wina Mai 2022
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<strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
#5. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
05<br />
9 120001 135738<br />
Resilienz lehren und leben<br />
Die Lebensaufgabe der<br />
Auschwitz-Überlebenden und<br />
Psychologien Edith Eger<br />
Die Lage ist zu ernst, um<br />
Floskelkultur zu praktizieren<br />
Wissenschafterin Monika Schwarz-<br />
Friesel über Antisemitismus heute<br />
Die Gemeinde ist zusammengerückt<br />
Maxim Slutzki koordiniert die Ukraine-<br />
Hilfe der jüdischen Gemeinde<br />
„Die moralische Substanz<br />
einer demokratischen<br />
Gesellschaft muss gefühlt,<br />
getragen und tatsächlich<br />
gelebt werden.“<br />
Monika Schwarz-Friesel<br />
cover_0322.indd 1 10.05.22 11:57
Sehen Sie die Welt aus<br />
unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />
DiePresse.com/Sonntagsabo<br />
Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />
cover_0322.indd 2 10.05.22 11:57
Gedenkstätte Mauthausen:<br />
Ein lautes<br />
„Niemals wieder“ gewinnt<br />
nach 77 Jahren immer<br />
mehr an Bedeutung.<br />
© Harald Dostal / picturedesk.com<br />
Editorial<br />
Zum 77. Mal wurde heuer des Endes des 2. Weltkrieges<br />
und der Opfer der Shoah gedacht. Ein Erinnern, das<br />
ein unerträgliches Brennen in den Seelen der nur noch<br />
wenigen Überlebenden auslöst, aber auch bei jenen, die<br />
bloß eine vage Erinnerung an das unbeschreibliche Leid<br />
geerbt haben. Bilder, die immer verschwommener werden,<br />
je weiter wir uns von den Flammen entfernen. Sie<br />
haben sich jedoch tief in unser Unterbewusstsein eingebrannt<br />
– und sollen uns, Millionen kleiner Alarmanlagen<br />
gleich, warnen, wenn die Weltgeschichte wieder einmal<br />
eine Richtung einschlägt, die die Menschheit näher an<br />
die altbekannten Flammen führt.<br />
77 Jahre nach der Befreiung stehen wir den Flammen<br />
näher, als wir es uns jemals hätten vorstellen können.<br />
Der Krieg, der sich jederzeit wie ein<br />
Flächenbrand ausbreiten könnte, tobt und<br />
ein Ende ist nicht in Sicht. Massengräber,<br />
Flucht und Vernichtung an den Grenzen<br />
Europas sind nicht Szenen aus einer hollywoodgleich<br />
gestalteten Serie eines Streaming-Portals,<br />
sondern zum Nachrichtenalltag<br />
geworden. Und so vermehren sich<br />
auch Verschwörungstheoretiker, so sichern<br />
sich illiberale Demokraten ihre politische<br />
Machtstellung und so wachsen die Zahlen<br />
rassistischer und antisemitischer Vorfälle<br />
auf den Straßen Europas und den Highways<br />
des Internet.<br />
Erinnern und niemals vergessen – das,<br />
unter anderem, ist unsere Möglichkeit, die<br />
Weltgeschichte wieder in die Richtung zu lenken, die<br />
auch dem Mauthausen-Schwur aller ehemaligen politischen<br />
Gefangenen des Konzentrationslagers gerecht<br />
wird: „Wir werden einen gemeinsamen Weg beschreiten,<br />
den Weg der unteilbaren Freiheit aller Völker, den Weg<br />
der gegenseitigen Achtung, den Weg der Zusammenarbeit<br />
am großen Werk des Aufbaus einer neuen, für alle<br />
gerechten, freien Welt. Wir werden immer gedenken, mit<br />
welch großen blutigen Opfern aller Nationen diese neue<br />
Welt erkämpft wurde.“<br />
Der Staat Israel wurde vor 74 Jahren aus den Flammen<br />
der Shoah geboren, wie auch die Idee der Europäischen<br />
Union – in der Hoffnung, dass alle nachfolgenden<br />
Generationen in einem freien, gerechten und antifaschistischen<br />
Europa leben werden. Angesichts der aktuellen<br />
Entwicklungen und ihrer noch nicht absehbaren<br />
gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen<br />
Folgen, scheint diese Hoffnung in weite Ferne zu rücken.<br />
Ein lautes „Niemals wieder“ zu Faschismus, Krieg und<br />
Vernichtung gewinnt also nach 77 Jahren immer mehr<br />
an Bedeutung – und wir als Erben müssen mit allen unseren<br />
Möglichkeiten einer demokratischen Gesellschaft<br />
auf die Umsetzung eben dieser Mahnung hinarbeiten –<br />
auch in ewiger Erinnerung an die Flammen der Shoah.<br />
Julia Kaldori<br />
„Die Vergangenheit<br />
lässt sich<br />
nicht ausblenden,<br />
sie durchdringt<br />
mit Wucht<br />
die Gegenwart<br />
– und sie wird<br />
unsere Zukunft<br />
weiterhin gestalten,<br />
wenn man<br />
sich ihr nicht<br />
stellt und sie explizit<br />
beim Namen<br />
nennt.“<br />
Monika Schwarz-<br />
Friesel<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
Unbenannt-1 1 11.05.22 14:37
S.41<br />
Carl Bernstein, bekannt als Investigativreporter<br />
und Watergate-Aufdecker, erinnert<br />
sich in seinem Buch Chasing History<br />
an seine journalistischen Anfänge.<br />
INHALT<br />
„Nachdem ich von einem<br />
Ende zum anderen<br />
gegangen war,<br />
wusste ich, dass ich<br />
ein Zeitungsmann<br />
werden<br />
wollte.“<br />
Carl Bernstein<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
04 Die Lage ist zu ernst<br />
Monika Schwarz-Friesels Rede im<br />
Parlament anlässlich der Veranstaltung<br />
im Gedenken an die Opfer des<br />
Nationalismus.<br />
07 „Einfach allen helfen“<br />
Rabbi ner Moshe Kolo moitsev und<br />
Maxim Slutski koordinieren im Rahmen<br />
des JRCV die Ukraine-Hilfe der<br />
IKG.<br />
10 Anna mit dem Saxofon<br />
Fünf Tage nach Anna Kypiatkovas<br />
29. Geburtstag fielen Raketen auf<br />
Kiew. Nach einer gefährlichen Flucht<br />
möchte die junge Musikerin in Wien<br />
durchstarten.<br />
12 Ein klarer Ausstieg<br />
Der deutsch-persisch-israelische Politologe<br />
und Schriftsteller Arye Sharuz<br />
Shalicar schaffte es vom Gang-<br />
Mitglied in das Machtzentrum der<br />
israelischen Politik.<br />
14 Viele neue Player<br />
Die Technologieunternehmerin Eveline<br />
Steinberger-Kern im WINA-Interview<br />
über die Abhän gigkeiten von<br />
Energielieferanten und über einschlägige<br />
Innovationen.<br />
18 Am Seil auf den Carmel<br />
In Haifa ist die urbane Seilbahn zum<br />
Technion und zur Universität in Betrieb<br />
gegangen, gebaut vom Vorarlberger<br />
Unternehmen Doppelmayr.<br />
20 Letzte Ruhe in Kaufering<br />
Vor einem Jahr brachte Felix Schrott<br />
eine Gedenktafel für seinen Großvater<br />
Emanuel Schrott an der Gedenkwand<br />
des Lagers Kaufering an.<br />
23 Mit Amnesie bewältigen<br />
Diesen Jänner starb die Ho locaust<br />
Überlebende Trude Simonsohn<br />
hundert jährig in Frankfurt, wo sie als<br />
Zeitzeugin aktiv war.<br />
24 Juwel in den Bergen<br />
Über die vielfältige Geschichte des jüdischen<br />
Lebens in Tirol vom Mittelalter<br />
bis heute erzählen das Jüdische<br />
Museum von Meran und sein Direktor<br />
Joachim Innerhofer.<br />
30 Bierfabrik der Kaiserstadt<br />
Zwei Zuwandererfamilien waren für<br />
die rasante Entwicklung der Schwechater<br />
Brauerei verantwortlich: die<br />
Drehers und die jüdischen Mautners.<br />
32 Nicht nur von rechts<br />
Ste phan Grigat und Martin Spetsmann<br />
Kunkel werden künftig das<br />
Centrum für Antisemitismus und<br />
Rassismusstudien in Achen leiten.<br />
Hier erzählen sie über ihre Pläne und<br />
Schwerpunkte.<br />
S.31<br />
Barbra Streisand zum Achtziger<br />
„I’m a bagel on a plate full of onion rolls“, sagte sie einst<br />
in Funny Girl und am Beginn einer einzigartigen Weltkarriere.<br />
Auch WINA lässt diese große Künstlerin hochleben!<br />
„Denk daran, niemand<br />
kann dir das wegnehmen,<br />
was du in deinen<br />
Kopf hineingetan<br />
hast.“<br />
Edith Eger<br />
S.36<br />
2 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 2 10.05.22 09:31
Coverfoto: Juliana Raikowski / photocase.de<br />
KULTUR<br />
34 … trotzdem positiv<br />
Die Bücher der Überlebenden und US<br />
Psychologin Edith Eger zeigen auf, wie<br />
viel Kraft man in aussichts los scheinenden<br />
Situationen noch aus sich<br />
selbst schöp fen kann.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
17 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
1341 Frames of Love and War: Der<br />
Dokumentarfilm ist die Lebensgeschichte<br />
Micha Bar-Ams und eine<br />
Chronik Israels. Von Gisela Dachs<br />
„Es galt, schnell das Wichtigste<br />
zu packen,<br />
da entschied<br />
ich mich für<br />
das Saxofon.“<br />
Anna Kypiatkova<br />
n,<br />
-<br />
36 Rächen, bis es bebt<br />
Die Ausstellung Rache. Geschichte und<br />
Fantasie in Frankfurt und ein neues<br />
Buch beschäftigt sich mit dem Thema<br />
der jüdischen Rache.<br />
38 Widerstand kräftigt<br />
Der polnische Automechaniker<br />
Stanisław Zalewski landete erst in<br />
Gestapo Haft und anschließend<br />
im Vernichtungslager Ausch witz-<br />
Birkenau.<br />
40 Nichts als die Wahrheit<br />
Der amerikanische Investiga tivreporter<br />
und Watergate-Aufdecker Carl Bernstein<br />
erinnert sich in seinem neuen<br />
Buch Chasing History an seine journalistischen<br />
Anfänge.<br />
42 Flucht vor dem Erbe<br />
In ihrem ersten Short-Story Band<br />
Ein Mann sein vermisst Nicole Krauss<br />
nicht nur das männliche Rollenspektrum<br />
in Zei ten fluider Geschlechteridentitäten<br />
neu.<br />
43 Virtuos gestammelt<br />
Tomer Gardi schreibt, wie viele<br />
Migran ten sprechen – in Broken German<br />
–, und hat damit eine Diskussion<br />
ausgelöst. Für Eine runde Sache hat<br />
er nun den Preis der Leipziger Buchmesse<br />
erhalten.<br />
28 Matok & Maror<br />
Neu in der Mochi-Familie – das<br />
o.m.k auf dem Hohen Markt.<br />
29 WINA_kocht<br />
Warum Solospargel und wie geht<br />
weniger süß an Schawuot?<br />
31 WINA_Lebensart<br />
Wir lassen Barbra Streisand zum 80.<br />
Geburtstag feierlich hochleben!<br />
44 WINA_Werkstädte<br />
Käthe Loewenthals Berner Voralpenlandschaft<br />
aus dem Jahr 1910<br />
45 Urban Legends<br />
Friedenslieder machen Mut,<br />
Demokratie bringt Frieden.<br />
Von Alexia Weiss<br />
46 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den <strong>Mai</strong><br />
48 Das letzte Mal<br />
Die Schriftstellerin Christina<br />
Maria Landerl über noch unbekannte<br />
Pessach-Bräuche und<br />
ihre Reise nach Tel Aviv.<br />
S.10<br />
Anna Kypiatkova. Nach<br />
einer gefährlichen Flucht<br />
aus Kiew möchte die junge<br />
Musikerin nun in Wien<br />
durchstarten.<br />
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wına-magazin.at<br />
3<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 3 10.05.22 09:31
Gedenkrede im Parlament<br />
Meine sehr geehrten Damen<br />
und Herren,<br />
bitte erwarten Sie von mir keine Sonntagsrede<br />
mit optimistischen Tönen. Die Lage ist<br />
zu ernst, um Floskelkultur zu praktizieren.<br />
Wir befinden uns – um es mit den Worten<br />
Fritz Sterns zu sagen – in einer Zeit<br />
der kulturellen Verzweiflung angesichts<br />
Verschwörungsdenken, Realitätsverdrehung,<br />
Propaganda, Demokratiezweifel –<br />
und angesichts eines brutalen Krieges, in<br />
dem auch die letzten ukrainischen Shoah-<br />
Überlebenden umgebracht werden.<br />
Der israelische Historiker Jacob Katz<br />
stellte vor 50 Jahren die Frage, ob der Holocaust<br />
als präzedenzloses Menschheitsverbrechen<br />
einen anhaltenden Katharsis-<br />
Effekt haben würde, um „endlich das alte<br />
Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens“<br />
beenden zu können.<br />
Heute wissen wir, dass es nicht die erhoffte<br />
flächendeckende Wende, nicht die<br />
tiefgreifende Zäsur gab.<br />
Die kollektive Emotion Judenhass, sie ist<br />
höchst präsent und aktiv. Einige Fakten aus<br />
der empirischen Forschung:<br />
Nein, Antisemitismus ist keineswegs<br />
primär ein Randgruppenphänomen von<br />
Rechtsradikalen und Islamisten. Ja, Judenfeindschaft<br />
ist ein gesamtgesellschaftliches<br />
Phänomen.<br />
Nein, der klassische Anti-Judaismus ist<br />
keineswegs zurückgedrängt. Ja, über zwei<br />
Drittel aller antisemischen Äußerungen<br />
und Verschwörungsfantasien im Netz 2.0<br />
basieren auf uralten Stereotypen. Und sie<br />
lassen das Echo der Vergangenheit in nie<br />
dagewesener Quantität erschallen.<br />
Nein, Antisemitismus ist kein austauschbares<br />
Vorurteil und auch nicht mit Rassismus<br />
oder Xenophobie gleichzusetzen. Ja,<br />
Judenfeindschaft ist eine singuläre kulturhistorische<br />
Denkkategorie, tief verankert<br />
im kollektiven Bewusstsein.<br />
Nein, Bildung und demokratische Einstellung<br />
schützen keineswegs immer vor<br />
einer judenfeindlichen Gesinnung. Ja,<br />
auch gebildete, modern agierende, renommierte<br />
Personen produzieren Antisemitismen.<br />
Judenfeindschaft kam stets aus der gebildeten<br />
Mitte. Der Großteil der abendländischen<br />
Kultur zeugt davon. Daher ist<br />
die inflationäre Schlagzeile „Judenhass<br />
Die Lage ist zu ernst<br />
Und es ist stets das alte Lied<br />
... Professorin Monika<br />
Schwarz-Friesels Rede<br />
bei der Gedenkveranstaltung<br />
gegen Gewalt und Rassismus<br />
im Gedenken an die<br />
Opfer des Nationalismus im<br />
Parlament über die Verstecke<br />
und Gefahren der sich<br />
mehrenden Antisemitismen.<br />
MONIKA SCHWARZ-FRIESEL<br />
wurde 1961 in Bensberg, Deutschland,<br />
geboren. Sie studierte deutsche und englische<br />
Philologie sowie Psychologie an der Universität<br />
Köln, wo sie auch promovierte und<br />
habilitierte. Sie etablierte mit ihrer Forschung<br />
die kritische Kognitionslinguistik, lehrte als<br />
Universitätsprofessorin für Textlinguistik und<br />
Pragmatik an der FSU Jena und bekleidet seit<br />
2010 einen Lehrstuhl an der TU Berlin.<br />
Monika Schwarz-Friesel, die mit dem israelischen<br />
Historiker Evyatar Friesel verheiratet ist,<br />
arbeitet u. a. zur Interaktion von Sprache, Kognition<br />
und Emotion, zu kognitiver Semantik<br />
und Metaphern sowie über verbale Manifestationen<br />
des aktuellen Antisemitismus.<br />
Anlässlich der Gedenkveranstaltung gegen<br />
Gewalt und Rassismus im Gedenken an die<br />
Opfer des Nationalsozialismus im Wiener<br />
Parlament Anfang <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong> hielt Monika<br />
Schwarz-Friesel den Keynote-Vortrag.<br />
habe die Mitte erreicht“ irreführend. Die<br />
Mitte ist nach wie vor die Quelle – und<br />
ihre geistige Substanz nährt die Ränder,<br />
nicht umgekehrt.<br />
Nehmen wir als aktuelles Beispiel die<br />
Universitäten. In den USA grassiert heute<br />
ein Campus-Antisemitismus: Immer mehr<br />
junge Juden werden dort attackiert. Akzeptanz<br />
findet nur, wer sich antiisraelisch äußert.<br />
Es zeigt sich, dass akademische BDS-<br />
Aktivitäten zu einer massiven Zunahme<br />
antisemitischer Vorfälle führen.<br />
Erinnern wir uns, dass viele Universitäten<br />
in Europa in den Dreißigerjahren<br />
zu den ersten Institutionen gehörten, die<br />
ihre jüdischen Mitglieder drangsalierten<br />
und vertrieben.<br />
Das antijüdische Ressentiment artikuliert<br />
sich im öffentlichen Kommunikationsraum<br />
seit Jahren wieder offener,<br />
selbstbewusster – und selbstverständlicher,<br />
ohne dabei immer die dringend benötigten<br />
Reaktionen in Politik und Zivilgesellschaft<br />
auszulösen.<br />
Da war der Friedensnobelpreisträger<br />
und Menschenrechtsaktivist, der sich gegen<br />
Rassismus engagierte, jedoch wiederholt<br />
den jüdischen Staat mit diffamierenden<br />
Phrasen stigmatisierte, der den Tod<br />
in den Gaskammern mit Apartheidsanalogien<br />
marginalisierte und stereotypfestigend<br />
„die jüdische Lobby“ beschuldigte,<br />
mächtig und angsterregend zu sein. Geschadet<br />
hat dies ihm und seinem weltweiten<br />
Ansehen nicht.<br />
Da ist der renommierte Postkolonialismus-Wissenschaftler,<br />
der mit antijudaistischen<br />
Floskeln Israel dämonisiert und<br />
den Holocaust relativiert. Die Personen<br />
aus der Kunst- und Kulturszene, die Meinungsfreiheit<br />
ausgerechnet für die antise-<br />
© Parlamentsdirektion/Johannes Zinner<br />
4 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 4 10.05.22 09:31
Alter und neuer Antisemitismus<br />
© Parlamentsdirektion/Johannes Zinner<br />
mitische Kampagne der BDS fordern. Die<br />
renommierte Kunst- und Kulturorganisation,<br />
die die Kunstfreiheit auch bei Israelhass<br />
für unantastbar hält. Die Friedensaktivisten<br />
und Antirassismusgruppen,<br />
die für alles und jeden Toleranz haben,<br />
nur in einem einzigen Punkt nicht: für<br />
das jüdische Bedürfnis, nach 2.000 Jahren<br />
Unterdrückung endlich ohne Belehrungen<br />
leben zu wollen.<br />
Im 21. Jahrhundert mutet man Jüdinnen<br />
und Juden viel zu. Ihre Ängste werden<br />
klein geredet, ihr Trauma heruntergespielt,<br />
ihre kollektive Trauer- und<br />
Leiderfahrung durch krude Vergleiche<br />
verhöhnt, die Shoah von einigen Historikern<br />
gar postkolonial usurpiert und damit<br />
trivialisiert.<br />
Stets begleitet von der Beteuerung, mit<br />
Antisemitismus habe all dies selbstverständlich<br />
nichts zu tun.<br />
Der aktuelle Antisemitismus aber, er<br />
lebt und nährt sich nicht nur vom antisemitisch<br />
Ausgesprochenen, sondern<br />
auch vom Dulden, Wegschauen und vom<br />
Leichtnehmen.<br />
Die Lehren, die mit Jahrzehnten der<br />
Verspätung aus Auschwitz und Mauthausen<br />
gezogen wurden, erfassen oft weder<br />
die Ursache noch die Tiefe der kulturellen<br />
Verankerung von judenfeindlichem Denken<br />
und Fühlen. Vor den Konzentrationslagern<br />
gab es über 19 Jahrhunderte lang<br />
ununterbrochen judenfeindliche Kommunikation<br />
als Norm, wohl gemerkt als<br />
Regel, nicht als Ausnahme.<br />
Über die toxischen Wurzeln des Judenhasses<br />
wissen wir nach Jahrzehnten der<br />
Forschung so viel, dass niemand mehr<br />
eine ernsthafte Diagnose für die Therapie<br />
mit dem Hinweis, man wisse noch zu<br />
wenig über Antisemitismus, in die Zukunft<br />
verschieben muss.<br />
Wir wissen sehr genau, wie sich Judenfeindschaft<br />
manifestiert, und kön-<br />
„Wer heute öffentlich den<br />
jüdischen Staat als Apartheidsregime<br />
diffamiert, der<br />
produziert genauso realitätsverzerrenden<br />
Antisemitismus<br />
wie die, die behaupten,<br />
Juden schlachteten<br />
Kinder für rituelle Zwecke. “<br />
nen klar Auskunft geben, wann eine Äußerung<br />
antisemitisch ist.<br />
Wir wissen, wie legitime Kritik abzugrenzen<br />
ist von Sprechakten der Diskriminierung<br />
und Diffamierung.<br />
Doch faktenresistent und wissenschaftsfeindlich<br />
halten viele fest an der<br />
Behauptung, man wolle die Meinungsfreiheit<br />
beschränken und es gebe ein<br />
Kritiktabu. Dabei offenbart sich allzu oft<br />
eine Doppelmoral, man könnte es auch<br />
Scheinheiligkeit nennen: Die toten Juden<br />
ehren, die lebenden als Landräuber, Kindermörder<br />
und Rassisten verunglimpfen.<br />
Ich halte es hier als Wissenschaftlerin mit<br />
Georges Steiner. Man kann eine mit Lügen<br />
gefüllte Sprache nur durch „drastischste<br />
Wahrheiten“ bekämpfen:<br />
Wer heute öffentlich den jüdischen<br />
Staat als Apartheidsregime diffamiert,<br />
der produziert genauso realitätsverzerrenden<br />
Antisemitismus wie die, die behaupten,<br />
Juden schlachteten Kinder für<br />
rituelle Zwecke.<br />
Wie dringend notwendig wären dazu<br />
Stimmen des Bedauerns ob des Missgriffs<br />
in die Schublade unangemessener Rhetorik.<br />
Doch stattdessen selbstgerechte<br />
Unterdrückungs- und Opferfantasien.<br />
Wer in unseren Demokratien von „Zensur“<br />
und von „Gesinnungsdiktatur“ fabuliert,<br />
der sollte beschämt den Blick auf<br />
Länder lenken, wo Menschen für ihre<br />
Meinungsfreiheit weggesperrt oder getötet<br />
werden.<br />
Ganz gleich, in welcher Form und von<br />
wem auch immer artikuliert: Judenfeindliche<br />
Äußerungen müssen ohne Ansehen<br />
der Person – ohne Wenn und Aber –<br />
zurückgewiesen werden. Und zwar auch<br />
dann, wenn es unbequem für die eigene<br />
Realpolitik ist. Abgelegt werden muss<br />
hierbei auch die Zurückhaltung, den<br />
lautstarken islamischen Judenhass unzweideutig<br />
anzusprechen.<br />
Und judenfeindliche Rhetorik nur bei<br />
Radikalen und Extremisten zu brandmarken,<br />
Bildungsbürgern im Feuilleton<br />
jedoch „kritische Reflexionen“ zugestehen:<br />
Das konterkariert jede Aufklärung.<br />
In der Bereitschaft, jedweden Antisemitismus<br />
zu kritisieren, zeigt sich, ob<br />
die rituell benutzten Sprüche „Mit aller<br />
Entschiedenheit“ und „Nie wieder“ ernst<br />
gemeint oder am Ende nur Worthülsen<br />
sind. Benötigt wird eine kommunikative<br />
Ethik und Praxis, die die Macht und das<br />
Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt<br />
und bei aller benötigten Meinungsfreiheit<br />
dann Einspruch erhebt,<br />
wenn vergiftende Wörter benutzt werden.<br />
Freiheit ohne moralische Begrenzung<br />
verliert sich in Intoleranz und Rücksichtslosigkeit.<br />
Die Begrenzung eben<br />
solcher destruktiven Aktivitäten macht<br />
jedoch am Ende eine wirklich humane<br />
Gesellschaft aus. Mit Blick auf die „offene<br />
Gesellschaft“ schrieb daher Karl Popper<br />
vor über 70 Jahren: „Im Namen der Toleranz<br />
sollten wir uns das Recht vorbehalten,<br />
die Intoleranten nicht zu tolerieren.“<br />
Die moralische Substanz einer demokratischen<br />
Gesellschaft muss gefühlt,<br />
getragen und tatsächlich gelebt werden.<br />
Und dies wäre die effektivste Waffe gegen<br />
Judenhass: Antisemitische Äußerungen<br />
immer als das zu kritisieren, was sie sind,<br />
ganz gleich, wie schöngefärbt sie erscheinen.<br />
Denn jeder öffentlich artikulierte<br />
Antisemitismus, der nicht mit aller Entschiedenheit<br />
als solcher angesprochen<br />
wird, verstärkt erneut – und rückwärts<br />
gewandt – das alte kulturelle Normalisierungsgefühl.<br />
Folglich würde Antisemitismus<br />
dann wieder habituell. In bestimmten<br />
Kreisen ist dies schon der Fall.<br />
Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden,<br />
sie durchdringt mit Wucht die<br />
Gegenwart – und sie wird unsere Zukunft<br />
weiterhin gestalten, wenn man sich ihr<br />
nicht stellt und sie explizit beim Namen<br />
nennt. Solange Antisemitismen im Namen<br />
von „Kritik“, „Kunstfreiheit“ oder<br />
„politischer Empörung“ akzeptiert werden,<br />
solange wird Antisemitismus bleiben<br />
und sein geistiges Gift ungehindert<br />
verbreiten.<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 5 10.05.22 09:31
HIGHLIGHTS | 01<br />
Entschädigungsfonds<br />
aufgelöst<br />
Ende April wurde der Entschädigungsfonds für Opfer<br />
des Nationalsozialismus nach vollständiger Erfüllung<br />
seiner Aufgaben aufgelöst.<br />
ie Arbeit des Allgemeinen Entschädigungsfonds hat, über die<br />
„Dgeleisteten Entschädigungen und Restitutionen hinaus, Bedeutung<br />
für das historische Selbstverständnis Österreichs. Der Nationalfonds<br />
versteht dies als Vermächtnis, das es weiterzutragen gilt“,<br />
sagte Generalsekretärin Hannah Lessing und bedankte sich bei allen<br />
Mitarbeiter:innen im Fonds.<br />
Eingerichtet wurde der Fonds 2001 auf Grundlage des Washingtoner<br />
Abkommens. Bis zum Antragsfrist 2003 stellten rund 21.000 Personen<br />
als Verfolgte oder als Erb:innen von Verfolgten einen Antrag.<br />
In Summe leistete der Entschädigungsfonds rund 215 Millionen<br />
US-Dollar an rund 25.000 Begünstigte.<br />
Zudem war auch die Schiedsinstanz für Naturalrestitution beim<br />
Entschädigungsfonds eingerichtet. Diese entschied über Anträge<br />
auf Restitution von öffentlichem Eigentum, vor allem über Liegenschaften<br />
und bewegliche Vermögenswerte. Bei der Schiedsinstanz<br />
langten insgesamt 2.307 Anträge ein, von denen 140 die Voraussetzungen<br />
des Entschädigungsfondsgesetzes für eine Naturalrestitution<br />
erfüllten. Sämtliche Empfehlungen der Schiedsinstanz wurden<br />
durch die öffentlichen Eigentümer:innen umgesetzt. Der Gesamtwert<br />
der zur Rückstellung empfohlenen Vermögenswerte beläuft<br />
sich auf geschätzte 48 Millionen Euro, davon wurden 9,8 Millionen<br />
Euro als vergleichbarer Vermögenswert ausbezahlt. red<br />
Shirat<br />
Dvora<br />
„Ve „Ve at at aliet aliet al kulana:<br />
Du Du erhebst dich dich über über allem“<br />
Ausstellung Dvora Barzilai<br />
Vernissage: Do, Do, 9.6.<strong>2022</strong>, 19:00 19:00<br />
Besichtigung: 10. 10. – 11.6. – 11.6. und und<br />
13. 13. – 14.6., – 14.6., jeweils jeweils 12:00 12:00 – 18:00 – 18:00<br />
Die Die Künstlerin Dvora Dvora Barzilai<br />
möchte in ihrer in ihrer Ausstellung<br />
„Shirat Dvora“ Dvora“ speziell die die<br />
weiblichen Figuren der der Thora Thora<br />
und und ihre ihre Stärken hervorheben.<br />
In ihrer In ihrer Kunst Kunst verbindet sie sie das das<br />
Religiöse mit mit dem dem Weltlichen.<br />
Mit Mit „Shirat Dvora“ Dvora“ möchte die die<br />
Künstlerin zeigen, dass dass Frauen<br />
auf auf allen allen Ebenen schon schon immer immer<br />
viel viel bewegt haben haben und und auch auch<br />
heutzutage eine eine tragende Rolle Rolle<br />
spielen.<br />
Kunstraum Nestroyhof,<br />
Nestroyplatz 1, 1020 1, 1020 Wien Wien<br />
6 wına | März Eintritt <strong>2022</strong>frei<br />
frei<br />
Krassimir Kolev<br />
Krassimir Kolev<br />
91<br />
Die<br />
-jährige<br />
Schoah-Überlebende<br />
Vanda Semjonowna<br />
Obiedkowa kam Anfang<br />
April in Mariupol ums<br />
Leben, als sie im Keller<br />
Schutz vor russischen<br />
Angriffen suchte.<br />
Vanda hat sich 1941<br />
als kleines Mädchen<br />
vor den Razzien der<br />
deutschen SS-Soldaten<br />
in Mariupol ebenfalls in<br />
einem Keller versteckt<br />
und überlebte so die<br />
Schoah. Sie war nun die<br />
zweite Überlebende, die<br />
im aktuellen Krieg gegen<br />
die Ukraine starb.<br />
„Sea Knight“:<br />
Unbemannte<br />
Schnellboote<br />
sollen nicht nur die<br />
Küste, sondern auch<br />
Förderplattformen<br />
bewachen.<br />
Schnellboote<br />
ohne Matrosen<br />
Nach unbemannten Flugzeugen<br />
und Panzern entwickelt jetzt ein israelisches<br />
Unternehmen Drohnen<br />
für den Einsatz auf hoher See.<br />
Die Gasfelder im Mittelmeer haben<br />
die Einsatzszenarien der israelischen<br />
Marine verändert. Seither geht es<br />
nicht mehr nur um die Schutz der eigenen<br />
Küsten, sondern auch um jenen<br />
der Förderplattformen – vor militärischen<br />
oder terroristischen Attacken.<br />
Dafür hat einer der wichtigsten israelischen<br />
Rüstungskonzerne im Staatsbesitz,<br />
Rafael Advanced Defense Systems,<br />
kleine unbemannte Kriegsschiffe<br />
entwickelt. Diese sind mit Tages- und<br />
Nachtkameras und zahlreichen Sensoren<br />
ausgestattet und lassen sich von<br />
bemannten Schiffen in der Nähe steuern<br />
oder von Kontrollzentren an Land.<br />
Als Bewaffnung haben sie ein Maschinengewehr<br />
an Bord, sie können aber<br />
auch mit Wasserkanonen Angreifer in<br />
kleinen Booten abwehren. Schließlich<br />
wurden vor Kurzem erstmals von<br />
einer derartigen Meeresdrohne<br />
auch Raketen abgefeuert, bei<br />
Tests vor der Küste von Ashkelon<br />
im Süden Israels. Die<br />
Raketen haben laut einem<br />
Rafael-Sprecher ihre angepeilten<br />
Ziele getroffen.<br />
Über die genaue Zahl der<br />
„Protector“ oder „Sea Knight“ genannten<br />
unbemannten Schnellboote<br />
hält sich die israelische Marine<br />
bedeckt. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur<br />
Reuters zeigt sich auch<br />
die amerikanische Navy an der neuen<br />
israelischen Technologie interessiert.<br />
Es sei bereits angedacht, gemeinsame<br />
Manöver großer US-Kriegsschiffe der 5.<br />
Flotte mit israelischen Meeresdrohnen<br />
durchzuführen. RE<br />
ERRATUM: Auf Seite 20 der WINA-April-Ausgabe ist der Autorin<br />
ein Fehler unterlaufen: Die Chabad-Bewegung ist im Jahre 1775<br />
von Rabbi Schneur Zalman von Liadi gegründet worden. Nach dem<br />
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Zentrum in die USA verlegt.<br />
Erst 1951 übernahm Rabbi Menachem Mendel Schneerson offiziell<br />
