicht bei<br />

Juden!“ wurden etwa deutsche Produkte<br />

boykottiert, wurde Deutschland nicht be-<br />

reist. Stellvertretend erfreute man sich<br />

vielleicht insgeheim am „Ruhm“ jüdischer<br />

Gangster in Amerika, die selbstermächtigt<br />

antisemitische Angriffe räch-<br />

ten und jüdische Gemeinde mit der Waffe<br />

verteidigten.<br />

Sublimiert wurden und werden Rachefantasien<br />

in der Kunst, in der Litera-<br />

tur ebenso wie in Comics über die Shoah<br />

oder sogar in digitalen Spielen, wofür die<br />

Ausstellung Beispiele bietet.<br />

„Die Zeit heilt keine Wunden!“, bilanziert<br />

der aus einer Opferfamilie stam-<br />

mende Autor Michel Bergmann in seinem<br />

Beitrag nie verjährende Rache.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 37 10.05.22 09:31


Vorraum der Hölle<br />

Politischer Widerstand<br />

kräftigte Körper und Seele<br />

Der polnische Automechaniker Stanisław Zalewski landete bereits mit<br />

18 Jahren in Gestapo-Haft und anschließend im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.<br />

Über seine Erfahrungen sprach er mit Marta S. Halpert.<br />

Seine tiefblauen Augen strahlen mit<br />

dem gleichfarbigen Hemd um die<br />

Wette. Vor der Fotoaufnahme zückt<br />

er flink einen kleinen Kamm und<br />

fährt ordnend durch das weiße Haar. Vor<br />

dem Gespräch möchte Stanisław Zalewski<br />

noch unbedingt seinen Tee trinken und<br />

das Tortenstück fertigessen, das ihm das<br />

freundliche Team im Polnischen Institut<br />

vorbereitet hat. Geschätztes Alter? Nicht<br />

mehr als 75. Aber der rüstige ehemalige<br />

polnische Widerstandskämpfer ist Jahrgang<br />

1925 – und somit stolze 97 Jahre jung.<br />

Die Einladung Stanisław Zalewskis nach<br />

Wien erfolgte auf Initiative der geschichtsbewussten<br />

und umtriebigen Direktorin des<br />

Polnischen Instituts, Monika Szmigiel-Turlej,<br />

die im Status einer Gesandten schon<br />

zwischen 2014 und 2019 an der Polnischen<br />

Botschaft in Wien tätig war. Als Enkelin eines<br />

Widerstandskämpfers hat sich Szmigiel-Turlej<br />

unter anderem um deutsche<br />

Übersetzungen polnischer Erinnerungskultur*<br />

verdient gemacht. Sie organisierte<br />

zahlreiche Gedenkveranstaltungen, jüngst<br />

brachte sie den Film Marek Edelman ... Und es<br />

gab Liebe im Ghetto (Polen/Deutschland 2019)<br />

zum Jahrestag des Beginns des Warschauer<br />

Ghetto-Aufstandes am 19. April 1943 zur<br />

Aufführung in Wien. Marek Edelman (1919–<br />

2009) war einer der letzten Überlebenden<br />

und Anführer des heldenhaften Aufstands.<br />

„Die Regisseurin Jolanta Dylewska drehte<br />

diesen Film kurz, bevor Edelman starb. Er<br />

38 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

erzählt darin unglaublich berührend über<br />

seine Jugend im Ghetto, über die Liebe und<br />

seine tiefsten Gefühle“, erzählt Szmigiel-<br />

Turlej. „Gemeinsam mit<br />

„Zuerst hofften<br />

wir, dass<br />

unsere Situation<br />

leichter<br />

werden würde,<br />

doch Gusen<br />

wurde zum<br />

Vorraum der<br />

Hölle.“<br />

Stanisław Zalewski<br />

dem mittlerweile verstorbenen<br />

Regiealtmeister<br />

Andrzej Wajda hat<br />

Dylewska die Liebesgeschichten<br />

in poetische<br />

Bilder gekleidet und virtuos<br />

mit Archivmaterial<br />

kombiniert.“ Der Film<br />

zeigt die Kraft der Liebe,<br />

die es auch in dunklen<br />

Zeiten vermag, zumindest<br />

für Augenblicke Sicherheit<br />

und Geborgenheit<br />

zu vermitteln.<br />

Im Frühsommer jähren<br />

sich jeweils jene Jahrestage, die an historisch<br />

bedeutende Ereignisse in Polen,<br />

Österreich und ganz Europa erinnern:<br />

Symbolisch zu Pessach, dem Fest der Befreiung<br />

aus der ägyptischen Sklaverei, erhoben<br />

sich am 19. April 1943 die jüdischen,<br />

vollkommen unzureichend bewaffneten<br />

Aufständischen im Warschauer Ghetto und<br />

lieferten der deutschen Besatzungsmacht<br />

mehrere Wochen lang erbitterte Gefechte.<br />

Am 16. <strong>Mai</strong> 1943 meldete Jürgen Stroop,<br />

SS-Gruppenführer und Generalleutnant<br />

der Polizei, als Befehlshaber der Nazi-Trup-<br />

Stanisław Zalewski mit der Direktorin des<br />

Polnischen Instituts, Monika Szmigiel-Turlej,<br />

die den ehemaligen Widerstandskämpfer<br />

nach Wien eingeladen hat.<br />

pen die Niederschlagung des<br />

Aufstands. Angeführt von polnischen<br />

Intellektuellen kam<br />

es von 1. August bis 2. Oktober<br />

1944 zur militärischen Erhebung<br />

der Polnischen Heimatarmee<br />

(Armia Krajowa<br />

– AK) gegen die deutsche Besatzungsmacht:<br />

Diese Gegenwehr<br />

ging als Warschauer Aufstand in die<br />

Geschichtsbücher ein.<br />

Sabotageakte. Aber das Frühjahr markiert<br />

auch positive Daten der Befreiung: Am<br />

5. <strong>Mai</strong> 1945 erreichten US-Truppen die<br />

Lager Mauthausen und Gusen. „Es gibt<br />

kaum mehr lebende Zeitzeugen der KZ-<br />

Lager Mauthausen, Gusen und des Stollensystems<br />

Bergkristall“, gibt die Direktorin<br />

des Polnischen Instituts zu bedenken.<br />

„Bei unserer Lesung aus dem Sammelband<br />

Gedichte hinter Stacheldraht (NAP Verlag 2020)<br />

haben Kinder und Enkel der polnischen<br />

KZ-Häftlinge deren Erlebnisse in literarischer<br />

Form vorgetragen.“ Die geschichtliche<br />

Einführung an diesem Leseabend, der<br />

gemeinsam mit der Mauthausen-Gedenkstätte,<br />

Moriah und der Polnischen Botschaft<br />

veranstaltet wurde, übernahm der<br />

Gast aus Warschau, Stanisław Zalewski, der<br />

als ehemaliger Häftling des Vernichtungslagers<br />

Auschwitz-Birkenau, der Konzentrationslager<br />

Mauthausen, Gusen I und Gusen<br />

II sowie als Aktivist und Vorsitzender<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 38 10.05.22 09:31


