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03_30JahreFOCUS:BRD

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AUSGABE 3 14. Januar 2023 € 4,90 DAS MAGAZIN /// JUBILÄUMSAUSGABE /// HIER SIND DIE FAKTEN /// SEIT 1993

30

JAHRE

FOCUS

Jan

Fleischhauer

schreibt über die

Finanzen des

Finanzministers

Herfried

Münkler

warnt vor der Fragilität

der Demokratie

Yotam

Ottolenghi

kocht ein exklusives

Jubiläumsmenü

3 0 Menschen,

die Deutschland und unserer

Welt Mut machen

… wie Özlem Türeci und Ugur Sahin, die den Krebs bekämpfen.

… wie Jamal Musiala, der Tore und Träume jagt.

… wie Alexander Gerst, der zum Mond fliegen möchte.


POLITIK

ZEITGESCHICHTE

Am Start Verleger Dr. Hubert Burda und FOCUS-Chefredakteur

Helmut Markwort setzen am Morgen des 16. Januar 1993

in Offenburg die Tiefdruck-Rotationsmaschine 11 (Cerutti)

für die erste FOCUS-Ausgabe in Gang

Foto: HBM

Geschichten

aufspüren,

Geschichte

schreiben

Symbol und Zeuge

einer Welt im rasenden

Wandel: Der FOCUS,

einst Wunderkind der

deutschen Presse,

wurde in 30 Jahren zum

Chronisten der Republik

TEXT VON MARKUS KRISCHER

W

as sonst noch geschah:

In Hannover

berieten auf

getrennten Versammlungen

Mitglieder

von Bündnis

90 und den

Grünen über einen

Zusammenschluss der beiden Parteien.

In der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“

appellierte der Außenminister an die

SPD, sich gegen eine Grundgesetzänderung,

die Bundeswehreinsätze im Ausland

erlauben würde, nicht weiter zu sperren.

Und bei einer Rede in Neuss schloss der

Bundeskanzler Steuererhöhungen für die

nahe Zukunft aus. Das „Gerede“ darüber,

so tadelte er, sei „unklug“ und gefährde

den „Aufschwung“. Damals, am 16. Ja -

nuar 1993, hieß der Außenminister Klaus

Kinkel und sein Chef Helmut Kohl.

Am Morgen jenes Samstags traten in

Offenburg der Verleger Dr. Hubert Burda

und sein erster Journalist, Helmut

Markwort, an ein mächtiges Bedienpult

mit etlichen Knöpfen, Hebeln und Lichtern.

Gemeinsam setzten sie die Tiefdruck-

Rotationsmaschine 11 (Cerutti, Bahnbreite

1,92 Meter) in Gang, die eine Zeitschrift

entstehen lassen sollte, die zwei Tage

später überall in der Republik für vier

D-Mark zu kaufen war. Zum allerersten

Mal. Der FOCUS. Das Geschehen in

Offenburg schaffte es nicht in die Tagesschau

– aber es wirkte. Weit über den Tag

hinaus.

Mit seinem „modernen Nachrichtenmagazin“

löste Burda nicht weniger als

eine Revolution aus. Der FOCUS wurde

auf Anhieb und in atemberaubend kurzer

Zeit ein grandioser publizistischer

und unternehmerischer Erfolg. Das Risiko,

ausgerechnet am Montag zu erscheinen

und damit den Unangreifbaren direkt

anzugreifen, das seit einem halben Jahrhundert

konkurrenzlose Montagsblatt

„Spiegel“, zahlte sich aus.

Der FOCUS brach das Monopol des

Hamburger Magazins, avancierte zu

einem der Leitmedien des Landes. Zu

einem extrem profitablen noch dazu.

Die deutsche Presse hatte ihr Wunderkind.

Man konnte es beneiden, benörgeln

oder bewundern. Aber man konnte

es nicht überhören. Und nicht übersehen.

Das gilt nun seit dreißig Jahren. In

denen sich der FOCUS änderte. Er erscheint

inzwischen (wie der „Spiegel“)

am Samstag, und die Redaktion arbeitet

nicht mehr in München, sondern in Berlin.