die Führung als siebter Chabad-Rebbe. Er machte Chabad zur am weitesten<br />
verbreiteten jüdischen Bewegungen der Welt.<br />
© Rafael<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 6 10.05.22 09:31
Maxim Slutski. Seit<br />
Ende Februar ist der<br />
Immobilienspezialist ausschließlich<br />
mit Flüchtlingshilfe<br />
beschäftigt.<br />
Seit rund fünf Jahren gibt es in Wien<br />
die JRCV, die Jewish Russian Speaking<br />
Community Vienna. Der junge Rabbiner<br />
dieser Gemeinde ist ein Chabad-<br />
Schaliach, sein Name ist Moshe Kolomoitsev.<br />
Er stammt aus einer Stadt, die<br />
vielen erst seit Ausbruch des Angriffskriegs<br />
Russlands gegen die Ukraine ein<br />
Begriff ist: aus Dnipro. In der JRCV ist<br />
nun wie in der gesamten IKG seit Ende<br />
Februar alles einem untergeordnet: der<br />
Hilfe für aus der Ukraine geflüchtete<br />
Juden und Jüdinnen. Maxim Slutski,<br />
selbst in Kiew geboren und Mitbegründer<br />
der JRCV, wurde von IKG-Präsident<br />
Oskar Deutsch gebeten, die Ukraine-Hilfe<br />
der gesamten jüdischen<br />
Gemeinde zu koordinieren. WINA traf<br />
Kolomoitsev und Slutski in den JRCV-<br />
Räumlichkeiten in der Wollzeile.<br />
Text: Alexia Weiss , Fotos: Daniel Shaked<br />
„Die Gemeinde ist<br />
zusammengerückt“<br />
eindruckende Bücherwand. Hier sei eine<br />
jüdisch-russische Bibliothek im Aufbau,<br />
gesponsert von einem Philanthropen, erzählt<br />
Slutski. Wenn sie einmal fertiggestellt<br />
sein wird, wird sie die Namen von<br />
von den Nationalsozialisten ermordeten<br />
Juden tragen. An der Adresse gab es in der<br />
NS-Zeit ein Sammellager. „Alles, was hier<br />
gelernt wird, jedes Gebet wird für diese<br />
Menschen bestimmt sein“, so Slutski.<br />
Der wandelbare Mehrzweckraum ist<br />
einmal Synagoge, dann Bibliothek, aber<br />
An einem langen Tisch sitzen ein<br />
paar Frauen und unterhalten<br />
sich, das Smartphone immer in<br />
Griffweite. Sobald eine Nachricht<br />
eintrifft, gleitet der Blick sofort zum<br />
Telefon. Das Handy kann jederzeit eine<br />
Frohbotschaft oder etwas Niederschmetterndes<br />
verkünden. Die Bima ist zur Seite<br />
geschoben, der moderne Thoraschrein<br />
verschlossen, davor ein paar Sesselreihen.<br />
Um die Ecke stapeln sich weitere Stühle.<br />
An einer Wand entsteht gerade eine beauch<br />
Veranstaltungsraum. Hier wird gemeinsam<br />
gebetet, gelernt, gegessen und<br />
gefeiert, hier gibt es Programm für Kinder,<br />
für Studierende, Schiurim für Männer<br />
und Frauen, und einmal gab es auch<br />
schon eine Chuppa. Nun aber ist hier eine<br />
Art Dependance der IKG entstanden –<br />
eine Kommandozentrale in der Seitenstettengasse,<br />
eine zweite in der Wollzeile.<br />
In Letzterer gibt es ein ständiges Kommen<br />
und Gehen. Die Telefone von Slutski und<br />
Rabbiner Kolomoitsev klingeln in einer<br />
Tour, dann stöpseln sie ihre Earbuds in<br />
die Ohren und switchen ins Russische<br />
– beziehungsweise Ukrainische –, wobei<br />
beide erklären: Die Sprachen unterscheiden<br />
sich nicht massiv voneinander.<br />
Ein bisschen sei es so wie mit dem aschkenasischen<br />
und dem sephardischen Ritus<br />
in einem Gottesdienst.<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 7 10.05.22 09:31
Fuß fassen<br />
Rabbiner Moshe Kolomoitsev.<br />
„Und dann<br />
werden wir wieder Leute<br />
abholen. Wir werden niemanden<br />
im Stich lassen,<br />
wir werden helfen.“<br />
Wobei dieser Ritusunterschied<br />
dann doch<br />
wieder eine Rolle spielt,<br />
denn diese Gemeinde<br />
wurde mit Starthilfe von<br />
Chabad-Rabbiner Jacob<br />
Biderman für jene Juden<br />
und Jüdinnen aus der<br />
ehemaligen Sowjetunion<br />
gegründet, die zwar wie<br />
viele andere in Wien auch<br />
Russisch sprechen, aber<br />
eben Aschkenasen sind<br />
und daher im Sephardischen<br />
Zentrum, der Heimat<br />
der Wiener bucharischen,<br />
aber auch georgischen Juden,<br />
nicht so ganz zu Hause sind. Am Ende<br />
geht es dann eben doch um den kleinen<br />
Unterschied. Einerseits.<br />
„Für die Kinder<br />
ist es besonders<br />
schwer.<br />
Sie sind eines<br />
Tages aufgewacht<br />
und<br />
Bomben fielen.<br />
Damit zurechtzukommen,<br />
ist<br />
nicht leicht.“<br />
Rabbiner Moshe<br />
Kolomoitsev<br />
Andererseits besuchten<br />
die Synagoge in der<br />
Wollzeile bisher vor allem<br />
Ukrainer und Russen,<br />
aber auch Weißrussen<br />
und eben Russisch<br />
Sprechende aus anderen<br />
Regionen der ehemaligen<br />
Sowjetunion. Das tun<br />
sie weiterhin, doch inzwischen<br />
begann dieser<br />
Krieg und brachte eine<br />
Zäsur, jedenfalls von außen.<br />
Von innen allerdings<br />
nicht, wie der Rabbiner<br />
betont: „Menschen<br />
aus Russland kommen hierher, sie unterstützen<br />
uns und fragen, wie sie helfen<br />
können, und sagen: Wir entschuldigen<br />
uns für das, was da jetzt passiert.“<br />
Den 24. Februar <strong>2022</strong> werden Slutski<br />
und Rabbiner Kolomoitsev wohl ihr Leben<br />
lang nicht vergessen. Seit Wochen sei<br />
etwas in der Luft gelegen, und an diesem<br />
Tag sei er sehr früh, eigentlich noch mitten<br />
in der Nacht, aufgewacht, erzählt der<br />
Schaliach. „Um fünf Uhr habe ich meine<br />
Frau aufgeweckt, meine Schwiegermutter<br />
lebte ja in Dnipro.“ Diese habe dann<br />
schon ein Foto vom Brand beim Flughafen<br />
geschickt. „Das ist hart. Auch die Bilder<br />
im Fernsehen waren ein Schock. Man<br />
hat Familie dort, Freunde, Bekannte.“<br />
In Dnipro hatte er vor seiner Übersiedlung<br />
nach Wien als Rabbiner vor allem<br />
mit Studierenden gearbeitet, „es kennen<br />
mich einfach viele Leute.“ Er begann, enge<br />
Freunde anzurufen, um Hilfe anzubieten,<br />
zehn bis 15 Menschen seien dies gewesen.<br />
Sie erzählten anderen von der Möglichkeit,<br />
nach Wien zu flüchten, und so hörte<br />
das Telefon an diesem Tag nicht mehr auf<br />
zu klingeln. Slutski, dessen Frau ebenfalls<br />
aus Dnipro stammt, erging es ähnlich. Die<br />
beiden lotsten Flüchtende nach Wien, organisierten<br />
erste Wohnungen, Mahlzeiten,<br />
kümmerten sich um einen Arzt, als<br />
ein Kind erkrankte.<br />
Beiden sei aber nach einigen Tagen<br />
auch klar gewesen: Sie stoßen an die<br />
Grenzen des Machbaren. „Ich kann für<br />
eine Handvoll Freunde eine Woche eine<br />
Airbnb-Wohnung bezahlen, aber mehr<br />
geht nicht“, erzählt der Rabbiner. Inzwischen<br />
sei auch die Ukraine-Hilfe der IKG<br />
angelaufen, und der IKG-Präsident habe<br />
die Kräfte bündeln wollen und bei Slutski<br />
8 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 8 10.05.22 09:31
Unterstützung der IKG<br />
angefragt, ob er die Koordination<br />
übernehmen<br />
wolle. „Ich habe gesagt,<br />
dass ich da zuerst meine<br />
Frau fragen muss.“ Sie hat<br />
offensichtlich ja gesagt,<br />
denn seit Ende Februar<br />
ist Slutski mit nichts anderem<br />
mehr als Flüchtlingshilfe<br />
beschäftigt.<br />
Das, womit er sein Leben<br />
verdient, Geschäfte<br />
– vor allem im Immobilienbereich,<br />
aber auch anderer<br />
Art – einzufädeln<br />
und über die Bühne zu<br />
bringen, hat er hintangestellt.<br />
Nun können alle<br />
Menschen, die nach Wien<br />
kommen wollen, eingeladen<br />
werden.<br />
Neuankömmlinge. Anfang April, als WINA<br />
die beiden besuchte, waren bereits 750<br />
Juden und Jüdinnen aus der Ukraine<br />
in Wien angekommen und vorerst geblieben.<br />
„In den ersten Wochen schickten<br />
wir Busse, die die Menschen von der<br />
Grenze abholten“, berichtet Slutski. Andere<br />
kamen mit ihren Autos. Alle wurden<br />
zunächst in Hotels untergebracht, nach<br />
und nach wurden für sie Wohnungen<br />
gesucht. Das Gros war bis Pessach in die<br />
vorläufigen eigenen vier Wände übersiedelt.<br />
ESRA half bei der Registrierung und<br />
stützte dort, wo psychologische Stütze nötig<br />
war – vor allem bei den Kindern. „Für<br />
sie ist es besonders schwer“, sagt der Rabbiner.<br />
„Sie sind eines Tages aufgewacht<br />
und Bomben fielen. Damit zurechtzukommen,<br />
ist nicht leicht.“<br />
Für die Kinder wurden am Lauder-<br />
Chabad-Campus und an der Zwi-Perez-<br />
Chajes-Schule zudem Klassen eröffnet.<br />
Um alle Kinder unterrichten zu können,<br />
wurden inzwischen bereits Container<br />
aufgestellt, der Unterricht erfolgt im<br />
Team von ukrainischen Lehrern und Lehrerinnen,<br />
die ebenfalls geflüchtet sind,<br />
und ihren österreichischen Kollegen. Das<br />
JBBZ begann sich anzusehen, wer über<br />
welche Qualifikation verfügt.<br />
Aber nicht nur die Einrichtungen der<br />
IKG packten an, berichtet Slutski. „Einfach<br />
alle helfen, vom Beit Halevi bis zur<br />
Machsike Hadass, vom VBJ bis zur georgischen<br />
Gemeinde. Es wurden Hotels<br />
zur Verfügung gestellt, es wurde gespendet,<br />
viele Freiwillige sind im Einsatz. Der<br />
Zusammenhalt in der Wiener jüdischen<br />
Nicht nur die<br />
IKG-Einrichtungen<br />
– „Einfach<br />
alle helfen, vom<br />
Beit Halevi bis<br />
zur Machsike<br />
Hadass, vom<br />
VBJ bis zur georgischen<br />
Gemeinde.“<br />
Maxim Slutski, Koordinator<br />
der Ukraine-<br />
Hilfe in der IKG<br />
Gemeinde ist enorm. Die<br />
Gemeinde ist zusammengerückt“,<br />
streut er allen,<br />
die sich hier engagieren,<br />
Rosen. Allen – es seien einfach<br />
zu viele, um sie aufzuzählen,<br />
Einzelpersonen<br />
wie auch Organisationen.<br />
„Kol hakavod, was hier auf<br />
die Beine gestellt wird.“<br />
Das betont auch der<br />
Rabbiner. „Bevor dieser<br />
Krieg begonnen hat, haben<br />
wir alle ein bisschen<br />
in Parallelwelten gelebt“,<br />
meint er. „Aber jetzt sind<br />
wir einander sehr nahe.<br />
Die Flüchtlingshilfe ist<br />
ein trauriger Anlass. Auf<br />
der anderen Seite ist es<br />
ein Wunder, was uns allen gemeinsam da<br />
gelungen ist.“ Slutski, dessen Mutter in<br />
Deutschland lebt und sich dort ebenfalls<br />
für Geflüchtete aus der Ukraine einsetzt,<br />
sagt, was die Wiener Gemeinde hier vorzeige,<br />
sei beispiellos in Europa. Keine andere<br />
jüdische Gemeinde unterstütze die<br />
Ankommenden so umfassend, wie dies in<br />
Wien passiere.<br />
Rund 600 Mitglieder zählte die JRCV<br />
bisher – viele seien bisher keine Mitglieder<br />
der IKG gewesen. Auch Slutski selbst<br />
nicht, obwohl er hier vor vielen Jahren die<br />
Jugendabteilung der Kultusgemeinde begründete,<br />
dann aber eine andere berufliche<br />
Laufbahn einschlug und zwischenzeitlich<br />
mit seiner zweiten Frau und den<br />
gemeinsamen vier Kindern auch in London<br />
lebte. Nun sind er und seine Familie<br />
aber wieder in die IKG eingetreten, betont<br />
Slutski, und viele andere JRCV-Mitglieder<br />
würden das auch tun. „Was Oskar<br />
Deutsch hier an Hilfe ermöglicht hat, ist<br />
großartig. Wir sind ja auch aus der Ukraine.<br />
Das werden wir nie vergessen. Wenn<br />
wir hier nun die Gemeinde unterstützen<br />
können, dann machen wir das.“<br />
Sollten einige der Neuankömmlinge<br />
nun beschließen, in Wien zu bleiben,<br />
dann könnte die JRVC massiv wachsen. Je<br />
länger der Krieg andauere, je mehr Menschen<br />
würden bleiben, ist Slutski überzeugt.<br />
Einige wollten ursprünglich nur<br />
ein, zwei Nächte bleiben und dann weiterreisen,<br />
erzählt der Rabbiner. Doch die<br />
Unterstützung hier habe sie bewogen zu<br />
bleiben.<br />
Viele der Geflüchteten seien gut ausgebildet.<br />
Sobald sie hier beruflich Fuß fassen<br />
können, werden sie wohl nicht mehr<br />
in die Ukraine zurückgehen, vor allem<br />
dann nicht, wenn ihr Heimatort inzwischen<br />
zerbombt wurde.<br />
Anfang April war der Zustrom ukrainischer<br />
Juden etwas abgeebbt, fünf bis<br />
zehn Anrufe erhalte man pro Tag, nicht<br />
alle würden sich schließlich entscheiden,<br />
nach Wien zu kommen, erzählt Rabbiner<br />
Kolomoitsev. Die Frage sei, ob Russland<br />
auch Dnipro so ins Visier nehme wie Mariupol<br />
oder Charkiw. In Dnipro gibt es<br />
eine große jüdische Gemeinde mit mehreren<br />
zehntausend Mitgliedern. Dann erwarteten<br />
Slutski und der Rabbiner erneut<br />
einen großen Zustrom nach Wien. „Und<br />
dann werden wir wieder Leute abholen.<br />
Wir werden niemanden im Stich lassen,<br />
wir werden helfen.“ Ob dieser Fall zu Erscheinen<br />
dieser Ausgabe bereits eingetreten<br />
sein wird, war zu Redaktionsschluss<br />
nicht absehbar, ebenso wenig, ob der<br />
Krieg inzwischen ein Ende gefunden hat.<br />
Zur Normalität wird man in der Wollzeile<br />
dennoch nicht übergegangen sein,<br />
auch wenn der Rabbiner einräumt, dass<br />
dem Schock in den ersten Kriegstagen ein<br />
merkwürdiger Zustand der Gewöhnung<br />
gefolgt ist. „Man schaut die Nachrichten<br />
an, man sieht, was wieder zerstört wurde,<br />
es ist traurig, aber es ist so, man kann es<br />
nicht ändern. Das Einzige, was man tun<br />
kann, ist zu helfen.“<br />
Am langen Tisch nebenan essen inzwischen<br />
zwei der Frauen einen Teller Suppe.<br />
Ein Handwerker kommt, um von Slutski<br />
Geld zu holen, er muss Küchenmöbel<br />
kaufen und dann zusammenbauen,<br />
einige der Wohnungen, die von Tmicha,<br />
dem Hilfsverein der IKG, für Geflüchtete<br />
angemietet wurden, sind nicht möbliert.<br />
Schon haben die beiden den nächsten<br />
Termin, das Interview ist zu Ende geführt,<br />
beide Herren wurden fotografiert.<br />
Pessach steht zu diesem Zeitpunkt vor<br />
der Tür, man will einen Seder für Neuankömmlinge<br />
organisieren. Eine Feier hat<br />
man auch schon zu Purim organisiert, erzählt<br />
der Rabbiner, und ja, manche hätten<br />
in Frage gestellt, ob es passend sei,<br />
angesichts des Krieges ein Fest zu begehen,<br />
aber andererseits habe es vor allem<br />
den Kindern kurze Momente der Unbeschwertheit<br />
beschert, ein kleines Stückchen<br />
Normalität. Beim Verlassen des<br />
Zentrums der JRCV fällt eine Frau mittleren<br />
Alters auf. Etwas verloren steht sie<br />
im Eingangsbereich, sie schaut zu Boden<br />
und weint. Manche Wunden werden noch<br />
lange brauchen, um zu heilen, so sie dies<br />
jemals tun.<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 9 10.05.22 09:31
Krieg in der Ukraine<br />
Schauplatz ist das Theater Drachengasse<br />
im ersten Bezirk am ersten April-Samstag:<br />
Kaum ist die Musik verklungen,<br />
der Applaus verebbt, schultert<br />
die junge Frau den klobigen Koffer mit ihrem<br />
Saxofon und läuft in den Regen hinaus.<br />
Anna hat noch einen weiteren musikalischen<br />
Auftritt an diesem Abend, und<br />
sie muss pünktlich sein: Beide Gigs hat sie<br />
spontan durch persönliche Empfehlungen<br />
bekommen, und sie darf niemanden enttäuschen.<br />
Menschlicher Beistand ist jetzt ihr<br />
wertvollstes Gut: Anna Kypiatkova erreichte<br />
das sichere Wien erst vor einigen Wochen,<br />
nach einer überstürzten und gefährlichen<br />
Flucht aus Kiew.<br />
„Ich spiele mehrere Instrumente, aber<br />
als es galt, schnell das Wichtigste zu packen,<br />
entschied ich mich für das Saxofon.“<br />
Ein bemühtes Lächeln huscht über das<br />
zarte Gesicht der 29-Jährigen, als sie traurig<br />
anmerkt, dass sie nicht nur ihre Wohnung<br />
samt Inhalt, sondern auch ihren älteren<br />
Bruder und die gesellige Katze verlassen<br />
musste. „Am 19. Februar habe ich noch mit<br />
Freunden meinen Geburtstag gefeiert, ein<br />
paar Tage später wurde ich vom Detonationslärm<br />
über der Stadt frühmorgens aufgeschreckt.“<br />
Auf dem I-Phone fand sie nur<br />
besorgte Fragen und die schlimme Nachricht,<br />
dass Kiew bombardiert wird. „Ich<br />
lief verwirrt in der Wohnung herum, dann<br />
schnappte ich meinen Laptop, das Saxofon,<br />
den einzigen Goldring, den ich besitze,<br />
meine Katze und den Reisepass. Ich fuhr<br />
zum Bahnhof, um einen Zug nach Lemberg<br />
zu erwischen.“ Das aggressive Gedränge<br />
auf dem Bahnhof war so unerträglich, dass<br />
Anna bald kapitulierte.<br />
Dann ging alles sehr schnell: Annas Bruder<br />
Nikolaj setzte sich im 600 Kilometer südlich<br />
von Kiew entfernten Mykolajiw ins Auto<br />
und raste zur Schwester in die Hauptstadt.<br />
„Nikolaj wollte mich mit dem Wagen an die<br />
polnische Grenze bringen, denn Flüge gab<br />
es nach dem 24. Februar bald keine mehr“,<br />
berichtet die Musikerin. Kurz vor der Abfahrt<br />
rannte ihnen eine Frau mit Tochter<br />
entgegen und bettelte darum, mitfahren zu<br />
dürfen. Die Grenze zu Polen konnten die vier<br />
verschreckten Menschen nicht erreichen,<br />
weil sie auf den Ausfahrtsstraßen ständig<br />
unter Artilleriebeschuss kamen. „Wir mussten<br />
ständig wenden und nach Auswegen suchen.<br />
Dann schafften wir es endlich in Richtung<br />
Republik Moldau zum Grenzübergang<br />
Mamalyha.“<br />
Was Hilfsbereitschaft in diesen Tagen bedeutete,<br />
erfuhr Anna bereits an der Grenze:<br />
„Einzelne Frauen sprachen uns – wildfremde<br />
Anna mit<br />
dem Saxofon<br />
Fünf Tage nach ihrem 29. Geburtstag fielen<br />
Raketen auf Kiew. Nach einer gefährlichen<br />
Flucht möchte die junge Musikerin Anna<br />
Kypiatkova in Wien durchstarten.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
© Reinhard Engel; Privat<br />
10 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 10 10.05.22 09:31
Hoffnung auf Neuanfang<br />
© Reinhard Engel; Privat<br />
Menschen – an, luden uns in ihre<br />
Wohnung ein, wo sie uns mit allem<br />
versorgten. Es war unfassbar“, erinnert<br />
sich Anna. Der Ehemann der<br />
Quartiergeberin brachte sie dann bis<br />
zur rumänischen Grenze. „Dort traf<br />
ich auf einen Armenier, der mir auch<br />
zu essen gab. Er half mir, ein Bussticket<br />
nach Bukarest zu kaufen.“ Dort<br />
kam Anna total erschöpft nach einer<br />
15-stündigen Fahrt an.<br />
Ihr Zielort war Wien, denn da hat sie<br />
Freunde, unter anderen einen iranischen<br />
Musiker, der bereits zehn<br />
Jahre in Wien lebt und den sie von<br />
ihren musikalischen Tourneen<br />
kannte. Denn vor „normalen“ Reisen<br />
und professionellen Abenteuern<br />
in Friedenszeiten war Anna nie<br />
zurückgeschreckt – im Gegenteil, sie<br />
musizierte mit unterschiedlichen<br />
Formationen nicht nur in China,<br />
sondern auch in Saudi-Arabien. „Ich<br />
hatte sowohl ein israelisches Studenten-<br />
wie auch ein Arbeitsvisum im Reisepass,<br />
aber die Saudis haben nicht nachgefragt“,<br />
wundert sich die Tochter einer<br />
Ingenieurin und eines Ingenieur, die 1993<br />
in Mikolajiw in der Nähe von Odessa geboren<br />
wurde. Bereits mit sechs Jahren bekam<br />
Anna Gesangsunterricht, da die Mutter ihr<br />
gutes Gehör entdeckt hatte. „Ich war sehr<br />
schüchtern und habe eher leise gesungen,<br />
deshalb empfahl meine Lehrerin, dass ich<br />
Flöte lernen sollte, um meine Lungen zu<br />
stärken. Die Flöte lag mir nicht so sehr, ich<br />
entschied mich für das Saxophon, das war<br />
cooler und jazzy!“<br />
Das permanente Üben mit elf Jahren fiel<br />
Anna schwer, denn sie wollte lieber mit ihren<br />
Freundinnen Spaß haben. Aber mit 15<br />
kam die Wende: Ein außergewöhnlicher<br />
Lehrer und Musiker an der Musikschule<br />
in Mikolajiw begeisterte sie so sehr, dass<br />
sie nicht nur plötzlich fleißig wurde, sondern<br />
mit 17 Jahren befand, dass ihre Geburtsstadt<br />
für eine Karriere als Musikerin<br />
zu klein war, und so zog sie nach Kiew,<br />
um dort das Musikkonservatorium zu besuchen.<br />
„Ich stand um 6 Uhr früh auf und<br />
probte täglich fast sieben Stunden – es hat<br />
sich gelohnt“, weiß Anna. Gleich nach dem<br />
Studienabschluss engagierte man sie als<br />
Teil einer 20-köpfigen Künstlergruppe für<br />
eine zweimonatige Tournee durch sechs<br />
deutsche Städte, darunter Bremen, Hannover<br />
und München.<br />
„Das war eine wunderbare Erfahrung,<br />
und bald darauf folgten Auftritte in Indien.<br />
Anna Kypiatkova<br />
musste aus Kiew flüchten<br />
und fand in Wien Schutz<br />
und einen musikalischen<br />
Neubeginn.<br />
Dort engagierte man uns<br />
für Hochzeiten und Feste<br />
à la Bollywood“, lacht die<br />
Brünette, die sich manchmal<br />
die Haare auch feuerrot<br />
färbt. Die Indien-Tournee<br />
dauerte zwei Monate,<br />
mit dem Honorar konnte<br />
sie sich danach in Kiew eine Wohnung kaufen.<br />
„Es hält mich nicht lange an einem Ort,<br />
und so unterschrieb ich einen dreimonatigen<br />
Kontrakt für China.“ Das reine Frauenorchester<br />
spielte 2016 klassische Musik<br />
für chinesische Ohren. Danach formierte<br />
sich eine fünfköpfige weibliche Blasinstrumentengruppe,<br />
die in der Folge für eine<br />
Kreuzfahrt von St. Petersburg bis nach Miami<br />
und zu den karibischen Inseln führte.<br />
An dieser regen Auslandstätigkeit scheiterte<br />
auch ihre kurze Ehe, weil sie beide als<br />
Musiker ständig separat unterwegs waren.<br />
„Ich kann mich nicht erinnern, dass<br />
wir sehr religiös waren, aber mit 12 gingen<br />
ich und mein Bruder in die jüdische<br />
Schule und zu den Aktivitäten von Chessed<br />
Fund. Meine Großmutter war Mitglied<br />
„Ich lief verwirrt<br />
in der Wohnung<br />
herum, dann<br />
schnappte ich<br />
meinen Laptop,<br />
das Saxofon,<br />
den einzigen<br />
Goldring, den ich<br />
besitze, meine<br />
Katze und den<br />
Reisepass.“<br />
der jüdischen Gemeinde, wir gingen<br />
manchmal in die Synagoge.“<br />
Nach der <strong>Mai</strong>dain-Revolution 2014<br />
machten Großmutter, Mutter und<br />
der jüngere Bruder Alija nach Israel.<br />
Annas Vater war gestorben, als sie<br />
elf Jahre alt war. „2020 war ich sieben<br />
Monate im Oranim Academic<br />
College* in der Nähe von Haifa und<br />
habe dort Ivrith und jüdische Fächer<br />
studiert, aber ich wollte, ehrlich gesagt,<br />
in Europa leben und arbeiten“,<br />
erzählt sie. Verursacht durch<br />
die kulturlose Pandemie war Anna<br />
kurzfristig auch Geschäftsfrau: Mit<br />
ihrer Freundin und Geigerin eröffneten<br />
sie einen italienischen Eissalon<br />
in Kiew: „Wir mussten von etwas<br />
leben!“<br />
Kurz vor ihrem 29. Geburtstag<br />
kehrte Anna im Februar <strong>2022</strong><br />
von der Tournee aus Jedda nach<br />
Kiew zurück. „Wir waren zwei Monate<br />
dort, haben sogar für den Formel-1-Zirkus<br />
gespielt“,<br />
lacht sie. Als sie fünf<br />
Tage vor Kriegsbeginn<br />
mit Freunden feierte,<br />
konnte sie nicht ahnen,<br />
dass sie zwölf Tage später<br />
in Wien als Flüchtling<br />
landen würde. Ein<br />
Bekannter aus Kiew<br />
gab ihr die Kontaktdaten<br />
zur IKG in Wien.<br />
„Gleich hat mich Rabbi<br />
Moshe Kalamoizev für<br />
Schabbat eingeladen,<br />
dann habe ich sogar<br />
zwei Wochen für ihn arbeiten<br />
dürfen. Ich habe<br />
die Listen der anderen<br />
Geflüchteten zusammengestellt. Die Unterstützung<br />
und Hilfsbereitschaft war einfach<br />
überwältigend“, berichtet die Musikerin,<br />
die hier gerne Fuß fassen möchte.<br />
Ein englischsprachiges Ehepaar aus der<br />
jüdischen Gemeinde nahm Anna einige<br />
Tage bei sich auf, bis die IKG eine kleine<br />
Wohnung für sie zur Verfügung stellen<br />
konnte. Das Einzige, was noch zu ihrem<br />
neuen Glück fehlte, war das Saxofonspielen.<br />
Aber auch da traf sie auf offene Ohren<br />
und Herzen: Der Komponist und Chorleiter<br />
Roman Grinberg baute sie ebenso spontan<br />
in sein MuTh-Programm als Special<br />
Guest ein wie der Pianist und Musiker Belush<br />
Korenyi für die Auftrittsserie im Theater<br />
in der Drachengasse.<br />
* Oranim ist eine Pädagogische Hochschule im Norden Israels. Das College wurde<br />
1951 von der Vereinigten Kibbuz-Bewegung gegründet.<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 11 10.05.22 09:31
Jugend-Aufzeichnungen<br />
INTERVIEW MIT ARYE SHARUZ SHALICAR<br />
Wo der gelungene<br />
Ausstieg zum klaren<br />
Aufstieg wurde<br />
Vom Gang-Mitglied in Berlin-Wedding in das<br />
Machtzentrum der israelischen Politik schaffte<br />
es der deutsch-persisch-israelische Politologe<br />
und Schriftsteller. Wie das geht, erklärt er bisher<br />
in drei Büchern. Interview: Marta S. Halpert.<br />
WINA: „Er war ein König der Kleingangster in Berlin, damals<br />
in seiner Weddinger Jugend: Dealer, Sprayer, Messerstecher.<br />
Und er war Jude, angefeindet, bedroht. Arye<br />
Sharuz Shalicar suchte nach seiner Identität – und hat sie<br />
gefunden: Er ging nach Israel“, schreibt der Berliner Tagesspiegel<br />
2014 in einem Porträt über Sie. Was in der Beschreibung<br />
noch fehlt, ist Ihr Studium der Politologie, des Judaismus<br />
und des Islam – und Ihre Karriere als Sprecher der<br />
israelischen Armee sowie die Tatsache, dass Sie heute als<br />
Beamter für sicherheitspolitische Fragen im Kabinett von<br />
Regierungschef Bennet sitzen. Erst im Jahr 2010 – also neun<br />
Jahre nach der Alija – ist ihr erstes Buch* über Ihre Jugendzeit<br />
erschienen. Warum hat das solange gedauert?<br />
Arye Sharuz Shalicar: Es war Zufall, dass es überhaupt<br />
dazu gekommen ist. Bereits im Jahr 2000<br />
reiste ich nach Frankreich, Israel und nach Los Angeles<br />
und stellte mir dabei immer wieder die Frage,<br />
was ich aus meinem Leben machen möchte. Schon<br />
damals schrieb ich meine Erlebnisse und Gedanken<br />
auf lose Blätter. Als ich mich für Israel entschieden<br />
hatte, waren es knapp 300 Seiten. Diese Notizen waren<br />
eigentlich für meine Kinder gedacht: Auf ihre<br />
Fragen, wie „Papa, warum bist du aus Berlin weggezogen“,<br />
wollte ich mit diesen Aufzeichnungen antworten.<br />
Doch es kam anders?<br />
I Ja, denn ich habe damals für den ARD-Korrespondenten<br />
Richard C. Schneider in Tel Aviv gearbeitet,<br />
und in einem privaten Gespräch hat er mich befragt<br />
und danach gedrängt, das niederzuschreiben. Als ich<br />
meinte, das wäre doch alles sehr persönlich, großteils<br />
auch unangenehm, wegen der Drogen, wegen<br />
des Zustechens, lautete seine Antwort: „Aber das ist<br />
doch die Realität!“ Er hat mich sofort zu seinem Verleger<br />
in München vermittelt.<br />
Im September 2021 kam die Verfilmung Ihres ersten Buches<br />
ins deutsche Kino. Jüngst konnte man Ein nasser Hund ist<br />
Arye Sharuz<br />
Shalicar beim<br />
WINA-Interview in<br />
Wien.<br />
* Ein nasser Hund ist<br />
besser als ein trockener<br />
Jude. Die Gesychichte<br />
eines Deutsch-Iraners, der<br />
Israeli wurde. dtv 2010.<br />
besser als ein trockener Jude beim Jüdischen Filmfestival<br />
Wien sehen. Haben Sie diese Offenheit je bereut?<br />
I Nein, weil ich gemerkt habe, wie dieses Outing –<br />
das Buch, der Film – mir hilft, meine Vergangenheit<br />
zu bearbeiten.<br />
Sie sprechen noch immer in der Gegenwart, „hilft“. Sie wurden<br />
1977 in Göttingen geboren, Ihre jüdischen Eltern waren<br />
aus dem Iran geflohen. Sie sind 45 Jahre alt, verheiratet,<br />
haben zwei Kinder. Aber auch die Niederschrift hat Ihnen<br />
nicht geholfen, das Jugendtrauma in den Griff zu kriegen?<br />
I Das Schreiben hilft jedem bei der Traumabewältigung,<br />
der das als Instrument wählt. Mir hat das Schreiben<br />
sehr geholfen, und es hilft mir bis heute: Mein<br />
neuestes Buch, das im Herbst <strong>2022</strong> erscheint, heißt<br />
Shalom Habibi, und auch darin geht es um die Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft, denn es handelt<br />
vom muslimisch-jüdischen Verhältnis, was ich<br />
darüber weiß und was ich tagtäglich in meiner Arbeit<br />
wahrnehme. Da kommen meine Erfahrungen in<br />
Deutschland ebenso vor wie jene mit meinen muslimischen<br />
Freunden in der israelischen Armee und<br />
dank der beruflichen Reisen in der Region.<br />
Ihr zweites Buch Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden<br />
heute zu Deutschland? haben Sie 2018 veröffentlicht.<br />
Was war hier der Auslöser?<br />
© Marta S. Halpert<br />
12 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 12 10.05.22 09:31
