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FC03_TrueCrime

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AUSGABE 3 14. Januar 2023 € 4,90 DAS MAGAZIN /// JUBILÄUMSAUSGABE /// HIER SIND DIE FAKTEN /// SEIT 1993

30

JAHRE

FOCUS

Jan

Fleischhauer

schreibt über die

Finanzen des

Finanzministers

Herfried

Münkler

warnt vor der Fragilität

der Demokratie

Yotam

Ottolenghi

kocht ein exklusives

Jubiläumsmenü

3 0 Menschen,

die Deutschland und unserer

Welt Mut machen

… wie Özlem Türeci und Ugur Sahin, die den Krebs bekämpfen.

… wie Jamal Musiala, der Tore und Träume jagt.

… wie Alexander Gerst, der zum Mond fliegen möchte.


KULTUR

SERIE

Stream mir das Lied vom Tod

Neues vom Säurefassmörder: Mit der großartig fiesen

Serie „German Crime Story: Gefesselt“ beginnt nun

auch Amazon Prime, von echten Verbrechen zu erzählen

Ein Vorteil von True-Crime-

Geschichten gegenüber

solchen, die von fiktiven

Verbrechen erzählen, ist,

dass man im Idealfall auch

noch etwas lernen kann.

Eine wichtige Lektion der

neuen Amazon-Prime-Serie

„German Crime Story: Gefesselt“ lautet

etwa, dass größtes Misstrauen angebracht

ist, wenn man von einem Bekannten eingeladen

wird, die zu einem Privatbunker

verwandelte Unterkellerung seines Einfamilienhauses

zu bestaunen. Muss man

dazu durch eine Reihe von Türen gehen,

die immer kleiner werden, sodass man

irgendwann kriechen muss, hat man

wahrscheinlich ein Problem.

Bei dem Bekannten handelt es sich

im Fall der Serie um Raik Doormann,

einen Kürschnermeister, der mit Frau

und Kind in einer Vorortsiedlung lebt.

Seit das Pelzgewerbe in einer Imagekrise

Obwohl der Ausgang des Falls von

Anfang an klar ist, inszeniert Florian

Schwarz die Geschichte als eine Art Thriller

und legt den Schwerpunkt abwechselnd

auf den Täter, die Opfer und die

Polizei. In den Zeiten springt er munter

hin und her. Eine Konstante der Serie ist

dabei die Frauenfeindlichkeit, die den

gesamten Fall durchzieht – die Frauenfeindlichkeit

des Täters, aber auch der

Behörden gegenüber den Opfern und der

Kommissarin, die in der Serie den Namen

Nela Langenbeck trägt.

Dass der damaligen Ermittlerin Atzeroth-Freier

von ihren männlichen Kollesteckt,

versucht er, sich mit seiner neuen

Rolle als Hausmann zu arrangieren.

Antworten auf die großen und kleinen

Fragen des Lebens sucht er in den Sternen.

Weil seine Frau berufstätig und er

oft allein zu Hause ist, kann er anderen

Leuten unbemerkt seinen Privatbunker

zeigen. Nicht alle kehren lebend daraus

zurück.

Angelehnt ist die Figur Doormann an

Lutz Reinstrom, den „Säurefassmörder“,

der 1986 und 1988 in

Hamburg zwei Frauen

aus seinem Bekanntenkreis

in seinen Bun ker

entführt, misshandelt,

getötet und schließlich

ihre menschlichen

Überreste in Säure-

fässern im Garten verbuddelt

hat.

„Wir haben es mit

einer ganz obskuren

Täterfigur zu tun“, sagt Florian Schwarz,

der Regisseur der Serie, „ein Pelzhändler

aus der Mitte der Gesellschaft mit

einem ausgeprägten Hang zum Esoterischen.

Er konnte sehr charmant sein,

hatte eine unbändige kriminelle Energie

und war von einer unglaublichen Kälte.

Er ist ja der Trauzeuge des zweiten

Op fers gewesen.“ Nur dank der Kriminalbeamtin

Marianne

Atzeroth-Freier, die gegen

alle Widerstände in der

Mordkommission ermittelte,

wurde Reinstrom

letztlich überführt.

Der Fall drängte sich

praktisch für eine Verfilmung

auf: ein schillernder Täter, eine

unbeirrte Ermittlerin und der Gegensatz

von totaler Grausamkeit und heiler

Welt in der direkten Nachbarschaft.

Sollte „Gefesselt“ Erfolg haben, wird

die Serie der Auftakt von True-Crime-

Geschichten sein, die Amazon Prime

unter dem Banner „German Crime Story“

aufbereiten will.