Reise in die Vergangenheit<br />

Stanisław Zalewski:<br />

Ereignisse und Zeichen der<br />

Zeit aus den Jahren 1939–1945.<br />

New Academic Press 2020,<br />

128 S., € 12<br />

ßere Sabotageakte durchgeführt haben.“<br />

Am 12. September 1943 flog Stanisław auf<br />

und wurde im berüchtigten Gestapo-Gefängnis<br />

Pawiak inhaftiert, drei Wochen<br />

später befand er sich bereits auf einem<br />

Transport nach Auschwitz-Birkenau.<br />

„Da ich zu den politischen Gefangenen<br />

zählte, wurden wir ‚nur‘ zur schweren Arbeit<br />

angetrieben, nämlich zum Entladen<br />

von Baumaterialien und Reinigungsarbeiten.<br />

Dabei wurde ich aber Zeuge der<br />

schrecklichen Brutalität an den jüdischen<br />

Häftlingen. Es war grauenhaft anzusehen,<br />

wie die Selektion der Frauen vor sich<br />

ging, und bald darauf rauchten die Schornsteine.“<br />

Der rüstige Mann sinkt beim Erzählen<br />

nach vorne und sackt in sich zusammen.<br />

Er atmet durch und berichtet von der<br />

Verlegung nach Mauthausen und ins KZ<br />

Gusen I: „Zuerst hofften wir, dass unsere<br />

Situation leichter werden würde, doch Gusen<br />

wurde zum Vorraum der Hölle.“<br />

Von Januar bis August 1944 war Zalewski<br />

bei den Messerschmitt-Betrieben beschäftigt<br />

und musste auf primitive Art<br />

Maschinen und Geräte für die Produktion<br />

von Rümpfen und Tragflächen für Flugzeuge<br />

und Raketen zu den Hallen schieben.<br />

Anschließend wurde er nach Gusen<br />

II versetzt und dem Kommando „Bergkristall“<br />

zugeteilt: „Bergkristall“ war die Tarnbezeichnung<br />

für die Fabrik der Messerschmitt-Düsenjagdflugzeuge.<br />

Sie befand<br />

sich in unterirdischen Stollen und wurde<br />

der Polnischen Vereinigung der ehemaligen<br />

politischen Gefängnisse und Konzentrationslager,<br />

viel zu erzählen hatte.<br />

Stanisław Zalewski wurde im Dorf Sucha<br />

Wola im Südosten Polens geboren; ab 1930<br />

lebte die Familie in Warschau, wo Stanisław<br />

eine Lehre in einer Autowerkstatt begann.<br />

Nach der Errichtung des Warschauer Ghettos<br />

am 2. Oktober 1940 befand sich diese<br />

Werkstatt innerhalb der Ghetto-Mauern.<br />

„Ich bekam einen Spezialausweis, damit<br />

ich mich frei bewegen konnte – und vor<br />

allem erhielt ich mehr Lebensmittelkarten.<br />

So konnte ich auch einigen jüdischen<br />

Kollegen, die mit deutscher Erlaubnis bei<br />

uns arbeiten durften, helfen. Sie waren genauso<br />

hungrig und ausgemergelt wie viele<br />

andere, die ich auf der Straße zusammenklappen<br />

sah“, berichtet Zalewski. „Mein<br />

Bruder Józef schmuggelte Reisepässe ins<br />

Ghetto, die von südamerikanischen Konsulaten<br />

für Insassen des Ghettos ausgestellt<br />

wurden. Er rühmte sich auch nach<br />

dem Krieg nie dieser Taten.“<br />

Was der junge Stanisław nach dem deutschen<br />

Überfall auf Polen miterlebte, motivierte<br />

ihn und drei seiner engsten Freunde,<br />

sich dem polnischen Untergrund, also dem<br />

Widerstand anzuschließen. Diese Entscheidung,<br />

die er mit 18 Jahren traf, brachte ihm<br />

zuerst die Gestapo-Haft und in der Folge<br />

eine qualvolle 545-tägige Odyssee bis zum<br />

Ende des Krieges. „Wir waren vier Freunde,<br />

die als Gruppe laufend kleinere und grödurch<br />

Sklavenarbeit von Häftlingen in der<br />

Nähe von St. Georgen betrieben.<br />

„Die SS-Männer quälten und schlugen<br />

mich, manchmal einfach zum Spaß. Nachdem<br />

ich im Gesicht und Mund eitrige Wunden<br />

bekam, erfuhr ich, dass meine Peiniger<br />

kleine Metallstücke in ihre Handschuhe<br />

einlegten, um so ihre Schlagkraft zu verstärken.“<br />

Die erste medizinische Versorgung<br />

konnte erst nach der Befreiung im <strong>Mai</strong> 1945<br />

in der Ambulanz des Sammellagers für Displaced<br />

Persons in Nürnberg durchgeführt<br />

werden. Dorthin war Zalewski nach der Befreiung<br />

gemeinsam mit anderen Polen vom<br />

US-Militär gebracht worden.<br />

Großteils zu Fuß erreichte Stanisław<br />

Zalewski nach 78 Tagen Warschau: „Mein<br />

Heimweg nach Polen dauerte vom 6. <strong>Mai</strong><br />

bis zum 22. Juli 1945. Er führte über Linz zuerst<br />

nach Nürnberg, dort wurde ich einem<br />

Reparaturtrupp der amerikanischen Armee<br />

zugeteilt. Kurze Zeit trug ich sogar eine<br />

US-Uniform“, lacht der Widerstandsfähige.<br />

Das Zuhause war zerstört, ein Bruder und<br />

die Mutter wurden Opfer des Krieges. Sie<br />

erlitt mit 52 Jahren tödliche Verletzungen<br />

durch Bombensplitter. Doch Zalewski ließ<br />

sich nicht unterkriegen, er begann gleich<br />

wieder zu arbeiten und holte die unterbrochene<br />

Schulbildung nach: Er wurde Diplomingenieur<br />

für Fahrzeugtechnik.<br />

Über seine Kriegserlebnisse wollte<br />

kaum jemand etwas wissen, und er wollte<br />

auch nie wieder nach Österreich reisen.<br />

Erst spät begann sein einziger Sohn Hubert,<br />

Fragen zu stellen. Er drängte den Vater<br />

dazu, seine Erfahrungen niederzuschreiben<br />

und überzeugte ihn 1983, gemeinsam<br />

an die Orte des Grauen, nach Mauthausen-<br />

Gusen, zu fahren. Erst nach dieser Reise in<br />

die Vergangenheit engagierte sich Zalewski<br />

in den Vereinen der Ex-Häftlinge, suchte<br />

die Begegnung mit Jugendlichen und referierte<br />

an Schulen. Aus Anlass des 75. Jahrestages<br />

der Befreiung der Vernichtungslagers<br />

Auschwitz-Birkenau am 27. Jänner<br />

2020 war Stanisław Zalewski einer der Redner<br />

bei der internationalen Gedenkfeier.<br />

* Dokumentationen: Polnische Häftlinge im Konzentrationslager Gusen<br />

von Danuta Drywa und Fünf Jahre KZ von Stanisław Grzesiuk (gemeinsam<br />

mit den Mauthausen-Erinnerungen, New Academic Press).<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 39 10.05.22 09:31