Den Spiegel vorhalten<br />
© Marta S. Halpert<br />
ARYE SHARUZ SHALICAR,<br />
geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-persischisraelischer<br />
Politologe und Schriftsteller. Als Jugendlicher<br />
gründete er im Berliner Wedding Deutschlands<br />
berüchtigtste Graffiti-Gang Berlin Crime. Er<br />
diente in der Bundeswehr und wanderte 2001 nach<br />
Israel aus. An der Hebräischen Universität Jerusalem<br />
studierte er Nahostgeschichte und Politik und<br />
schloss 2006 (BA) und 2009 (MA) mit Auszeichnung<br />
ab. Danach diente er als offizieller Sprecher<br />
der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Seit 2017<br />
ist er für die israelische Regierung tätig.<br />
I 70 Jahre nach dem Holocaust frage ich mich, ob Juden<br />
heute zu Deutschland gehören und wie willkommen<br />
sie wirklich sind. Drei Generationen nach der<br />
Shoah frage ich mich, ob Deutschland sich in seiner<br />
Haltung den Juden gegenüber wirklich grundlegend<br />
verändert hat. Nur das Motto „Nie wieder“ zu predigen,<br />
reicht nicht mehr. Ich habe für dieses Buch<br />
fast sieben Jahre recherchiert, mit deutschen Spitzenpolitikern,<br />
NGOs, Journalisten, Polizisten, Bundeswehrsoldaten,<br />
Akademikern und christliche Pilgergruppen<br />
gesprochen: Es wird einem mit der Zeit<br />
übel, weil die Menschen teilweise mit ganz dummen<br />
und falschen Narrativen daherkommen. Verschwörungstheorien,<br />
die nun während der Corona-Pandemie<br />
hochgekommen sind, hörte ich schon Jahre<br />
früher. Daher habe ich mich in diesem Buch einiges<br />
getraut, denn ich habe es nicht für Israelis oder<br />
Juden, sondern nur für die Deutschen geschrieben,<br />
denen ich damit den Spiegel vorhalte.<br />
Welche Ratschläge findet man in Ihrem dritten Buch 100<br />
Weisheiten, um das Leben zu meistern: Selbst wenn du aus<br />
dem Ghetto stammst?<br />
I Seit meiner Autobiografie wurde ich bei vielen Gelegenheiten,<br />
ob bei Lesereisen oder als Sprecher der<br />
israelischen Armee, immer wieder gefragt: Wie kann<br />
es sein, dass du es geschafft hast, da rauszukommen<br />
und ein normales Leben zu führen? Da diese Fragen<br />
eigentlich nie aufhörten, wollte ich jungen Männern<br />
aus prekären Milieus Perspektiven geben und Wege<br />
in ein geregeltes Leben aufzeigen. Weil ich Jude bin,<br />
werde ich von Muslimen wahrscheinlich nicht gerne<br />
gelesen. Andererseits glaube ich, dass meine „Street<br />
Credibility“ wirkt: Wenn sie merken, dass ich weiß,<br />
wie sie ticken, dann lassen sie sich darauf ein.<br />
Sie waren im Sudan, Oman, in Ägypten, aber auch in<br />
Ländern, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel<br />
haben. Haben Sie für diese Aufgaben eine Geheimdienstausbildung?<br />
I Nein, ich bin Beamter ohne politische Zugehörigkeit<br />
oder Abhängigkeit. Als Israel Katz 2019 Außenminister<br />
wurde, reiste ich mit ihm in den Oman.<br />
So habe ich einfach das Glück, bestimmte Dinge zu<br />
sehen.<br />
Katz war von 2015 bis 2020 auch Minister für die Nachrichtendienste?<br />
I Ich arbeite seit 2017 als Abteilungsleiter für „Internationale<br />
Beziehungen“ im Büro des Premierministers<br />
in Jerusalem. Mein direkter Vorgesetzter ist<br />
jetzt auch der Minister für die Nachrichtendienste,<br />
Elazar Stern. Meine Aufgabe ist die Sicherheitspolitik:<br />
Wenn Israel Kontakte mit den Vereinigten Arabischen<br />
Emiraten aufnimmt, muss man im Vorfeld<br />
einiges vorbereiten. Ist der Frieden mit einzelnen<br />
arabischen Ländern noch sehr neu, muss man<br />
schauen, auf welchen Gebieten man sich näher kommen<br />
kann.<br />
Sie haben als Major – genauso wie Minister Stern – die israelische<br />
Armee verlassen. Davor waren Sie acht Jahre einer<br />
der vier offiziellen Sprecher der israelischen Armee und<br />
sind jetzt Militärsprecher in Reserve. Was bedeutet das<br />
konkret?<br />
I Zum Beispiel, dass ich während des Israel-Gaza-<br />
Konfliktes 2021 mit der Hamas als Sprecher der israelischen<br />
Streitkräfte wieder reaktiviert worden bin.<br />
Wenn morgen – G-tt behüte – Krieg ist, bin ich in<br />
Uniform.<br />
„Verschwörungstheorien,<br />
die nun<br />
während der<br />
Corona-Pandemie<br />
hochgekommen<br />
sind, hörte ich<br />
schon Jahre<br />
früher.“ Arye<br />
Sharuz Shalicar<br />
Tif vi di<br />
Nakht<br />
Konzert mit Ethel Merhaut<br />
23.05.<strong>2022</strong>, 20:30<br />
Porgy & Bess<br />
Belush Korenyi | Klavier<br />
Chris Kronreif | Klarinette und Saxophon<br />
Ilse Riedler | Saxophon<br />
Marc Osterer | Trompete<br />
Benjy Fox-Rosen | Kontrabass und Gesang<br />
Maria Petrova | Schlagzeug<br />
Gemeinsam mit ihrem Ensemble<br />
lustwandelt die Sängerin<br />
virtuos zwischen Chanson, Jazz<br />
und Swing. Sie entführt das<br />
Publikum in die goldene Ära der<br />
Film- und Unterhaltungsmusik.<br />
Mato Johannik<br />
Tickets: wına-magazin.at<br />
www.porgy.at 13<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 13 10.05.22 09:31
Ausbau erneuerbarer Energien<br />
INTERVIEW MIT EVELINE STEINBERGER-KERN<br />
„Energiemarkt: eine Vielzahl von<br />
neuen Playern“Die österreichische Unternehmerin Eveline<br />
Steinberger-Kern, die seit acht Jahren in<br />
Israel in der Technologiebranche aktiv ist, im Interview<br />
mit Reinhard Engel über die Unterschiede<br />
zwischen Österreich und Israel, über Abhängigkeiten<br />
von Energielieferanten und über einschlägige<br />
Innovationen.<br />
WINA: Österreich und Israel sind von der Bevölkerung her vergleichbare<br />
Länder, und doch unterscheiden sich ihre Energiesysteme<br />
deutlich, bei den Verbrauchern, den Erzeugern und<br />
auch bei den Netzen. Beginnen wir bei den Verbrauchern.<br />
Steinberger-Kern: Von der Bevölkerung her liegen<br />
Österreich und Israel etwa gleich auf, was die Fläche<br />
betrifft, entspricht jene Israels etwa der von Niederösterreich.<br />
Tatsächlich ist aber die Situation, was<br />
die Verbraucher angeht, in Israel eine etwas andere.<br />
Wir haben dort im Vergleich zu Österreich, aber auch<br />
zu anderen europäischen Ländern oder zu den USA<br />
deutlich weniger Verbrauch durch die Industrie. Es<br />
gibt einfach weniger Schwerindustrie im Land.<br />
Und die geografische Lage?<br />
Eine wesentliche Rolle spielt natürlich das Klima. Im<br />
Sommer hat es immer wieder weit über 40 Grad, die<br />
Kühlung von Kraftwerken, Büros oder Wohnungen<br />
benötigt extrem viel Energie. Und es gibt eine andere<br />
Bürokultur, es wird sehr stark klimatisiert. Vor<br />
den großen Gasfunden im Mittelmeer und dem Ausbau<br />
neuer Gaskraftwerke hat es an sehr heißen Tagen<br />
schon Engpässe beim Strom gegeben, einzelne<br />
Verbraucher mussten ihren Energieverbrauch reduzieren.<br />
Wie vergleicht sich der Energieverbrauch insgesamt in beiden<br />
Ländern?<br />
Der Stromverbrauch in Israel ist in den letzten 20 Jahren<br />
stark gestiegen und wird auch weiter steigen. Pro<br />
Kopf ist der Verbrauch durchaus mit Österreich vergleichbar.<br />
Eveline Steinberger-<br />
Kern hat seit 2014 vier<br />
eigene Unternehmen<br />
im Bereich der digitalen<br />
Services in Wien und Tel<br />
Aviv gegründet.<br />
Wie unterscheiden sich die Energiequellen der beiden Länder<br />
– von Importen von Kohle, Öl und Gas bis zur eigenen<br />
Stromerzeugung und der eigenen Förderung von Kohlenwasserstoffen?<br />
Österreich ist ja etwa auf der Gas-Seite sehr<br />
von russischen Lieferungen abhängig, hat Israel hier besser<br />
diversifiziert?<br />
Zunächst muss man zu Österreich sagen, dass wir<br />
trotz der vielen Wasserkraft auch beim Strom ein Importland<br />
sind, etwa zehn Prozent unseres Strombedarfs<br />
können wir derzeit nicht selbst decken. Aber<br />
insgesamt ist Österreich bei den erneuerbaren Energiequellen<br />
bei der Stromerzeugung sehr weit, diese<br />
machten zuletzt etwa 78 Prozent aus, der EU-Schnitt<br />
liegt nur bei knapp über 30 Prozent. Die Abhängigkeiten<br />
beim Gas sind offensichtlich; der aktuelle Energiepreisanstieg<br />
trifft in Österreich die Industrie hart.<br />
Israel hat seine eigenen großen Gasfunde im Mittelmeer,<br />
die beiden Felder Tamar und Leviathan liefern<br />
seit 2013 und 2019. Ein Gutteil von diesem Gas<br />
wird verstromt, einige der alten Kohlekraftwerke<br />
wurden bereits umgestellt, neue Gaskraftwerke<br />
wurden gebaut. 2020 war der Schlüssel 67 Prozent<br />
Gas und 18 Prozent Kohle. Von Letzterer wurde ein<br />
Teil aus Russland geliefert, aber dieser dominierte<br />
nicht. Sechs Prozent der Energie kam aus erneuerbaren<br />
Energiequellen. Das steigt aber nun rasch an.<br />
Damit liegt Israel bei den erneuerbaren Energiequellen doch<br />
deutlich zurück?<br />
© Reinhard Engel<br />
14 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 14 10.05.22 09:31
Innovatives Israel<br />
© Reinhard Engel<br />
I Ja, aber das wird sich schon in kurzer Zeit ändern.<br />
Das Ziel für so genannte Renewables für 2025 ist im<br />
Vergleich zur Ausgangssituation ambitioniert: 21 Prozent.<br />
Der Ausbau wird jetzt massiv angekurbelt. Natürlich<br />
hat hier Israel eine andere Ausgangslage als<br />
Österreich, kaum Wasserkraft, wenig Wind. Aber es<br />
gibt auch interessante einzelne Beispiele, etwa den<br />
Kibbuz Maale Gilboa mit einem Pumpspeicherkraftwerk.<br />
Insgesamt dominiert natürlich die Energie aus<br />
Fotovoltaik, und diese wird jetzt massiv ausgebaut.<br />
Warum hat das bisher so lang gebraucht? War die nationale<br />
Stromgesellschaft IEC der Bremser?<br />
I Das lag nicht nur an der IEC. Die Energiemarktliberalisierung<br />
hinkt hinter jener in der EU hinterher.<br />
So musste der Marktführer schon einige Gaskraftwerke<br />
abgeben. Die IEC hat kein Monopol mehr, sie<br />
war 2020 noch für 61 Prozent der Stromerzeugung<br />
verantwortlich, das Ziel Israels ist es, die IEC auf ein<br />
Drittel des Marktes zu beschränken. Dabei hilft auch<br />
die intensive staatliche Förderung von Fotovoltaikanlagen<br />
– nicht für Private, sondern für Unternehmen.<br />
Hier tut sich wirklich wahnsinnig viel, es gibt<br />
eine Vielzahl von neuen Playern mit neuen Geschäftsmodellen,<br />
ich sehe das auch in meinen eigenen Aktivitäten<br />
der Blue Minds Group in Israel. Telekom-<br />
Provider, Supermarktketten, Immobilienentwickler<br />
nutzen alle ihre Flächen auf den Dächern für neue<br />
Sonnenkollektoren und kombinieren das auch mit<br />
Batterien für die Nächte, um insgesamt unabhängiger<br />
von fossilen Energieträgern zu werden.<br />
Ist das für den Eigenbedarf, oder speisen sie auch ins Stromnetz<br />
ein?<br />
I Sowohl als auch. Das Einspeisen hängt natürlich<br />
auch davon ab, wie attraktiv die Preise zum jeweiligen<br />
Zeitpunkt sind. Dafür braucht es neue Software-<br />
Lösungen, wie wir sie etwa mit Start-ups entwickelt<br />
haben, um dieses Angebot-Nachfrage-Spiel bewältigen<br />
zu können. Diese Lösungen können aufzeigen, zu<br />
welchem Zeitpunkt es besser ist, selbst zu konsumieren,<br />
und wann ist es besser, einzuspeisen oder umgekehrt<br />
vom Netz zuzukaufen.<br />
Und schließlich zeigen auch die Netze deutliche Unterschiede,<br />
von der Einbindung in die jeweilige Region bis zur<br />
Gestaltung im eigenen Land.<br />
I Israel hat auf Grund der geopolitischen Lage keine<br />
vergleichbare Einbettung in die Region wie europäische<br />
Länder. Es hat immer wieder Überlegungen gegeben,<br />
von diesem Inseldasein wegzukommen. Man<br />
hat versucht, das Stromnetz mit Jordanien zusammenzuschließen,<br />
zwischen Eilat und Akaba. Das ist<br />
gescheitert. Später hat man versucht, mit der Türkei<br />
eine Stromverbindung herzustellen, das wurde<br />
durch die Verschlechterung der politischen Situation<br />
verhindert. Der neueste Versuch ist jetzt ein Eurasia-<br />
Interconnector, ein Unterseestromkabel zwischen Israel,<br />
Kreta, Zypern und dem europäischen Festland.<br />
Das soll 2024 gebaut werden.<br />
Kommen wir zu Ihrem eigenen Geschäft. Wo sehen Sie momentan<br />
im Bereich Start-ups und Energie Bewegung?<br />
I Israel ist seit mehreren Jahrzehnten führend, was<br />
digitale Transformation angeht, und hat ein außergewöhnlich<br />
fortgeschrittenes Innovationsökosystem.<br />
Das wird von staatlicher Seite,<br />
vom Innovationsministerium, besonders<br />
gut gefördert, Risiko in<br />
der Frühphase wird übernommen,<br />
es gibt zahlreiche Inkubatoren etc.<br />
Das war bisher vor allem in anderen<br />
Sektoren konzentriert, bei Halbleitern,<br />
im Bereich Cyber Security,<br />
Agrartechnologie, Medizintechnik<br />
und Pharmazie. Seit Neuestem,<br />
und das ist eine schöne Entwicklung,<br />
wird jetzt großes Augenmerk<br />
auf den wichtigen Bereich Energie<br />
und Klimaschutz gelegt. Die Israelis<br />
sind wirklich ein Phänomen:<br />
Sie können sich innerhalb kürzester<br />
Zeit adaptieren und auf einen<br />
neuen Trend setzen, Ressourcen<br />
neu konzentrieren. Staatliche Programme<br />
unterstützen das ebenso<br />
wie Risikoinvestoren. Einschlägige<br />
Universitätsinstitute gab es ja schon<br />
länger, aber jetzt wird dort verstärkt<br />
gegründet, es entstehen junge Unternehmen<br />
mit neuen Geschäftsmodellen.<br />
Wir haben das sehr erfreut<br />
wahrgenommen.<br />
Sie sind ja selbst in diesem Umfeld aktiv.<br />
I Die Blue Minds Group beschäftigt sich seit ihrem<br />
Start 2014 genau damit: mit Start-ups, Venturing<br />
und neuen Geschäftsmodellen. Das tun wir etwa mit<br />
unserer Tochterfirma FSIGHT. Da geht es mit Hilfe<br />
von künstlicher Intelligenz um die Optimierung von<br />
schwankendem Verbrauch und unterschiedlicher<br />
Nachfrage in einem volatilen Umfeld. Es freut mich<br />
auch, dass die Blue Minds Group in diesem Jahr bei<br />
einem internationalen Konsortium dabei sein und<br />
einen Climate Tech Incubator aufbauen kann, den<br />
das Innovationsministerium ausgeschrieben hat.<br />
Der internationale Mitbewerb war sehr groß. Wir<br />
sind mit einer israelischen Gruppe, OSEG, ins Rennen<br />
gegangen, gemeinsam mit der französischen<br />
TOTAL und mit weiteren europäischen Unternehmen<br />
aus der Erneuerbaren-Branche, EREN Industries<br />
aus Luxemburg oder DK Innovation aus Irland.<br />
EVELINE STEINBERGER-KERN<br />
wurde 1972 in der Obersteiermark geboren.<br />
Sie promovierte an der Grazer Karl-Franzens<br />
Universität in Wirtschaftswissenschaften. An der<br />
INSEAD in Frankreich absolvierte sie zusätzlich<br />
ein Executive-Management-Studium. Sie ist<br />
Unternehmerin in neuen Technologiefeldern<br />
(künstliche Intelligenz, Big Data, Augmented<br />
Reality, 3D, Robotics etc.) und war 20 Jahre in<br />
verschiedenen leitenden Positionen in den Bereichen<br />
Energie und Infrastruktur mit internationaler<br />
Verantwortung tätig, etwa bei Verbund und<br />
Siemens. Seit 2014 hat sie vier eigene Unternehmen<br />
(FSIGHT, Digital Hero, 12energy, Techhouse)<br />
im Bereich der digitalen Services in Wien und Tel<br />
Aviv gegründet und entwickelt. 2014 gründete<br />
sie auch die The Blue Minds Company, die sich<br />
mit Fragen der globalen Energiewende, der<br />
Entwicklung von Geschäftsmodellen auf Basis<br />
der Digitalisierung und Investitionen in Start-ups<br />
beschäftigt. In der italienischen Bank Unicredit<br />
Bank Austria und dem bayrischen Renewables-<br />
Player BayWa r.e. sitzt sie im Aufsichtsrat.<br />
„Israel ist seit<br />
mehreren Jahrzehnten<br />
führend,<br />
was digitale<br />
Transformation<br />
angeht, und hat<br />
ein außergewöhnlich<br />
fortgeschrittenes<br />
Innovationsökosystem.<br />
Eveline<br />
Steinberger-Kern<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 15 10.05.22 09:31
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Nahaufnahmen in<br />
Schwarz-Weiß<br />
Der eineinhalbstündige Dokumentarfilm 1341<br />
Frames of Love and War erzählt die Lebensgeschichte<br />
von Micha Bar-Am – und damit eine<br />
Chronik Israels – anhand seiner Bilder.<br />
Es wird erdrückend still im Saal, während<br />
der israelische Dokumentarfilm 1341<br />
Frames of Love and War erstmals auf der<br />
Berlinale im Februar <strong>2022</strong> über die Leinwand<br />
läuft. Der Streifen beginnt langsam mit einer<br />
Schwarzweißaufnahme von endlosen Sanddünen<br />
und führt dann fast ausschließlich mit Fotografien<br />
durch die konfliktreiche Geschichte Israels. Nach<br />
eineinhalb Stunden waren die Zuschauer zugleich<br />
versunken und hellwach in ihren Sesseln ob der Intensität<br />
der vor ihnen in Großformat ausgebreiteten<br />
Bilder, als hätten sie in ein Riesenalbum durchgeblättert.<br />
Der Film dreht sich um das Lebenswerk des<br />
91-jährigen Fotografen Micha Bar-Am, also um<br />
seine Bilder. Die Weltpremiere fand in seiner Geburtstagstadt<br />
Berlin statt. Ohne ihn. Wegen Corona<br />
war er nicht aus Israel angereist. Diejenigen, die<br />
an diesem Abend kamen, saßen mit Abstand und<br />
Masken. Das war noch vor dem russischen Einmarsch<br />
in der nur 846 Kilometer entfernten Ukraine.<br />
Krieg schien da für die meisten Besucher der<br />
Berlinale noch etwas, das allenfalls auf einem<br />
fernen Kontinent, wie in diesem Fall im Nahen<br />
Osten, passiert. Im Saal aber befanden<br />
sich auch Israelis, jüngere und ältere. Exis-<br />
Von Gisela Dachs<br />
Sein ganzes Leben lang hat er die Welt<br />
um sich herum fotografiert, eine halbe<br />
Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im<br />
Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze.<br />
tenzkampf und Konflikt sind seit jeher mit ihrem<br />
Land verbunden. Und Micha Bar-Am ist einer der<br />
herausragenden Chronisten.<br />
Im Film sieht man ihn nur selten. Wenn, dann<br />
ist sein Gesicht hinter seiner Kamera und von einem<br />
buschigen Vollbart versteckt. Sein ganzes Leben<br />
lang hat er die Welt um sich herum fotografiert,<br />
eine halbe Million Bilder in sieben Jahrzehnten. Im<br />
Fokus sind immer wieder Kriegsschauplätze. Man<br />
sieht Soldaten, Tote, Verletzte und Gefangene vor,<br />
während und nach Gefechten im Sechstagekrieg,<br />
Jom-Kippur-Krieg, Libanonkrieg, Golfkrieg, aber<br />
auch andere Orte des Traumas, wie den Eichmann-<br />
Prozess. Manche Szenen zerreißen einen fast beim<br />
Hinschauen. Andere wärmen das Herz. Sie sind das<br />
Material, von dem der Film lebt, als wären es laufende<br />
Bilder, begleitet von O-Tönen aus Interviews,<br />
die der Regisseur Ran-Tal mit Micha Bar-Am, seiner<br />
Frau Orna und den Söhnen geführt hat. Ab und zu<br />
streitet sich Micha mit seiner Frau, wenn es um die<br />
genaue Zuordnung seiner Aufnahmen geht. Orna,<br />
die ihr Talent als Malerin zeitlebens der Karriere<br />
ihres Mannes untergeordnet hat, scheint da oft einen<br />
besseren Überblick behalten zu haben als er.<br />
Das Archiv befindet sich im Keller seines Hauses<br />
in Ramat Chen, ordentlich sortiert und beschriftet,<br />
wie es sich für Jekkes gehört. Man sieht, wie er<br />
dort als Fünfjähriger im Schnee stapft, aufgenommen<br />
von seinem Vater mit einer 16-mm-Kamera.<br />
Die privilegierte Kindheit endet abrupt. 1936 emigriert<br />
die Familie nach Palästina, von da an will der<br />
kleine Junge aus Deutschland nur mehr Israeli sein,<br />
dazugehören, er kämpft in der Palmach im Unabhängigkeitskrieg,<br />
in den 1950er-Jahren ändert er<br />
seinen Namen um in „Bar-Am“, Sohn der Nation.<br />
© Micha Bar-Am<br />
16 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 16 10.05.22 09:31
Eines von vielen Bildern,<br />
die Micha Bar-Ams von den<br />
Kriegsschauplätzen dieser<br />
Welt gemacht hat und die<br />
heute vielfach zu Ikonen<br />
geworden sind und stetig an<br />
Bedeutung gewinnen.<br />
© Micha Bar-Am<br />
Damals gehört er zu den Gründern des Kibbuz Malkiya<br />
in Galiläa und beginnt mit einer geliehenen Kamera<br />
das Leben dort festzuhalten. Dann arbeitet er<br />
mehrere Jahre als Fotograf bei der israelischen Armee.<br />
Zu dieser Zeit sind seine Vorbilder die Fotografen,<br />
die für Illustrierte wie das Life Magazin arbeiten.<br />
1968 wird er Mitglied von Magnum, der 1947 vom<br />
legendären Robert Capa gegründeten amerikanischen<br />
Fotoagentur. Seine Bilder erscheinen jahrelang<br />
in der New York Times. An Capas Diktum „Wenn<br />
deine Bilder nicht gut sind, bist du nicht nah genug<br />
dran“, hat sich Micha Bar-Am stets orientiert. Sein<br />
Mentor verwies dabei aber auch die andere Seite<br />
der Medaille: „Wenn du zu nahe dran bist, verlierst<br />
du die Perspektive.“<br />
Weil Micha Bar-Am aber in jedem Fall oft nah<br />
dran ist, fragt man sich, und er fragt sich im Film<br />
auch selbst, welche Spuren das in der Psyche hinterlassen<br />
hat. Seine Söhne beklagen sich rückblickend<br />
über einen Vater, der oft abwesend war und<br />
aufbrausend sein konnte, wenn er zuhause war. Sie<br />
erzählen, wie sie dann alle mehr oder weniger im<br />
Rhythmus der halbstündigen Radionachrichten<br />
lebten, weil Micha Bar-Am immer am Sprung war.<br />
Familienalben gibt es bei den Bar-Ams nicht, dafür<br />
viele Bilder von Frau und Kindern, die sich über<br />
das Archiv verteilen und oftmals geschossen wurden,<br />
wenn es darum ging, noch schnell eine angefangene<br />
Filmrolle zu Ende zu bringen. „Ich bin den<br />
Kriegen nicht gefolgt“, sagt er heute, „sondern habe<br />
mir eine aufregenden Job gesucht, von dem ich auch<br />
noch leben konnte“.<br />
Manche seiner Aufnahmen sind längst zu Ikonen<br />
geworden, haben auch oft im Nachhinein noch an<br />
Bedeutung gewonnen. Dazu gehört das berühmte<br />
Bild des Fallschirmspringers, der nach dem Sechstagekrieg<br />
mit einer gestrickten Kippa auf dem Kopf<br />
vor der Klagemauer steht, eine Gewehrkugelkette<br />
um den Hals, was ein wenig so aussieht, als hätte er<br />
einen Gebetsschal um. Später konnte Micha Bar-Am<br />
dann lesen, dass sein Bild für Historiker jenen Moment<br />
darstellt, an dem sich Religiosität mit militärischer<br />
Macht vereint.<br />
1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im<br />
Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann<br />
ein ausländisches Publikum aber einen solchen<br />
Film überhaupt verstehen und einordnen?<br />
1341 Frames of<br />
Love and War.<br />
Regie: Ran Tal,<br />
Israel/GB/USA <strong>2022</strong>,<br />
89 Min., Farbe &<br />
Schwarz-Weiß<br />
1341 Frames of Love and War ist eine Bilderreise im<br />
Zeitraffer durch die israelische Geschichte. Kann<br />
ein ausländisches Publikum aber einen solchen Film<br />
überhaupt verstehen und einordnen? „Es ist nicht<br />
leicht, vor allem die jüngeren Generationen durch<br />
all die historischen Geschehen zu führen; es ist aber<br />
auch okay, wenn dabei etwas verloren geht“, sagt<br />
Produzent Sarig Peker. Der Film verlange einiges ab,<br />
sei aber auch lohnend.<br />
Im Film sieht man immer wieder die kleine Küche,<br />
in der bei den Bar-Ams bis heute viel diskutiert<br />
wird. Auch ich bin dort schon öfters mit ihm und<br />
seiner Frau gesessen. Dabei erwähnte er auch einmal<br />
die Grenzen seiner Arbeit. „Die Menschen wollen<br />
nicht immer neue Dramen, sie wollen das Bekannte,<br />
sie sind auf bestimme Sachen fixiert, und<br />
es ist oft zu viel Arbeit, die Komplexität der Realität<br />
zu erklären.“<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 17 10.05.22 09:31
Innerstädtische Mobilität<br />
Am Seil auf den Carmel<br />
Im April ist in Haifa die urbane Seilbahn zum Technion und zur Universität in<br />
Betrieb gegangen, gebaut vom Vorarlberger Unternehmen Doppelmayr.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Seilbahn Rakavlit. In<br />
20 Minuten zu zwei Hochschulen:<br />
dem Technion<br />
und der Universität Haifa.<br />
rael, aber nicht das erste derartige<br />
Projekt, das Doppelmayr<br />
verwirklicht hat. So gibt<br />
es etwa ein ähnliches, sogar<br />
deutlich größeres innerstädtische<br />
Transportmittel in der<br />
bolivianischen Andenstadt<br />
La Paz. Dort verbinden drei<br />
Linien verschiedene Stadtteile<br />
miteinander, hoch über<br />
dem Häusermeer, das sich<br />
über steile Hügel ausbreitet.<br />
Für derartige Anwendungen<br />
gibt es gute ökonomische und<br />
ökologische Argumente: hohe<br />
Transportleistung bei niedrigem<br />
Energieverbrauch sowie<br />
im Vergleich mit U-Bahnen<br />
und deren aufwändiger Tunnelbohrung<br />
geringere Investitionskosten<br />
und kürzere Bauzeiten. Solche<br />
Projekte sind besonders dort interessant,<br />
wo es entweder gilt, große Höhenunterschiede<br />
zwischen Unter- und Oberstadt zu<br />
überwinden, oder wo eine dichte Verbauung<br />
zu ebener Erde keinen Platz für zusätzliche<br />
Straßen- oder Schnellbahnen bietet.<br />
Seit die großen Skigebiete weitgehend<br />
erschlossen sind und bei den Seilbahnbauern<br />
oft nur mehr Ausbauten oder Wartung<br />
bestellt wird, hat Doppelmayr verstärkt<br />
Für derartige<br />
Anwendungen<br />
gibt es gute<br />
ökonomische<br />
und ökologische<br />
Argumente:<br />
hohe Transportleistung<br />
bei niedrigem<br />
Energieverbrauch,<br />
[…] geringere<br />
Investitionskosten<br />
und kürzere<br />
Bauzeiten.<br />
Nein, das ist nicht Kitzbühel,<br />
Lech oder St. Moritz. Die Zehner-Gondeln<br />
starten mitten<br />
in einer mediterranen Küstenstadt<br />
und führen hoch hinauf auf einen<br />
grünen Berg zu zwei Hochschulen, der<br />
Technischen Universität Technion und der<br />
Universität Haifa. Eröffnet wurde die urbane<br />
Seilbahn Rakavlit im April, gebaut von<br />
österreichischen Spezialisten aus dem Vorarlberger<br />
Wolfurt: Doppelmayr.<br />
Insgesamt knapp 20 Minuten dauert die<br />
Fahrt für die vier Kilometer lange Strecke<br />
und bietet einen spektakulären Blick vom<br />
Carmel hinunter auf die Altstadt und das<br />
Meer. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt am<br />
zentral gelegenen Bahnhof und Busterminal<br />
„HaMifrats“ und ist damit direkt an die<br />
anderen öffentlichen Verkehrsmittel angebunden.<br />
Laut Hersteller können 20.000<br />
Fahrgäste pro Tag mit der Gondelbahn befördert<br />
werden. Potenzial gibt es genug: An<br />
den beiden Hochschulen sind insgesamt<br />
mehr als 30.000 Studierende eingeschrieben,<br />
dazu kommen noch Lehrpersonal und<br />
Servicemitarbeiter. Für sie soll sich mit der<br />
direkten Linie nach oben die Anfahrtszeit<br />
zu ihrem Studien- oder Arbeitsplatz um bis<br />
zu 25 Minuten verkürzen.<br />
Die neue Seilbahn zur Universität Haifa<br />
ist zwar die erste urbane Gondelbahn in Isunterschiedliche<br />
Massentransportmittel<br />
für<br />
Städte entwickelt. Beispiele<br />
finden sich in Algier<br />
und in London, in<br />
Istanbul, in Oakland<br />
oder in Venedig. Dabei<br />
hängen teils Kabinen an<br />
Seilen, teils fahren Waggons<br />
autonom auf Schienen<br />
wie der People Mover<br />
zwischen dem Parkplatz<br />
Tronchetto und der Piazzale<br />
Roma am Rand der<br />
historischen Altstadt von<br />
Venedig.<br />
Haifa hatte bereits bisher<br />
eine Bergbahn: Carmelit-Haifa.<br />
Diese fährt<br />
allerdings – von einem<br />
Kabel gezogen – unterirdisch. Ihre Strecke<br />
führt vom Paris Square im Zentrum, nahe<br />
am Hafen, 1,8 Kilometer hinauf auf den<br />
westlichen Carmel zur Gan-Ha’em-Station<br />
in eine gartenähnliche Wohngegend,<br />
in der sich auch das Bahai-Zentrum und<br />
einige der bekanntesten Hotels befinden.<br />
Sie wurde Ende der 1950er-Jahre von einem<br />
französischen Unternehmen gebaut<br />
und später von einer Tochter der Doppelmayr-Garaventa-Gruppe<br />
modernisiert.<br />
© Doppelmayr Seilbahnen GmbH<br />
18 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 18 10.05.22 09:31
HIGHLIGHTS | 02<br />
Hochkarätige literarischmusikalische<br />
Sommerfrische<br />