Deutliche und klare journalistische Stimme

aber ist der FOCUS geblieben. Die

Stimme insbesondere jener Generation,

die damals, Anfang der neunziger Jahre,

zusammen mit dem Start des Magazins

in ihre eigene berufliche und private

Zukunft startete. Ihre Ausbildung hatten

die Babyboomer 1993 längst abgeschlossen,

die ersten Berufserfahrungen lagen

hinter ihnen. Jetzt verlangte diese höchst

agile und ehrgeizige Gruppe nach Orientierung.

Sie sehnte sich nach Neuem –

und ihr Kraftstoff war purer Optimismus.

Mit einem Zauberwort zogen Burda

und Markwort diese jungen Macher in

ihren Bann. Den FOCUS erklärten sie

zum Magazin der „Info-Elite“. Zu dieser

erlesenen Leserschaft sollten jene gehören,

die nach Fakten gierten. Nach Fakten,

die ihnen die Welt erklärten – und sie

voranbrachten. Auf Meinungsvorschriften

und das Ausharren in den ewig gleichen

ideologischen Gräben hatte dieses Pu -

blikum keine Lust. Und keine Zeit.

Aufbruch lag in der Luft

Ohnehin schien die Zeit der Ideologien

abgelaufen. Der Vorhang, der die Welt in

Ost und West, in Gut und Böse geteilt hatte,

war zerrissen. Die Sowjetunion war im

Januar 1993 gerade mal seit einem Jahr

aufgelöst. Deutschland seit 27 Monaten

wiedervereint. Mag sein, dass drei Jahre

nach dem Mauerfall die Euphorie über

das „Ende der Geschichte“ bereits verflogen

und somit selbst Geschichte geworden

war.

Dennoch lag Aufbruch in der Luft. Die

Bundesrepublik sah sich vor gewaltigen

Problemen, überraschenden Perspektiven

und auch überwältigenden Chancen. All

diese neuen, großen Herausforderungen

mussten begriffen und beschrieben werden.

Der FOCUS versprach genau das.

Er vermaß die Welt neu – und stellte sie

neu dar. Der FOCUS zeigte, im Gegensatz

zum „Spiegel“, farbige Fotos. Er erklärte

nicht nur mit Worten, sondern auch mit

Tabellen, Grafiken und Zahlen. Schon in

den ersten Ausgaben erschienen Ranglisten.

Beurteilt und gerankt wurden Ärzte,

Anwälte und später Kliniken. Was heute

üblich ist, wurde damals vom FOCUS juristisch

erstritten und journalistisch erobert:

das Recht, berufliche Fähigkeiten zu

bewerten und darzustellen. Also Transparenz

zu schaffen für jene, die auf die Fähigkeiten

dieser Personen angewiesen waren.

Das Aussehen des FOCUS, sein Layout,

war der eigentliche Skandal. Die Re-

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FOCUS 3/2023

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ZEITGESCHICHTE

Im Gegenangriff Regierungschef Helmut Kohl (CDU) wehrte sich im FOCUS-Gespräch

(Oktober 1997) gegen Kritik aus den eigenen Reihen. Im folgenden Jahr verlor er die Wahl

„Wer mich nicht

mehr als Kandidaten

will, der soll

es offen sagen“

Helmut Kohl,

Bundeskanzler, 1982–1998

„Ich habe nicht bei

einer Tombola

gewonnen, sondern

eine verantwortungsvolle

Aufgabe

übernommen“

Angela Merkel,

Bundeskanzlerin 2005–2021

Im Amt Angela Merkel (CDU) gewann 2005 die

Bundestagswahl und schmiedete mit der SPD

ihre erste Koalition. Im November 2005 sprach sie

mit dem FOCUS über ihre Pläne für Deutschland

Im Gegenwind Gerhard Schröder (SPD) verteidigte im

FOCUS-Interview (April 2004) seinen Kurs der sozialen

Reformen (Agenda 2010). Im Jahr darauf verlor er die

Vertrauensfrage und in der Bundestagswahl die Macht

Im Krisenmodus Im Gespräch mit dem FOCUS

blickte Bundeskanzler Olaf Scholz im November 2022

zurück auf das erste Jahr seiner Ampelkoalition – und

vor allem auf den Krieg in der Ukraine

„Ein dramatischer

Bruch mit allem,

was wir in den

Jahrzehnten zuvor

gekannt haben“

Olaf Scholz,

Kanzler seit Dezember 2021

Gegen den Wettbewerb Graffiti im Nymphenburger Park in München, 1993. Die Überzeugung des anonymen Monopol-Freundes setzte sich nicht durch