Vollblutjournalist<br />

Mein Leben vor Watergate<br />

Nothing but the truth: Der amerikanische Investigativreporter<br />

Carl Bernstein erinnert ungemein lebendig<br />

und pittoresk seine journalistischen Anfänge.<br />

Von Alexander Kluy<br />

Es gab ein Leben vor Dustin<br />

Hoffman. Und: Es gab ein<br />

Leben vor Watergate. Heuer<br />

wird sich der Einbruch im<br />

Watergate-Gebäudekomplex<br />

in Washington zum 50. Mal jähren. In der<br />

Nacht zum 17. Juni 1972 wurde in den Büros,<br />

die das Democratic National Committee,<br />

die Zentrale der Demokratischen<br />

Partei, gemietet hatte, ein Einbruch bemerkt.<br />

Die Polizei verhaftete fünf Männer.<br />

Die Spur der Einbrecher führte zur<br />

Republikanischen Partei und zu hohen<br />

Mitarbeitern im Weißen Haus. Am 9. August<br />

1974 trat Präsident Richard Nixon zurück,<br />

beschämt und das Amt erniedrigt.<br />

Dass die gesamte Affäre so gründlich,<br />

so detailliert und in Gänze aufgedeckt<br />

wurde, verdankte man zwei jungen Reportern<br />

der Washington Post, die durch die<br />

„Watergate-Affäre“ weltbekannt wurden:<br />

Bob Woodward und Carl Bernstein. Zusammen<br />

schrieben sie das Buch All the<br />

President’s Men. 1976 wurde es mit Robert<br />

Redford als Woodward und dem quecksilbrig-wuseligen<br />

Dustin Hoffman als<br />

quecksilbrig-wuseliger Bernstein verfilmt.<br />

Sie waren ziemlich gegensätzlich,<br />

weshalb sie sich ergänzten. Woodward<br />

war Sohn eines Richters aus Illinois und<br />

Absolvent der Yale University. Er hatte<br />

sich aus einem Shakespeare-Seminar heraus<br />

1971 bei der Post als Reporter beworben<br />

und war genommen worden. Bernstein,<br />

im Februar 1944 geboren und somit<br />

um elf Monate jünger als Woodward,<br />

hatte ihm gegenüber zehn Jahre Vorsprung<br />

als Zeitungsmann. Er war analytischer,<br />

erkannte Zusammenhänge. Und<br />

war wilder.<br />

Von seinen Anfängen erzählt Bernstein,<br />

gebürtiger und leidenschaftlicher<br />

Washingtonian, nun höchst lebendig. Er<br />

entstammt einer jüdischen, sehr linken<br />

Familie. Seine in Gewerkschaften aktiven<br />

Eltern hatten Mitte der 1940er-Jahre ihre<br />

Jobs in der Regierungsverwaltung verloren,<br />

wurden während McCarthys Antikommunismus-Hatz<br />

fast kriminalisiert,<br />

vom FBI überwacht. Sie betrieben in Silver<br />

Springs, einem Vorort von Washington,<br />

eine Putzerei, um erst ab Ende der<br />

1950er-Jahre wieder in einer NGO politisch<br />

aktiv zu werden.<br />

1960/1961 begann Carl Bernstein bei<br />

The Washington Star als Copy Boy, Laufbursche,<br />

seine Zeitungskarriere. Mit Verve<br />

und enormer Farbigkeit zeichnet er nach,<br />

mit welchen pittoresken Profis er zusammenarbeitete<br />

und wie damals journalistisch<br />

gearbeitet wurde: Es gab eine ganze<br />

Abteilung mit Ferndiktate Entgegennehmenden,<br />

das waren jene, die am schnellsten<br />

Schreibmaschine schreiben konnten<br />

und denen die Außenreporter von öffentlichen<br />

Fernsprechern aus ihre Berichte<br />

durchgaben. Es gab langsame Fernschreiber.<br />

Mit am wichtigsten war: die Nähe zu<br />

einem Telefon. Und noch wichtiger: die<br />

Wahrheit. Großartige Geschichten prä-<br />

sentiert Bernstein, der sein Studium versanden<br />

ließ, weil er entdeckte, welch Vollblutjournalist<br />

in ihm steckte.<br />

„In meinem ganzen<br />

Leben hatte ich nie<br />

solch glorioses Chaos<br />

erlebt oder solch absichtliche<br />

Hektik gesehen<br />

wie nun im Newsroom.<br />

Nachdem ich<br />

von einem Ende zum<br />

anderen gegangen<br />

war, wusste ich, dass<br />

ich ein Zeitungsmann<br />

werden wollte.“<br />

Carl Bernstein<br />

Das Ganze liest sich prächtig. Bernstein<br />

schreibt brillant. Das wird deutlich, wenn<br />

man auf den vermessenen Gedanken verfällt,<br />

Partien ins Deutsche zu übertragen.<br />

Da merkt man erst, mit welch rhythmischer<br />

Präzision er seine Sätze konstruiert,<br />

Absätze aufbaut, seine Dramaturgie orchestriert.<br />

Man kann nur bedauern, dass<br />

Bernstein ab den späten 1970er-Jahren für<br />

Fernsehnachrichtensender wie CNN und<br />

ABC gearbeitet und so wenig geschrieben<br />

hat. Seine Bücher über den polnischen Ka-<br />

© HERBERT NEUBAUER / APA / picturedesk.com<br />

40 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 40 10.05.22 09:31


Geschichte nachjagen<br />

© HERBERT NEUBAUER / APA / picturedesk.com<br />

tholikenpapst Johannes Paul II. und über<br />

Hilary Clinton anno 2007 waren die eher<br />

pittoreske Ausnahme.<br />

Vor genau dreißig Jahren beklagte er<br />

in einem längeren Artikel, The Idiot Culture,<br />

einen debil unseriösen Journalismus,<br />

der fahr- wie nachlässig Nachrichten und<br />

Klatsch sowie Tendenziöses miteinander<br />

vermengt. Damit beschrieb er jene Entwicklungen,<br />

mit denen sich heute die Medien<br />

plagen und die die Nachrichtenpräsentation<br />

prägen. Chasing History ist eine<br />

eindrückliche Erinnerung daran, wie ernst<br />

einst journalistische Standards genommen<br />

wurden. Und wie hoch diese waren.<br />

Hier wurde Geschichte erlebt. Chasing History,<br />

Geschichte nachjagen, ist ein Titel voll Ambivalenz.<br />

Bernstein erzählt von den Jahren<br />

1960 bis 1966. Nach fünf Jahren war er am<br />

Carl Bernstein, im<br />

Februar 1944 geboren,<br />

war von Beginn<br />

seiner Laufbahn an<br />

analytisch, erkannte<br />

Zusammenhänge<br />

und war wild nach<br />

Geschichten.<br />

Carl Bernstein:<br />

Chasing History.<br />

A Kid in the<br />

Newsroom.<br />

Henry Holt and<br />

Company <strong>2022</strong>,<br />

372 S., € 34,50<br />

Ende seines Karrierepotenzials bei der Zeitung<br />

angekommen, deren fiebrige, engagierte<br />

Lokalberichterstattung die der Post<br />

um Längen schlug. Er wechselte kurz als<br />

einzig dem Chefredakteur verantwortlicher<br />

Reporter zu einer kleinen Zeitung in<br />

New Jersey. 1966 kehrte der eingeschworene<br />

Washingtonian Bernstein in die US-<br />

Hauptstadt zurück und fing bei der Washington<br />

Post an, die da schon Katherine<br />

Graham zu leiten begonnen hatte, welche<br />

eine Riege hochbegabter, hochambitionierter<br />

Redakteure einstellte, darunter als<br />

leitender Redakteur Ben Bradlee, der 1972<br />

dem jungen dynamischen Duo Woodward<br />

& Bernstein weite Leine ließ.<br />

Zugleich signalisiert der Titel: Hier<br />

wurde Geschichte erlebt. Gemacht. Eingefangen.<br />

Bernstein schreibt über John F.<br />

Kennedy und das Attentat, er rapportiert<br />

ausführlich den Kampf der Afro-Amerikaner<br />

um Gleichberechtigung und Teilhabe<br />

– einhundert Jahre nach der Abschaffung<br />

der Sklaverei durch Abraham Lincoln.<br />

Und es findet sich eine Fülle anderer Gesellschaftsgeschichten,<br />

die noch heute erstaunlich<br />

aktuell anmuten, von Gewalt zu<br />

Paranoia, Machtmissbrauch, Rassismus,<br />

Antisemitismus.<br />

Bernstein gelingt es, ein hinreißend lebendiges<br />

Zeithistorie-Panorama zu zeichnen,<br />

voller Ironie und Witz und Geist. Das<br />

noch Erstaunlichere: Seine Prosa ist frei<br />

von jeglicher Nostalgie.<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 41 10.05.22 09:31