Der Kultur.Sommer.Semmering hat mit dem Grandhotel<br />
Panhans eine neue spektakuläre Spielstätte gewonnen.<br />
Nostalgiker unter uns werden<br />
sich vielleicht noch<br />
an das luxuriöse Hotel<br />
Panhans im Vollbetrieb erinnern.<br />
Da gab es Tanzabende,<br />
Bälle, Five o’Clock Teas, Kinovorstellungen<br />
und ein Café auf der Terrasse<br />
mit Blick in die Bergwelt. Das Panhans<br />
wurde schließlich in den späten 1960er-<br />
Jahren geschlossen und erlebte, „revitalisiert“<br />
ab den 1980ern, eine vergleichsweise<br />
kurze Renaissance. Seit 2018 ist der<br />
Hotelbetrieb eingestellt.<br />
Als dem mittlerweile auch schon traditionellen<br />
Kultur.Sommer.Semmering<br />
seine stilvolle Spielstätte im ehemaligen<br />
Südbahn-Hotel relativ kurzfristig bereits<br />
für diese Saison nicht mehr zur Verfügung<br />
stand, eröffnete sich glücklicherweise<br />
mit dem Hotel Panhans eine neue<br />
spektakuläre Alternative.<br />
Mit dem Einzug in das historische<br />
Grandhotel erlebt das Festival unter der<br />
Intendanz von Florian Krumpöck einen<br />
Das Hotel<br />
Panhans wurde<br />
schon bald<br />
nach seiner<br />
Gründung zu<br />
einem „Kurort<br />
ersten Ranges“.<br />
zukunftsweisenden Szenenwechsel.<br />
Doch nicht nur das<br />
Traditionshaus selbst öffnet<br />
seine Tore: Inspiriert von der<br />
ehemaligen Orangerie auf<br />
dem Aussichtsplateau vor<br />
dem Grandhotel errichtet der Kultur.<br />
Sommer.Semmering eine neue Spielstätte<br />
mit Panoramablick über die malerische<br />
Berglandschaft – den Kulturpavillon.<br />
Neun Wochen lang, vom 8. Juli bis<br />
4. September, werden auf 1.000 Metern<br />
Seehöhe im Rahmen von über 80 Vorstellungen<br />
einige der herausragendsten<br />
Protagonist:innen der österreichischen<br />
Kulturwelt zu erleben sein, darunter<br />
heuer erstmals Klaus Maria Brandauer<br />
zur feierlichen Eröffnung, Lars Eidinger,<br />
Adele Neuhauser, Josef Hader oder<br />
Kammersänger Michael Schade. Zahlreiche<br />
Publikumslieblinge kehren inspiriert<br />
von der geschichtsträchtigen Atmosphäre<br />
des Semmering auch gerne<br />
jährlich wieder. A.P.<br />
www.tipp<br />
CHUZPE mit Mirna Funk<br />
In der aktuellen Chuzpe-Podcastfolge<br />
spricht Moderatorin Avia Seeliger mit der<br />
Journalistin und Autorin und feministische<br />
Ikone Mirna Funk. Ihr neues Buch Who Cares!<br />
Von der Freiheit, Frau zu sein erscheint<br />
demnächst im dtv-Verlag. Zum Aufwärmen<br />
fagten wir Mirna, was für sie<br />
Chuzpe ist:<br />
Den Mut zu haben, frei zu sein.<br />
Kunst ist:<br />
Ein großer Teil meines Lebens.<br />
Erfolg ist:<br />
Es ist, wonach ich strebe.<br />
Judentum ist:<br />
Der Kern, der mein Sein ausmacht.<br />
Wien ist:<br />
Es ist für mich weit weg.<br />
die Pandämie ist:<br />
Sie ist für mich sowas von over.<br />
www.ikg-wien.at/podcast-chuzpe<br />
www.mirnafunk.com<br />
„Als Jüdin sehe ich mich<br />
oft mit einem diffusen<br />
Schuldgefühl konfrontiert,<br />
das seinen eigenen<br />
Ursprung gar nicht kennt. “<br />
Mirna Funk<br />
KARTENBESTELLUNG & INFOS:<br />
Tourismusbüro Semmering<br />
Tel.: +43/(0)2664/20 025<br />
kultursommer-semmering.at<br />
© Archiv Dr. Samsinger / Imagno / picturedesk.com; © Markus Witte<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 19 10.05.22 09:31
Lebendige Erzählungen<br />
Letzte Ruhe in Kaufering<br />
Felix Schrotts Großvater ist lange vor seiner Geburt von<br />
den Nazis ermordet worden und dennoch sein ganzes Leben<br />
lang präsent. Inzwischen hat er den Ort gefunden, an dem<br />
Emanuel Schrott, der am 15. März 1945 in einer Außenstelle<br />
des KZ Dachau – dem Lager Kaufering VII – starb, begraben<br />
wurde. Vor einem Jahr brachte er dort eine Gedenktafel an, dieses<br />
Frühjahr wurden dafür auch die Kosten vom Nationalfonds<br />
übernommen. Über eine Geschichte, die damit einen Schlusspunkt<br />
findet, aus der sich aber eine Verantwortung ergibt,<br />
der sich auch der Urenkel Samuel „Samy“<br />
Schrott verpflichtet sieht.<br />
Von Von Alexia Weiss<br />
© Daniel Shaked<br />
20 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 20 10.05.22 09:31
Schuften in der Kälte<br />
Drei Generationen der<br />
Familie Schrott. Samy,<br />
der Urenkel, Felix, der<br />
Enkel, und Kitty Schrott,<br />
die Schwiegertochter,<br />
mit ihrem Hochzeitsfoto<br />
gemeinsam mit ihrem<br />
Mann Herbert, dem Sohn<br />
von Emanuel Schrott.<br />
© Daniel Shaked<br />
Familiengeschichte<br />
setzt sich nicht nur<br />
aus Namen und Daten,<br />
sondern aus all<br />
diesen kleinen und<br />
größeren Erzählungen zusammen,<br />
die von einer Generation der nächsten<br />
erzählt werden. Ein Motiv, das sich<br />
durch die Familiengeschichte der Schrotts<br />
zieht, ist der Fußball. Seit mehr als 100 Jahren<br />
gehen sie auf den Fußballplatz und<br />
schauen ihren Clubs zu.<br />
Felix’ Vater Herbert Schrott (19262021)<br />
ging mit seinem Vater Emanuel (18981945)<br />
in der Zwischenkriegszeit zur Vienna und<br />
zur Hakoah, Emanuel erlebte Letztere sogar<br />
1925 als österreichischen Fußballmeister.<br />
Herbert setzte diese Tradition mit Felix<br />
(geb. 1965) fort – „er hat dann noch in<br />
den 70ern diese Geschichten erzählt vom<br />
Viertel, der kein Achtel Wert ist“, erinnert<br />
sich der Sohn heute –, und auch Felix und<br />
Samy (geb. 1996) sind nun oft gemeinsam<br />
auf dem Fußballplatz oder im Stadion anzutreffen.<br />
Felix stattete mit seiner Handelsagentur<br />
zudem die Vienna und Maccabi<br />
mit Dressen von Errea aus. Ja, Fußball<br />
schweißt hier die Generationen zusammen.<br />
Aber es sind auch die Leerstellen, die<br />
verbinden. Felix wurde mit den Erzählungen<br />
seines Vaters über den Großvater groß<br />
und Samy mit ebendenselben über seinen<br />
Urgroßvater. Besonders lebendig werden<br />
sie, wenn man sie in einer Dokumentation<br />
aus der Reihe Spricht mit mir von Fabian<br />
Eder und Katharina Stemberger präsentiert<br />
bekommt, in der Herbert und Samy<br />
gemeinsam Zug fahren und sich über die<br />
Kindheit des Großvaters unterhalten.<br />
Aufgewachsen ist Emanuel in einer<br />
kleinen Wohnung in der Lerchenfelder<br />
Straße, die Arbeitslosigkeit war hoch, die<br />
wirtschaftliche Situation schwierig. Was<br />
auf sie als Juden zukommen könnte, hat<br />
man auch nach dem „Anschluss“ 1938<br />
nicht wahrhaben wollen, stets hieß es, „es<br />
wird nicht so arg sein.“ Selbst als ein Nachbar<br />
der Schrotts, ein Polizist, Herbert aufforderte,<br />
seinem Vater<br />
„Kämpfen<br />
klingt vielleicht<br />
radikal<br />
oder brutal.<br />
Ich meine<br />
damit, die<br />
Geschichten<br />
weiterzuerzählen.“<br />
Samy Schrott<br />
auszurichten, „sag deinem<br />
Vatern, dass ihr<br />
alle auf Polen kommt“,<br />
habe dieser gesagt, „es<br />
wird nicht so arg sein,<br />
die Leute übertreiben.“<br />
„Noch in Theresienstadt<br />
hat mein Vater<br />
gesagt, es wird nicht<br />
so arg“, erinnerte sich<br />
Herbert im Gespräch<br />
mit dem Enkel.<br />
Worüber er auf dieser<br />
Zugfahrt auch<br />
spricht: die gemeinsamen<br />
Leidensstationen<br />
mit dem Vater – zunächst ab 1942<br />
Theresienstadt, im Rückblick zwar „ein<br />
Potemkin’sches Dorf“, aber dort habe es<br />
durchaus noch schöne Momente gegeben,<br />
dann Auschwitz, wo sie allerdings<br />
nur wenige Tage blieben, und schließlich<br />
Kaufering VII, ein Außenlager des KZ Dachau.<br />
Während Herbert, der in Theresienstadt<br />
das Tischlerhandwerk erlernt hatte,<br />
dort im Warmen in einer Werkstatt arbeiten<br />
konnte, musste der Vater Emanuel<br />
im Freien schuften. Er war erschöpft, erkrankte<br />
an Typhus und erlebte das Ende<br />
des Krieges und die Befreiung nicht mehr.<br />
Was den Enkel Felix heute besonders<br />
traurig macht? Aus einer Korrespondenz<br />
mit Verwandten erfuhr er, dass es<br />
den Versuch der Familie gab, ein Visum<br />
für die USA zu bekommen. Doch einerseits<br />
fiel diese Entscheidung wohl viel zu<br />
spät, da der Großvater die Lage eben leider<br />
nicht richtig eingeschätzt hatte, und<br />
andererseits fehlte es am Ende am Geld.<br />
Und dann ist da auch noch die unglückliche<br />
Wetterlage in den letzten Monaten vor<br />
Kriegsende. Im Frühjahr 1945 sei es bitterkalt<br />
gewesen, „mein Vater Herbert ist noch<br />
im <strong>Mai</strong> kurz vor der Befreiung im Schnee<br />
gestapft“, weiß Felix.<br />
Als Felix im Sommer 2019 mit seiner<br />
Frau nach einem Festspielbesuch in Bregenz<br />
erstmals nach Kaufering fährt, um<br />
sich den Ort anzusehen, an dem sein Vater<br />
und Großvater von den Nazis interniert<br />
worden waren, hat er die Schilderungen<br />
seines Vaters im Ohr. Schnee schaufeln<br />
habe Emanuel müssen bei Minusgraden,<br />
in zu dünner Kleidung und mangelernährt.<br />
„Und dass diese Saukälte schuld an<br />
seinem Tod war.“<br />
Von dieser Kälte war bei dem Besuch im<br />
Sommer 2019 nichts zu spüren. Das Gros<br />
der Lager in Kaufering ist heute nicht<br />
mehr erhalten, über sie ist Gras gewachsen,<br />
und man sieht nichts als Wiesen. Nur<br />
ein Lager – genau das Lager VII – sei noch<br />
erhalten und werde heute als Gedenkstätte<br />
geführt. In seiner Nähe befinde sich – wie<br />
für die anderen Lager auch – ein Gräberfeld,<br />
beschriftet als Gräberfeld des Lagers<br />
VII. „Als ich dort gestanden bin, habe ich<br />
mir schon gedacht, hier ist er gestorben,<br />
hier liegt er.“ Und da war dem Enkel auch<br />
klar, dass er gerne eine Erinnerungstafel<br />
für Emanuel anbringen würde.<br />
Er trat in Kontakt mit der Gedenkstätte,<br />
stellte beim Kultusamt in München einen<br />
entsprechenden Antrag und erhielt eine<br />
Genehmigung. Als er wegen einer Übernahme<br />
der Kosten dafür anfragte, wurde<br />
diese abgelehnt. Sein Vater Herbert sei<br />
da noch am Leben gewesen und habe gemeint,<br />
dann solle er das halt selbst zahlen,<br />
doch das widerstrebte Felix. „Das ist einfach<br />
eine Prinzipsache.“ Schließlich übernahm<br />
der Nationalfonds der Republik Österreich<br />
– über Antrag des S.C. Hakoah im<br />
Gedenken an einen „Alt-Hakoahner“ – dieses<br />
Frühjahr die Kosten.<br />
Platz an der Gedenkwand. Die Reise, um<br />
die in Wien angefertigte schwarze Tafel in<br />
Form einer Grabsteinplatte mit den Maßen<br />
60 mal 40 Zentimeter am Rand des Gräberfeldes<br />
in Kaufering anzubringen, trat<br />
Felix allein an. „Mein Vater wollte nicht<br />
noch einmal hinfahren. Diesen Ort auf-<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 21 10.05.22 09:31
Geschichte weitertragen<br />
Gedenktafel für<br />
Emanuel Schrott an<br />
der Gedenkwand in Kaufering,<br />
einem Außenlager<br />
von Dachau.<br />
„Als er einmal nach<br />
Auschwitz eingeladen<br />
wurde, da sagte er, ‚ich<br />
war schon in Auschwitz.‘“<br />
Felix Schrott<br />
zusuchen, das war allein meine Motivation.<br />
Er war einmal in den 1980er-Jahren<br />
in Theresienstadt, das war eine Hakoah-<br />
Reise, das hat ihn sehr gefreut, und er hat<br />
sich alles genau angeschaut, aber an Theresienstadt<br />
hatte er ja auch schöne Erinnerungen.<br />
Als er einmal nach Auschwitz eingeladen<br />
wurde, da sagte er, ‚ich war schon<br />
in Auschwitz.‘ Und er wollte eben auch<br />
nicht mehr nach Kaufering.“ Nun stand<br />
also der Enkel an einem schönen <strong>Mai</strong>tag<br />
vor einem Jahr auf dem Areal dieses früheren<br />
Dachau-Außenlagers in Bayern, unterstützt<br />
von Vertretern der Gedenkstätte,<br />
schraubte die Tafel an die Gedenkwand neben<br />
dem Gräberfeld und sprach ein Schma<br />
Israel für Emanuel. Insgesamt waren und<br />
23.000 Häftlinge in den Lagern Kaufering<br />
interniert, 6.500 von ihnen starben auf<br />
dem Gelände.<br />
Sein letzter Besuch in Kaufering wird<br />
das allerdings nicht gewesen sein, betont<br />
Felix. Denn er habe von seinen Eltern – der<br />
Vater Herbert überlebte Theresienstadt,<br />
Auschwitz und Kaufering, die Mutter Kitty<br />
war nach der Flucht mit ihrer Familie auf<br />
Mauritius interniert (angepeilt war eigentlich<br />
Israel) – einen wichtigen Auftrag mitbekommen:<br />
Die Überlebenden und auch<br />
ihre Nachkommen haben den Auftrag, die<br />
Geschichte nicht in Vergessenheit geraten<br />
zu lassen. Kitty Schrott – ihre Geschichte<br />
kann übrigens detailreich auf centropa.org<br />
nachgelesen werden – meint dazu heute:<br />
„Ich halte diese Aufklärung für wichtig.<br />
Gleichzeitig hat George Bernard Shaw gesagt:<br />
‚Hegel hatte Recht, als er sagte, dass<br />
uns die Geschichte lehrt, dass wir nie irgendetwas<br />
aus der Geschichte gelernt haben.‘“<br />
Felix will also auch in Zukunft Kontakt<br />
mit der KZ-Gedenkstätte in Bayern halten<br />
und auch jenen Verein unterstützen, der in<br />
Kaufering ein Museum errichten möchte.<br />
„Ich sehe eine Verpflichtung, hier weiterzuarbeiten.“<br />
Gerade Menschen, die noch eine<br />
emotionale Verbindung zu ehemaligen Insassen<br />
des Lagers hätten, komme hier eine<br />
wichtige Rolle zu. Er werde zudem auch Dokumente<br />
an den Verein übergeben.<br />
Sein Sohn Samy sieht hier für sich ebenfalls<br />
einen Auftrag. In der Filmdokumentation<br />
verspricht er seinem Großvater zu<br />
kämpfen. Was das konkret für ihn bedeutet?<br />
„Kämpfen klingt vielleicht radikal oder<br />
brutal. Ich meine damit, die Geschichten<br />
weiterzuerzählen. Aber auch auf die Straße<br />
zu gehen, wenn man auf etwas aufmerksam<br />
machen muss.“ Die Geschichten, mit<br />
denen er groß wurde, seien zwar großteils<br />
schreckliche gewesen, aber teilweise auch<br />
lustige. Eine dieser humorigen Anekdoten<br />
war die Selbstbezeichnung von Herbert<br />
Schrott und seinen Freunden: „Häfenbrüder“<br />
hätten sie sich genannt. Über diese<br />
„Häfenbrüder“ kann Samy Schrott heute<br />
zum Beispiel, wenn es sich ergibt, den Kindern<br />
erzählen, die er als Freizeitpädagoge<br />
betreut. Und ja, auch das eint die Schrotts:<br />
Sie sind politische Menschen und wollen<br />
nicht, das sich eines wiederholt: dass sie die<br />
Zeichen der Zeit falsch deuten und meinen:<br />
„Es wird schon nicht so arg.“<br />
© Alexia Weiss<br />
nach Baden<br />
Jüdische Häuser erzählen Geschichte(n)<br />
Ausstellung 23.4. bis 6.11.<strong>2022</strong>, Kaiserhaus, Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />
22 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong> Dienstag – Sonntag und Feiertage 10 – 18 Uhr, www.kaiserhaus-baden.at<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 22 10.05.22 09:31
Mit Amnesie den<br />
Horror bewältigen<br />
Simonsohn nimmt die Leserin und<br />
den Leser mit auf die Reise durch<br />
ihr Leben: eine glückliche Kindheit<br />
in Olmütz, obwohl nicht mehr Teil<br />
der k.u.k. Monarchie, dennoch noch Wienerisch<br />
geprägt, sie besucht die Deutsche<br />
Schule. Dann wird ihre Schulzeit jäh unterbrochen.<br />
Wegen ihres illegalen Engagements<br />
im Rahmen einer zionistischen<br />
Gruppe wird sie verhaftet, man wirft ihr<br />
vor, Kommunistin zu sein. Wochen der<br />
Einzelhaft setzen ihr hart zu.<br />
Die nächste Station ist Theresienstadt,<br />
dort kümmert sie sich um Kinder, dort<br />
lernt sie ihren späteren Mann kennen.<br />
Auschwitz überlebt sie, allerdings ohne<br />
sehr genaue Erinnerungen. „Ich weiß<br />
auch nicht, wie lange ich in Auschwitz<br />
war. Ich vermute, sehr kurz, aber ich weiß<br />
es nicht. Viel später, als ich zum ersten Mal<br />
darüber gesprochen habe, wurde ich gefragt,<br />
wie ich mir diese Amnesie erkläre.<br />
Da ist mir klargeworden: Wenn man sehr<br />
große körperliche Schmerzen hat, kann es<br />
geschehen, dass man ohnmächtig wird.<br />
Das ist ein Segen. Man spürt die Schmerzen<br />
nicht mehr. Ich glaube, dass auch die<br />
Seele ohnmächtig werden kann.“<br />
Und so ist das Interessante an diesen<br />
Erinnerungen vor allem das, was die Erzählerin<br />
im Dunkeln lässt, was sie nicht<br />
erzählt. Man merkt, Gefühle lässt sie nicht<br />
mehr an sich heran. Das wird auch spürbar,<br />
wenn sie schildert, dass sie sich kaum<br />
an ihre erste Liebe erinnern konnte. Später<br />
in ihrem Leben, als sie diese wiedertraf,<br />
sollte das zu einem Zerwürfnis zwischen<br />
den beiden führen.<br />
Diesen Jänner starb die Holocaust-Überlebende<br />
Trude<br />
Simonsohn 100-jährig in<br />
Frankfurt, wohin sie 1955 mit<br />
ihrem Mann Berthold gezogen<br />
war. Das Ehepaar hatte<br />
sich nach Kriegsende viele<br />
Jahre für das jüdische Gemeinwohl<br />
in Deutschland<br />
eingesetzt. Ab 1975 war die<br />
langjährige Sozialarbeiterin<br />
als Zeitzeugin aktiv, erzählte<br />
über das, was sie erlebt und<br />
überlebt hatte: Theresienstadt,<br />
dann Auschwitz. „Wer<br />
von uns darüber sprechen<br />
kann, der muss auch darüber<br />
sprechen. Das sind wir<br />
den Ermordeten schuldig“,<br />
schrieb Trude Simonsohn in<br />
ihren Lebenserinnerungen<br />
Noch ein Glück. Der Wallstein<br />
Verlag hat diese nun als Taschenbuch<br />
neu aufgelegt.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Trude Simonsohn<br />
Noch ein Glück.<br />
Erinnerungen.<br />
Wallstein <strong>2022</strong>,<br />
152 S., € 15,95<br />
„Man geht nicht unversehrt<br />
durch die Hölle.<br />
[...] Die Hölle bleibt<br />
in uns drinnen.“<br />
Trude Simonsohn<br />
„Man geht nicht unversehrt durch die<br />
Hölle“, hält sie an einer Stelle fest. Und<br />
an einer anderen: „Die Hölle bleibt in uns<br />
drinnen.“ Besonders schmerzhaft zu lesen<br />
sind jene Passagen, in denen sie über ihren<br />
Sohn Mischa schreibt. „Ich fürchte,<br />
ein wenig von der Hölle, die unsere Seelen<br />
nie ganz freigegeben hat, haben Bertl<br />
und ich an unseren Sohn weitergegeben.“<br />
Demgegenüber steht ein Leben voll Engagement<br />
für andere: In Theresienstadt<br />
betreute Trude Simonsohn Mädchen,<br />
nach Kriegsende leistete sie Flüchtlingshilfe<br />
in der Schweiz, später kümmerte sie<br />
sich dort um traumatisierte jüdische Kinder.<br />
In Deutschland war sie viele Jahre in<br />
der Sozialarbeit der Jüdischen Gemeinde<br />
in Frankfurt tätig. Das spiegelte sich auch<br />
in den Nachrufen wider: Sie sei „eine bemerkenswerte,<br />
herausragende Frau“ gewesen,<br />
„die stets zum Wohle ihrer Mitmenschen<br />
gehandelt hat“, sagte Salomon<br />
Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde<br />
Frankfurt. Und Meron Mendel,<br />
Direktor der Bildungsstätte Anne Frank,<br />
meinte: „Ich habe noch nie so einen starken<br />
und lebensfröhlichen Menschen gekannt.“<br />
© Andreas Arnold / dpa / picturedesk.com<br />
23 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 23 10.05.22 09:31
Lebendige Gemeinde<br />
JÜDISCHES MERAN:<br />
Ein kleines Juwel<br />
in den Bergen<br />
Die ersten Spuren jüdischen Lebens in Tirol<br />
führen zurück bis in das Mittelalter. Über die<br />
vielfältige Geschichte bis heute erzählen das<br />
Jüdische Museum von Meran und sein Direktor<br />
Joachim Innerhofer.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Fotos: Reinhard Engel<br />
tensiv mit seiner Familiengeschichte und<br />
dem Judentum zu beschäftigen. „Nach<br />
meinen Recherchen habe ich mich an die<br />
Gemeinde gewandt, es war kein Problem,<br />
Mitglied zu werden.“<br />
Die Zahl der eingeschriebenen Gemeindemitglieder<br />
ist nicht höher als 49,<br />
es gibt aber auch zahlreiche Ehepaare, von<br />
denen ein jüdischer Partner gerne an den<br />
angebotenen Aktivitäten teilnimmt. „Unser<br />
Glück ist, dass trotz der Überalterung<br />
der einheimischen Mitglieder mehrere<br />
Familien mit kleinen Kindern hierher<br />
ziehen“, freut sich der Direktor. „Das sind<br />
zum Beispiel israelische Frauen, die Italiener<br />
geheiratet haben und aus beruflichen<br />
Gründen hier leben. Nächstes Jahr haben<br />
wir eine Bar Mitzwa aus so einer Familie.“<br />
Innerhofer ist auch froh, dass eine israelische<br />
Wissenschaftlerin, die in Bozen und<br />
Trier an den Universitäten unterrichtet,<br />
mit fünf Kindern nach Meran gezogen<br />
ist. „Es sind Architekten, Ingenieure darunter,<br />
die mit ihren Kindern zu Purim,<br />
Chanukka und den Herbstfeiertagen zu<br />
uns kommen.“ Kulturell kann man nicht<br />
viel bieten, obwohl ein Anne-Frank-Kulturzentrum<br />
gleich gegenüber der Synagoge<br />
und des Museums existiert. Hier<br />
sind auch die kleine Bibliothek und das<br />
Sekretariat der Gemeinde untergebracht,<br />
die koschere Küche kann auf Anfrage und<br />
Auf den Stiegen und im Keller<br />
des Museumsgewölbes ist es<br />
ganz still. Man hört sie nicht,<br />
man sieht sie nur: Ungefähr<br />
ein Dutzend Mädchen eines Oberstufen-<br />
Gymnasiums lauschen aufmerksam und<br />
konzentriert den Ausführungen von<br />
Joachim Innerhofer. Der Direktor des<br />
Jüdischen Museums von Meran erzählt<br />
die Geschichte der Juden dieser Stadt.<br />
„Die Initiative für diese Besuche kommt<br />
vom Lehrkörper diverser Schulen, sogar<br />
Volksschulklassen kommen hierher. Das<br />
Interesse ist enorm groß, teilweise müssen<br />
wir sie auf spätere Termine vertrösten,<br />
auf Monate hinaus“, freut sich der<br />
gebürtige Meraner mit der Häkel-Kippa<br />
auf dem grau melierten Haar.<br />
Gut formulieren und erzählen kann<br />
Joachim Innerhofer, der nach seinem<br />
Studium an der Universität Innsbruck<br />
mehrere Jahre als Redakteur für die Neue<br />
Südtiroler Tageszeitung gearbeitet hat. „Unsere<br />
Gemeinde-Präsidentin fragte mich,<br />
ob ich nicht das Museum leiten möchte.<br />
Es ging darum, allen Besuchern das<br />
Judentum näher zu bringen – und das<br />
versuche ich aktiv seit 2008“, lacht Innerhofer,<br />
dessen jüdische Wurzeln mütterlicherseits<br />
liegen. Erst mit fünfzehn<br />
Jahren erfuhr er von seinem Onkel, dass<br />
er Jude sei. Daraufhin begann er sich innach<br />
Bedarf betrieben werden. „Unsere<br />
Präsidentin, Dr. Elisabetta Rossi-Borenstein,<br />
ist im Vorstand des jüdischen gesamtitalienischen<br />
Verbands vertreten.<br />
Die Meraner Gemeinde gehört zur UCEI –<br />
Unione delle Comunità Ebraiche Italiane,<br />
deren Sitz in Rom ist.<br />
Aber auch den wenigen jüdischen<br />
Menschen bietet man Shiurim (eine Art<br />
Talmud-Thora) und religiöse Dienste an.<br />
Der ehemalige Oberrabbiner von Triest,<br />
Umberto Piperno, der jetzt hauptberuflich<br />
in Verona ist, kommt für den Unterricht<br />
und die Feiertage in die Stadt. Simone<br />
Bordon, der Chassan (Kantor), stammt<br />
aus Genua, lebt aber in Bozen und hat es<br />
daher nicht weit nach Meran.<br />
Der jüdische Beitrag zur Blüte des Kurortes<br />
Meran. Bereits aus dem Mittelalter sind erste<br />
Spuren jüdischen Lebens in Tirol überliefert.<br />
In der Stadtchronik heißt es, dass<br />
bereits 1297 „der Jude <strong>Mai</strong>sterlino auf der<br />
Töll“ oberhalb von Meran Steuereintreiber<br />
war. Um 1311 verwaltete ein Jude aus Görz<br />
namens Bonisak die Meraner Münzstätte.<br />
Im Jahr 1403 erhalten Isaak und Samuel<br />
mit ihren Familien von Bischof Ulrich II.<br />
das Privileg, in Brixen eine Kreditbank zu<br />
betreiben.<br />
Kaiser Maximilian I. erließ 1520 die<br />
Ausweisung aller in Tirol ansässigen Ju-<br />
24 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 24 10.05.22 09:31
Vorurteile abbauen<br />
Aren Tänzer, einst Landesrabbiner<br />
von Tirol, in<br />
der Uniform eines k. u. k.<br />
Militärkaplans mit seinen<br />
beiden Söhnen um 1905.<br />
Die Synagoge<br />
von Meran. Sie<br />
wurde 1901 als<br />
erstes jüdisches<br />
Bethaus Tirols<br />
eröffnet.<br />
den. Da Bozener Juden<br />
davon ausgenommen waren,<br />
zogen einige Tiroler<br />
Juden dorthin. Doch nur<br />
wenige Jahrzehnte später,<br />
1573, verordnete Ferdinand<br />
II. für die Grafschaft<br />
Tirol, dass in Bozen wohnhafte<br />
Juden und Juden,<br />
die nur auf der Durchreise<br />
waren, ein Kennzeichen tragen mussten.<br />
Das „Judensymbol“ bestand aus einem<br />
kreisförmigen gelben Stoffstück mit<br />
einem Durchmesser von 8,5 cm und hatte<br />
gut sichtbar aufgenäht zu werden.<br />
Jüdische Familien prägten und veränderten<br />
Meran und das südliche Tirol,<br />
besonders die Familien Schwarz, Biedermann<br />
und Bermann (siehe dazu Kasten).<br />
Ihre Namen stehen dafür, dass Bozen und<br />
Meran, Letzteres noch ein unbedeutendes<br />
Provinzstädtchen, sich zu angesehenen<br />
Handels- und Tourismuszentren entwickelten.<br />
Die Familie Schwarz förderte<br />
mit ihrer Privatbank den Ausbau der Infrastruktur<br />
in Südtirol, im Trentino und<br />
in Meran. Mitglieder der Familie bauten<br />
unter anderem die Eisenbahn in Garda<br />
und die Standseilbahn auf den Virgl<br />
bei Bozen, die bei ihrer Eröffnung 1907 als<br />
steilste Standseilbahn Europas galt.<br />
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-<br />
„Unser Glück ist,<br />
dass trotz der Überalterung<br />
der einheimischen<br />
Mitglieder<br />
mehrere Familien mit<br />
kleinen Kindern hierher<br />
ziehen.“<br />
Joachim Innerhofer<br />
derts kamen viele Juden in die Stadt an der<br />
Passer: Händler, Ärzte, aber auch einfache<br />
Menschen. Die Meraner Kultusgemeinde<br />
entstand im späten 19. Jahrhundert. Ab<br />
1894 lud die Königswarter Stiftung Kurgäste<br />
und die jüdischen Einwohner Merans<br />
zu Gottesdiensten in den Betsaal des<br />
Asyls für mittellose Juden, das ein Jahr zuvor<br />
aus weltweiten Spenden eröffnet worden<br />
war. Diese Räumlichkeit wurden bald<br />
zu klein: Die Meraner Synagoge wurde am<br />
27. März 1901 als erstes jüdisches Bethaus<br />
Tirols eröffnet. Aron Tänzer, damals noch<br />
Landesrabbiner für Tirol und Vorarlberg<br />
und später, von 1905 bis 1907, Rabbiner<br />
in Meran, nahm die Einweihung vor. Die<br />
Synagoge wurde während Südtirols NS-<br />
Besetzung von September 1943 bis April<br />
1945 als Magazin verwendet, das Gebäude<br />
und ein Teil der Einrichtung blieben jedoch<br />
erhalten.<br />
Eigenständig wurde die Meraner Gemeinde<br />
erst Ende des Jahres 1921, nachdem<br />
die völkerrechtlichen Aspekte der<br />
Übernahme Südtirols durch Italien geklärt<br />
waren. In den 1920er-Jahren lebten<br />
rund 50 jüdische Familien in Meran. Innerhalb<br />
nur eines Jahrzehnts vergrößerte<br />
sich die Zahl der hier lebenden Juden auf<br />
knapp 1.000: Die meisten waren als Ärzte,<br />
Kaufleute, Intellektuelle und Künstler<br />
aus Deutschland und der einstigen Habsburger<br />
Donaumonarchie eingewandert,<br />
einige kamen aber auch aus Osteuropa.<br />
Bis 1938 stieg ihre Zahl auf rund 1.500,<br />
dazu zählten bereits einige hundert<br />
Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen<br />
Deutschland und Österreich.<br />
In Südtirol gab es einen religiösen<br />
Antisemitismus, wie seit Jahrhunderten,<br />
aber keinen politischen. Allerdings<br />
war Meran 1933 auch die einzige Stadt<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 25 10.05.22 09:31
Späte Anerkennung<br />
Museumsdirektor Joachim<br />
Innerhofer. Als er mit 15 Jahren von<br />
seiner jüdischen Herkunft erfuhr, begann<br />
er sich intensiv mit seiner Kultur<br />
auseinanderzusetzen.<br />
FAMILIE BERMANN:<br />
von Mähren über<br />
Meran nach St. Moritz<br />
Wer in unserer Gemeinde in den späten<br />
1970er-Jahren über ein gut gefülltes<br />
Portemonnaie verfügte und die Strapazen<br />
vor und während der Pessach-Feiertage<br />
vermeiden wollte, fuhr in das koschere Hotel<br />
Edelweiss in St.Moritz. Hatte man Kinder<br />
im heiratsfähigen Alter, ergab sich noch eine<br />
tolle Ausrede: Ins Edelweiss reisten auch Familien<br />
aus Zürich, Antwerpen, London und<br />
Milano an – und so blühte hier der Heiratsmarkt.<br />
Die Wirtsleute Bermann waren streng und<br />