Fotos: Dieter Bauer (3), Wolf Heider-Sawall/beide für FOCUS-Magazin

volution. Der Grund seines Erfolges.

Dass ein FOCUS-Text aus mehreren

optischen und grafischen Elementen

bestand, schmähten manche als „Häppchen“-Journalismus.

In Wahrheit erwies

sich gerade hier die eigentliche innovative

Kraft des FOCUS. Das Magazin

präsentierte sich und seinen Stoff

mit immer wieder neuen Anreizen. Die

Leser sollten überall in den jeweiligen

Beitrag einsteigen können. Damit nahm

der FOCUS im Kosmos der gedruckten

Medien eine Ästhetik vorweg, die kurz

darauf die digitale Welt erobern sollte.

Exakt im Jahr 1993 machte der erste

grafikfähige Webbrowser das Internet

kommerziell nutzbar – und damit zum

Massenmedium.

Gerade wegen seiner Lust am Fortschritt

wurde der FOCUS zum Medium

derer, die davon überzeugt waren, dass

ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisse

und ohne neue Technologien auch keine

neuen Chancen und kein gesellschaftlicher

Wandel zu erwarten waren.

Die Neunziger mögen den „Digital

Natives“ von heute weit entfernt und hoffnungslos

verstaubt erscheinen. Im Kino

kämpfte Arnold Schwarzenegger als Terminator

gegen den überlegenen T-1000,

und auf den Straßen kämpften die Menschen

mit Mobiltelefonen, die so mobil

waren wie ein Toaster.

Tatsächlich waren die Neunziger eine

Dekade der Gründer und Pioniere. Die

Welt befand sich an der

Schwelle vom Analogen

zum Digitalen. Noch gab es

Schreibmaschinen, Kassettenrekorder

und Telefaxgeräte.

Schon aber wurden

Töne, Worte und Bilder

auch digital festgehalten

und verbreitet.

Mit seinen Themen, seiner

Anmutung und wegen

seiner computerbasierten

Produktion wurde der

FOCUS zum journalistischen

Symbol und zum

Chronisten dieses Epochenwechsels.

Neben den technologischen

Umbrüchen erzählte

der FOCUS von Anfang an auch von

den gesellschaftlichen und politischen

Umwälzungen der Republik. Die wiedervereinigte

Nation musste sich erst

finden. Sie musste die Kosten dieser Einheit

stemmen. Sie musste ihre Aufgabe

Große Bühne Regierungschef

Olaf Scholz zog im FOCUS

Bilanz des ersten Jahres seiner

Kanzlerschaft

in Europa neu bestimmen.

Und sie musste dieses neue

Europa erst einmal aufbauen.

Die leidenschaftlichen Debatten,

die den Wandel von der

Bonner zur Berliner Republik

begleiteten, lassen sich

auch im FOCUS nach lesen.

Die Befürchtung, das neue europäische

Haus werde womöglich zu schnell errichtet

und es könnten einige eklatante Konstruktionsfehler

übersehen worden sein,

verdichtete sich zur Gewissheit, als die

Schuldenkrise die Europäische Union bis

zum Zerreißen belastete.

Der FOCUS nannte auf einem Titel

den Pleitestaat Griechenland „Betrüger in

der Euro-Familie“. Auf dem Cover zeigte

die Venus von Milo gänzlich unklassisch

den Mittelfinger. Die Provokation,

inzwischen eine Ikone unter den deutschen

Magazin-Covern, brachte Chefredakteur

Markwort ein Strafverfahren in

Griechenland ein (das erst nach Jahren

wieder eingestellt wurde).