Auf der Flucht<br />

vor dem Erbe<br />

Väter und Söhne, Ehemänner, Verführer und Samenspender.<br />

Entgegen dem Titel Ein Mann sein vermisst die amerikanischjüdische<br />

Romanautorin Nicole Krauss in ihrem ersten<br />

Story-Band nicht nur das männliche Rollenspektrum in Zeiten<br />

fluider Geschlechteridentitäten neu.<br />

Von Anita Pollak<br />

Wie wirft man das alte Leben ab,<br />

wie wird man geerbte Bürden<br />

los, wie gelangt man zum eigenen<br />

Selbst? Häutungen und Metamorphosen<br />

hat Nicole Krauss bereits in ihrem letzten<br />

Roman Waldes Dunkel thematisiert. In<br />

Sussja auf dem Dach, eine der zehn Storys ihres<br />

neuen Erzählbandes und vielleicht die<br />

beste, zitiert sie dazu eine rabbinische Parabel.<br />

„Warum bist du nicht Sussja gewesen?“,<br />

fragt G’tt den verstorbenen Rabbi<br />

Sussja, der sich schämt, nicht Moses oder<br />

Abraham gewesen zu sein. Professor Brodman,<br />

der Held dieser Geschichte, halluziniert<br />

im Fieberrausch Sussjas Antwort:<br />

„Weil ich ein Jude war und kein Raum<br />

blieb, um etwas anderes zu sein, nicht einmal<br />

Sussja.“<br />

Unter der Last der religiösen Pflichten,<br />

in einer „ununterbrochenen Kette<br />

der Geschlechter“ vom frommen Vater<br />

auf den Sohn weitergegeben, leidet der<br />

jüdische Historiker Brodman sein Leben<br />

lang. Gleichzeitig mit seiner wundersamen<br />

Genesung von einer Todeskrankheit<br />

kommt im selben Spital sein einziger Enkel<br />

zur Welt, der Sohn seiner lesbischen<br />

Tochter und eines homosexuellen<br />

Samenspenders. Zumindest<br />

ihn will er von diesem schweren<br />

jüdischen Erbe befreien, und so<br />

entführt er das Neugeborene,<br />

während schon die „Mohelet“,<br />

also eine Beschneiderin, vor feierlich<br />

versammelter Familie das<br />

Messer wetzt, in einem unglaublichen<br />

Kraftakt 22 Stockwerke hinauf<br />

auf das Dach des New Yorker<br />

Wohnhauses. In wenigen Strichen,<br />

auf wenigen Seiten, zeichnet<br />

Nicole Krauss eindrucksvoll<br />

das Porträt eines gebrochenen<br />

Mannes, der insgeheim seine<br />

beiden Töchter beneidet, die ihren Vater<br />

und alles, was er ehrt, eben so gar nicht<br />

ehren.<br />

Amerikanisches Judentum. Ein väterliches<br />

Erbe ganz anderer Art tritt eine Tochter<br />

in der Erzählung Ich schlafe, aber mein Herz<br />

ist wach an. Nach dem Tod ihres Vaters,<br />

Universitätsprofessor wie Brodman, übrigens<br />

spielen viele der Storys im akademischen<br />

Milieu, erhält sie die Schlüssel<br />

eines Appartements in Tel Aviv, von dessen<br />

Existenz sie ebenso wenig wusste wie<br />

von einem Freund des Vaters, der sich in<br />

„Wir waren<br />

europäische<br />

Juden, sogar in<br />

Amerika, was<br />

bedeutete, dass<br />

katastrophale<br />

Dinge geschehen<br />

waren und<br />

wieder geschehen<br />

konnten.“<br />

Nicole Krauss:<br />

Ein Mann sein. Storys.<br />

Aus dem Englischen<br />

von Grete Osterwald.<br />

Rowohlt <strong>2022</strong>,<br />

256 S., € 24,70<br />

dieser Wohnung<br />

breit macht. Offenbar<br />

war der Verstorbene<br />

mit dem Fuß<br />

in Amerika und mit<br />

dem Herzen in Israel<br />

zu Haus gewesen,<br />

ein Dilemma,<br />

das Krauss aus eigener<br />

familiärer Prägung<br />

ebenso kennt<br />

wie den langen<br />

Schatten des Holocaust.<br />

„Wir waren europäische<br />

Juden, sogar<br />

in Amerika, was bedeutete, dass katastrophale<br />

Dinge geschehen waren und wieder<br />

geschehen konnten“, sagt die Ich-Erzählerin<br />

in der Story Die Schweiz, wo sie als amerikanisches<br />

Kind Französisch, nicht aber<br />

Schweizerdeutsch lernen darf, das sich<br />

„kaum“ von der Sprache der Nazis unterscheidet.<br />

Im Genfer Eliteinternat erfährt<br />

das Mädchen von ihrer Zimmergenossin,<br />

einer frühreifen Lolita, von der auch fatalen<br />

Macht von Erotik und Sex.<br />

Auf die Endzeit der elterlichen Ehe blickt<br />

Tochter Noa zurück in einer anderen Geschichte<br />

zurück. Ihr Vater gräbt sich als Archäologe<br />

in Israel durch die Jahrtausende,<br />

die aus Wien stammende Mutter durch die<br />

deutsche Literatur. Zum „Get“, der religiösen<br />

Scheidung, lädt das in aller Freundschaft<br />

auseinandergehende Paar in Kalifornien<br />

sogar seine Kinder ein.<br />

In der offenbar autobiografisch grundierten<br />

Titelgeschichte schließlich findet<br />

sich die geschiedene junge Amerikanerin,<br />

deren Großeltern Holocaust-Überlebende<br />

waren, in Berlin im Bett mit einem deutschen<br />

Hühnen und Amateurboxer, der ihr<br />

ohne Umschweife erklärt, dass er wohl ein<br />

Nazi gewesen wäre. „Ich bin genau der Typ,<br />

den sie für die Napola rekrutiert hätten.“<br />

Noch im selben Sommer reist sie mit ihren<br />

Söhnen nach Israel.<br />

Liebe in Zeiten der Polyamorie, in Zeiten<br />

fließender Gender-Grenzen, in Zeiten<br />

von Leihmüttern und Samenspendern,<br />

sich auflösender Familien und Ehen,<br />

in denen man dennoch und allem zum<br />

Trotz das Erbe der Väter nicht so einfach<br />

los wird, davon erzählt Nicole Krauss mit<br />

Empathie und teilweise sogar Ironie in ihren<br />

klugen, brillanten Short Storys, die in<br />

a nut shell oft einen ganzen Lebensroman<br />

enthalten.<br />

42 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 42 10.05.22 09:31


Virtuos gestammelt, elegant gezeichnet<br />

Er schreibt, wie viele Migranten<br />

sprechen. Fehlerhaft, ungeglättet,<br />

ohne Rücksicht auf<br />

eine korrekte Syntax. „Broken<br />

German“ eben. Mit einem Text<br />

unter diesem Titel hat Tomer<br />

Gardi 2016 beim Bachmann-<br />

Wettbewerb eine Diskussion<br />

darüber ausgelöst, ob ein solch<br />

gebrochenes Deutsch überhaupt<br />

als Literatur fähig gelten<br />

kann. Dieses Frühjahr hat<br />

der Israeli für seinen Band Eine<br />

runde Sache den renommierten<br />

Preis der Leipziger Buchmesse<br />

erhalten.<br />

Von Anita Pollak<br />

Vor die Wahl gestellt, ob er „auf Hebräisch<br />

schreiben soll oder auf meinem<br />

Deutsch“, hat sich Tomer Gardi<br />

offenbar für beides entschieden. In seinem<br />

Broken German, das sich als literarisch kalkulierte<br />

Kunstsprache erweist, ist der erste<br />

Teil verfasst, in einem eleganten, stilistisch<br />

geschliffenen Hebräisch, wunderbar ins<br />

Deutsche übertragen, der zweite. Disparater<br />

könnten zwei Geschichten, die einen<br />

einzigen Roman bilden sollen, kaum sein.<br />

Slapstick. Ein Hörfehler löst die bizarre,<br />

grelle, slapstikartige Handlung aus, in die<br />

Tomer Gardi als Ich-Erzähler gerät. Eine<br />

Einladung auf eine „Yacht“ hat er erwartet,<br />

eine „Jagd“ ist es geworden, bei der er selbst<br />

zum Gejagten werden sollte. In der Folge<br />

treten ein sprechender Deutscher Schäferhund<br />

namens Rex auf, dem Tomer als Maulkorb<br />