nicht übermäßig herzlich, aber wer auf koscheres<br />
Essen und Minjanim (Gemeinschaftsgebete)<br />
Wert legte, hatte nicht viel<br />
Auswahl. Israel war damals noch kein attraktives<br />
Ziel.<br />
Bei der Recherche über das jüdische Meran<br />
entdeckte ich die beeindruckende Familiengeschichte<br />
der Bermanns. Die Chronik<br />
beginnt mit Josef Bermann, geboren 1827<br />
in Kremsier in Mähren, der zuerst im slowakischen<br />
Brezova nahe dem Kurort Piest’any<br />
lebte und anschließend in Kobersdorf, einer<br />
der Siebengemeinden des Burgenlands, die<br />
damals beide zu Ungarn gehörten. Um 1870<br />
kam die Familie nach Meran und eröffnete<br />
drei Jahre später Bermann’s Koscher-Restauration.<br />
15 Jahre danach kauften Josef und Katarina<br />
Bermann die Pension Starkenhof, bauten<br />
auch diese in einen koscheren Betrieb aus<br />
und trugen so wesentlich zur Blüte der Kurstadt<br />
bei.<br />
Die Geschichte des Edelweiss in St. Moritz<br />
beginnt mit einem Wunsch des Baron Willi<br />
von Rothschild, der im Meraner Starkenhof<br />
Stammgast war: Der Baron wollte auch nach<br />
St. Moritz zur Kur, doch nicht auf eine koschere<br />
Verpflegung verzichten. Er engagierte<br />
den Sohn von Josef Bermann, Leopold, zuerst<br />
als Schächter in St. Moritz. 1896 eröffnete dieser<br />
dann das Hotel Edelweiss, das wiederum<br />
dessen Sohn Josef und von 1953 bis 2006 sein<br />
Enkel Leopold weiterführte. Nach vier Generationen<br />
Bermann wurde im Sommer 2010<br />
das Hotel Edelweiss für immer geschlossen.<br />
in Italien, in der es zu antisemitischen<br />
Aktionen kam: Bereits seit 1931 gab es in<br />
der Stadt eine NSDAP-Ortsgruppe, die aus<br />
reichsdeutschen Staatsbürgern bestand.<br />
Als die italienischen Rassengesetze im<br />
Jahr 1938 in Kraft traten, mussten Juden<br />
ohne italienische Staatsbürgerschaft das<br />
Land verlassen. Bereits davor schloss man<br />
sie aus dem öffentlichen Dienst aus.<br />
1940 wurde ein Teil der noch in Meran<br />
lebenden Juden inhaftiert, einige Tage<br />
später aber wieder freigelassen. Wer danach<br />
nicht untertauchen konnte, musste<br />
Zwangsarbeit leisten. Unmittelbar nach<br />
dem Einmarsch der deutschen Truppen<br />
am 8. September 1943 begann die Jagd<br />
des Südtiroler Ordnungsdienstes (SOD)<br />
und des Sicherheitsdienstes auf die hier<br />
noch lebenden Juden – darunter auch<br />
Menschen, die vor der nationalsozialistischen<br />
Verfolgung Zuflucht gefunden<br />
hatten. Ihr Leidensweg führte über das<br />
Lager Reichenau (bei Innsbruck) geradewegs<br />
in das Vernichtungslager Auschwitz-<br />
Birkenau. Man plünderte die verlassenen<br />
Wohnungen der deportierten Juden, ihr<br />
Eigentum wurde konfisziert. Mindestens<br />
50 Juden aus Meran wurden Opfer der<br />
Shoah.<br />
Ein Bericht über die „mörderische Heimat“.<br />
„Nach 1945 weigerte man sich, Überlebende<br />
für ihre materiellen Verluste zu<br />
entschädigen. Die Erinnerung an die jüdischen<br />
Nazi-Opfer wurde lange verdrängt“,<br />
erzählt Joachim Innerhofer, der gemeinsam<br />
mit Sabine Mayr auch durch das Buch<br />
Mörderische Heimat (2015) diesem Zustand<br />
ein Ende setzte. „Südtirols Juden liebten<br />
ihre Heimat und leisteten unschätzbare<br />
Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und<br />
im Tourismus. Indem wir die Spuren jüdischen<br />
Lebens in der Geschichte Südtirols<br />
aufzeigen, wird ihnen wenigstens eine<br />
kleine, wenn auch sehr späte Anerkennung<br />
zuteil.“ Den von den Nazis ermordeten Meraner<br />
Juden wurde lange Zeit das Andenken<br />
verweigert. Sie tauchten auch nicht in<br />
der Südtiroler Opferliste auf. Ebenso hüllte<br />
die offizielle Geschichtsschreibung einen<br />
Mantel des Schweigens um die rege NS-<br />
Mittäterschaft.<br />
Wenn man heute in der Schillerstraße<br />
den begrünten Hof zur Synagoge betritt,<br />
kommt man an einer großen Steintafel<br />
vorbei, auf der alle Meraner Shoah-Opfer<br />
namentlich verewigt sind. Die Ehrentafel<br />
des Friedhofs enthält bekannte Namen:<br />
jenen des Schriftstellers Karl Wolf, des<br />
Arztes Franz Tappeiner, nach dem das<br />
Krankenhaus und der Panoramaweg benannt<br />
sind, oder des Buchhändlers und<br />
Druckers Wilhelm Ellmenreich, Mitgründer<br />
der Spar- und Vorschusskasse,<br />
der heutigen Volksbank. Hier findet man<br />
auch den Namen von Davide Wischkin,<br />
1910 in Riga, Lettland, geboren, in Meran<br />
1976 gestorben. „Wischkin war Allgemeinarzt<br />
und für die Meraner Spitäler<br />
St. Anna und Lorenz Böhler tätig“, weiß<br />
Chaim Lazar, Wischkins Großneffe und<br />
Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde<br />
in Meran.<br />
Die Synagoge in Meran strahlt heute<br />
eine würdevolle Stimmung aus: Warmes<br />
braunes Holz vertäfelt die Wände,<br />
schweres rotes Tuch ist zu sehen, goldene<br />
Leuchter, der Thoraschrein und Kultgegenstände.<br />
Indessen versammelt sich<br />
draußen schon die nächste Touristengruppe:<br />
Diesmal sind es Israeli, die die<br />
umtriebige Dalit Katzenellenbogen von<br />
der israelischen Reiseagentur Italia Viva<br />
herangekarrt hatte. „Es besuchen uns<br />
Menschen aus der ganzen Welt, von nicht<br />
jüdischen Polen bis zu den ultraorthodoxen<br />
Besuchern, den Breslauer Chassidim“,<br />
schmunzelt Joachim Innerhofer.<br />
„Wir freuen uns über jedes Interesse, egal<br />
aus welchem Eck es kommt. Aber für die<br />
Bildung der Jugend, die es in die nächsten<br />
Generationen trägt, ist es besonders<br />
wichtig. Damit endlich die Vorurteile gegen<br />
Juden abgebaut werden“, hofft der<br />
Optimist in Meran.<br />
© privat J.I.<br />
26 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 26 10.05.22 09:31
LEBENS ART<br />
Abrakabarbara<br />
Gerade hat sie ihren 80. Geburtstag gefeiert – und das war nicht nur für das Jüdische Filmfestival Wien, das ihr<br />
heuer eine Personalie widmete, ein Grund, die zauberhafte Barbra Streisand hochleben zu lassen!<br />
Talmund und Himbeere<br />
1983 erscheint Yentl, Streisands erster Film als<br />
Produzentin, Regisseurin, Hauptdarstellerin<br />
und Sängerin in Personalunion. Für den<br />
vielgelobten Film über das jüdische Mädchen,<br />
das sich für das Talmud-Studium<br />
als Mann verkleidet, heimste Streisand allerdings<br />
auch eine „Goldene Himbeere“-<br />
Nominierung ein: für die schlechteste<br />
männliche Hauptrolle.<br />
Hollywoodreife Leistung<br />
Zwei Oscars, neun Golden Globes, 14 Grammys – und kein einziges<br />
Mal im Schampus-Rausch! „Ich war noch nie betrunken.<br />
Ich bin ein Kontrollfreak“, erklärte La Streisand einmal. Und bekommt<br />
von WINA dafür das Goldene Kaffeehäferl verliehen.<br />
Tasse über fineartamerica.com<br />
Profi mit Profil<br />
Sie selbst bezeichnete sich einmal als das „Mädchen<br />
mit den langen Krallen und der Nase eines<br />
Ameisenbären“. Die perfekt manikürten Fingernägel,<br />
die markante Nase und der leichte Silberblick<br />
wurden zu ihrem Markenzeiche.<br />
Schwarz-weiß-Poster über fruugo.at<br />
Sing Star<br />
Nicht für ihre Rolle der talentierten<br />
Sängerin Esther<br />
im Film A Star is Born erhielt<br />
Barbra Streisand den<br />
Oscar – aber für den „besten<br />
Song“ (Evergreen)! Damit<br />
war sie die erste Frau, die<br />
für eine Komposition mit einem<br />
Academy Award prämiert wurde.<br />
Spätgeborene kennen die Hollywood-<br />
Story als Verfilmung mit Bradley Cooper<br />
und Lady Gaga aus dem Jahr 2018.<br />
Doppelt hält besser<br />
145 Millionen Platten hat das Musiktalent<br />
Barbra Streisand verkauft. Insgesamt<br />
veröffentlichte sie mehr als<br />
sechzig Alben, für die sie mit über 50<br />
Goldenen, über 30 Platin- und mehr als<br />
18 Multi-Platin-Schallplatten ausgezeichnet<br />
wurde. Puh. Unser heimlicher Favorit:<br />
Duets, auf denen sich Stars wie<br />
Celine Dion, Frank Sinatra, Judy Garland<br />
u. v. m. die Ehre geben.<br />
Z.B. über amazon.de<br />
Lieblingszitat! Mit unerschütterlicher Zuversicht treibt die<br />
rothaarige Fanny Brice (Barbra Streisand in Funny Girl) ihre<br />
Karriere voran. Zwischen all den Follies-Showgirls fühle sie sich<br />
jedoch wie ein „Bagel auf einem Teller voller Zwiebelbrötchen“.<br />
„I’m a bagel on a plate full of onion rolls.“<br />
Schöne Hochstaplerin<br />
Nicht nur Amy Winehouses Look wäre ohne Barbra nicht denkbar<br />
gewesen: Ihre Hochsteckfrisur mit stark toupiertem Hinterkopf wurde<br />
in den Sechzigerjahren als „Bienenkorb“ bekannt. Auf diesem T-Shirt<br />
wird die Haarpracht (und unser Geburtstagskind!) gefeiert.<br />
Über society6.com<br />
Fotos: Hersteller; Pexels/Marina Leonova<br />
27 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 27 10.05.22 09:31
MATOK & MAROR<br />
Das o.m.k am Hohen Markt garantiert<br />
„Mochi“-Flair und Qualität<br />
In zehn Jahren hat sich die Mochi-Familie stark vergrößert.<br />
Eddi Dimant im<br />
neuen o.m.k – das<br />
steht für „omochikaeri“,<br />
Greißlerei auf<br />
Japanisch.<br />
„Wir wussten genau,<br />
was wir wollten:<br />
authentische japanische<br />
Gerichte mit<br />
internationalem Einschlag.“<br />
Eddi Dimant<br />
Dimant und seine Freunde<br />
bringen mit exquisiten Sushi-<br />
„Eddi<br />
Kreationen weltstädtisches Flair<br />
in die Leopoldstadt.“ So lautete unser Vorspann<br />
in der WINA-Gastro-Kolumne, als das<br />
Mochi vor zehn Jahren auf der Praterstraße<br />
eröffnete. Auch unser Magazin war damals<br />
noch ein Baby, wenn auch nicht so reizend<br />
wie der drei Monate alte Elias, den Nicole Dimant<br />
im Arm wiegte. Im Lokal war manches<br />
noch im Entstehen, einiges auch improvisiert.<br />
Mit dem ersten Jahrzehnt ist aber nicht<br />
nur die Dimant-Familie gewachsen, Elias<br />
hat noch zwei Brüder bekommen,<br />
Noah und Jamie, sondern auch das<br />
Mochi-Universum: Mit den ausgefallenen<br />
sowie traditionell japanischen<br />
Speisen der Extraklasse hat<br />
sich das Unternehmen erfolgreich<br />
an mehreren Standorte in Wien<br />
etabliert.<br />
„Das o.m.k am Hohen Markt ist<br />
die Schwester unseres Stammhauses<br />
in der Praterstraße. Ein Asian Gourmet<br />
Shop mitten in der Stadt, wo man gleich essen<br />
oder mitnehmen kann“, erzählt der 46-jährige<br />
Eduard Dimant, der die gesamte kulinarisch-qualitative<br />
Verantwortung trägt. Beim<br />
ehemaligen Stross, wo bis Ende 2020 Textilien<br />
geputzt wurden, werden jetzt kleinere<br />
und größere Köstlichkeiten weggeputzt – an<br />
Stehtischen mit Barhockern.<br />
Aber wenn schon Mochi-Qualität, warum<br />
dann kein gleichwertiges Restaurant wie das<br />
Original? „Genau das war unsere Absicht,<br />
aber wir konnten die Genehmigung dafür<br />
nicht bekommen, weil einige der Wohnungseigentümer<br />
im Haus dagegen waren“, erläutert<br />
Dimant, der in Naharija geboren wurde<br />
und bald darauf mit seiner Familie nach Berlin<br />
zog. Nach einem BWL-Studium begann er<br />
mit 24 Jahren die Lehre und Ausbildung zum<br />
Sushi-Meister in Berlin. „Denn ich wusste<br />
schon mit 16 Jahren, dass ich japanisch kochen<br />
möchte“, lacht Dimant. Sein beruflicher<br />
Weg führte ihn direkt in die Spitzengastronomie:<br />
Vom Grand Hyatt in Berlin ging es<br />
zu diversen Starköchen nach Paris. Es folgten<br />
Jobs im Park Hyatt Zürich und im Hotel Banyan<br />
in Seoul. Mit 32 Jahren leitete Eddi Dimant<br />
bereits das Do & Co Club Restaurant in<br />
München. Mit seinem Freund Tobias Müller<br />
wurde er dann in das Do & Co am Stephansplatz<br />
engagiert, wo beide für die Entwicklung<br />
von nah- und fernöstlichen Speisen<br />
zuständig waren.<br />
Zu viert, jeder hatte inzwischen eine<br />
Partnerin, wagten sie in Wien den Sprung<br />
in die Selbstständigkeit. Bereits vier Monate<br />
nach der Eröffnung wurde das Mochi<br />
für das beste Szene-Gastrokonzept mit der<br />
Trophée Gourmet A la Carte ausgezeichnet.<br />
„Wir wussten genau, was wir wollten: authentische<br />
japanische Gerichte mit internationalem<br />
Einschlag; daher kommt auch der<br />
Name: Mochi sind japanische Klebereisbäll-<br />
chen“, erklärt der Spitzenkoch,<br />
der auch als erfolgreicher<br />
Geschäftsmann noch<br />
träumen kann.<br />
Fünf dieser Träume hat<br />
das Mochi-Team schon realisiert:<br />
Außer dem Stammhaus<br />
in der Praterstraße 15<br />
kamen noch fünf Projekte<br />
dazu:<br />
2014 das o.m.k Take Away<br />
& Deli gegenüber dem<br />
Hauptlokal, in der Praterstraße<br />
16.<br />
2017 die Mochi Ramenbar auf dem Vorgartenmarkt,<br />
Stand 12–29, als eine Hommage<br />
an die Nudelsuppenküche Japans.<br />
2019 die Kikko B in der Schleifmühlgasse 8<br />
(1040 Wien), wo der Fokus auf Sake und Naturweinen,<br />
aber auch auf kreativen Snacks<br />
liegt.<br />
2020 das Mochi am Markt auf dem Vorgartenmarkt,<br />
Stand 16. Hier trifft Japan auf<br />
Peru und auch auf Mexiko.<br />
2021 die Kochwerkstatt K b in der Ferdinandstraße<br />
13 (1020 Wien). Ramen- und Sushi-Masterclasses<br />
sowie andere Kurse werden<br />
hier abgehalten; außerdem ist sie für die<br />
eigene Kochmannschaft ein Ort des Austauschs<br />
und eine Versuchsküche für Dimant<br />
und für alle, die selbst asiatische Köstlichkeiten<br />
zaubern möchten.<br />
„Während der Pandemie-Lockdowns hat<br />
uns das Take-out-Konzept über Wasser gehalten,<br />
daher sind wir jetzt mit dem o.m.k<br />
auf dem Hohen Markt auch glücklich – sollte<br />
neuerlich etwas passieren“, gesteht der dreifache<br />
Vater. Und so drängen sich im neuen<br />
„o.m.k 1010“ die Hungrigen und Durstigen,<br />
um an die köstliche Auswahl an Sushis,<br />
Donburis (heißer Reis mit pikanter Auflage),<br />
Salaten, Nudelsuppen und natürlich<br />
auch Desserts heranzukommen. Neben den<br />
Speisen werden auch japanische Lebensmittel<br />
sowie ein Sortiment an Getränken wie<br />
Kaffee, Matcha, hausgemachte Limonaden<br />
und Craft-Biere angeboten. Apropos: o.m.k.<br />
steht für „omochikaeri“ – das japanische Pendant<br />
zur Greißlerei. <br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel<br />
28 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 28 10.05.22 09:31
WINAKOCHT<br />
Warum ist der Spargel solo,<br />
aber selten Single, ...<br />
... und geht es an Schawuot auch weniger süß? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher<br />
Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut oder<br />
Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Servus liebe WINA-Redaktion,<br />
ich bin, wie man so schön sagt, keine Süße. Mir<br />
ist daher Schawuot einen Tick zu klebrig. Habt<br />
ihr vielleicht ein Rezept, das Milchiges und Honig<br />
der Tradition folgend einbindet, aber meinen<br />
Geschmackssinn nicht verpickt?<br />
Hanna R.<br />
Schawuot ohne Käsekuchen? Das wäre<br />
undenkbar oder anders gesagt: ein<br />
ziemlicher Topfen! Zu Ihrem kulinarischen<br />
Glück ist der Käsekuchen ein<br />
Tausendsassa. Es gibt ihn mit Schokolade<br />
und Obst, aber auch in salzigen Varianten.<br />
Eine davon verraten wir Ihnen<br />
im Rezept anbei, in der sich der Käsekuchen<br />
nicht nur in Form und Farbe,<br />
sondern auch zutatentechnisch seinem<br />
deutschen Namensgeber Käse annähert.<br />
Der von uns vorgeschlagene Kuchen<br />
schmeckt übrigens mit süßen Beilagen<br />
genauso gut wie mit salzigen. So passen<br />
etwa Spinatsalat – mit etwas Honig in<br />
der Vinaigrette – oder auch Obstsalat gut<br />
dazu. Wir empfehlen eine Mischung aus<br />
Zitrusfrüchten, Granatapfel und Physalis.<br />
Die Früchte können ihrerseits mit etwas<br />
Honig gesüßt werden.<br />
Egal ob Feldfrüchte oder Obst als Beilage:<br />
Sie bringen auch noch die Ebene<br />
des Erntedankes mit auf den Tisch. Und<br />
wenn Sie den Obstsalat dann zusätzlich<br />
mit etwas Rosenwasser parfümieren<br />
(dafür 2 TL Rosenwasser, 4 EL Zitronensaft<br />
und 4 EL Honig verrühren), ist<br />
der rituelle Rundumschlag vollends geglückt.<br />
Denn so kann man auch die Tradition<br />
der Sepharden einbinden, die das<br />
Wochenfest auch Fest der Rosen nennen<br />
und Rosenblüten auf die Thorarollen<br />
streuen.<br />
SALZIGER KÄSEKUCHEN<br />
ZUTATEN für ca. 16 Stück<br />
Für den Keksboden:<br />
150 g Cracker (salzig)<br />
100 Gramm Butter<br />
Für die Füllung:<br />
350 g Mascarpone<br />
350 g Magertopfen<br />
150 Gramm reifer, geriebener Gouda<br />
(z. B. über koshercheese.nl/de/koscherergouda-kaese)<br />
6 Eier<br />
400 g Sauerrahm<br />
½ Biozitrone<br />
60 g Speisestärke<br />
Salz, Pfeffer (frisch gemahlen), Muskat<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Cracker in ein Gefriersackerl geben, verschließen<br />
und mit dem Nudelholz fein zerdrücken.<br />
Butter schmelzen und in einer Schüssel unter<br />
die Brösel rühren. Eine Springform (Ø 26 cm)<br />
mit Backpapier auslegen und die Brösel mit den<br />
Händen zu einem festen Boden drücken. Form<br />
für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen.<br />
Mascarpone, Topfen, Gouda und eine Prise<br />
Salz verrühren. Eigelb und Sauerrahm unterrühren.<br />
Die Schale der Zitrone fein abreiben,<br />
Saft auspressen. Zitronenschale, Saft und Speisestärke<br />
unter die Topfenmasse rühren. Das<br />
Eiweiß steif schlagen und unterheben. Mit<br />
Salz, Pfeffer und Muskat abschmecken. Masse<br />
auf dem Kuchenboden verteilen.<br />
Backrohr auf 200°C vorheizen. Den<br />
Kuchen im vorgeheizten Backrohr<br />
auf der unteren Schiene etwa eine<br />
Stunde backen. Nach 30 Minuten<br />
mit Backpapier abdecken, so wird<br />
er nicht zu dunkel. Im geöffneten<br />
Ofen 15 Minuten auskühlen lassen.<br />
Der Kuchen kann lauwarm oder kalt<br />
serviert werden.<br />
Liebe WINA-ExpertInnen,<br />
eine Frage bitte zur Spargelsaison: Wieso findet<br />
diese Delikatesse so oft als „Solospargel“<br />
ausgewiesen, obwohl man doch selten lediglich<br />
eine weiße Stange auf dem Teller serviert?<br />
Judith H.<br />
Freche Zungen behaupten ja, die Bezeichnung<br />
käme daher, weil man<br />
nach dem Spargelgenuss besser „solo“<br />
die Toilette aufsuchen sollte, des Uringeruchs<br />
wegen. Richtig ist natürlich,<br />
dass es sich bei „Solo“ um eine Qualitätsbezeichnung<br />
handelt: Der Albinospargel<br />
erwirbt diese ab einem Durchmesser<br />
von 20 bis 25 mm.<br />
Eines noch zur Beruhigung: Die<br />
Wahrnehmung der stark riechenden<br />
Spargelabbauprodukte im Urin ist übrigens<br />
genetisch bedingt. Nur ein Teil<br />
der Menschheit kann die entstehenden<br />
Gerüche wahrnehmen. Außerdem<br />
gibt es Menschen, denen die Enzyme<br />
zur Metabolisierung der Spargelaromastoffe<br />
fehlen. Ihrem Urin fehlt daher<br />
der charakteristische Geruch nach<br />
dem Delikatessenessen.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at 29<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 29 10.05.22 09:31
Neue Brautechniken<br />
Die Bierfabrik der Kaiserstadt<br />
Zwei Zuwandererfamilien waren für die größte Brauerei Wiens<br />
verantwortlich: die christlichen Drehers aus Süddeutschland und<br />
die jüdischen Mautners aus Böhmen. Ein aktueller Bildband<br />
beschreibt die Geschichte des Schwechater Biers.<br />
Von Reinhard Engel<br />
„<br />
Vor 180 Jahren gab es in Wien eine<br />
fast revolutionäre Entwicklung<br />
in der Brautechnik, die Auswirkungen<br />
auf die ganze Welt hatte.<br />
Anton Dreher braute in Schwechat erstmals<br />
sein Lagerbier, das als neuer Biertyp<br />
einen erfolgreichen Siegeszug durch alle<br />
Kontinente antrat. Zugleich begann Adolf<br />
Ignaz Mautner (später von Markhof) seine<br />
Brautätigkeit in einem damals kleinen Betrieb<br />
in St. Marx am Beginn der Simmeringer<br />
Hauptstraße“, heißt es im Vorwort des<br />
Bildbandes Die Geschichte der Brauerei Schwechat<br />
von Alfred Paleczny, Christian Springer<br />
und Andreas Urban.<br />
Die beiden Brauerei-Gründungen lagen<br />
nur wenige Kilometer voneinander entfernt<br />
und sollten sich etwa 70 Jahre später<br />
in einer Aktiengesellschaft zusammenschließen.<br />
„25 Jahre danach übernahm die<br />
Familie Mautner Markhof diese Brauerei<br />
und führte sie als ,Brauerei Schwechat‘ ein<br />
halbes Jahrhundert als eines der größten<br />
Brauunternehmen Österreichs weiter, bis<br />
sie 1978 ein Tochterbetrieb der heutigen<br />
Brau Union Österreich AG wurde.“<br />
Franz Anton Dreher aus dem schwäbischen<br />
Pfullendorf zog es in der zweiten<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Wien. Er<br />
war ein Nachgeborener, der älteste Bruder<br />
übernahm zu Hause die Gastwirtschaft,<br />
so suchte Franz Anton sein Glück in der<br />
Fremde. In Wien arbeitete er erst als Bäcker<br />
und Bierkellner, dann wagte er sich in<br />
die Selbstständigkeit und pachtete mit der<br />
Mitgift seiner Frau die Herrschaftsbrauerei<br />
der Grafen Königsegg-Aulendorf in Oberlanzendorf.<br />
„Die Brauerei in Oberlanzendorf<br />
war sehr klein“, liest man in Die Ge-<br />
schichte der Brauerei Schwechat. „Sie besaß als<br />
Zugkraft nur eine Kuh. […] Wir wissen von<br />
Franz Anton, dass er bei wirtschaftlichen<br />
Schwierigkeiten manchmal mit seiner Frau<br />
eine Wallfahrt nach Mariazell unternahm,<br />
um Gottes Segen zu erbitten.“<br />
Dreher suchte daher neue, bessere<br />
Chancen und fand sie<br />
1782 im Leopoldstädter<br />
Brauhaus, das er nun<br />
pachtete. Der tüchtige<br />
Anton Dreher<br />
braute in<br />
Schwechat erstmals<br />
sein Lagerbier,<br />
das als<br />
neuer Biertyp<br />
einen erfolgreichen<br />
Siegeszug<br />
durch alle Kontinente<br />
antrat.<br />
Unternehmer brachte<br />
den Betrieb in Schwung<br />
und konnte 14 Jahre später<br />
das Brauhaus Klein<br />
Schwechat kaufen. Die<br />
Pacht des Leopoldstädter<br />
Brauhauses gab er dann<br />
zurück. Sein Sohn Anton<br />
„der Ältere“ sollte für den<br />
geradezu kometenhaften<br />
Aufstieg der Schwechater<br />
Brauerei verantwortlich<br />
zeichnen. Dafür waren<br />
Wagemut und neue<br />
Technologien vonnöten.<br />
Doch am Anfang stand eine „teils unverschämte<br />
Industriespionage“ für die Beschaffung<br />
der neuen Brautechniken. Anton<br />
Dreher reiste – gemeinsam mit einem<br />
Junior der Münchner Spaten-Brauerei –<br />
nach Böhmen, Thüringen und schließlich<br />
nach England, um den aktuellen Stand der<br />
Brauindustrie zu erkunden. Dabei ging es<br />
etwa um den Einsatz von Dampfmaschinen<br />
oder um die Kühlung des Biers, um es haltbarer<br />
zu machen. Die jungen Männer aus<br />
Kontinentaleuropa waren dabei recht einfallsreich.<br />
Wenn man ihnen bei Betriebsbesuchen<br />
nicht erlaubte, Proben zu ziehen,<br />
taten sie das etwa heimlich mit einem Spazierstock,<br />
der ein Ventil und einen röhrenförmigen<br />
Behälter aus Blech enthielt.<br />
Nach seiner Rückkehr nach Wien begann<br />
Dreher, die ersten Modernisierungsschritte<br />
zu setzen, konzentrierte sich immer<br />
mehr auf das so genannte niedergärige<br />
Bier, das sich bei korrekter Kühlung mona-<br />
telang frisch hielt, und wurde<br />
ab Anfang der 1840er-Jahre<br />
außergewöhnlich erfolgreich.<br />
„Die Kombination von<br />
hellem Malz, das gemäß englischer<br />
Mälzungstechnologie<br />
hergestellt wurde, und die<br />
lange kühle Lagerung, entsprechend<br />
der untergärigen<br />
Gärmethode, waren Teil des<br />
Erfolges. Der Wiener Bierstil<br />
eroberte ab 1841 die Welt, die<br />
Art des Herstellverfahrens revolutionierte<br />
das Brauwesen.“<br />
Parallel zur Erweiterung<br />
der Kapazitäten mit den<br />
neuen Produktionsmethoden<br />
baute die Schwechater Brauerei systematisch<br />
ihr Vertriebssystem aus, belieferte immer<br />
mehr Gaststätten in Wien – dem entsprach<br />
natürlich auch ein Sterben kleiner<br />
Brauhäuser. Und die Zahlen gingen steil<br />
nach oben: 1851 erzielte man schon einen<br />
Ausstoß von fast 100.000 Hektoliter, damit<br />
„führte Dreher bereits die größte Brauerei<br />
der Monarchie“. 1860 galt sie als größte<br />
des europäischen Festlandes, nur die englischen<br />
Konkurrenten erzeugten mehr.<br />
Überdies hatte man Betriebsstätten in Ungarn,<br />
Triest und Mähren erworben. Anton<br />
Dreher starb 1863, sein Sohn Anton „der<br />
Jüngere“ war da erst 14 Jahre alt.<br />
Es gelang dem Management dennoch,<br />
die Firma solide weiterzuführen, und als<br />
der Erbe volljährig war, baute er wiederum<br />
aus, investierte daneben auch in Immobilien<br />
und andere Branchen. Am Vorabend<br />
des Ersten Weltkriegs, 1913, kam es dann<br />
zur großen Wiener Braufusion zur „Verei-<br />
© 123RF<br />
30 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 30 10.05.22 09:31
Revolutionäre Kühlmethoden<br />
© 123RF<br />
nigten Brauereien Schwechat, St. Marx,<br />
Simmering – Dreher, Mautner, Meichl Aktiengesellschaft“.<br />
Erfolgreiches Comeback. Die zweite Gruppe,<br />
die in diesem Konzern eine Rolle spielte,<br />
gehörte der Familie Mautner. Diese wiederum<br />
hatte – wie ein halbes Dutzend anderer<br />
– neben Dreher in den 1840er-Jahren<br />
in Wien ebenfalls mit neuen Brautechniken<br />
zu experimentieren begonnen. Diese<br />
Unternehmer stammten zum Teil auch<br />
aus anderen Kronländern, wie Adolf Ignaz<br />
Mautner, der 1840 von Böhmen nach St.<br />
Marx gekommen war und ebenfalls revolutionäre<br />
Methoden, vor allem beim Kühlen,<br />
anwendete.<br />
Adolf Ignaz war freilich sein geänderter<br />
Name, ursprünglich hatte er Abraham<br />
Isaac geheißen. Neben den neuen Braumethoden<br />
– etwas anders als jene der Drehers<br />
– entwickelte er gemeinsam mit steirischen<br />
Brauern industrielle Techniken zur<br />
Hefeproduktion. Um seinen ökonomischen<br />
Aufstieg zu erleichtern, ließ er sich<br />
1846 taufen. Und dieser Aufstieg erfolgte<br />
fast ebenso rasant wie jener der Drehers.<br />
1870 war die St. Marxer Brauerei der Mautners<br />
die drittgrößte auf dem europäischen<br />
Festland, und auch sie verfügte über weitere<br />
Dependancen in der Monarchie. 1872<br />
wurde Adolf Ignaz Mautner zum Ritter von<br />
Markhof nobilitiert.<br />
Der Zusammenschluss der Brauereien<br />
im Großraum Wien – die dritte, kleinere<br />
war jene der Meichls – erfolgte 1913 freilich<br />
nicht nur aus reiner Freude. Es krachte<br />
schon im Gebälk, nicht alle Betriebsstätten<br />
waren auf dem Stand der Zeit, man ver-<br />
suchte sich nach vorne in die Größe zu retten.<br />
Krieg und Elend der Folgejahre sollten<br />
sich auch äußerst negativ auf die ganze<br />
Branche auswirken, die Produktionszahlen<br />
gingen teils dramatisch zurück, früher<br />
profitable Tochterbetriebe befanden<br />
sich auf einmal in anderen Ländern und<br />
mussten verkauft werden. In den 1930er-<br />
Jahren hielten bereits die Banken die Aktienmehrheit<br />
an der Brauerei, die Mautners<br />
hatten sich schwerpunktmäßig auf<br />
ihre Lebensmittelindustrie zurückgezogen.<br />
Doch dann gelang der nächsten Generation<br />
„ein sehr erfolgreiches Comeback“.<br />
Unter der Leitung von Georg III. schafften<br />
es vier Brüder bzw. Cousins, die Aktienmehrheit<br />
zu erwerben, vor allem die<br />
Creditanstalt hatte durchblicken lassen,<br />
dass sie ihre Industriebeteiligungen reduzieren<br />
wollte. Es wurde ein komplexes<br />
Geschäft, aber Ende 1936 hatten es die<br />
Mautners geschafft. Doch bald wurde Österreich<br />
von Nazi-Deutschland annektiert,<br />
und nun ging der Kampf um die Brauerei<br />
weiter. Mit Verhaftungen versuchten die<br />
neuen Machthaber, die Besitzer zur Übergabe<br />
zu erpressen, aber die lange zurückliegende<br />
Taufe des Vorfahren Ignaz gab<br />
keine aktuelle Handhabe nach den NS-<br />
Rassengesetzen, die Mautners galten nur<br />
mehr als „Achteljuden“.<br />
Man konnte<br />
ihnen die Fabriken<br />
nicht einfach wegnehmen,<br />
zwang sie<br />