Der Titel lässt unschwer erkennen,

dass dabei die US-Serie „American

Crime Story“ das Vorbild war. In drei

Staffeln erzählte sie bislang von dem

Fall O. J. Simpson, dem Mord an dem

Modedesigner Gianni Versace und dem

Lewinsky-Skandal. Die Bandbreite zeigt,

welche Art von Themen denkbar sind.

Wie sich aus den Zahlen lesen lässt, sind

True-Crime-Formate bei den Zuschauern

überaus beliebt. Erst Anfang Dezember

meldete Netflix, dass es sich bei der hinsichtlich

Inhalt, Stimmung, Brutalität und

Ekel eigentlich nur schwer verdaulichen

Serie „Dahmer – Monster: Die Geschichte

von Jeffrey Dahmer“ um eine der erfolgreichsten

Produktionen des Streamingdienstes

handelt. Inzwischen wurde sogar

entschieden, dass sie fortgesetzt werden

soll. Weil die Geschichte von Dahmer

jedoch auserzählt ist, wird es unter dem

Titel „Monster“ demnächst um andere

Serienmörder gehen.

Netflix ist mit True-Crime-Formaten

geradezu gesättigt. Überall lauern Axtmörder,

Giftmischer, Heiratsschwindler

und andere

unfreundliche Figuren,

die im wirklichen Leben

ihr Unwesen getrieben

haben. Bei der Konkurrenz

von Amazon Prime

hielt man sich in der Sache

Im Spiegel

Oliver Masucci als der

Mörder und Kürschner

Raik Doormann, der an sich

selbst die neuesten Pelzmodetrends

ausprobiert

Im Duell Oliver Masucci und Angelina

Häntsch als Raik Doormann und die unbeirrbare

Kommissarin Nela Langenbeck

bislang noch zurück.

Zumindest für den deutschen

Markt dürfte damit

vorerst Schluss sein.

88 FOCUS 3/2023 FOCUS 3/2023

Fotos: Neue Bioskop Television/Amazon Prime (2), dpa

Gespielt von Oliver Masucci, erlebt

man den zweifachen Mörder Doormann/

Reinstrom als einen selbstverliebten

Mann mit angeknackstem Selbstvertrauen,

dessen schmierige Männlichkeit in

den späten Achtzigern wohl noch mit

Charme verwechselt wurde. Mit pausenlosem

Gerede schwadroniert er seine

Umwelt in die Unterwerfung und passt

jede Idee von der Wahrheit seinen jeweiligen

Erfordernissen an.

Frauenfeindlichkeit als Konstante

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gen sämtliche Steine in den

Weg gelegt wurden, schlicht

weil sie eine Frau war, ist gut

dokumentiert und zieht sich

wie ein roter Faden durch die

insgesamt sechs Episoden.

Dass es sich bei „Gefesselt“

allerdings um keine originalgetreue

Nacherzählung

der Säurefassmorde handeln

kann, liegt in der Natur

der Sache. Was genau sich

zwischen Täter und Opfer

abspielte, weiß nur der Täter,

und der redet sich trotz einer

erdrückenden Beweislast bis

heute heraus.

„Letztlich mussten wir auch einen

persönlichen Blick auf den Fall werfen,

unseren persönlichen Blick“, sagt Florian

Schwarz. „Das Ergebnis ist eine Fiktion

zu dem Fall, die aber den Geist der

Geschichte trifft. Die Verdichtung gab

uns zudem die Möglichkeit, eine Distanz

zu den Opfern und ihren Angehörigen zu

schaffen.“ Nicht ganz zu Unrecht würde

das True-Crime-Genre ja oft wegen Ausbeutung

der Opfer in der Kritik stehen.

Im Knast Lutz Reinstrom

wurde zu lebenslanger Haft

mit anschließender Sicherheitsverwahrung

verurteilt

Dennoch werden mehr

oder weniger bekannte Fälle

unentwegt zu Büchern, Podcasts

und Serien verarbeitet,

das Publikum hat Blut

geleckt und will mehr. „Weil

es sich um reale Fälle handelt,

gehen sie einem offenbar

näher“, sagt Schwarz.

„Man steckt als Zuschauer

dadurch tiefer in der Angstlust

drin, weil man weiß, dass

einem das theoretisch auch

selbst passieren könnte.“ Seit

den späten Sechzigern lebt

etwa der deutsche True-

Crime-Klassiker „Aktenzeichen

XY … ungelöst“ von diesem Phänomen.

Gerade im Fernsehen entfaltet das

Genre seinen suggestiven Reiz. Während

auf dem Bildschirm Ungeheuerliches passiert,

klappert die Tür, knarrt der Boden,

taucht ein Schatten am Fenster auf. Vielleicht

würde ein Privatbunker Schutz bieten.

Aber nach „Gefesselt“ würde man

sich nicht einmal dort sicher fühlen. 7

HARALD PETERS

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