Dass der FOCUS ein unbequemer

journalistischer Begleiter sein kann –

das erfuhren in den vergangenen drei

Dekaden neben drei Kanzlern und einer

Kanzlerin noch viele andere aus der Riege

der Mächtigen und Einflussreichen.

Gesprochen haben sie dennoch alle mit

den Reportern des Magazins. Fast alle.

Der einstige Obergrüne Joschka Fischer

verweigerte beharrlich jede Antwort. Auf

welche Frage auch immer.

Das lag sicher nicht daran,

dass FOCUS immer wieder

Fragen stellte zu den

radikalen Jugendjahren

Fischers als Frankfurter

Straßenkämpfer.

Auch die richtig Bösen

besuchte der FOCUS. Reporter

Josef Hufelschulte

sprach mit Libyens Diktator

Gaddafi und mit dem

kurdischen PKK-Chef

Öcalan. Weil einige seiner

Anhänger das Interview

für gefälscht hielten,

überfielen und verwüsteten

sie die Münchner

FOCUS-Redaktion.

Zur akustischen Legende geriet die

Antwort, die SPD-Innenminister Otto

Schily der Chefredaktion des FOCUS

durchs Telefon brüllte, nachdem einem

Reporter einige angebliche Eskapaden

des damaligen Bundeskanzlers Gerhard

„In meinem

Amt muss man

positiv denken.

Wie kann man

erreichen, dass

es klappt?“

Gerhard Schröder,

Bundeskanzler 1998-2005

Schröder zu Ohren gekommen

waren.

Aufreger gab es immer.

Dass nur die Gegenwart

die wahrhaft großen, nie da

gewesenen Geschichten und

Schicksale bereithält, ist eine

Art der Selbsttäuschung, die

schon in allen vergangenen Gegenwarten

üblich war.

Der Skandal etwa um die verschwundenen

(weil erfundenen) 1,9 Milliarden

Euro der Betrugsfirma Wirecard ist so einzigartig

nicht. 1994 legte der Frankfurter

„Baulöwe“ Jürgen Schneider eine be -

trügerische Pleite hin – und pulverisierte

damit Kredite im Wert von 5,4 Milliarden

D-Mark. Wirecard-Vorstand Jan Marsalek

tat nur das, was auch Jürgen Schneider

getan hatte: Er tauchte ab. Die weltweite

Suche nach dem verschwundenen Bau-

Pleitier endete 1995 im Gefängnis von

Miami – und mit dem ersten Interview,

das Häftling Nr. 43939/004 dem FOCUS

gewährte. Nein, so erklärte Schneider, er

sei nicht geflohen. Er sei nur „verreist“.

Geschichte in über 1500 Ausgaben

Mit bedeutsamen, exklusiven Recherchen

eroberte der FOCUS immer wieder

die Schlagzeilen. Zu den großen Enthüllungen

zählten etwa die Affäre um die

gekauften Betriebsräte von VW und der

geheime Bilderschatz des NS-Kunsthändlers

Gurlitt.

Ob FOCUS Fehler machte? Ja, leider.

Unvergessen (wenn das Vergessen auch

noch so erwünscht wäre) ist die Nachricht

von den angeblich „schwarzen Kassen“

der Landtags-CDU in Kiel. Was der

verantwortliche Reporter vor etwa einem

Vierteljahrhundert für den Beleg einer

übel riechenden Finanzaffäre hielt, war

in Wahrheit nichts weiter als die stinknormale

Fraktionskasse der Kieler Konservativen.

Alles andere als normal ist der Weg,

den der FOCUS bislang zurückgelegt

hat. In über 1500 Ausgaben lieferte er

Erstaunliches, Erschütterndes, Dunkles

und Erhellendes über eine Welt im Wandel.

Er schrieb die Geschichte der Berliner

Republik mit. Und wurde selbst Teil

dieser Geschichte.

Spätestens mit jenem Tag, als der

Kanzler in Neuss Steuererhöhungen ausschloss,

zwei grüne Parteien in Hannover

über ihren Zusammenschluss berieten

und in Offenburg die Druckmaschinen

anliefen. 7

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