aber, aus der Geschäftsführung<br />
abzutreten.<br />
Nach dem Krieg<br />
sollten dann zwei<br />
Generationen von<br />
Mautners – Manfred<br />
Mautner Markhof I.<br />
und später Manfred<br />
II. – als Brauer,<br />
Industrielle und<br />
Kultursponsoren<br />
das Außenbild der<br />
Schwechater Brauerei<br />
prägen. Doch<br />
Ende der 1970er-<br />
Jahre schrieb man<br />
Verluste, und 1978<br />
kam es zur ersten<br />
Fusion mit der<br />
Brau-Holding der<br />
Linzer Brau AG.<br />
1998 schloss man<br />
sich noch mit der<br />
Steirerbrau zusammen, 2003 übernahm<br />
schließlich der niederländische Heineken-<br />
Konzern. Aktuell ist Schwechater eine Biermarke<br />
in einem internationalen Portfolio,<br />
gebraut wird nach wie vor am alten Standort,<br />
Lagerbier, Zwickl und Wiener Lager.<br />
Zusätzlich füllt man andere Konzernmarken<br />
in Dosen ab, das Bier wird dafür aus<br />
Göss oder Wieselburg in Tankwagen angeliefert.<br />
„Heute Abend:<br />
So wie musikalisch,<br />
aber leakalisch!“<br />
Konzert: Lea Kalisch &<br />
Bela Koreny<br />
14.06.<strong>2022</strong>, 20:00<br />
Porgy & Bess<br />
Zusammen mit Bela Koreny<br />
wird Lea Kalisch jiddische<br />
Evergreens „aufpeppen“,<br />
vergessenen Melodien<br />
neues Leben einhauchen und<br />
Eigenkompositionen vortragen.<br />
Sie performt eigenwillig und<br />
manchmal ungeschliffen – ist<br />
aber immer darauf aus, die<br />
Neshume (jiddisch „Seele“)<br />
zu berühren und einen Hüftschwung<br />
herauszukitzeln.<br />
Tickets: www.porgy.at<br />
Porgy & Bess<br />
Riemergasse 11<br />
1010 Wien<br />
Alfred Paleczny, Christian<br />
Springer, Andreas Urban:<br />
Die Geschichte der<br />
Brauerei Schwechat.<br />
Von den Bierbaronen Dreher<br />
und Mautner Markhof in die<br />
Gegenwart. Böhlau 2021,<br />
280 S.,€ 36<br />
Liz Daza<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 31 10.05.22 09:31
Neuer Standort für Rassismus-Studien<br />
Weil Antisemitismus nicht nur<br />
von rechts kommt<br />
Am Standort Aachen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen<br />
wurde Ende 2020 das Centrum für Antisemitismus-<br />
und Rassismusstudien (CARS) gegründet. Stephan<br />
Grigat, der seit vielen Jahren an der Universität Wien<br />
lehrt, hat dort nun eine Professur für Theorien und Kritik<br />
des Antisemitismus übernommen. Gemeinsam mit dem<br />
Politikwissenschafter Martin Spetsmann-Kunkel wird er<br />
zudem das Centrum leiten. Beide machen gegenüber WINA<br />
klar: Das CARS werde andere Schwerpunkte setzen als vergleichbare<br />
Einrichtungen im deutschsprachigen Raum.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Traditionell setzen sich Universitäten<br />
vor allem mit dem rechten<br />
Antisemitismus auseinander. Der<br />
linke Antisemitismus beziehungsweise<br />
der israelbezogene Antisemitismus, aber<br />
auch die Judenfeindlichkeit von muslimischer<br />
Seite sind eher im Bereich von politischen<br />
Initiativen Thema. In Aachen will<br />
man sich nun „mit allen Erscheinungsformen<br />
des Antisemitismus“ befassen, wie<br />
Grigat betont. Besonderes Augenmerk<br />
soll dabei aber auf den israelbezogenen<br />
und den islamischen Antisemitismus gelegt<br />
werden.<br />
Ersterer sei vor allem in der Linken anzutreffen,<br />
zweiterer sei in der politischen<br />
Rechten ein Thema, in der Linken gebe<br />
es allerdings Hemmungen, diesen zu thematisieren,<br />
„weil immer die Angst da ist,<br />
man könnte in Rassismus abgleiten“. Grigat<br />
erklärt, hier gehe es auch darum, gegen<br />
Irrwege spezifischer Ausformungen<br />
eines Pseudoantirassismus aufzutreten.<br />
Was er damit meint? Eine gewisse Form<br />
der Identitätspolitik, der es nur mehr um<br />
Anerkennung und nicht mehr um gesellschaftspolitische<br />
Rassismuskritik gehe.<br />
Die Hochschule ist eine kirchliche – wie<br />
sieht es da mit christlichem Antisemitismus<br />
aus? „Nach meiner Überzeugung<br />
muss für ein Centrum an einer deutschen<br />
Hochschule in katholischer Trägerschaft<br />
das Eingeständnis der<br />
Schuld von Deutschen<br />
und Christen und Christinnen<br />
für die Shoah und<br />
die damit verbundene<br />
historische Verantwortung<br />
leitend sein“, sagt<br />
Besonderes<br />
Augenmerk<br />
soll dabei auf<br />
den israelbezogenen<br />
und<br />
den islamischen<br />
Antisemitismus<br />
gelegt<br />
werden.<br />
dazu Spetsmann-Kunkel.<br />
Anders als andere<br />
Einrichtungen an Hochschulen<br />
positioniert sich<br />
das CARS dabei nicht nur<br />
als Forschungsstelle, man<br />
bezieht auch Position.<br />
Dazu Spetsmann-Kunkel: „Das Centrum<br />
erklärt sich solidarisch mit dem Staat<br />
Israel und dem jüdischen Volk. Dies beinhaltet<br />
– nach meiner tiefsten Überzeugung<br />
– auch die Verpflichtung, die Existenz,<br />
das Selbstbestimmungsrecht und Selbstverteidigungsrecht<br />
Israels zu unterstützen<br />
und sich für die Anerkennung Israels<br />
durch die arabischen Nachbarn einzusetzen.<br />
Die Mitglieder des Centrums verurteilen<br />
jegliche Form von Antisemitismus.<br />
Das schließt den israelbezogenen Antisemitismus<br />
ein.“<br />
All das wird sich auch im Tätigkeitsbereich<br />
des Centrums widerspiegeln. Einerseits<br />
soll es projektbezogene Forschung geben,<br />
anderseits Publikationen. Die erste<br />
wird sich mit den unterschiedlichen Er-<br />
scheinungsformen des israelbezogenen<br />
Antisemitismus befassen, kündigt Grigat<br />
an. Im Rahmen seiner Professur wird er<br />
vor allem aber auch lehren. An der Hochschule<br />
werden künftige Sozialarbeiter<br />
und Sozialarbeiterinnen ausgebildet. Sie<br />
für Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren,<br />
sei „ein drängendes Thema:<br />
Die Sozialarbeit ist aktiv mit dem Thema<br />
konfrontiert.“ Wichtig sei es da etwa auch,<br />
über die Geschichte des Nahostkonflikts<br />
Bescheid zu wissen. Theoretischer Bezugspunkt<br />
soll dabei die Kritische Theorie sein<br />
und damit die Ideenwelt von Theodor W.<br />
Adorno und Max Horkheimer.<br />
Das CARS will sich aber auch mit Einrichtungen<br />
und Organisationen<br />
international vernetzen,<br />
beispielsweise mit<br />
dem Institute for the Study<br />
of Contemporary Antisemitism<br />
an der University<br />
of Indiana in Bloomington<br />
und dem in Gründung begriffenen<br />
London Center for<br />
the Study of Contemporary<br />
Antisemitism. Auch mit zivilgesellschaftlichen<br />
Institutionen<br />
und antisemitismuskritischen<br />
Initiativen<br />
wie der Amadeo Antonio<br />
Stiftung und der Recherche-<br />
und Informationsstelle Antisemitismusstelle<br />
(RIAS) in Deutschland oder<br />
MENA Watch in Österreich kann Grigat<br />
sich eine Zusammenarbeit gut vorstellen.<br />
„Wenn es um eine Kritik des Antisemitismus<br />
einerseits und eine adäquate Darstellung<br />
des Nahostkonflikts andererseits<br />
geht, wären das naheliegende Kooperationspartner.“<br />
Eine enge Zusammenarbeit<br />
wird es zudem mit dem Gordon College<br />
in Haifa geben, einer der ältesten Lehrerausbildungsstellen<br />
in Israel. Ein Vertrag<br />
über die konkrete künftige Zusammenarbeit<br />
ist dazu derzeit in Ausarbeitung. Ein<br />
Fokus dieser Kooperation soll jedenfalls<br />
im Bereich Holocaust Education liegen.<br />
katho-nrw.de/forschung-und-transfer/forschungsinstitute/centrum-fuer-antisemitismus-und-rassismusstudien-cars<br />
32 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 32 10.05.22 09:31
HIGHLIGHTS | 03<br />
Detail um Detail<br />
Eine opulente Pariser Schau über Marcel<br />
Prousts Jude-Sein.<br />
Auch <strong>2022</strong> ist Proust-Jahr. Denn Marcel Prousts<br />
Todestag jährt sich am 18. November zum 100.<br />
Mal. Mit Marcel Proust – Du côté de la mère widmet<br />
das Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme<br />
dem Großepiker eine beeindruckende, Augen öffnende<br />
Schau. Mit 230 Kunstwerken und Dokumenten<br />
wird opulent nachgezeichnet, wie er sich durch<br />
die Belle Époque bewegte und doch auf Distanz gehalten<br />
wurde – weil Jude. Prousts Urgroßvater Baruch<br />
Weil (1780–1828) hatte die französische Staatsbürgerschaft<br />
erst mit zehn erhalten, Baruchs Vater<br />
signierte noch mit hebräischen Schriftzeichen. Evelyne<br />
Bloch-Dano, die Biografin von Marcel Prousts<br />
Mutter, einer geborenen Weil: „Ein Architekt, ein<br />
Börsenmakler, ein Industrieller, ein Militär, ein Richter<br />
und ein Bankier: Moïse Weil, Nathé Weil, Lazare<br />
Weil, dazu Abraham Weil, Benoît Cohen und Joseph<br />
Lazarus, die Söhne und Schwiegersöhne<br />
Baruch Weils – Elsässer und ein Holländer<br />
–, waren in ihren Berufen alle<br />
erfolgreich. Diese Männer hatten<br />
nicht die Leichtigkeit der begüterten<br />
aristokratischen Müßiggänger und<br />
verstanden sich nicht darauf, ihr Vermögen<br />
leichtfertig zu genießen. Dank<br />
harter Arbeit, Hartnäckigkeit und ehrgeizigen<br />
Bemühungen hatten sie die<br />
gesellschaftliche Leiter Frankreichs<br />
erklommen. Sie stehen für die erste<br />
Generation Juden, die als französische<br />
Staatsbürger geboren wurden.“ A.K<br />
MARCEL PROUST – DU CÔTÉ DE LA MÈRE<br />
Pariser Musée d’art et d’histoire<br />
28. August <strong>2022</strong><br />
mahj.org<br />
Rache: der<br />
Baseballschläger<br />
aus Inglourious<br />
Basterds.<br />
Marcel Proust (1871–1922)<br />
nach einer Fotografie von<br />
Otto Wegener von Jean-<br />
Baptiste Chevalier.<br />
MUSIKTIPPS<br />
Rächt euch!<br />
Ausstellungsraum der<br />
aktuellen Schau im<br />
Museum Frankfurt.<br />
Zahn um Zahn<br />
Eine anregend oszillierende Schau im<br />
Jüdischen Museum Frankfurt<br />
Darf man das? Oder ist man da schon in den<br />
intellektuellen Niederungen US-amerikanischer<br />
Fernsehkrimis, in denen Opfer oder Nachkommen<br />
Hingemetzelter Gerechtigkeit einfordern<br />
– im Grunde aber Alttestamentarisches<br />
meinen, Auge um Auge, also: Rache?<br />
Sprachhistorisch ist es wohl kein Zufall, dass<br />
von „Rachedurst“ die Rede ist. In so mancher<br />
Barockoper wird furios Leiden in Rache umgewandelt.<br />
Sozialpsychologisch wird Rache eher<br />
umtänzelt. Und sie ist museal nie wirklich beleuchtet<br />
worden. Bis jetzt.<br />
Rache. Geschichte und Fantasie ist die mit<br />
rund 80 Exponaten bestückte Schau im Jüdischem<br />
Museum in Frankfurt am <strong>Mai</strong>n überschrieben.<br />
Spiritus rector ist der Berliner Max<br />
Czollek. Die Museumsdirektorin Mirjam Wenzel<br />
stieß in seinem Buch Desintegriert Euch! auf ein<br />
Kapitel über Rache. Gemeinsam erarbeiteten<br />
sie diese anregende, anregend oszillierende kulturhistorische<br />
Schau, die von Judith und Samson<br />
bis zur Shoah und der unmittelbaren Gegenwart<br />
reicht. Ein abgedunkelter Raum. Darin<br />
nur ein Objekt. Ein Baseballschlager aus hartem<br />
Holz. Eingekratzt: Namen in lateinischer Schrift<br />
und auf Hebräisch. Es ist das Sportgerät, das<br />
Donny Donowitz in Quentin Tarantinos Rache-<br />
Film Inglorious Basterds verwendet, um Rache<br />
zu nehmen und einen deutschen Soldaten totzuschlagen.<br />
Und im Museumscafé gibt es sogar<br />
einen kühlen Drink mit Namen Rache. A.K.<br />
RACHE. GESCHICHTE UND FANTASIE<br />
Jüdisches Museum Frankfurt<br />
bis 17. Juli <strong>2022</strong><br />
juedischesmuseum.de<br />
HERSCH<br />
Woran liegt es, dass der Jazzpianist<br />
Fred Hersch trotz Auszeichnungen<br />
und vieler Einspielungen bei der<br />
breiten Masse noch immer eher in der Rubrik<br />
„Geheimtipp“ unterwegs ist? Breath by<br />
Breath (Palmetto) nahm er auf nach vielen Covid-Heimkonzerten.<br />
Jetzt wollte er wieder live<br />
spielen. Und zwar mit einem Streichorchester.<br />
Das Ganze: schwebend meditativ. Transparent.<br />
Gelassen. Und beschwingt melancholisch.<br />
LEONSKAJA<br />
Elisabeth Leonskaja, einst Wunderkind,<br />
lebt nun schon seit einem<br />
halben Jahrhundert in Wien. Erst jetzt, mit 75,<br />
wagt sie sich an eine Mozart-Kompletteinspielung.<br />
Auf den sechs CDs von Mozart – Klaviersonaten<br />
Nr. 1– 18 (Warner) ist ihr Pianospiel so<br />
anmutig irisierend leicht wie klar und klug<br />
durchdacht – und dabei in nur neun (!) Tagen<br />
aufgenommen. Keine Romantisierung. Dafür<br />
Intensität. Und Glück. Großartig.<br />
KARMON GULDA<br />
Erst Hillers Gebet. . Eine Mozart-<br />
Kantate. Salomon Sulzers Trost.<br />
Eyal Bats 3 Lieder für Else Lasker-Schüler. . Berg.<br />
Bernsteins So pretty. . Das Programm, das die<br />
Sängerin Shira Karmon und der Pianist Paul<br />
Gulda 2018 zusammenstellten und jetzt als<br />
Pieces of Hope/Hopes for Peace (Gramola)<br />
pressen ließen, ist so originell wie überra-<br />
schend. Anrührend universell. Musikalisch<br />
humanistisch. Und wichtiger denn je. A.K.<br />
© Pariser Musée d’art et d’histoire /© Otto Wegener / TopFoto / Roger-Viollet Mise en couleur Jean-Baptiste Chevalier © Doc Levin; Lukas Pichelmann; Norbert Miguletz / Jüdischen Museum Frankfurtl<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 33 10.05.22 09:31
Fürs Überleben tanzen<br />
Schon vor der weltweiten Pandemie<br />
litten Menschen unter zunehmender<br />
Arbeitsverdichtung, aber auch<br />
Abgrenzungsproblemen: Wo endet<br />
der Job, wo beginnt das Private? Checke ich<br />
noch spätnachts meine <strong>Mai</strong>ls oder nehme<br />
berufliche Anrufe entgegen? Bin ich dann<br />
beim Einschlafen mit dem Kopf beim<br />
nächsten Meeting oder doch der Frage,<br />
was ich in meiner Freizeit am nächsten<br />
Wochenende unternehmen möchte? Entgrenztes<br />
Arbeiten sagen die Fachleute dazu.<br />
Dieses führt wiederum zu Konflikten in der<br />
Beziehung, das Familienleben leidet.<br />
Die Coronakrise zeigte diese und weitere<br />
Phänomene wie mit einer Lupe nochmals<br />
klar auf. Sie offenbarte die Defizite<br />
im Schulwesen, das zwar schon seit mittlerweile<br />
Jahrzehnten Digitalisierung predigte,<br />
diese aber nicht umsetzte. Sie verstärkte<br />
den Pflegenotstand und führte vor,<br />
dass gerade die Berufe, die als systemerhaltend<br />
gelten, oft, weil weiblich dominiert,<br />
viel zu niedrig entlohnt werden. Kurzarbeit<br />
oder gar Kündigungen, die Überbelastung<br />
der einen, etwa jener, die in Spitälern<br />
arbeiten, die zu große Nähe auf zu<br />
engem Raum in Familien, in denen nicht<br />
jedes Kind sein eigenes Zimmer hat, spitzten<br />
die Situation weiter zu. Psychische Probleme<br />
nahmen zu, Ängste verstärkten sich,<br />
manche radikalisierten sich.<br />
Doch was all dem entgegensetzen? Hier<br />
kommt die Resilienz ins Spiel. Sie bezeichnet<br />
die Fähigkeit, trotz widriger Umstände<br />
sein Leben ohne Schaden zu nehmen meistern<br />
zu können. Achtsamkeit, Psychohygiene,<br />
Entschleunigung, Nachhaltigkeit sind<br />
hier weitere Mosaiksteine zu einem gelingenden<br />
Leben. Doch wie wird man resilient?<br />
Und kann man das lernen?<br />
Interessanterweise haben hier gerade<br />
Menschen wie eben Frankl oder Eger viel<br />
zu geben. Sie durchlebten die Hölle, gaben<br />
aber niemals auf. Eger ist dabei<br />
noch ein Stück selbstreflexiver als einst<br />
Frankl – vielleicht ist das auch dem Umstand<br />
geschuldet, dass sie nun erst in hohem<br />
Alter, mit 90 Jahren, ihre Lebenserinnerungen<br />
veröffentlichte, die sie allerdings<br />
mit einer Botschaft verquickte: Es gilt, innere<br />
Freiheit zu erreichen. Sie überlebte<br />
Auschwitz – und blieb dennoch gefühlt frei,<br />
auch während der Inhaftierung an einem<br />
Ort, an dem versucht wurde, Menschen zu<br />
entmenschlichen.<br />
Eger kam 1927 in Košice/Kassa (zunächst<br />
tschechoslowakisch, dann ungarisch) zur<br />
Welt, wo sie auch aufwuchs. Wichtig waren<br />
ihr in ihrer Kindheit und Jugend der Balletttanz<br />
und die Gymnastik. Als sie 1944 in<br />
Auschwitz ankam, schafften es ihre Schwester<br />
und sie durch die Selektion Josef Mengeles<br />
– ihre Mutter aber wurde sofort ins Gas<br />
geschickt. Sie selbst musste in ihrer Baracke<br />
für Mengele tanzen. Die Schilderung dieser<br />
Szene ist einer der Schlüsselmomente ih-<br />
Trotz allem positiv in<br />
die Zukunft schauen<br />
res Buches In der Hölle tanzen. Wie ich Auschwitz<br />
überlebte und meine Freiheit fand.<br />
Viktor Frankls Buch, in dem<br />
er über seine Zeit im Konzentrationslager<br />
schreibt und<br />
gleichzeitig betont, dennoch<br />
gebe es einen Sinn im Dasein<br />
– ... trotzdem Ja zum Leben sagen<br />
– ist seit Jahrzehnten ein<br />
Klassiker. Im deutschsprachigen<br />
Raum noch weniger<br />
bekannt sind die Bücher der<br />
US-Psychologin Edith Eger,<br />
die sie 2017 und 2020 veröffentlichte<br />
und die inzwischen<br />
auch auf Deutsch erschienen<br />
sind. Auch sie ist eine Überlebende,<br />
auch sie zeigt auf, wie<br />
viel Kraft man in aussichtslos<br />
scheinenden Situationen<br />
noch aus sich selbst schöpfen<br />
kann. Aktuell wird uns<br />
allen viel Kraft abverlangt:<br />
Die Pandemie ist immer noch<br />
nicht überstanden, der Krieg<br />
in der Ukraine brachte einen<br />
weiteren Einschnitt, dazu<br />
zeichnet sich durch hohe Inflation<br />
und massive Preissteigerungen<br />
vor allem bei Rohstoffen<br />
eine wirtschaftlich<br />
schwierige Phase ab. Die Lektüre<br />
von Egers Büchern verscheucht<br />
dabei eindrucksvoll<br />
das Gefühl von Hoffnungslosigkeit.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Die Opferrolle ist optional. „Als Erstes der<br />
hohe Kick. Dann die Pirouette und die Drehung.<br />
Der Spagat. Und wieder hoch. Während<br />
ich schreite, mich beuge und herumwirble,<br />
höre ich, wie Mengele mit seinem<br />
Assistenten spricht. Er wendet seine Augen<br />
nie von mir ab, aber während er zusieht,<br />
kommt er seinen Pflichten nach. Ich höre<br />
seine Worte durch die Musik hindurch. Er<br />
unterhält sich mit dem anderen Aufseher<br />
darüber, welche der hundert anwesenden<br />
Mädchen die Nächsten sind, die ermordet<br />
werden. Wenn mir ein Schritt misslingt,<br />
wenn ich etwas mache, was ihm missfällt,<br />
könnte ich darunter sein. Ich tanze. Ich<br />
tanze. Ich tanze in der Hölle. Ich ertrage<br />
es nicht, den Henker zu sehen, der gerade<br />
unser Schicksal bestimmt. Ich schließe die<br />
Augen. Ich konzentriere mich auf meinen<br />
Tanz, auf mein jahrelanges Training. [...]<br />
In der geheimen Finsternis in meinem Inneren<br />
höre ich wieder die Worte meiner<br />
Mutter, als wäre sie hier in diesem trostlosen<br />
Raum und raunte mir unter den Klängen<br />
der Musik zu: Denk daran, niemand<br />
kann dir das wegnehmen, was du in deinen<br />
Kopf hineingetan hast. Doktor Mengele<br />
verschwindet, meine bis auf die Knochen<br />
abgemagerten Mitgefangenen, die<br />
Trotzigen, die überleben werden, und die<br />
bald schon Toten, sogar meine geliebte<br />
Schwester, verschwinden, und die einzige<br />
Welt, die existiert, ist die Welt in meinem<br />
Kopf. [...] Der Fußboden der Baracke wird<br />
© dreditheger.com<br />
34 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 34 10.05.22 09:31
Konstruktiv weiterleben<br />
© dreditheger.com<br />
„Denk daran,<br />
niemand kann<br />
dir das wegnehmen,<br />
was<br />
du in deinen<br />
Kopf hineingetan<br />
hast.“<br />
Edith Eger<br />
Edith Eger:<br />
In der Hölle tanzen.<br />
Wie ich Auschwitz<br />
überlebte und meine<br />
Freiheit fand.<br />
btb, 480 S.,<br />
€ 12,90<br />
Edith Eger:<br />
Das Geschenk.<br />
12 Lektionen für<br />
ein besseres Leben.<br />
btb, 256 S.,<br />
€ 20,95<br />
hen zu lernen, zu studieren, eine Ausbildung<br />
abzuschließen, wird sie dadurch<br />
immer wieder zurückgeworfen, doch am<br />
Ende macht sie ihren<br />
Weg: Sie wird zunächst<br />
Lehrerin, studiert weiter<br />
und kann schließlich<br />
1978 beginnen, als Psychologin<br />
zu arbeiten. Da<br />
ist sie 51 Jahre alt.<br />
Viele ihrer Patienten<br />
haben schwere Traumata<br />
erlitten, unter ihnen<br />
auch Soldaten. Ihnen<br />
hilft sie, dennoch mit Zuversicht<br />
in die Zukunft zu<br />
schauen. An diesen Fallgeschichten<br />
lässt Eger<br />
den Leser in ihren Lebenserinnerungen<br />
ebenfalls<br />
teilhaben. So verdichtet<br />
sie anhand vieler<br />
Beispiele, wie es trotz<br />
schlechter Ausgangslage<br />
möglich ist, konstruktiv<br />
weiterzuleben.<br />
Was an ihren Ausführungen<br />
berührt: Sie beschönigt<br />
nichts. Sie leitet<br />
niemanden mit Kalendersprüchen<br />
an, immer<br />
das Licht zu sehen, selbst<br />
wenn da Schatten ist.<br />
Nein, sie schreibt, dass<br />
sie selbst bis heute an Flashbacks und Albträumen<br />
leidet. Sie thematisiert ihre Überlebensschuld<br />
und fragt sich bis heute, ob<br />
ihre Antwort auf Mengeles Frage „Mutter<br />
oder Schwester?“, die sie mit „Mutter“ beantwortete,<br />
möglicherweise Ausschlag gebend<br />
dafür war, dass die Mutter noch am<br />
Tag der Ankunft in Auschwitz ermordet<br />
wurde. Eger warnt davor, die traumatisierenden<br />
Erlebnisse zur Seite zu schieben<br />
und zu verdrängen. Man muss sich ihnen<br />
stellen. Aber man darf sich nicht von ihnen<br />
gefangen nehmen lassen. Und genau<br />
das ist ihre Botschaft: Jeder ist frei, die Entscheidung<br />
zu treffen, nicht im Leid zu verzur<br />
Bühne des Budapester Opernhauses.<br />
Ich tanze für meine Bewunderer im Publikum.<br />
Ich tanze im Schein heißer Scheinwerfer.<br />
[...] Ich tanze für Leben.“<br />
Und während dieses Tanzes mit geschlossenen<br />
Augen, vor Mengele, der jeden<br />
Moment das Todesurteil treffen<br />
könnte, formiert sich im Kopf der 16-Jährigen<br />
ein Gedankenkonstrukt, das ihr<br />
ganzes weiteres Leben – positiv – bestimmen<br />
sollte. „Mitten in meinem<br />
Tanz entdeckte ich ein<br />
Stück Weisheit, das ich nie<br />
vergessen habe. Ich werde<br />
nie erfahren, welches Wunder<br />
der Gnade mir diese Einsicht<br />
gewährt, Es wird mein<br />
Leben viele Male retten, auch<br />
dann noch, als das Grauen<br />
vorüber ist. Ich erkenne,<br />
dass Dr. Mengele, der erfahrene<br />
Mörder, der erst heute<br />
Morgen meine Mutter ermordet<br />
hat, bemitleidenswerter<br />
ist als ich. Ich bin frei<br />
in meinem Kopf, was er niemals<br />
sein kann. Er wird immer<br />
mit dem leben müssen,<br />
was er getan hat. Er ist gefangener,<br />
als ich es bin.“<br />
Eger sollte noch viele Höllentage<br />
durchleben, aber sie<br />
überlebte, mehr schlecht als<br />
recht. Viel später hätte die<br />
Befreiung nicht stattfinden<br />
dürfen, sie war krank, sie war<br />
massiv abgemagert. 35 Kilo<br />
habe sie bei Kriegsende gewogen,<br />
erinnert sie sich, sie<br />
musste langsam wieder zu<br />
Kräften kommen, an Gewicht<br />
zunehmen und eine Lungenerkrankung<br />
auskurieren. Was sollte aber nach Auschwitz<br />
noch kommen? Nun, das Leben hielt<br />
für Eger noch so manche Misslichkeit bereit.<br />
Die Inhaftierung ihres Mannes im<br />
kommunistischen Ungarn – sie holt ihn<br />
mit einem Kleinkind am Arm aus dem Gefängnis,<br />
sie fliehen zunächst nach Wien,<br />
emigrieren dann weiter in die USA. Dort<br />
schwierige Anfangsjahre mit belastender<br />
Fabriksarbeit und mühsamem Erlernen<br />
des Englischen, von ihren drei Kindern<br />
kommt eines mit einer Beeinträchtigung<br />
zu Welt, eine Ehekrise inklusive Scheidung<br />
und Wiederverheiratung. In ihrem Bemüharren,<br />
sondern das Beste aus dem weiteren<br />
Leben zu machen.<br />
In ihrem Buch Das Geschenk leitet sie<br />
die Leserinnen in zwölf Lektionen an, wie<br />
sie selbst zu diesem Punkt, zu dieser Entscheidung<br />
kommen können. Ein wesentliches<br />
Moment dabei: sich aus der Opferrolle<br />
zu befreien. „Meiner Erfahrung nach<br />
fragen Opfer: ‚Warum ich?‘ Kämpfernaturen<br />
fragen: ‚Was jetzt?‘ Leiden ist universell.<br />
Aber die Opferrolle ist optional.<br />
Es gibt keine Möglichkeit, Menschen oder<br />
Umständen zu entkommen, die uns verletzen<br />
oder unterdrücken. Die einzige Garantie<br />
besteht darin, dass wir, egal wie freundlich<br />
wir sind oder wie schwer wir arbeiten,<br />
Schmerz empfinden werden. Wir werden<br />
von Umwelt- oder genetischen Faktoren<br />
beeinflusst werden, über die wir wenig<br />
oder gar keine Kontrolle haben. Aber wir<br />
alle haben die Wahl, ob wir in der Opferrolle<br />
bleiben oder nicht. Wir können nicht<br />
auswählen, was uns widerfährt, aber wir<br />
können sehr wohl wählen, wie wir mit unserer<br />
Erfahrung umgehen.“<br />
Auch in diesem Buch webt sie einerseits<br />
persönliche Erfahrungen, andererseits<br />
Fallgeschichten ihrer Patienten mit<br />
ein. Sie haben entweder Traumata erfahren<br />
oder leben in belastenden Beziehungsgeflechten<br />
oder sind schwer erkrankt. Was<br />
Eger hier klar herausarbeitet: Es ist das<br />
Leid des einen nicht schwerer oder leichter<br />
als das Leid der anderen. Es gibt hier<br />
keine Hierarchie. Oder anders formuliert:<br />
Man muss nicht in Auschwitz gewesen sein,<br />
um die Dinge nur mehr düster und keinen<br />
Ausweg mehr zu sehen. Indem sie aber beschreibt,<br />
wie sie all diese Menschen unterstützte,<br />
die innere Freiheit zu erkennen<br />
und auszuleben, nimmt sie auch die Leserinnen<br />
an der Hand und leitet sie an, Gefängnisse<br />
nicht nur von außen nicht zuzulassen,<br />
sondern auch nicht innerlich selbst<br />
aufzubauen. Und so schrecklich ihre Schilderungen<br />
der NS-Zeit sind: Sie schafft es<br />
eindrücklich, Zuversicht zu vermitteln<br />
und, ja, aufzuzeigen, wie Resilienz dennoch<br />
möglich ist.<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 35 10.05.22 09:31
Geschichte der Vorurteile<br />
„RÄCHEN, DASS DI<br />
GRUNDFESTEN E<br />
Das Thema der jüdischen<br />
Rache war nach dem Krieg<br />
lange ein Tabu, auf Seiten<br />
der NS-Täter und ihrer Nachkommen<br />
aus Angst vor den<br />
Rächern, jüdischerseits oft<br />
aus Angst, damit erneut antisemitische<br />
Ressentiments<br />
hervorzurufen. Ganz ohne<br />
Scheu widmen sich nun die<br />
Ausstellung Rache. Geschichte<br />
und Fantasie in Frankfurt und<br />
ein neues Buch diesem verdrängten<br />
Sujet.<br />
Von Anita Pollak<br />
Max Czollek, Erika Riedel, Miriam Wenzel:<br />
Rache. Geschichte und Fantasie.<br />
Hanser <strong>2022</strong>,<br />
176 S., € 26,80<br />
Die gleichnamige Ausstellung im<br />
Jüdischen Museum Frankfurt ist bis<br />
17. Juli <strong>2022</strong> zu sehen.<br />
juedischesmuseum.de<br />
„Die wenigen<br />
aber, die bleiben<br />
werden, müssen<br />
ihre ermordeten<br />
Brüder rächen.“<br />
Vom so gern missgedeute-<br />
ten Bibelvers „Aug um Auge“<br />
bis zum Bild „Wie Schafe<br />
zur Schlachtbank“, also von<br />
der „alttestamentarischen“<br />
Rachsucht der Juden bis hin zu ihrer Op-<br />
ferrolle in der Shoah spannt sich ein Bogen<br />
der Vorurteile in der Geschichte.<br />
Gleichsam in Bestätigung des Klischees,<br />
„die dritte Generation will sich an das er-<br />
innern, was die zweite<br />
zu vergessen sucht“,<br />
beleuchten gerade An-<br />
gehörige der besagten<br />
dritten<br />
Generation<br />
diese Vorurteile und<br />
ihre Folgen.<br />
Bereits in sei-<br />
ner Streitschrift Des-<br />
integriert euch! (2018)<br />
hatte der junge Pub-<br />
lizist und Lyriker Max<br />
Czollek gegen das<br />
deutsche<br />
„Versöh-<br />
nungstheater“ gewettert, in dem „Juden<br />
für Deutsche“ ihre scheinbar einzig mögliche<br />
Rolle spielen. Czolleks Idee, das Su-<br />
jet „Rache“ in einem Ausstellungsprojekt<br />
aufzuarbeiten, wurde vom Jüdischen Mu-<br />
seum in Frankfurt aufgenommen und jetzt<br />
verwirklicht. Auch ohne vor Ort zu sein,<br />
gibt der Begleitband zur Schau einen viel-<br />
stimmigen Einblick in das kontroverse<br />
Thema von der Bibel bis hin zur Pop- und<br />
Digitalkultur.<br />
Aus jüdisch religiöser Sicht scheint es<br />