eine portable Vagina überzieht, worauf<br />

Rex nur noch Ü-Laute ausstoßen kann,<br />

und weiters ein reimender Erlkönig oder<br />

König der Elfen. Unter Mythengeraune gelangt<br />

das Trio in eine Kleinstadt und rettet<br />

sich aus einer Sintflut auf eine Arche.<br />

Dass Tomer als der Ewige Jude den Erlkönig<br />

meuchelt, ist dann nur eine weitere Volte<br />

in diesem anspielungsreichen, kreuz und<br />

quer durch die Geschichte fantasierenden<br />

Schelmenroman. Seine Rolle als ewig wandernder<br />

Jude wird der wild fabulierende Erzähler<br />

nicht los werden, wie ein Adler ihm<br />

drohend verkündet. „Von dem Kreuz zum<br />

gehakten Kreuz. Von der Via Dolorosa zu<br />

den Todesmärschen und dann weiter. Du<br />

bist unser ewiger Zeuge.“<br />

Vor und hinter diesem amüsanten Parforceritt<br />

eines jüdischen Schlamassels<br />

durch den deutschen Märchenwald steht<br />

die große Frage: Erfindung oder Lüge, ist die<br />

Literatur der Wahrheit verpflichtet, und was<br />

darf die Kunst? „Ich steh morgens auf, sitz<br />

an meiner Computer und schreibe Sachen<br />

nieder, die nie passiert hatten. Bin ich dann<br />

ein Lügner?“<br />

Altmeisterliche Künstlernovelle. Abbildung<br />

der Wirklichkeit oder Fantasie? Diese<br />

Frage beschäftigt auch Raden Saleh, den<br />

indonesischen Maler, um dessen Vita Tomer<br />

Gardi eine durchaus traditionell anmutende<br />

Künstlernovelle webt.<br />

Der im frühen 19. Jahrhundert in Java<br />

geborene und in Holland ausgebildete Maler<br />

galt als eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten<br />

seiner Zeit. Was einen ehemaligen<br />

Kibbuznik aus Galiläa an diesem<br />

heute nahezu vergessenen<br />

Maler fasziniert?<br />

Als Museumswächter<br />

bei einer Ausstellung<br />

anlässlich des 150. Todestags<br />

von Raden Saleh<br />

sei er im Jahr 2030<br />

(!) auf dessen Schicksal<br />

aufmerksam geworden,<br />

so jedenfalls die Erzählerfiktion.<br />

Nicht fiktiv<br />

und nah an der historischen<br />

Biografie sind<br />

die Fakten des abenteuerlichen<br />

Lebens des<br />

indonesischen Prinzen,<br />

der quasi als exotischer<br />

Künstlerexport von der<br />

niederländischen Kolonialmacht<br />

nach Europa<br />

geschickt, an Fürstenhäusern<br />

geschätzt wird<br />

und für Könige malt,<br />

bis er von ebendieser<br />

Tomer Gardi:<br />

Eine runde Sache.<br />

Zur Hälfte aus dem Hebräischen von<br />

Anne Birkenhauer. Droschl Verlag.<br />

256 S., € 23.<br />

„Ich sitz an<br />

meiner Computer<br />

und schreibe<br />

Sachen nieder,<br />

die nie passiert<br />

hatten. Bin ich<br />

dann ein Lügner?“<br />

Macht nach Jahrzehnten<br />

auf seine Insel zurückgesandt<br />

wird. Dort gilt er wieder als Eingeborener,<br />

sein Ruhm nichts, und letztlich endet<br />

er kläglich.<br />

Fast altmeisterlich wie Salehs Gemälde,<br />

die Gardi liebevoll, gekonnt und penibel beschreibt<br />

und deutet, zeichnet er auch dessen<br />

tragische Existenz beispielhaft nach.<br />

Herumgereicht in den höchsten Adelskreisen,<br />

gleichzeitig ausgebeutet und nie wirklich<br />

aufgenommen, bleibt er entfremdet<br />

überall. Im revolutionsgebeutelten Europa<br />

ein Außenseiter, in den antikolonialen Aufständen<br />

in Java beiden Seiten gleichermaßen<br />

verdächtig. Als Migrantenschicksal mit<br />

diskretem Bezug zur Gegenwart großartig<br />

erzählt.<br />

Wie passen nun die beiden Teile als „Eine<br />

runde Sache“ zusammen? Auf den ersten<br />

Blick natürlich überhaupt nicht, auch wenn<br />

der Ewige Jude durch Salehs 19. Jahrhundert<br />

ebenso geistert wie der mythische Fliegende<br />

Holländer. Wenn man will, kann man sie als<br />

zwei Seiten einer Medaille deuten, Erfindung,<br />

Wahrheit und Identität in der künstlerischen<br />

Existenz, da und dort,<br />

oder die Geschichten ganz einfach<br />

hintereinander genießen,<br />

haltlos fabulierender, sprachlich<br />

ungezügelter Witz da, fein<br />

gezeichnete Porträtkunst dort.<br />

Ob der in Berlin lebende,<br />

nun mit literarischen Ehren in<br />

Deutschland bedachte Autor<br />

vielleicht eigene Fremdheitserfahrungen<br />

fiktionalisiert hat?<br />

Mit seinem Buch Stein, Papier,<br />

in dem er 2011 den Spuren des<br />

zerstörten palästinensischen<br />

Dorfes nachgeht, aus dessen<br />

Steinen das Museum seines<br />

heimatlichen Kibbuz Dan errichtet<br />

wurde, hat er sich in Israel<br />

wohl nicht nur Freunde gemacht.<br />

Hierzulande liest man<br />

so was ja nicht ungern, und mit<br />

seinem Broken German hat der<br />

Israeli nicht zuletzt einen exotischen<br />

Reiz.<br />

© Wikipedia/ Amrei-Marie<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 43 10.05.22 09:31


WINA WERK-STÄDTE<br />

Berner Voralpenlandschaft<br />

von Käthe Loewenthal<br />

aus dem<br />

Jahr 1910.<br />

Bern<br />

Jüdische Malerinnen der Vorkriegszeit<br />

sind noch mehr in Vergessenheit<br />

geraten als ihre männlichen<br />

Kollegen. Eine von ihnen<br />

ist Käthe Loewenthal.<br />

Von Esther Graf<br />

äthe Loewenthal (1878–1942)<br />

war die älteste von fünf Töchtern<br />

des Augenarztes und<br />

Universitätsprofessors Wilhelm<br />

Loewenthal. Die Mutter<br />

stammte aus einer Hamburger<br />

Kaufmannsfamilie. Die akademische<br />

Lehrtätigkeit des Vaters führte die<br />

Familie unter anderem nach Genf,<br />

Lausanne, Paris, Belgrano (Argentinien)<br />

und Berlin. Nach einem einjährigen<br />

Aufenthalt in Bern weigerte sich<br />

die dreizehnjährige Käthe, mit den Eltern<br />

zurück nach Berlin zu ziehen. Sie<br />

blieb bei einer befreundeten evangelischen<br />

Pfarrersfamilie, deren Einfluss<br />

das Mädchen dazu brachte, sich taufen<br />

und konfirmieren zu lassen. Sie kehrte<br />

lediglich für ihren Schulabschluss kurzzeitig<br />

1894 nach Berlin zurück, um anschließend<br />

von 1895 bis 1897 Unterricht<br />

beim Schweizer Maler Ferdinand Hodler<br />

zu nehmen. Ihr künstlerisches Talent<br />

zeigte sich bereits in Jugendjahren<br />

und wurde zu ihrer Passion. Es folgten<br />

Studienreisen, eine erste Phase als freischaffende<br />

Künstlerin in München und<br />

1910 bis 1914 ein akademisches Studium<br />

der Malerei an der Königlich Württembergischen<br />

Kunstschule in Stuttgart.<br />

Nach dem erfolgreichen Studienabschluss<br />

überließ ihr die Stadt Stuttgart<br />

eine Atelierwohnung. Bis 1934 war sie<br />

hier als freischaffende Künstlerin tätig<br />

und bestritt ihren Lebensunterhalt<br />

hauptsächlich mit Porträts. Ihre protestantische<br />

Taufe nützte nichts, als sie<br />

im selben Jahr ein Berufsverbot erhielt<br />

und keine Leinwände und Farben mehr<br />

kaufen durfte. Sie wurde 1942 im Durchgangslager<br />

Izbica bei Lublin ermordet.<br />

BERN<br />

In der Schweizer Hauptstadt mit ihren 135.000 Einwohnern wurden Juden erstmals<br />

1259 erwähnt. Sie unterhielten eine Synagoge und einen Friedhof. Nach den Pestpogromen<br />

von 1348 bis 1350 kehrten 1375 einzelne Juden zurück. Nach weiteren Vertreibungen<br />

und Ansiedlungsverboten konnte sich erst 1848 wieder eine jüdische Gemeinde etablieren,<br />

die um 1910 zirka 1.000 Mitglieder hatte. Während der NS-Verfolgung rettete<br />

die „Berner Gruppe“ rund um polnische Diplomaten und jüdische Helfer hunderte<br />

Juden mit gefälschten Pässen. Heute hat die Gemeinde rund 340 Mitglieder.<br />

© Szczebrzeszynski, 2015, Commons Wikimedia<br />

44 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 44 10.05.22 09:31


URBAN LEGENDS<br />

Es gibt nur<br />

einen Weg<br />

Friedenslieder machen zwar Mut, aber sie werden nicht dazu führen,<br />

dass es Frieden gibt. Das Zauberwort heißt Demokratie.<br />

ein, dass es Krieg gibt, ist leider<br />

nichts Ungewöhnliches. Die<br />

Kämpfe im Irak, in Syrien, in Afghanistan<br />

waren in unseren Medien<br />

präsent, Menschen, die vor<br />

diesen Kriegen flüchteten, leben heute in unserer Mitte.<br />

Und dennoch fühlt(e) sich der diesen Februar von Wladimir<br />

Putin in der Ukraine begonnene<br />

Krieg so anders – und<br />

Von Alexia Weiss<br />

so deplatziert an. Wie aus der<br />

Zeit gefallen. Warum? Weil es abstrus erscheint, dass in<br />

Europa ein Land ein anderes überfällt, um Gebietsansprüche<br />

zu stellen.<br />

Dieser Krieg geht näher als andere militärische Auseinandersetzungen.<br />

Das mag historische Gründe haben<br />

– ein Teil der Ukraine gehörte schließlich vor langer Zeit<br />

zu Österreich, als Österreich noch eine Monarchie und<br />

wesentlich größer als heute war. Das mag an der geografischen<br />

Nähe liegen. Das mag an der vordergründig kulturellen<br />

Ähnlichkeit liegen. (Wer sich auf ARTE die Serie<br />

Diener des Volkes mit Wolodymyr Selenskyj in der Rolle,<br />

die er heute im realen Leben ausfüllt, nämlich als ukrainischer<br />

Präsident ansieht, bekommt vorgeführt, wie<br />

unterschiedlich die Lebensrealität in der Ukraine dann<br />

doch verglichen mit jener in Österreich ist, Stichwort<br />

Korruption, Stichwort Demokratie).<br />

Warum auch immer – dieser Krieg geht den Österreichern<br />

und Österreicherinnen nahe. Und dann ist die<br />

Frage: Wie geht man damit um? Da ist einerseits die klare<br />

Notwendigkeit zu helfen – jenen Menschen, die sich nach<br />

Österreich geflüchtet haben, aber auch jenen Menschen,<br />

die sich in der Ukraine in Notlagen befinden.<br />

Da kommen einem andererseits aber auch Bewältigungsmechanismen<br />

unter, die mir immer sinnloser<br />

erscheinen. Da studieren Lehrerinnen nun mit ihren<br />

Volksschulklassen Friedenslieder ein. In anderen Klassen<br />

werden Herzen und Kinder, die einander die Hände<br />

reichen, gezeichnet.<br />

In den sozialen Medien poppen Memes mit „Make love<br />

not war“ auf (diese Devise wurde bei den Protesten gegen<br />

den Vietnamkrieg der USA in den 1960ern ausgegeben),<br />

andere posten Zitate von Mahatma Gandhi, wie<br />

dieses hier: „Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der Frieden<br />

ist der Weg.“ Und dann gibt es auch noch Initiativen<br />

wie „Wandern für den Frieden“.<br />

Nun weiß ich, dass solche Aktionen dem Einzelnen helfen,<br />

das Gefühl zu haben, aus dieser Ohnmacht herauszukommen,<br />

die derzeit so viele gefangen hält. Aber ändern<br />

wird sich dadurch nichts. Der einzige Weg, um Kriege wie<br />

diesen und viele andere Kriege auch zu vermeiden, ist, demokratische<br />

Strukturen zu verankern.<br />

Putin zeigt seit vielen Jahren vor, dass Russland keine<br />

Demokratie ist: Das reicht vom Umgang mit Oppositionspolitikern<br />

(Alexei Nawalny!), Journalistinnen (Anna Politkowskaja),<br />

Künstlerinnen (Pussy Riot) bis zum Unterbinden<br />

von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Das<br />

zeigen aber nicht zuletzt auch seine Konstruktionen, um<br />

an der Macht zu bleiben (wer erinnert sich noch an Dmitri<br />

Medwedew?).<br />

Die Lehre aus diesem Krieg wird sein, sich weltweit<br />

noch viel vehementer für das Etablieren demokratischer<br />

Strukturen einzusetzen, Menschen nahezubringen, wie<br />

wertvoll Verfassungen, Meinungsfreiheit, freie Wahlen<br />

sind, sie zu stärken, sodass sie sich auch trauen, sich – in<br />

Wahlen – gegen Diktatoren aufzulehnen. Das Fundament<br />

dafür muss bereits in den Schulen errichtet werden – das<br />

gilt auch für Kinder in Österreich, Ungarn und anderen<br />

europäischen Ländern.<br />

Die Lehre aus diesem Krieg wird sein, sich<br />

weltweit noch viel vehementer für das<br />

Etablieren demokratischer Strukturen<br />

einzusetzen.<br />

Kinder müssen lernen, was Mitbestimmung ist, wie<br />

eine demokratische Entscheidungsfindung funktioniert,<br />

wie man unterschiedliche Meinungen haben kann, aber<br />

zu einem Kompromiss findet. Sie müssen aber auch lernen<br />

zu erkennen, wann sie – auch im Netz – manipuliert<br />

und wann mit falschen Fakten gefüttert und fehlgeleitet<br />

werden. Friedenslieder zu singen, sorgt vielleicht für<br />

Wohlfühlmomente. Aber woran wir auch in Europa arbeiten<br />

müssen, ist, Demokraten heranzuziehen. Dann hätten<br />

vielleicht auch (rechte) Populisten weniger Chancen,<br />

Wahlen zu gewinnen.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 45 10.05.22 09:31