sehr komplex zu sein. Eine moralische<br />
Margarete<br />
Bolchower<br />
36 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 36 10.05.22 09:31
Racheverbot der Thora<br />
IE WELT IN DEN<br />
ERBEBT“<br />
„Die Zeit heilt keine Wunden!“<br />
Michel Bergmann<br />
Rechtfertigung findet Rache zwar schon<br />
in der Bibel, wie Admiel Kosman in einem<br />
Essay des Katalogs aufzeigt, beginnend von<br />
der göttlichen Strafe für die Ägypter, die<br />
die Juden versklavten. Doch auch Warnungen<br />
davor, „sich der Rache G’ttes zu er-<br />
freuen, weil auch die Feinde Israels seine<br />
Geschöpfe seien“, und sogar explizite Racheverbote<br />
lassen sich in der Thora nach-<br />
weisen.<br />
Nach Jahrzehnten einer „Erinnerungskultur“,<br />
die sowohl tatsächliche Rache-<br />
handlungen wie auch entsprechende<br />
Fantasien tabuisierte, öffnete Quentin<br />
Tarantinos Film Inglourious Basterds 2009<br />
gleichsam ein Ventil, auch wenn die Be-<br />
geisterung über jüdische Partisanen, die<br />
Nazis zur Strecke brachten, in Tel Aviv und<br />
New York weit größer war als beim deut-<br />
schen Publikum. Der Baseballschläger,<br />
der im Film für einen Racheakt an einem<br />
Wehrmachtssoldaten genutzt wurde, ist<br />
nun eines der symbolischen Exponate der<br />
Frankfurter Schau. Inspiriert wurde der<br />
Streifen von tatsächlichen Vergeltungsak-<br />
ten der „Jewish Brigades“ der britischen<br />
Armee. Doch diese waren nur eine von<br />
mehreren Organisationen, die Täter aufspürten,<br />
verfolgten und an ihnen Selbst-<br />
justiz übten. So entwarf insbesondere auch<br />
die Gruppe „Nakam“ (hebr. Rache) um<br />
Abba Kovner nach 1945 diverse Pläne, um<br />
sich an möglichst vielen Deutschen für das<br />
vergossene jüdische Blut zu rächen. Den<br />
Auftrag und die Legitimation dazu wollen<br />
sie von den Toten selbst erhalten haben.<br />
Achim Doerfer:<br />
Irgendjemand<br />
musste die Täter ja<br />
bestrafen.<br />
Kiepenheuer & Witsch,<br />
368 S., € 24,95<br />
EIN ANWALT FÜR<br />
DIE VERGELTUNG<br />
Familiär geprägt als Angehöriger der<br />
dritten Generation, geht Achim Doerfer,<br />
ein deutscher Anwalt Jahrgang 1965, in<br />
seinem Buch Irgendjemand musste die Täter ja<br />
bestrafen dem „Märchen deutsch-jüdischer<br />
Versöhnung“ und dem Wunsch nach Vergeltung<br />
nach.<br />
Wie sich entgegen dem Klischee der<br />
wehrlosen jüdischen „Schafe“ Widerstandsgruppen<br />
in Deutschland, in den Ghettos,<br />
in den Konzentrationslagern formierten<br />
und arbeiteten, wie jüdische Partisanen<br />
um Abba Kovner und die Jewish Infantry<br />
Brigade Group Racheakte planten und<br />
ausführten, kann man hier gut recherchiert<br />
im Detail nachlesen.<br />
Das Versagen der deutschen Justiz nach<br />
1945, das Täter systematisch verschonte<br />
und damit wieder in die Gesellschaft<br />
eingliederte, zeigt er in einem weiteren Teil<br />
einerseits akribisch genau, andererseits mit<br />
spürbarer Emotion und Wut auf.<br />
Mit diesen beiden nahezu synchronen<br />
Stimmen scheint die intellektuelle Debatte<br />
um das so lange totgeschwiegene Thema<br />
Rache eröffnet, sie ist aber sicher noch<br />
lange nicht zu Ende.<br />
„Die wenigen aber, die bleiben werden,<br />
müssen ihre ermordeten Brüder rächen.<br />
Rächen, dass die Welt in den Grundfesten<br />
erbebt. Sonst werden die in den Mas-<br />
sengräbern keine Ruhe finden“, schrieb<br />
Margarete Bolchower 1943 aus ihrem Versteck<br />
in Galizien. Es ist nur eines der er-<br />
schütternden Zeugnisse, in denen Opfer<br />
zur Vergeltung aufrufen.<br />
Rachefantasien sind wohl allen Menschen<br />
vertraut, sie auszuleben verbie-<br />
ten Vernunft, moralische Schranken<br />
und manchmal auch Mut. Enttäuscht<br />
und frustriert von der Nachkriegsjustiz<br />
in Deutschland und Österreich brei-<br />
teten sich in jüdischen Kreisen vielfach<br />
Rachefantasien oder symbolische Rachehandlungen<br />
aus. Gleichsam in Umkeh-<br />
rung der Nazi-Parole „Kauft nicht bei<br />
Juden!“ wurden etwa deutsche Produkte<br />
boykottiert, wurde Deutschland nicht be-<br />
reist. Stellvertretend erfreute man sich<br />
vielleicht insgeheim am „Ruhm“ jüdischer<br />
Gangster in Amerika, die selbstermächtigt<br />
antisemitische Angriffe räch-<br />
ten und jüdische Gemeinde mit der Waffe<br />
verteidigten.<br />
Sublimiert wurden und werden Rachefantasien<br />
in der Kunst, in der Litera-<br />
tur ebenso wie in Comics über die Shoah<br />
oder sogar in digitalen Spielen, wofür die<br />
Ausstellung Beispiele bietet.<br />
„Die Zeit heilt keine Wunden!“, bilanziert<br />
der aus einer Opferfamilie stam-<br />
mende Autor Michel Bergmann in seinem<br />
Beitrag nie verjährende Rache.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 37 10.05.22 09:31
Vorraum der Hölle<br />
Politischer Widerstand<br />
kräftigte Körper und Seele<br />
Der polnische Automechaniker Stanisław Zalewski landete bereits mit<br />
18 Jahren in Gestapo-Haft und anschließend im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.<br />
Über seine Erfahrungen sprach er mit Marta S. Halpert.<br />
Seine tiefblauen Augen strahlen mit<br />
dem gleichfarbigen Hemd um die<br />
Wette. Vor der Fotoaufnahme zückt<br />
er flink einen kleinen Kamm und<br />
fährt ordnend durch das weiße Haar. Vor<br />
dem Gespräch möchte Stanisław Zalewski<br />
noch unbedingt seinen Tee trinken und<br />
das Tortenstück fertigessen, das ihm das<br />
freundliche Team im Polnischen Institut<br />
vorbereitet hat. Geschätztes Alter? Nicht<br />
mehr als 75. Aber der rüstige ehemalige<br />
polnische Widerstandskämpfer ist Jahrgang<br />
1925 – und somit stolze 97 Jahre jung.<br />
Die Einladung Stanisław Zalewskis nach<br />
Wien erfolgte auf Initiative der geschichtsbewussten<br />
und umtriebigen Direktorin des<br />
Polnischen Instituts, Monika Szmigiel-Turlej,<br />
die im Status einer Gesandten schon<br />
zwischen 2014 und 2019 an der Polnischen<br />
Botschaft in Wien tätig war. Als Enkelin eines<br />
Widerstandskämpfers hat sich Szmigiel-Turlej<br />
unter anderem um deutsche<br />
Übersetzungen polnischer Erinnerungskultur*<br />
verdient gemacht. Sie organisierte<br />
zahlreiche Gedenkveranstaltungen, jüngst<br />
brachte sie den Film Marek Edelman ... Und es<br />
gab Liebe im Ghetto (Polen/Deutschland 2019)<br />
zum Jahrestag des Beginns des Warschauer<br />
Ghetto-Aufstandes am 19. April 1943 zur<br />
Aufführung in Wien. Marek Edelman (1919–<br />
2009) war einer der letzten Überlebenden<br />
und Anführer des heldenhaften Aufstands.<br />
„Die Regisseurin Jolanta Dylewska drehte<br />
diesen Film kurz, bevor Edelman starb. Er<br />
38 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
erzählt darin unglaublich berührend über<br />
seine Jugend im Ghetto, über die Liebe und<br />
seine tiefsten Gefühle“, erzählt Szmigiel-<br />
Turlej. „Gemeinsam mit<br />
„Zuerst hofften<br />
wir, dass<br />
unsere Situation<br />
leichter<br />
werden würde,<br />
doch Gusen<br />
wurde zum<br />
Vorraum der<br />
Hölle.“<br />
Stanisław Zalewski<br />
dem mittlerweile verstorbenen<br />
Regiealtmeister<br />
Andrzej Wajda hat<br />
Dylewska die Liebesgeschichten<br />
in poetische<br />
Bilder gekleidet und virtuos<br />
mit Archivmaterial<br />
kombiniert.“ Der Film<br />
zeigt die Kraft der Liebe,<br />
die es auch in dunklen<br />
Zeiten vermag, zumindest<br />
für Augenblicke Sicherheit<br />
und Geborgenheit<br />
zu vermitteln.<br />
Im Frühsommer jähren<br />
sich jeweils jene Jahrestage, die an historisch<br />
bedeutende Ereignisse in Polen,<br />
Österreich und ganz Europa erinnern:<br />
Symbolisch zu Pessach, dem Fest der Befreiung<br />
aus der ägyptischen Sklaverei, erhoben<br />
sich am 19. April 1943 die jüdischen,<br />
vollkommen unzureichend bewaffneten<br />
Aufständischen im Warschauer Ghetto und<br />
lieferten der deutschen Besatzungsmacht<br />
mehrere Wochen lang erbitterte Gefechte.<br />
Am 16. <strong>Mai</strong> 1943 meldete Jürgen Stroop,<br />
SS-Gruppenführer und Generalleutnant<br />
der Polizei, als Befehlshaber der Nazi-Trup-<br />
Stanisław Zalewski mit der Direktorin des<br />
Polnischen Instituts, Monika Szmigiel-Turlej,<br />
die den ehemaligen Widerstandskämpfer<br />
nach Wien eingeladen hat.<br />
pen die Niederschlagung des<br />
Aufstands. Angeführt von polnischen<br />
Intellektuellen kam<br />
es von 1. August bis 2. Oktober<br />
1944 zur militärischen Erhebung<br />
der Polnischen Heimatarmee<br />
(Armia Krajowa<br />
– AK) gegen die deutsche Besatzungsmacht:<br />
Diese Gegenwehr<br />
ging als Warschauer Aufstand in die<br />
Geschichtsbücher ein.<br />
Sabotageakte. Aber das Frühjahr markiert<br />
auch positive Daten der Befreiung: Am<br />
5. <strong>Mai</strong> 1945 erreichten US-Truppen die<br />
Lager Mauthausen und Gusen. „Es gibt<br />
kaum mehr lebende Zeitzeugen der KZ-<br />
Lager Mauthausen, Gusen und des Stollensystems<br />
Bergkristall“, gibt die Direktorin<br />
des Polnischen Instituts zu bedenken.<br />
„Bei unserer Lesung aus dem Sammelband<br />
Gedichte hinter Stacheldraht (NAP Verlag 2020)<br />
haben Kinder und Enkel der polnischen<br />
KZ-Häftlinge deren Erlebnisse in literarischer<br />
Form vorgetragen.“ Die geschichtliche<br />
Einführung an diesem Leseabend, der<br />
gemeinsam mit der Mauthausen-Gedenkstätte,<br />
Moriah und der Polnischen Botschaft<br />
veranstaltet wurde, übernahm der<br />
Gast aus Warschau, Stanisław Zalewski, der<br />
als ehemaliger Häftling des Vernichtungslagers<br />
Auschwitz-Birkenau, der Konzentrationslager<br />
Mauthausen, Gusen I und Gusen<br />
II sowie als Aktivist und Vorsitzender<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 38 10.05.22 09:31
Reise in die Vergangenheit<br />
Stanisław Zalewski:<br />
Ereignisse und Zeichen der<br />
Zeit aus den Jahren 1939–1945.<br />
New Academic Press 2020,<br />
128 S., € 12<br />
ßere Sabotageakte durchgeführt haben.“<br />
Am 12. September 1943 flog Stanisław auf<br />
und wurde im berüchtigten Gestapo-Gefängnis<br />
Pawiak inhaftiert, drei Wochen<br />
später befand er sich bereits auf einem<br />
Transport nach Auschwitz-Birkenau.<br />
„Da ich zu den politischen Gefangenen<br />
zählte, wurden wir ‚nur‘ zur schweren Arbeit<br />
angetrieben, nämlich zum Entladen<br />
von Baumaterialien und Reinigungsarbeiten.<br />
Dabei wurde ich aber Zeuge der<br />
schrecklichen Brutalität an den jüdischen<br />
Häftlingen. Es war grauenhaft anzusehen,<br />
wie die Selektion der Frauen vor sich<br />
ging, und bald darauf rauchten die Schornsteine.“<br />
Der rüstige Mann sinkt beim Erzählen<br />
nach vorne und sackt in sich zusammen.<br />
Er atmet durch und berichtet von der<br />
Verlegung nach Mauthausen und ins KZ<br />
Gusen I: „Zuerst hofften wir, dass unsere<br />
Situation leichter werden würde, doch Gusen<br />
wurde zum Vorraum der Hölle.“<br />
Von Januar bis August 1944 war Zalewski<br />
bei den Messerschmitt-Betrieben beschäftigt<br />
und musste auf primitive Art<br />
Maschinen und Geräte für die Produktion<br />
von Rümpfen und Tragflächen für Flugzeuge<br />
und Raketen zu den Hallen schieben.<br />
Anschließend wurde er nach Gusen<br />
II versetzt und dem Kommando „Bergkristall“<br />
zugeteilt: „Bergkristall“ war die Tarnbezeichnung<br />
für die Fabrik der Messerschmitt-Düsenjagdflugzeuge.<br />
Sie befand<br />
sich in unterirdischen Stollen und wurde<br />
der Polnischen Vereinigung der ehemaligen<br />
politischen Gefängnisse und Konzentrationslager,<br />
viel zu erzählen hatte.<br />
Stanisław Zalewski wurde im Dorf Sucha<br />
Wola im Südosten Polens geboren; ab 1930<br />
lebte die Familie in Warschau, wo Stanisław<br />
eine Lehre in einer Autowerkstatt begann.<br />
Nach der Errichtung des Warschauer Ghettos<br />
am 2. Oktober 1940 befand sich diese<br />
Werkstatt innerhalb der Ghetto-Mauern.<br />
„Ich bekam einen Spezialausweis, damit<br />
ich mich frei bewegen konnte – und vor<br />
allem erhielt ich mehr Lebensmittelkarten.<br />
So konnte ich auch einigen jüdischen<br />
Kollegen, die mit deutscher Erlaubnis bei<br />
uns arbeiten durften, helfen. Sie waren genauso<br />
hungrig und ausgemergelt wie viele<br />
andere, die ich auf der Straße zusammenklappen<br />
sah“, berichtet Zalewski. „Mein<br />
Bruder Józef schmuggelte Reisepässe ins<br />
Ghetto, die von südamerikanischen Konsulaten<br />
für Insassen des Ghettos ausgestellt<br />
wurden. Er rühmte sich auch nach<br />
dem Krieg nie dieser Taten.“<br />
Was der junge Stanisław nach dem deutschen<br />
Überfall auf Polen miterlebte, motivierte<br />
ihn und drei seiner engsten Freunde,<br />
sich dem polnischen Untergrund, also dem<br />
Widerstand anzuschließen. Diese Entscheidung,<br />
die er mit 18 Jahren traf, brachte ihm<br />
zuerst die Gestapo-Haft und in der Folge<br />
eine qualvolle 545-tägige Odyssee bis zum<br />
Ende des Krieges. „Wir waren vier Freunde,<br />
die als Gruppe laufend kleinere und grödurch<br />
Sklavenarbeit von Häftlingen in der<br />
Nähe von St. Georgen betrieben.<br />
„Die SS-Männer quälten und schlugen<br />
mich, manchmal einfach zum Spaß. Nachdem<br />
ich im Gesicht und Mund eitrige Wunden<br />
bekam, erfuhr ich, dass meine Peiniger<br />
kleine Metallstücke in ihre Handschuhe<br />
einlegten, um so ihre Schlagkraft zu verstärken.“<br />
Die erste medizinische Versorgung<br />
konnte erst nach der Befreiung im <strong>Mai</strong> 1945<br />
in der Ambulanz des Sammellagers für Displaced<br />
Persons in Nürnberg durchgeführt<br />
werden. Dorthin war Zalewski nach der Befreiung<br />
gemeinsam mit anderen Polen vom<br />
US-Militär gebracht worden.<br />
Großteils zu Fuß erreichte Stanisław<br />
Zalewski nach 78 Tagen Warschau: „Mein<br />
Heimweg nach Polen dauerte vom 6. <strong>Mai</strong><br />
bis zum 22. Juli 1945. Er führte über Linz zuerst<br />
nach Nürnberg, dort wurde ich einem<br />
Reparaturtrupp der amerikanischen Armee<br />
zugeteilt. Kurze Zeit trug ich sogar eine<br />
US-Uniform“, lacht der Widerstandsfähige.<br />
Das Zuhause war zerstört, ein Bruder und<br />
die Mutter wurden Opfer des Krieges. Sie<br />
erlitt mit 52 Jahren tödliche Verletzungen<br />
durch Bombensplitter. Doch Zalewski ließ<br />
sich nicht unterkriegen, er begann gleich<br />
wieder zu arbeiten und holte die unterbrochene<br />
Schulbildung nach: Er wurde Diplomingenieur<br />
für Fahrzeugtechnik.<br />
Über seine Kriegserlebnisse wollte<br />
kaum jemand etwas wissen, und er wollte<br />
auch nie wieder nach Österreich reisen.<br />
Erst spät begann sein einziger Sohn Hubert,<br />
Fragen zu stellen. Er drängte den Vater<br />
dazu, seine Erfahrungen niederzuschreiben<br />
und überzeugte ihn 1983, gemeinsam<br />
an die Orte des Grauen, nach Mauthausen-<br />
Gusen, zu fahren. Erst nach dieser Reise in<br />
die Vergangenheit engagierte sich Zalewski<br />
in den Vereinen der Ex-Häftlinge, suchte<br />
die Begegnung mit Jugendlichen und referierte<br />
an Schulen. Aus Anlass des 75. Jahrestages<br />
der Befreiung der Vernichtungslagers<br />
Auschwitz-Birkenau am 27. Jänner<br />
2020 war Stanisław Zalewski einer der Redner<br />
bei der internationalen Gedenkfeier.<br />
* Dokumentationen: Polnische Häftlinge im Konzentrationslager Gusen<br />
von Danuta Drywa und Fünf Jahre KZ von Stanisław Grzesiuk (gemeinsam<br />
mit den Mauthausen-Erinnerungen, New Academic Press).<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 39 10.05.22 09:31
Vollblutjournalist<br />
Mein Leben vor Watergate<br />
Nothing but the truth: Der amerikanische Investigativreporter<br />
Carl Bernstein erinnert ungemein lebendig<br />
und pittoresk seine journalistischen Anfänge.<br />
Von Alexander Kluy<br />
Es gab ein Leben vor Dustin<br />
Hoffman. Und: Es gab ein<br />
Leben vor Watergate. Heuer<br />
wird sich der Einbruch im<br />
Watergate-Gebäudekomplex<br />
in Washington zum 50. Mal jähren. In der<br />
Nacht zum 17. Juni 1972 wurde in den Büros,<br />
die das Democratic National Committee,<br />
die Zentrale der Demokratischen<br />
Partei, gemietet hatte, ein Einbruch bemerkt.<br />
Die Polizei verhaftete fünf Männer.<br />
Die Spur der Einbrecher führte zur<br />
Republikanischen Partei und zu hohen<br />
Mitarbeitern im Weißen Haus. Am 9. August<br />
1974 trat Präsident Richard Nixon zurück,<br />
beschämt und das Amt erniedrigt.<br />
Dass die gesamte Affäre so gründlich,<br />
so detailliert und in Gänze aufgedeckt<br />
wurde, verdankte man zwei jungen Reportern<br />
der Washington Post, die durch die<br />
„Watergate-Affäre“ weltbekannt wurden:<br />
Bob Woodward und Carl Bernstein. Zusammen<br />
schrieben sie das Buch All the<br />
President’s Men. 1976 wurde es mit Robert<br />
Redford als Woodward und dem quecksilbrig-wuseligen<br />
Dustin Hoffman als<br />
quecksilbrig-wuseliger Bernstein verfilmt.<br />
Sie waren ziemlich gegensätzlich,<br />
weshalb sie sich ergänzten. Woodward<br />
war Sohn eines Richters aus Illinois und<br />
Absolvent der Yale University. Er hatte<br />
sich aus einem Shakespeare-Seminar heraus<br />
1971 bei der Post als Reporter beworben<br />
und war genommen worden. Bernstein,<br />
im Februar 1944 geboren und somit<br />
um elf Monate jünger als Woodward,<br />
hatte ihm gegenüber zehn Jahre Vorsprung<br />
als Zeitungsmann. Er war analytischer,<br />
erkannte Zusammenhänge. Und<br />
war wilder.<br />
Von seinen Anfängen erzählt Bernstein,<br />
gebürtiger und leidenschaftlicher<br />
Washingtonian, nun höchst lebendig. Er<br />
entstammt einer jüdischen, sehr linken<br />
Familie. Seine in Gewerkschaften aktiven<br />
Eltern hatten Mitte der 1940er-Jahre ihre<br />
Jobs in der Regierungsverwaltung verloren,<br />
wurden während McCarthys Antikommunismus-Hatz<br />
fast kriminalisiert,<br />
vom FBI überwacht. Sie betrieben in Silver<br />
Springs, einem Vorort von Washington,<br />
eine Putzerei, um erst ab Ende der<br />
1950er-Jahre wieder in einer NGO politisch<br />
aktiv zu werden.<br />
1960/1961 begann Carl Bernstein bei<br />
The Washington Star als Copy Boy, Laufbursche,<br />
seine Zeitungskarriere. Mit Verve<br />
und enormer Farbigkeit zeichnet er nach,<br />
mit welchen pittoresken Profis er zusammenarbeitete<br />
und wie damals journalistisch<br />
gearbeitet wurde: Es gab eine ganze<br />
Abteilung mit Ferndiktate Entgegennehmenden,<br />
das waren jene, die am schnellsten<br />
Schreibmaschine schreiben konnten<br />
und denen die Außenreporter von öffentlichen<br />
Fernsprechern aus ihre Berichte<br />
durchgaben. Es gab langsame Fernschreiber.<br />
Mit am wichtigsten war: die Nähe zu<br />
einem Telefon. Und noch wichtiger: die<br />
Wahrheit. Großartige Geschichten prä-<br />
sentiert Bernstein, der sein Studium versanden<br />
ließ, weil er entdeckte, welch Vollblutjournalist<br />
in ihm steckte.<br />
„In meinem ganzen<br />
Leben hatte ich nie<br />
solch glorioses Chaos<br />
erlebt oder solch absichtliche<br />
Hektik gesehen<br />
wie nun im Newsroom.<br />
Nachdem ich<br />
von einem Ende zum<br />
anderen gegangen<br />
war, wusste ich, dass<br />
ich ein Zeitungsmann<br />
werden wollte.“<br />
Carl Bernstein<br />
Das Ganze liest sich prächtig. Bernstein<br />
schreibt brillant. Das wird deutlich, wenn<br />
man auf den vermessenen Gedanken verfällt,<br />
Partien ins Deutsche zu übertragen.<br />
Da merkt man erst, mit welch rhythmischer<br />
Präzision er seine Sätze konstruiert,<br />
Absätze aufbaut, seine Dramaturgie orchestriert.<br />
Man kann nur bedauern, dass<br />
Bernstein ab den späten 1970er-Jahren für<br />
Fernsehnachrichtensender wie CNN und<br />
ABC gearbeitet und so wenig geschrieben<br />
hat. Seine Bücher über den polnischen Ka-<br />
© HERBERT NEUBAUER / APA / picturedesk.com<br />
40 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 40 10.05.22 09:31
Geschichte nachjagen<br />
© HERBERT NEUBAUER / APA / picturedesk.com<br />
tholikenpapst Johannes Paul II. und über<br />
Hilary Clinton anno 2007 waren die eher<br />
pittoreske Ausnahme.<br />
Vor genau dreißig Jahren beklagte er<br />
in einem längeren Artikel, The Idiot Culture,<br />
einen debil unseriösen Journalismus,<br />
der fahr- wie nachlässig Nachrichten und<br />
Klatsch sowie Tendenziöses miteinander<br />
vermengt. Damit beschrieb er jene Entwicklungen,<br />
mit denen sich heute die Medien<br />
plagen und die die Nachrichtenpräsentation<br />
prägen. Chasing History ist eine<br />
eindrückliche Erinnerung daran, wie ernst<br />
einst journalistische Standards genommen<br />
wurden. Und wie hoch diese waren.<br />
Hier wurde Geschichte erlebt. Chasing History,<br />
Geschichte nachjagen, ist ein Titel voll Ambivalenz.<br />
Bernstein erzählt von den Jahren<br />
1960 bis 1966. Nach fünf Jahren war er am<br />
Carl Bernstein, im<br />
Februar 1944 geboren,<br />
war von Beginn<br />
seiner Laufbahn an<br />
analytisch, erkannte<br />
Zusammenhänge<br />
und war wild nach<br />
Geschichten.<br />
Carl Bernstein:<br />
Chasing History.<br />
A Kid in the<br />
Newsroom.<br />
Henry Holt and<br />
Company <strong>2022</strong>,<br />
372 S., € 34,50<br />
Ende seines Karrierepotenzials bei der Zeitung<br />
angekommen, deren fiebrige, engagierte<br />
Lokalberichterstattung die der Post<br />
um Längen schlug. Er wechselte kurz als<br />
einzig dem Chefredakteur verantwortlicher<br />
Reporter zu einer kleinen Zeitung in<br />
New Jersey. 1966 kehrte der eingeschworene<br />
Washingtonian Bernstein in die US-<br />
Hauptstadt zurück und fing bei der Washington<br />
Post an, die da schon Katherine<br />
Graham zu leiten begonnen hatte, welche<br />
eine Riege hochbegabter, hochambitionierter<br />
Redakteure einstellte, darunter als<br />
leitender Redakteur Ben Bradlee, der 1972<br />
dem jungen dynamischen Duo Woodward<br />
& Bernstein weite Leine ließ.<br />
Zugleich signalisiert der Titel: Hier<br />
wurde Geschichte erlebt. Gemacht. Eingefangen.<br />
Bernstein schreibt über John F.<br />
Kennedy und das Attentat, er rapportiert<br />
ausführlich den Kampf der Afro-Amerikaner<br />
um Gleichberechtigung und Teilhabe<br />
– einhundert Jahre nach der Abschaffung<br />
der Sklaverei durch Abraham Lincoln.<br />
Und es findet sich eine Fülle anderer Gesellschaftsgeschichten,<br />
die noch heute erstaunlich<br />
aktuell anmuten, von Gewalt zu<br />
Paranoia, Machtmissbrauch, Rassismus,<br />
Antisemitismus.<br />
Bernstein gelingt es, ein hinreißend lebendiges<br />
Zeithistorie-Panorama zu zeichnen,<br />
voller Ironie und Witz und Geist. Das<br />
noch Erstaunlichere: Seine Prosa ist frei<br />
von jeglicher Nostalgie.<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 41 10.05.22 09:31
Auf der Flucht<br />
vor dem Erbe<br />
Väter und Söhne, Ehemänner, Verführer und Samenspender.<br />
Entgegen dem Titel Ein Mann sein vermisst die amerikanischjüdische<br />
Romanautorin Nicole Krauss in ihrem ersten<br />
Story-Band nicht nur das männliche Rollenspektrum in Zeiten<br />
fluider Geschlechteridentitäten neu.<br />
Von Anita Pollak<br />
Wie wirft man das alte Leben ab,<br />
wie wird man geerbte Bürden<br />
los, wie gelangt man zum eigenen<br />
Selbst? Häutungen und Metamorphosen<br />
hat Nicole Krauss bereits in ihrem letzten<br />
Roman Waldes Dunkel thematisiert. In<br />
Sussja auf dem Dach, eine der zehn Storys ihres<br />
neuen Erzählbandes und vielleicht die<br />
beste, zitiert sie dazu eine rabbinische Parabel.<br />
„Warum bist du nicht Sussja gewesen?“,<br />
fragt G’tt den verstorbenen Rabbi<br />
Sussja, der sich schämt, nicht Moses oder<br />
Abraham gewesen zu sein. Professor Brodman,<br />
der Held dieser Geschichte, halluziniert<br />
im Fieberrausch Sussjas Antwort:<br />
„Weil ich ein Jude war und kein Raum<br />
blieb, um etwas anderes zu sein, nicht einmal<br />
Sussja.“<br />
Unter der Last der religiösen Pflichten,<br />
in einer „ununterbrochenen Kette<br />
der Geschlechter“ vom frommen Vater<br />
auf den Sohn weitergegeben, leidet der<br />
jüdische Historiker Brodman sein Leben<br />
lang. Gleichzeitig mit seiner wundersamen<br />
Genesung von einer Todeskrankheit<br />
kommt im selben Spital sein einziger Enkel<br />
zur Welt, der Sohn seiner lesbischen<br />
Tochter und eines homosexuellen<br />
Samenspenders. Zumindest<br />
ihn will er von diesem schweren<br />
jüdischen Erbe befreien, und so<br />
entführt er das Neugeborene,<br />
während schon die „Mohelet“,<br />
also eine Beschneiderin, vor feierlich<br />
versammelter Familie das<br />
Messer wetzt, in einem unglaublichen<br />
Kraftakt 22 Stockwerke hinauf<br />
auf das Dach des New Yorker<br />
Wohnhauses. In wenigen Strichen,<br />
auf wenigen Seiten, zeichnet<br />
Nicole Krauss eindrucksvoll<br />
das Porträt eines gebrochenen<br />
Mannes, der insgeheim seine<br />
beiden Töchter beneidet, die ihren Vater<br />
und alles, was er ehrt, eben so gar nicht<br />
ehren.<br />
Amerikanisches Judentum. Ein väterliches<br />
Erbe ganz anderer Art tritt eine Tochter<br />
in der Erzählung Ich schlafe, aber mein Herz<br />
ist wach an. Nach dem Tod ihres Vaters,<br />
Universitätsprofessor wie Brodman, übrigens<br />
spielen viele der Storys im akademischen<br />
Milieu, erhält sie die Schlüssel<br />
eines Appartements in Tel Aviv, von dessen<br />
Existenz sie ebenso wenig wusste wie<br />
von einem Freund des Vaters, der sich in<br />
„Wir waren<br />
europäische<br />
Juden, sogar in<br />
Amerika, was<br />
bedeutete, dass<br />
katastrophale<br />
Dinge geschehen<br />
waren und<br />
wieder geschehen<br />
konnten.“<br />
Nicole Krauss:<br />
Ein Mann sein. Storys.<br />
Aus dem Englischen<br />
von Grete Osterwald.<br />
Rowohlt <strong>2022</strong>,<br />
256 S., € 24,70<br />
dieser Wohnung<br />
breit macht. Offenbar<br />
war der Verstorbene<br />
mit dem Fuß<br />
in Amerika und mit<br />
dem Herzen in Israel<br />
zu Haus gewesen,<br />
ein Dilemma,<br />
das Krauss aus eigener<br />
familiärer Prägung<br />
ebenso kennt<br />
wie den langen<br />
Schatten des Holocaust.<br />
„Wir waren europäische<br />
Juden, sogar<br />
in Amerika, was bedeutete, dass katastrophale<br />
Dinge geschehen waren und wieder<br />
geschehen konnten“, sagt die Ich-Erzählerin<br />
in der Story Die Schweiz, wo sie als amerikanisches<br />
Kind Französisch, nicht aber<br />
Schweizerdeutsch lernen darf, das sich<br />
„kaum“ von der Sprache der Nazis unterscheidet.<br />
Im Genfer Eliteinternat erfährt<br />
das Mädchen von ihrer Zimmergenossin,<br />
einer frühreifen Lolita, von der auch fatalen<br />
Macht von Erotik und Sex.<br />
Auf die Endzeit der elterlichen Ehe blickt<br />
Tochter Noa zurück in einer anderen Geschichte<br />
zurück. Ihr Vater gräbt sich als Archäologe<br />
in Israel durch die Jahrtausende,<br />
die aus Wien stammende Mutter durch die<br />
deutsche Literatur. Zum „Get“, der religiösen<br />
Scheidung, lädt das in aller Freundschaft<br />
auseinandergehende Paar in Kalifornien<br />
sogar seine Kinder ein.<br />
In der offenbar autobiografisch grundierten<br />
Titelgeschichte schließlich findet<br />
sich die geschiedene junge Amerikanerin,<br />
deren Großeltern Holocaust-Überlebende<br />
waren, in Berlin im Bett mit einem deutschen<br />
Hühnen und Amateurboxer, der ihr<br />
ohne Umschweife erklärt, dass er wohl ein<br />
Nazi gewesen wäre. „Ich bin genau der Typ,<br />
den sie für die Napola rekrutiert hätten.“<br />
Noch im selben Sommer reist sie mit ihren<br />
Söhnen nach Israel.<br />
Liebe in Zeiten der Polyamorie, in Zeiten<br />
fließender Gender-Grenzen, in Zeiten<br />
von Leihmüttern und Samenspendern,<br />
sich auflösender Familien und Ehen,<br />
in denen man dennoch und allem zum<br />
Trotz das Erbe der Väter nicht so einfach<br />
los wird, davon erzählt Nicole Krauss mit<br />
Empathie und teilweise sogar Ironie in ihren<br />
klugen, brillanten Short Storys, die in<br />
a nut shell oft einen ganzen Lebensroman<br />
enthalten.<br />
42 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 42 10.05.22 09:31
Virtuos gestammelt, elegant gezeichnet<br />
Er schreibt, wie viele Migranten<br />
sprechen. Fehlerhaft, ungeglättet,<br />
ohne Rücksicht auf<br />
eine korrekte Syntax. „Broken<br />
German“ eben. Mit einem Text<br />
unter diesem Titel hat Tomer<br />
Gardi 2016 beim Bachmann-<br />
Wettbewerb eine Diskussion<br />
darüber ausgelöst, ob ein solch<br />
gebrochenes Deutsch überhaupt<br />
als Literatur fähig gelten<br />
kann. Dieses Frühjahr hat<br />
der Israeli für seinen Band Eine<br />
runde Sache den renommierten<br />
Preis der Leipziger Buchmesse<br />
erhalten.<br />
Von Anita Pollak<br />
Vor die Wahl gestellt, ob er „auf Hebräisch<br />
schreiben soll oder auf meinem<br />
Deutsch“, hat sich Tomer Gardi<br />
offenbar für beides entschieden. In seinem<br />
Broken German, das sich als literarisch kalkulierte<br />
Kunstsprache erweist, ist der erste<br />
Teil verfasst, in einem eleganten, stilistisch<br />
geschliffenen Hebräisch, wunderbar ins<br />
Deutsche übertragen, der zweite. Disparater<br />
könnten zwei Geschichten, die einen<br />
einzigen Roman bilden sollen, kaum sein.<br />
Slapstick. Ein Hörfehler löst die bizarre,<br />
grelle, slapstikartige Handlung aus, in die<br />
Tomer Gardi als Ich-Erzähler gerät. Eine<br />
Einladung auf eine „Yacht“ hat er erwartet,<br />
eine „Jagd“ ist es geworden, bei der er selbst<br />
zum Gejagten werden sollte. In der Folge<br />
treten ein sprechender Deutscher Schäferhund<br />
namens Rex auf, dem Tomer als Maulkorb<br />
eine portable Vagina überzieht, worauf<br />
Rex nur noch Ü-Laute ausstoßen kann,<br />
und weiters ein reimender Erlkönig oder<br />
König der Elfen. Unter Mythengeraune gelangt<br />
das Trio in eine Kleinstadt und rettet<br />
sich aus einer Sintflut auf eine Arche.<br />
Dass Tomer als der Ewige Jude den Erlkönig<br />
meuchelt, ist dann nur eine weitere Volte<br />
in diesem anspielungsreichen, kreuz und<br />
quer durch die Geschichte fantasierenden<br />
Schelmenroman. Seine Rolle als ewig wandernder<br />
Jude wird der wild fabulierende Erzähler<br />
nicht los werden, wie ein Adler ihm<br />
drohend verkündet. „Von dem Kreuz zum<br />
gehakten Kreuz. Von der Via Dolorosa zu<br />
den Todesmärschen und dann weiter. Du<br />
bist unser ewiger Zeuge.“<br />
Vor und hinter diesem amüsanten Parforceritt<br />
eines jüdischen Schlamassels<br />
durch den deutschen Märchenwald steht<br />
die große Frage: Erfindung oder Lüge, ist die<br />
Literatur der Wahrheit verpflichtet, und was<br />
darf die Kunst? „Ich steh morgens auf, sitz<br />
an meiner Computer und schreibe Sachen<br />
nieder, die nie passiert hatten. Bin ich dann<br />
ein Lügner?“<br />
Altmeisterliche Künstlernovelle. Abbildung<br />
der Wirklichkeit oder Fantasie? Diese<br />
Frage beschäftigt auch Raden Saleh, den<br />
indonesischen Maler, um dessen Vita Tomer<br />
Gardi eine durchaus traditionell anmutende<br />
Künstlernovelle webt.<br />
Der im frühen 19. Jahrhundert in Java<br />
geborene und in Holland ausgebildete Maler<br />
galt als eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten<br />
seiner Zeit. Was einen ehemaligen<br />
Kibbuznik aus Galiläa an diesem<br />
heute nahezu vergessenen<br />
Maler fasziniert?<br />
Als Museumswächter<br />
bei einer Ausstellung<br />
anlässlich des 150. Todestags<br />
von Raden Saleh<br />
sei er im Jahr 2030<br />
(!) auf dessen Schicksal<br />
aufmerksam geworden,<br />
so jedenfalls die Erzählerfiktion.<br />
Nicht fiktiv<br />
und nah an der historischen<br />
Biografie sind<br />
die Fakten des abenteuerlichen<br />
Lebens des<br />
indonesischen Prinzen,<br />
der quasi als exotischer<br />
Künstlerexport von der<br />
niederländischen Kolonialmacht<br />
nach Europa<br />
geschickt, an Fürstenhäusern<br />
geschätzt wird<br />
und für Könige malt,<br />
bis er von ebendieser<br />
Tomer Gardi:<br />
Eine runde Sache.<br />
Zur Hälfte aus dem Hebräischen von<br />
Anne Birkenhauer. Droschl Verlag.<br />
256 S., € 23.<br />
„Ich sitz an<br />
meiner Computer<br />
und schreibe<br />
Sachen nieder,<br />
die nie passiert<br />
hatten. Bin ich<br />
dann ein Lügner?“<br />
Macht nach Jahrzehnten<br />
auf seine Insel zurückgesandt<br />
wird. Dort gilt er wieder als Eingeborener,<br />
sein Ruhm nichts, und letztlich endet<br />
er kläglich.<br />
Fast altmeisterlich wie Salehs Gemälde,<br />
die Gardi liebevoll, gekonnt und penibel beschreibt<br />
und deutet, zeichnet er auch dessen<br />
tragische Existenz beispielhaft nach.<br />
Herumgereicht in den höchsten Adelskreisen,<br />
gleichzeitig ausgebeutet und nie wirklich<br />
aufgenommen, bleibt er entfremdet<br />
überall. Im revolutionsgebeutelten Europa<br />
ein Außenseiter, in den antikolonialen Aufständen<br />
in Java beiden Seiten gleichermaßen<br />
verdächtig. Als Migrantenschicksal mit<br />
diskretem Bezug zur Gegenwart großartig<br />
erzählt.<br />
Wie passen nun die beiden Teile als „Eine<br />
runde Sache“ zusammen? Auf den ersten<br />
Blick natürlich überhaupt nicht, auch wenn<br />
der Ewige Jude durch Salehs 19. Jahrhundert<br />
ebenso geistert wie der mythische Fliegende<br />
Holländer. Wenn man will, kann man sie als<br />
zwei Seiten einer Medaille deuten, Erfindung,<br />
Wahrheit und Identität in der künstlerischen<br />
Existenz, da und dort,<br />
oder die Geschichten ganz einfach<br />
hintereinander genießen,<br />
haltlos fabulierender, sprachlich<br />
ungezügelter Witz da, fein<br />
gezeichnete Porträtkunst dort.<br />
Ob der in Berlin lebende,<br />
nun mit literarischen Ehren in<br />
Deutschland bedachte Autor<br />
vielleicht eigene Fremdheitserfahrungen<br />
fiktionalisiert hat?<br />
Mit seinem Buch Stein, Papier,<br />
in dem er 2011 den Spuren des<br />
zerstörten palästinensischen<br />
Dorfes nachgeht, aus dessen<br />
Steinen das Museum seines<br />
heimatlichen Kibbuz Dan errichtet<br />
wurde, hat er sich in Israel<br />
wohl nicht nur Freunde gemacht.<br />
Hierzulande liest man<br />
so was ja nicht ungern, und mit<br />
seinem Broken German hat der<br />
Israeli nicht zuletzt einen exotischen<br />
Reiz.<br />
© Wikipedia/ Amrei-Marie<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 43 10.05.22 09:31
WINA WERK-STÄDTE<br />
Berner Voralpenlandschaft<br />
von Käthe Loewenthal<br />
aus dem<br />
Jahr 1910.<br />
Bern<br />
Jüdische Malerinnen der Vorkriegszeit<br />
sind noch mehr in Vergessenheit<br />
geraten als ihre männlichen<br />
Kollegen. Eine von ihnen<br />
ist Käthe Loewenthal.<br />
Von Esther Graf<br />
äthe Loewenthal (1878–1942)<br />
war die älteste von fünf Töchtern<br />
des Augenarztes und<br />
Universitätsprofessors Wilhelm<br />
Loewenthal. Die Mutter<br />
stammte aus einer Hamburger<br />
Kaufmannsfamilie. Die akademische<br />
Lehrtätigkeit des Vaters führte die<br />
Familie unter anderem nach Genf,<br />
Lausanne, Paris, Belgrano (Argentinien)<br />
und Berlin. Nach einem einjährigen<br />
Aufenthalt in Bern weigerte sich<br />
die dreizehnjährige Käthe, mit den Eltern<br />
zurück nach Berlin zu ziehen. Sie<br />
blieb bei einer befreundeten evangelischen<br />
Pfarrersfamilie, deren Einfluss<br />
das Mädchen dazu brachte, sich taufen<br />
und konfirmieren zu lassen. Sie kehrte<br />
lediglich für ihren Schulabschluss kurzzeitig<br />
1894 nach Berlin zurück, um anschließend<br />
von 1895 bis 1897 Unterricht<br />
beim Schweizer Maler Ferdinand Hodler<br />
zu nehmen. Ihr künstlerisches Talent<br />
zeigte sich bereits in Jugendjahren<br />
und wurde zu ihrer Passion. Es folgten<br />
Studienreisen, eine erste Phase als freischaffende<br />
Künstlerin in München und<br />
1910 bis 1914 ein akademisches Studium<br />
der Malerei an der Königlich Württembergischen<br />
Kunstschule in Stuttgart.<br />
Nach dem erfolgreichen Studienabschluss<br />
überließ ihr die Stadt Stuttgart<br />
eine Atelierwohnung. Bis 1934 war sie<br />
hier als freischaffende Künstlerin tätig<br />
und bestritt ihren Lebensunterhalt<br />
hauptsächlich mit Porträts. Ihre protestantische<br />
Taufe nützte nichts, als sie<br />
im selben Jahr ein Berufsverbot erhielt<br />
und keine Leinwände und Farben mehr<br />
kaufen durfte. Sie wurde 1942 im Durchgangslager<br />
Izbica bei Lublin ermordet.<br />
BERN<br />
In der Schweizer Hauptstadt mit ihren 135.000 Einwohnern wurden Juden erstmals<br />
1259 erwähnt. Sie unterhielten eine Synagoge und einen Friedhof. Nach den Pestpogromen<br />
von 1348 bis 1350 kehrten 1375 einzelne Juden zurück. Nach weiteren Vertreibungen<br />
und Ansiedlungsverboten konnte sich erst 1848 wieder eine jüdische Gemeinde etablieren,<br />
die um 1910 zirka 1.000 Mitglieder hatte. Während der NS-Verfolgung rettete<br />
die „Berner Gruppe“ rund um polnische Diplomaten und jüdische Helfer hunderte<br />
Juden mit gefälschten Pässen. Heute hat die Gemeinde rund 340 Mitglieder.<br />
© Szczebrzeszynski, 2015, Commons Wikimedia<br />
44 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 44 10.05.22 09:31
URBAN LEGENDS<br />
Es gibt nur<br />
einen Weg<br />
Friedenslieder machen zwar Mut, aber sie werden nicht dazu führen,<br />
dass es Frieden gibt. Das Zauberwort heißt Demokratie.<br />
ein, dass es Krieg gibt, ist leider<br />
nichts Ungewöhnliches. Die<br />
Kämpfe im Irak, in Syrien, in Afghanistan<br />
waren in unseren Medien<br />
präsent, Menschen, die vor<br />
diesen Kriegen flüchteten, leben heute in unserer Mitte.<br />
Und dennoch fühlt(e) sich der diesen Februar von Wladimir<br />
Putin in der Ukraine begonnene<br />
Krieg so anders – und<br />
Von Alexia Weiss<br />
so deplatziert an. Wie aus der<br />
Zeit gefallen. Warum? Weil es abstrus erscheint, dass in<br />
Europa ein Land ein anderes überfällt, um Gebietsansprüche<br />
zu stellen.<br />
Dieser Krieg geht näher als andere militärische Auseinandersetzungen.<br />
Das mag historische Gründe haben<br />
– ein Teil der Ukraine gehörte schließlich vor langer Zeit<br />
zu Österreich, als Österreich noch eine Monarchie und<br />
wesentlich größer als heute war. Das mag an der geografischen<br />
Nähe liegen. Das mag an der vordergründig kulturellen<br />
Ähnlichkeit liegen. (Wer sich auf ARTE die Serie<br />
Diener des Volkes mit Wolodymyr Selenskyj in der Rolle,<br />
die er heute im realen Leben ausfüllt, nämlich als ukrainischer<br />
Präsident ansieht, bekommt vorgeführt, wie<br />
unterschiedlich die Lebensrealität in der Ukraine dann<br />
doch verglichen mit jener in Österreich ist, Stichwort<br />
Korruption, Stichwort Demokratie).<br />
Warum auch immer – dieser Krieg geht den Österreichern<br />
und Österreicherinnen nahe. Und dann ist die<br />
Frage: Wie geht man damit um? Da ist einerseits die klare<br />
Notwendigkeit zu helfen – jenen Menschen, die sich nach<br />
Österreich geflüchtet haben, aber auch jenen Menschen,<br />
die sich in der Ukraine in Notlagen befinden.<br />
Da kommen einem andererseits aber auch Bewältigungsmechanismen<br />
unter, die mir immer sinnloser<br />
erscheinen. Da studieren Lehrerinnen nun mit ihren<br />
Volksschulklassen Friedenslieder ein. In anderen Klassen<br />
werden Herzen und Kinder, die einander die Hände<br />
reichen, gezeichnet.<br />
In den sozialen Medien poppen Memes mit „Make love<br />
not war“ auf (diese Devise wurde bei den Protesten gegen<br />
den Vietnamkrieg der USA in den 1960ern ausgegeben),<br />
andere posten Zitate von Mahatma Gandhi, wie<br />
dieses hier: „Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der Frieden<br />
ist der Weg.“ Und dann gibt es auch noch Initiativen<br />
wie „Wandern für den Frieden“.<br />
Nun weiß ich, dass solche Aktionen dem Einzelnen helfen,<br />
das Gefühl zu haben, aus dieser Ohnmacht herauszukommen,<br />
die derzeit so viele gefangen hält. Aber ändern<br />
wird sich dadurch nichts. Der einzige Weg, um Kriege wie<br />
diesen und viele andere Kriege auch zu vermeiden, ist, demokratische<br />
Strukturen zu verankern.<br />
Putin zeigt seit vielen Jahren vor, dass Russland keine<br />
Demokratie ist: Das reicht vom Umgang mit Oppositionspolitikern<br />
(Alexei Nawalny!), Journalistinnen (Anna Politkowskaja),<br />
Künstlerinnen (Pussy Riot) bis zum Unterbinden<br />
von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Das<br />
zeigen aber nicht zuletzt auch seine Konstruktionen, um<br />
an der Macht zu bleiben (wer erinnert sich noch an Dmitri<br />
Medwedew?).<br />
Die Lehre aus diesem Krieg wird sein, sich weltweit<br />
noch viel vehementer für das Etablieren demokratischer<br />
Strukturen einzusetzen, Menschen nahezubringen, wie<br />
wertvoll Verfassungen, Meinungsfreiheit, freie Wahlen<br />
sind, sie zu stärken, sodass sie sich auch trauen, sich – in<br />
Wahlen – gegen Diktatoren aufzulehnen. Das Fundament<br />
dafür muss bereits in den Schulen errichtet werden – das<br />
gilt auch für Kinder in Österreich, Ungarn und anderen<br />
europäischen Ländern.<br />
Die Lehre aus diesem Krieg wird sein, sich<br />
weltweit noch viel vehementer für das<br />
Etablieren demokratischer Strukturen<br />
einzusetzen.<br />
Kinder müssen lernen, was Mitbestimmung ist, wie<br />
eine demokratische Entscheidungsfindung funktioniert,<br />
wie man unterschiedliche Meinungen haben kann, aber<br />
zu einem Kompromiss findet. Sie müssen aber auch lernen<br />
zu erkennen, wann sie – auch im Netz – manipuliert<br />
und wann mit falschen Fakten gefüttert und fehlgeleitet<br />
werden. Friedenslieder zu singen, sorgt vielleicht für<br />
Wohlfühlmomente. Aber woran wir auch in Europa arbeiten<br />
müssen, ist, Demokraten heranzuziehen. Dann hätten<br />
vielleicht auch (rechte) Populisten weniger Chancen,<br />
Wahlen zu gewinnen.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 45 10.05.22 09:31
MAI KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester<br />
Helga. Helga kam im Juli 1939<br />
mit einem Kindertransport nach London.<br />
Die Schwestern sahen einander erst acht<br />
Jahre später wieder (unten).<br />
AUSSTELLUNG<br />
Jüdisches Museum Judenplatz,<br />
Judenplatz 8, 1010 Wien<br />
jmw.at<br />
NUR NOCH BIS 15. MAI <strong>2022</strong><br />
KINDER AUF DER FLUCHT<br />
„Die Auswahlkriterien waren sehr streng, und es<br />
war nicht sehr wahrscheinlich, dass man einen<br />
Platz bekommt“, erzählt eine der beiden Ausstellungskuratorinnen<br />
der noch bis 15. <strong>Mai</strong> laufenden<br />
Schau Jugend ohne Heimat. Kindertransporte<br />
aus Wien, Sabine Apostolo. Auch das Zeitfenster,<br />
um sein Kind vor der NS-Verfolgung im Ausland<br />
in Sicherheit zu bringen, war ein winziges: Der<br />
erste Kindertransport aus Wien fand im Dezember<br />
1938 statt – zu diesem Zeitpunkt gab es bereits<br />
10.000 Anmeldungen. Nur ein rundes Drittel<br />
davon konnte in den wenigen Monaten darauf<br />
Wien wirklich verlassen. Der Kriegsausbruch im<br />
September 1939 setzte der Aktion ein grausames<br />
Ende. Der Großteil der zurückbleibenden Kinder<br />
wurde deportiert und ermordet. Eindrücklich<br />
zeigt die Ausstellung, dass vieles, das wir von den<br />
rettenden Kindertransporten wissen, nicht der<br />
durchwegs dramatischen und traumatischen<br />
Realität der Kinder entsprach. Viele fanden nicht<br />
sofort eine Gastfamilie, andere wurden mehrfach<br />
„herumgereicht“, nicht wenige wurden zur<br />
Hausarbeit gezwungen, andere in Kinderheime<br />
gesteckt, in Frankreich untergekommene Kinder<br />
mussten nach der NS-Annexion ein zweites Mal<br />
fliehen, wieder andere wurden nach Kriegsbeginn<br />
zu „Feinden“ und interniert. Die Traumata,<br />
die diese Kinder neben Verfolgung und in vielen<br />
Fällen dem Verlust der gesamten Familie erlitten,<br />
sind so vielfältig wie die Geschichten ihrer Emigration<br />
und ihres Weiter-Lebens nach dem Ende<br />
des Zweiten Weltkrieges.<br />
KONZERT<br />
Porgy & Bess,<br />
Riemergasse 11, 1010 Wien<br />
porgy.at<br />
23. MAI <strong>2022</strong><br />
NACHTAKTIVE POWERFRAU<br />
Tif vi di Nakht, „Tief wie die Nacht“, lautet das<br />
Motto von Ethel Merhauts aktuellem Konzert<br />
im Wiener Jazzclub Porgy & Bess, das in Zusammenarbeit<br />
mit der IKG stattfindet. Abraham<br />
Ellsteins Hit entstand im New York der<br />
1930er-Jahre und wurde so wie dessen Zog<br />
es mir nokh amol (Sag es mir noch einmal)<br />
aus der Operette Der berditchever khosn und<br />
Alexander Olshanetskys Glik (Glück) zu Kassenschlagern.<br />
Noch gab es zu diesem Zeitpunkt<br />
so gut wie keine Emigrant:innen vor<br />
dem NS-Regime in der US-Metropole, wenige<br />
Jahre später sollte sich das auf dramatische<br />
Weise geändert haben: Lieder wie Werner Richard<br />
Heymann Das gibt’s nur einmal oder Irgendwo<br />
auf der Welt der bald schon zerstreuten<br />
Comedian Harmonists reihten sich nun<br />
ein in den musikalischen Bogen zwischen<br />
Sentimentalität und Verfolgung, der von Europa<br />
in die Welt führte. Die in Wien geborene<br />
Sängerin Ethel Merhaut widmet sich in ihrem<br />
neuen Programm, begleitet von Konstantin<br />
und Sascha Wladigeroff, der unter anderen<br />
von den späteren Emigranten Heymann, Paul<br />
Abraham, Robert Stolz oder Peter Herz geprägten<br />
„goldenen“ Ära der Unterhaltungsmusik,<br />
die freilich näher betrachtet nicht<br />
mehr so golden war: Fritz Löhner Beda etwa,<br />
der an der Seite Abrahams und Alfred Grünwalds<br />
einst für so große Publikumserfolge<br />
wie Viktoria und ihr Husar, Die Blume von Hawaii,<br />
Ball im Savoy, Märchen im Grand-Hotel<br />
und Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus<br />
verantwortlich zeichnete, wurde am 4.<br />
Dezember 1942 im KZ Auschwitz erschlagen.<br />
ethelmerhaut.com<br />
TANZ<br />
20:30 Uhr<br />
Halle G, MuseumsQuartier, 1070 Wien<br />
festwochen.at/new-creation<br />
24. BIS 26. MAI <strong>2022</strong><br />
WIDERSTAND<br />
UND TANZ<br />
Der erste Tanzlehrer des 1979 in Brasilien<br />
geborenen international viel<br />
beachteten Tänzers und Choreografen<br />
Bruno Beltrão war dessen israelischer<br />
Lehrer Yoram Szabo. Heute ist<br />
der aus der Welt des Street Dance<br />
kommend Künstler über alle Genregrenzen<br />
des zeitgenössischen Tanzes<br />
hinweg aktiv, gastiert weltweit<br />
mit seiner Company Grupo de Rua<br />
und fragt in seinem Stück New Creation<br />
für die Wiener Festwochen<br />
<strong>2022</strong> gemeinsam mit zwölf außergewöhnlichen<br />
Tänzer:innen nach den<br />
Möglichkeiten und Grenzen des persönlichen<br />
Widerstands in einer Welt,<br />
deren giftige Nebel alle positiven Visionen<br />
aktuell zu ersticken scheinen.<br />
Dabei verbindet Beltrão, der Revolutionär<br />
des Hip-Hop, urbanen mit<br />
zeitgenössischem Tanz, lehnt seine<br />
Arbeit an die „Virtuosität der Straße“<br />
an und versucht nichts weniger als<br />
ein brückenschlagendes Erlebnis,<br />
das zurzeit notwendiger denn je<br />
ist und den gemeinsam erlebten<br />
(Tanz)Raum kraftvoll pulsieren lässt.<br />
© Privatbesitz; Nathan Murrell; Wikipedia; Alfred Klahr Gesellschaft; Wiener Festwochen<br />
46 wına | <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 46 10.05.22 09:31
Das von Albert Salomon Freiherr von Rothschild<br />
errichtete Palais in der Prinz-Eugen-<br />
Straße wurde 1954 von der Arbeiterkammer<br />
gekauft und kurz darauf abgerissen (rechts).<br />
AUSSTELLUNG<br />
Jüdisches Museum,<br />
Dorotheergasse 11, 1010 Wien<br />
jmw.at<br />
HOMMAGE<br />
19:30 Uhr,<br />
Altes Rathaus Wien,<br />
Wipplingerstraße 8, 1010 Wien<br />
25. MAI <strong>2022</strong><br />
TRIBUTE AN EINEN GANZ,<br />
GANZ GROSSEN<br />
Stephen Sondheim gehörte wahrlich<br />
zu den ganz Großen der Musical-Welt<br />
des 20. Jahrhunderts. 1930 in New York<br />
als Sohn eines jüdischen Paares geboren,<br />
dass sich bald schon scheiden ließ,<br />
wuchs er auf einer Farm auf, erhielt früh<br />
schon Musikunterricht und befreundete<br />
sich in seiner Jugend mit dem<br />
Sohn Oscar Hammersteins, der dem<br />
angehenden Komponisten freundlich-kritisch<br />
zur Seite stand. Das Potenzial<br />
war erkannt – was tatsächlich in diesem<br />
Ausnahmekünstler, der nicht nur<br />
Ausnahmekomponist (Company, A<br />
Little Night Music, Sweeney Todd, Sunday<br />
in the Park with George), sondern<br />
auch ein großartiger Librettist (West Side<br />
Story!) war, steckte, sollte sich schon<br />
bald zeigen – an die 30 der weltwichtigsten<br />
Preise des „Showbiz“ konnte<br />
Sondheim im Laufe seines Lebens gewinnen,<br />
bis zuletzt blieb er ein Unermüdlicher.<br />
Mit ihrem A Tribute to Stephen<br />
Sondheim widmen sich nun so<br />
vielseitige Künstler:innen wie Shlomit<br />
Butbul, René Rumpold, Johannes Terne<br />
und Barbara Rektenwald dem Ende<br />
2021 verstorbenen „Neuentdecker des<br />
US-amerikanischen Musicals“, überraschungs-<br />
und anekdotenreich, unsentimenal<br />
und mit einer tiefen musikalischen<br />
Verbeugung.<br />
BIS 5. JUNI <strong>2022</strong><br />
FASZINATION SPURENSUCHE<br />
Sie waren – und sind – von Mythen umgeben: die<br />
Rothschilds. Und dies nicht nur dank des von Salomon<br />
von Rothschild aufgebauten Wiener Familienzweiges,<br />
sondern weltweit. Und nicht nur<br />
im Positiven, wie viele in der nur noch wenige<br />
Tage im Jüdischen Museum zu sehenden Ausstellung<br />
Die Wiener Rothschilds. Ein Krimi versammelten,<br />
teilweise ob ihrer antisemitischen Aktualität<br />
erschreckenden Exponate verdeutlichen.<br />
Klug und ambitioniert wurde von dem aus bescheidenen<br />
Verhältnissen stammenden Frankfurter<br />
Juden Mayer Amschel Rothschild binnen<br />
weniger Jahrzehnte aus dem sprichwörtlichen<br />
Nichts ein Imperium aufgebaut, dessen Macht<br />
und Einfluss selbst in der detailgenauen Nachschau<br />
nicht wirklich erfassbar gemacht werden<br />
können. Hier liegt der titelgebende „Krimi“<br />
vielleicht noch mehr als in der Geschichte deren<br />
Verfolgung und Vernichtung begraben. Allein<br />
der Wiener Zweig der weltweit vernetzten<br />
Familie schenkte der Stadt nicht nur die einstige<br />
Staatsbank „Creditanstalt“, sondern auch eines<br />
der damals modernsten Spitäler der Welt, faszinierende<br />
Palais und sogar eine seinerzeit vielbesuchte<br />
Gartenausstellung. Nichts von all dem<br />
ist heute mehr im Stadtraum sichtbar, die einst<br />
bewunderten Wiener Gründungen der Familie<br />
wurden nach dem Krieg von der Gemeinde<br />
Wien abgerissen, heute finden sich dort Arbeiterkammer,<br />
Theater Akzent und Wifi-Gebäude. Die<br />
Ausstellung versucht anhand einer chronologischen<br />
Darstellung der Erfolgs- und Verfolgungsgeschichte<br />
der Familie, deren geraubtes Vermögen<br />
teilweise bis heute auf Restitution wartet,<br />
Spuren dort sichtbar zu machen, wo diese vielfach<br />
auch noch nach Kriegsende ganz bewusst<br />
verschüttet wurden.<br />
LESUNG MIT MUSIK<br />
20 Uhr<br />
Spektakel,<br />
Hamburgerstraße 14, 1050 Wien<br />
spektakel.wien<br />
20. MAI <strong>2022</strong><br />
SOYFER UND DAS<br />
ROTE WIEN<br />
Jura Soyfer, der mit nur 26 Jahren im<br />
Konzentrationslager Buchenwald<br />
starb, zählt heute, obwohl kaum noch<br />
gespielt, zu den wichtigsten antifaschistischen<br />
Theaterstimmen Österreichs<br />
der Zwischenkriegszeit. Soyfer<br />
wurde in Charkiw geboren, die Familie<br />
floh, als er 12 Jahre alt war, nach<br />
Wien, wo er im dritten Bezirk die Matura<br />
abschloss und schon mit 16 Jahren<br />
zur Kabarettgruppe Blaue Blusen<br />
– Rote Spieler gehörte. Er schrieb für<br />
die Arbeiterzeitung, sozialdemokratische<br />
Magazine und in rasender Geschwindigkeit<br />
von 1936 bis zu seiner<br />
ersten Gefangenschaft im November<br />
1937 so genannte Mittelstücke, darunter<br />
Der Lechner Edi schaut ins Paradies,<br />
Astoria, Broadway Melodie und Der<br />
Weltuntergang sowie sein Romanfragment<br />
So starb eine Partei. Einem der<br />
wichtigsten Dichter des „Roten Wien“<br />
widmet Dramaturgin und Regisseurin<br />
Susanne Höhne mit Ihr nennt uns<br />
Menschen? Jura Soyfer und das Rote<br />
Wien nun einen Abend, der deutlich<br />
macht, dass seine Werke heute auf erschütternde<br />
Weise wieder aktueller<br />
sind denn je.<br />
Mit Jaschka Lämmert und Anna<br />
Starzinger(Cello)<br />
beseder-theater.com<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
mai<strong>2022</strong>.indb 47 10.05.22 09:31
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich froh war heimzukommen,<br />
war …<br />
diesen Jänner, als ich mehrere Tage<br />
fast ausschließlich in Kaffeehäusern<br />
verbracht habe. Ich liebe das und<br />
habe es davor sehr lange nicht gemacht<br />
– einerseits wegen Corona<br />
und andererseits, weil es in Berlin,<br />
wo ich jetzt hauptsächlich wohne,<br />
solche Kaffeehäuser einfach nicht<br />
gibt.<br />
Das letzte Mal sehr wienerisch<br />
gefühlt habe ich mich …<br />
auch im Jänner, als der Ober im Café<br />
Weidinger mich beim Frühstück gefragt<br />
hat, ob ich den Kaffee „wie<br />
immer“ nehme.<br />
Das letzte Mal, dass ich mir<br />
gewünscht habe, dass Wien<br />
mehr Tel Aviv ist, war …<br />
Das erste Mal werde ich im September<br />
in Tel Aviv sein, wenn wir dort unseren<br />
Foto-Text-Band vorstellen; ich<br />
bin sehr gespannt auf die Stadt! Aber<br />
dass Wien ein bisschen offener ist, so<br />
wie viele andere Großstädte, habe<br />
ich mir ehrlich gesagt schon öfter gewünscht.<br />
Das letzte Mal über die Vorzüge<br />
gefreut, eine Projektpartnerin wie<br />
Ronny Aviram zu haben, habe ich<br />
mich, ...<br />
als wir zusammen das Oster-/<br />
Pessachfest verbracht haben und ich<br />
wieder etwas mehr über jüdische<br />
Bräuche und das Leben in Israel erfahren<br />
habe. Ich habe mich während<br />
unserer Arbeit an TelAviVienna<br />
aber oft gefreut, mit einer so talentierten<br />
Künstlerin und gleichzeitig<br />
guten Freundin zusammenarbeiten<br />
zu dürfen.<br />
KAFFEE<br />
„WIE IMMER“!<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat erzählt die Schriftstellerin Christina Maria<br />
Landerl vom Weidinger-Frühstück und noch unbekannten<br />
Pessach-Bräuchen.<br />
Christina Maria Landerl lernt Ronny Aviram 2016 kennen, als die Israelin<br />
wegen ihres Fotografiestudiums nach Deutschland zieht und<br />
kurzzeitig die Mitbewohnerin der Schriftstellerin wird. Mittlerweile<br />
wohnen beiden in verschiedenen Städten – Landerl in Berlin und Aviram<br />
in Leipzig. Was geblieben ist, ist eine enge Freundschaft und der<br />
Wunsch, der jeweils anderen einmal die frühere Heimatstadt zu zeigen.<br />
In ihrem gemeinsamen Band TelAviVienna haben die Künstlerinnen<br />
ihre Reisen, die jede der beiden coronakonform allein angetreten<br />
hat, nun in Wort und Bild festgehalten.<br />
Die Buchpräsentation von TelAviVienna – Vom Heimkommen mit<br />
Ronny Aviram und Christina Maria Landerl findet am 30. <strong>Mai</strong> <strong>2022</strong><br />
um 18:30 Uhr im Jüdischen Museum Wien statt.<br />
Anmeldung unter jmw.at<br />
christinamarialanderl.com<br />
© Ronny Aviram<br />
48 wına | <strong>Mai</strong><strong>2022</strong><br />
mai<strong>2022</strong>.indb 48 10.05.22 09:31
Es erwarten Sie koschere Kulinarik,<br />
Verkaufsstände jüdischer DesignerInnen,<br />
ein Kinderprogramm, Live-Acts und<br />
über 40 Organisationen der Gemeinde.<br />
Live Musik:<br />
Wiener Jüdischer Chor<br />
Roman Grinberg & Klezmer Swingtett<br />
Special Guest: Lea Kalisch<br />
Judenplatz 1, 1010 Wien<br />
14:30 bis 19:00 Uhr<br />
Eintritt frei!<br />
Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, einen Lichtbildausweis mitzuführen.<br />
Mehr Informationen unter: www.ikg-wien.at/strassenfest<br />
cover_0322.indd 3 10.05.22 11:57
SEIT 1707<br />
Alexej Jawlensky, Winter, 1915, Nr. 54, 36,2 x 27,2 cm, € 120.000 – 160.000, Auktion 31. <strong>Mai</strong><br />
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