MAI KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester<br />

Helga. Helga kam im Juli 1939<br />

mit einem Kindertransport nach London.<br />

Die Schwestern sahen einander erst acht<br />

Jahre später wieder (unten).<br />

AUSSTELLUNG<br />

Jüdisches Museum Judenplatz,<br />

Judenplatz 8, 1010 Wien<br />

jmw.at<br />

NUR NOCH BIS 15. MAI <strong>2022</strong><br />

KINDER AUF DER FLUCHT<br />

„Die Auswahlkriterien waren sehr streng, und es<br />

war nicht sehr wahrscheinlich, dass man einen<br />

Platz bekommt“, erzählt eine der beiden Ausstellungskuratorinnen<br />

der noch bis 15. <strong>Mai</strong> laufenden<br />

Schau Jugend ohne Heimat. Kindertransporte<br />

aus Wien, Sabine Apostolo. Auch das Zeitfenster,<br />

um sein Kind vor der NS-Verfolgung im Ausland<br />

in Sicherheit zu bringen, war ein winziges: Der<br />

erste Kindertransport aus Wien fand im Dezember<br />

1938 statt – zu diesem Zeitpunkt gab es bereits<br />

10.000 Anmeldungen. Nur ein rundes Drittel<br />

davon konnte in den wenigen Monaten darauf<br />

Wien wirklich verlassen. Der Kriegsausbruch im<br />

September 1939 setzte der Aktion ein grausames<br />

Ende. Der Großteil der zurückbleibenden Kinder<br />

wurde deportiert und ermordet. Eindrücklich<br />

zeigt die Ausstellung, dass vieles, das wir von den<br />

rettenden Kindertransporten wissen, nicht der<br />

durchwegs dramatischen und traumatischen<br />

Realität der Kinder entsprach. Viele fanden nicht<br />

sofort eine Gastfamilie, andere wurden mehrfach<br />

„herumgereicht“, nicht wenige wurden zur<br />

Hausarbeit gezwungen, andere in Kinderheime<br />

gesteckt, in Frankreich untergekommene Kinder<br />

mussten nach der NS-Annexion ein zweites Mal<br />

fliehen, wieder andere wurden nach Kriegsbeginn<br />

zu „Feinden“ und interniert. Die Traumata,<br />

die diese Kinder neben Verfolgung und in vielen<br />

Fällen dem Verlust der gesamten Familie erlitten,<br />

sind so vielfältig wie die Geschichten ihrer Emigration<br />

und ihres Weiter-Lebens nach dem Ende<br />

des Zweiten Weltkrieges.<br />

KONZERT<br />

Porgy & Bess,<br />

Riemergasse 11, 1010 Wien<br />

porgy.at<br />

23. MAI <strong>2022</strong><br />

NACHTAKTIVE POWERFRAU<br />

Tif vi di Nakht, „Tief wie die Nacht“, lautet das<br />

Motto von Ethel Merhauts aktuellem Konzert<br />

im Wiener Jazzclub Porgy & Bess, das in Zusammenarbeit<br />

mit der IKG stattfindet. Abraham<br />

Ellsteins Hit entstand im New York der<br />

1930er-Jahre und wurde so wie dessen Zog<br />

es mir nokh amol (Sag es mir noch einmal)<br />

aus der Operette Der berditchever khosn und<br />

Alexander Olshanetskys Glik (Glück) zu Kassenschlagern.<br />

Noch gab es zu diesem Zeitpunkt<br />

so gut wie keine Emigrant:innen vor<br />

dem NS-Regime in der US-Metropole, wenige<br />

Jahre später sollte sich das auf dramatische<br />

Weise geändert haben: Lieder wie Werner Richard<br />

Heymann Das gibt’s nur einmal oder Irgendwo<br />

auf der Welt der bald schon zerstreuten<br />

Comedian Harmonists reihten sich nun<br />

ein in den musikalischen Bogen zwischen<br />

Sentimentalität und Verfolgung, der von Europa<br />

in die Welt führte. Die in Wien geborene<br />

Sängerin Ethel Merhaut widmet sich in ihrem<br />

neuen Programm, begleitet von Konstantin<br />

und Sascha Wladigeroff, der unter anderen<br />

von den späteren Emigranten Heymann, Paul<br />

Abraham, Robert Stolz oder Peter Herz geprägten<br />

„goldenen“ Ära der Unterhaltungsmusik,<br />

die freilich näher betrachtet nicht<br />

mehr so golden war: Fritz Löhner Beda etwa,<br />

der an der Seite Abrahams und Alfred Grünwalds<br />

einst für so große Publikumserfolge<br />

wie Viktoria und ihr Husar, Die Blume von Hawaii,<br />

Ball im Savoy, Märchen im Grand-Hotel<br />

und Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus<br />

verantwortlich zeichnete, wurde am 4.<br />

Dezember 1942 im KZ Auschwitz erschlagen.<br />

ethelmerhaut.com<br />

TANZ<br />

20:30 Uhr<br />

Halle G, MuseumsQuartier, 1070 Wien<br />

festwochen.at/new-creation<br />

24. BIS 26. MAI <strong>2022</strong><br />

WIDERSTAND<br />

UND TANZ<br />

Der erste Tanzlehrer des 1979 in Brasilien<br />

geborenen international viel<br />

beachteten Tänzers und Choreografen<br />

Bruno Beltrão war dessen israelischer<br />

Lehrer Yoram Szabo. Heute ist<br />

der aus der Welt des Street Dance<br />

kommend Künstler über alle Genregrenzen<br />

des zeitgenössischen Tanzes<br />

hinweg aktiv, gastiert weltweit<br />

mit seiner Company Grupo de Rua<br />

und fragt in seinem Stück New Creation<br />

für die Wiener Festwochen<br />

<strong>2022</strong> gemeinsam mit zwölf außergewöhnlichen<br />

Tänzer:innen nach den<br />

Möglichkeiten und Grenzen des persönlichen<br />

Widerstands in einer Welt,<br />

deren giftige Nebel alle positiven Visionen<br />

aktuell zu ersticken scheinen.<br />

Dabei verbindet Beltrão, der Revolutionär<br />

des Hip-Hop, urbanen mit<br />

zeitgenössischem Tanz, lehnt seine<br />

Arbeit an die „Virtuosität der Straße“<br />

an und versucht nichts weniger als<br />

ein brückenschlagendes Erlebnis,<br />

das zurzeit notwendiger denn je<br />

ist und den gemeinsam erlebten<br />

(Tanz)Raum kraftvoll pulsieren lässt.<br />

© Privatbesitz; Nathan Murrell; Wikipedia; Alfred Klahr Gesellschaft; Wiener Festwochen<br />

46 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 46 10.05.22 09:31


Das von Albert Salomon Freiherr von Rothschild<br />

errichtete Palais in der Prinz-Eugen-<br />

Straße wurde 1954 von der Arbeiterkammer<br />

gekauft und kurz darauf abgerissen (rechts).<br />

AUSSTELLUNG<br />

Jüdisches Museum,<br />

Dorotheergasse 11, 1010 Wien<br />

jmw.at<br />

HOMMAGE<br />

19:30 Uhr,<br />

Altes Rathaus Wien,<br />

Wipplingerstraße 8, 1010 Wien<br />

25. MAI <strong>2022</strong><br />

TRIBUTE AN EINEN GANZ,<br />

GANZ GROSSEN<br />

Stephen Sondheim gehörte wahrlich<br />

zu den ganz Großen der Musical-Welt<br />

des 20. Jahrhunderts. 1930 in New York<br />

als Sohn eines jüdischen Paares geboren,<br />

dass sich bald schon scheiden ließ,<br />

wuchs er auf einer Farm auf, erhielt früh<br />

schon Musikunterricht und befreundete<br />

sich in seiner Jugend mit dem<br />

Sohn Oscar Hammersteins, der dem<br />

angehenden Komponisten freundlich-kritisch<br />

zur Seite stand. Das Potenzial<br />

war erkannt – was tatsächlich in diesem<br />

Ausnahmekünstler, der nicht nur<br />

Ausnahmekomponist (Company, A<br />

Little Night Music, Sweeney Todd, Sunday<br />

in the Park with George), sondern<br />

auch ein großartiger Librettist (West Side<br />

Story!) war, steckte, sollte sich schon<br />

bald zeigen – an die 30 der weltwichtigsten<br />

Preise des „Showbiz“ konnte<br />

Sondheim im Laufe seines Lebens gewinnen,<br />

bis zuletzt blieb er ein Unermüdlicher.<br />

Mit ihrem A Tribute to Stephen<br />

Sondheim widmen sich nun so<br />

vielseitige Künstler:innen wie Shlomit<br />

Butbul, René Rumpold, Johannes Terne<br />

und Barbara Rektenwald dem Ende<br />

2021 verstorbenen „Neuentdecker des<br />

US-amerikanischen Musicals“, überraschungs-<br />

und anekdotenreich, unsentimenal<br />

und mit einer tiefen musikalischen<br />

Verbeugung.<br />

BIS 5. JUNI <strong>2022</strong><br />

FASZINATION SPURENSUCHE<br />

Sie waren – und sind – von Mythen umgeben: die<br />

Rothschilds. Und dies nicht nur dank des von Salomon<br />

von Rothschild aufgebauten Wiener Familienzweiges,<br />

sondern weltweit. Und nicht nur<br />

im Positiven, wie viele in der nur noch wenige<br />

Tage im Jüdischen Museum zu sehenden Ausstellung<br />

Die Wiener Rothschilds. Ein Krimi versammelten,<br />

teilweise ob ihrer antisemitischen Aktualität<br />

erschreckenden Exponate verdeutlichen.<br />

Klug und ambitioniert wurde von dem aus bescheidenen<br />

Verhältnissen stammenden Frankfurter<br />

Juden Mayer Amschel Rothschild binnen<br />

weniger Jahrzehnte aus dem sprichwörtlichen<br />

Nichts ein Imperium aufgebaut, dessen Macht<br />

und Einfluss selbst in der detailgenauen Nachschau<br />

nicht wirklich erfassbar gemacht werden<br />

können. Hier liegt der titelgebende „Krimi“<br />

vielleicht noch mehr als in der Geschichte deren<br />

Verfolgung und Vernichtung begraben. Allein<br />

der Wiener Zweig der weltweit vernetzten<br />

Familie schenkte der Stadt nicht nur die einstige<br />

Staatsbank „Creditanstalt“, sondern auch eines<br />

der damals modernsten Spitäler der Welt, faszinierende<br />

Palais und sogar eine seinerzeit vielbesuchte<br />

Gartenausstellung. Nichts von all dem<br />

ist heute mehr im Stadtraum sichtbar, die einst<br />

bewunderten Wiener Gründungen der Familie<br />

wurden nach dem Krieg von der Gemeinde<br />

Wien abgerissen, heute finden sich dort Arbeiterkammer,<br />

Theater Akzent und Wifi-Gebäude. Die<br />

Ausstellung versucht anhand einer chronologischen<br />

Darstellung der Erfolgs- und Verfolgungsgeschichte<br />

der Familie, deren geraubtes Vermögen<br />

teilweise bis heute auf Restitution wartet,<br />

Spuren dort sichtbar zu machen, wo diese vielfach<br />

auch noch nach Kriegsende ganz bewusst<br />

verschüttet wurden.<br />

LESUNG MIT MUSIK<br />

20 Uhr<br />

Spektakel,<br />

Hamburgerstraße 14, 1050 Wien<br />

spektakel.wien<br />

20. MAI <strong>2022</strong><br />

SOYFER UND DAS<br />

ROTE WIEN<br />

Jura Soyfer, der mit nur 26 Jahren im<br />

Konzentrationslager Buchenwald<br />

starb, zählt heute, obwohl kaum noch<br />

gespielt, zu den wichtigsten antifaschistischen<br />

Theaterstimmen Österreichs<br />

der Zwischenkriegszeit. Soyfer<br />

wurde in Charkiw geboren, die Familie<br />

floh, als er 12 Jahre alt war, nach<br />

Wien, wo er im dritten Bezirk die Matura<br />

abschloss und schon mit 16 Jahren<br />

zur Kabarettgruppe Blaue Blusen<br />

– Rote Spieler gehörte. Er schrieb für<br />

die Arbeiterzeitung, sozialdemokratische<br />

Magazine und in rasender Geschwindigkeit<br />

von 1936 bis zu seiner<br />

ersten Gefangenschaft im November<br />

1937 so genannte Mittelstücke, darunter<br />

Der Lechner Edi schaut ins Paradies,<br />

Astoria, Broadway Melodie und Der<br />

Weltuntergang sowie sein Romanfragment<br />

So starb eine Partei. Einem der<br />

wichtigsten Dichter des „Roten Wien“<br />

widmet Dramaturgin und Regisseurin<br />

Susanne Höhne mit Ihr nennt uns<br />

Menschen? Jura Soyfer und das Rote<br />

Wien nun einen Abend, der deutlich<br />

macht, dass seine Werke heute auf erschütternde<br />

Weise wieder aktueller<br />

sind denn je.<br />

Mit Jaschka Lämmert und Anna<br />

Starzinger(Cello)<br />

beseder-theater.com<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

mai<strong>2022</strong>.indb 47 10.05.22 09:31


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich froh war heimzukommen,<br />

war …<br />

diesen Jänner, als ich mehrere Tage<br />

fast ausschließlich in Kaffeehäusern<br />

verbracht habe. Ich liebe das und<br />

habe es davor sehr lange nicht gemacht<br />

– einerseits wegen Corona<br />

und andererseits, weil es in Berlin,<br />

wo ich jetzt hauptsächlich wohne,<br />

solche Kaffeehäuser einfach nicht<br />

gibt.<br />

Das letzte Mal sehr wienerisch<br />

gefühlt habe ich mich …<br />

auch im Jänner, als der Ober im Café<br />

Weidinger mich beim Frühstück gefragt<br />

hat, ob ich den Kaffee „wie<br />

immer“ nehme.<br />

Das letzte Mal, dass ich mir<br />

gewünscht habe, dass Wien<br />

mehr Tel Aviv ist, war …<br />

Das erste Mal werde ich im September<br />

in Tel Aviv sein, wenn wir dort unseren<br />

Foto-Text-Band vorstellen; ich<br />

bin sehr gespannt auf die Stadt! Aber<br />

dass Wien ein bisschen offener ist, so<br />

wie viele andere Großstädte, habe<br />

ich mir ehrlich gesagt schon öfter gewünscht.<br />

Das letzte Mal über die Vorzüge<br />

gefreut, eine Projektpartnerin wie<br />

Ronny Aviram zu haben, habe ich<br />

mich, ...<br />

als wir zusammen das Oster-/<br />

Pessachfest verbracht haben und ich<br />

wieder etwas mehr über jüdische<br />

Bräuche und das Leben in Israel erfahren<br />

habe. Ich habe mich während<br />

unserer Arbeit an TelAviVienna<br />

aber oft gefreut, mit einer so talentierten<br />

Künstlerin und gleichzeitig<br />

guten Freundin zusammenarbeiten<br />

zu dürfen.<br />

KAFFEE<br />

„WIE IMMER“!<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat erzählt die Schriftstellerin Christina Maria<br />

Landerl vom Weidinger-Frühstück und noch unbekannten<br />

Pessach-Bräuchen.<br />

Christina Maria Landerl lernt Ronny Aviram 2016 kennen, als die Israelin<br />

wegen ihres Fotografiestudiums nach Deutschland zieht und<br />

kurzzeitig die Mitbewohnerin der Schriftstellerin wird. Mittlerweile<br />

wohnen beiden in verschiedenen Städten – Landerl in Berlin und Aviram<br />

in Leipzig. Was geblieben ist, ist eine enge Freundschaft und der<br />

Wunsch, der jeweils anderen einmal die frühere Heimatstadt zu zeigen.<br />

In ihrem gemeinsamen Band TelAviVienna haben die Künstlerinnen<br />

ihre Reisen, die jede der beiden coronakonform allein angetreten<br />

hat, nun in Wort und Bild festgehalten.<br />

Die Buchpräsentation von TelAviVienna – Vom Heimkommen mit<br />

Ronny Aviram und Christina Maria Landerl findet am 30. <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />

um 18:30 Uhr im Jüdischen Museum Wien statt.<br />

Anmeldung unter jmw.at<br />

christinamarialanderl.com<br />

© Ronny Aviram<br />

48 wına | <strong>Mai</strong><strong>2022</strong><br />

mai<strong>2022</strong>.indb 48 10.05.22 09:31


Es erwarten Sie koschere Kulinarik,<br />

Verkaufsstände jüdischer DesignerInnen,<br />

ein Kinderprogramm, Live-Acts und<br />

über 40 Organisationen der Gemeinde.<br />

Live Musik:<br />

Wiener Jüdischer Chor<br />

Roman Grinberg & Klezmer Swingtett<br />

Special Guest: Lea Kalisch<br />

Judenplatz 1, 1010 Wien<br />

14:30 bis 19:00 Uhr<br />

Eintritt frei!<br />

Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, einen Lichtbildausweis mitzuführen.<br />

Mehr Informationen unter: www.ikg-wien.at/strassenfest<br />

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