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FOCUS_04:2023_Fleischhauer

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JAN FLEISCHHAUER

Der schwarze Kanal

Gehsdu Kotti?

Friedrich Merz gilt als Rassist, seit er Bildungsverweigerer

aus Migrantenfamilien „kleine

Paschas“ nannte. Teile der politischen Klasse

haben offenbar beschlossen, die Realität an

deutschen Schulen einfach auszublenden

Die gute Nachricht vorneweg: In Berlin werden

die Schulzeugnisse demnächst gegendert.

So hat es die Schulsenatorin verfügt.

Die Schulleitungen sind angehalten, auf

„adressatenbezogene Formulierungen, die

zur Festlegung des Geschlechts auffordern“,

zu verzichten, wie es in einer Mitteilung heißt.

Ab Sommer also: „Der/Die Lernende Hassan hat sich

bemüht.“ Oder besser noch: „Ens Hassan hat am Unterricht

teilgenommen.“ „Ens” ist das neue, inklusive Personalpronomen.

Ob Hassan weiß, wovon beim Gendern die Rede ist?

Einer der weniger beachteten Aspekte in der Diskussion

über die neuen Sprachregeln ist, dass sie eine ungemein

komplizierte Angelegenheit wie die deutsche Sprache

noch komplizierter machen. Viele sind schon aufgeschmissen,

wenn der Lehrer „Gehsdu Kotti?“ nicht als Ersatz für

„Wollen wir uns am Kottbusser Tor treffen?“ akzeptieren

will und stur auf Subjekt, Prädikat und Objekt besteht.

Andererseits: Im Zweifel ist der Grundschüler Hassan

beim Sprachverständnis ohnehin noch auf dem Niveau

eines Vorschulkinds – so wie ein Drittel

seines Jahrgangs. Da spielt es auch

keine große Rolle mehr, ob er alles in

seinem Zeugnis versteht oder nicht.

Wir haben es schwarz auf weiß:

Rund 30 Prozent der Viertklässler verfehlen

beim Schreiben die sogenannten

Mindeststandards, also die Minimalanforderungen,

die nicht von

ungefähr ganz unten angesetzt sind.

Nicht einmal die Hälfte erreicht den

Regelstandard und damit das, was im

Schnitt von Schülerinnen und Schülern

in diesem Alter erwartet wird.

Beim Rechnen sieht es nur geringfügig

besser aus, wie eine Studie im

Auftrag der Kultusministerkonferenz

ergab. Bei Mathe beträgt der Anteil

»

Auch Einwanderer aus

Vietnam oder Korea

sind nicht auf Rosen

gebettet, dennoch

verläuft ihre Bildungskarriere

schon in der

zweiten Generation

unauffällig

«

derjenigen, die am Ende der Grundschulzeit nicht einmal

einfachste Aufgaben bewältigen können, 22 Prozent.

Wir wissen auch, wer sich besonders schwertut. Es sind

vor allem Kinder aus Familien mit einem sogenannten Migrationshintergrund.

Der Abstand zu den Mitschülern aus

Familien ohne unmittelbare Migrationsgeschichte ist allen

Integrationsbemühungen zum Trotz nicht geschrumpft – er

hat sich im Gegenteil seit 2017, dem Zeitpunkt der Publikation

der letzten Erhebung, noch einmal deutlich vergrößert.

Aber darf man das überhaupt sagen? Oder verstößt das

bereits gegen das Antidiskriminierungsgebot?

CDU-Chef Friedrich Merz hat sich gründlich in die

Nesseln gesetzt, als er bei einem Auftritt bei „Markus

Lanz“ darauf hinwies, dass es unter Einwandererfamilien

einen Kern aufsässiger Schüler gebe, dem es an jedem

Respekt gegenüber den Lehrkräften fehlen lasse und

der sich über alle Regeln hinwegsetze. Merz sprach von

„kleinen Paschas“. Die Äußerung wurde als so skandalös

empfunden, dass die Diskussion darüber immer noch

nicht ganz abgeebbt ist.

Ich habe mir den Auftritt von Merz angesehen. Ich bin

oft anderer Meinung als der CDU-Vorsitzende. Ich fand

seine Bemerkung zum „Sozialtourismus“ zum Beispiel

etwas töricht. Wenn etwas die Vorzüge einer touristischen

Reise vermissen lässt, dann die Flucht aus Syrien, Afghanistan

oder der Ukraine.

Aber im Fall der kleinen Paschas kann ich die Aufregung

nicht nachvollziehen. Merz hat ausdrücklich hinzugefügt,

dass die große Mehrheit der Leute, die von außerhalb

nach Deutschland gekommen sind, eine Bereicherung darstelle,

ja, dass es gerade in der migrantischen Community

viele gebe, die sich über die jungen Tunichtgute besonders

ärgerten. Es half nichts. Merz gilt jetzt als Rassist.

Was ist da los? Ich kann mir das

Getobe nur so erklären, dass man

eine Diskussion über Bildungsdefizite

um jeden Preis vermeiden will. Teile

der politischen Klasse haben offenbar

beschlossen, die Realität einfach nicht

mehr zur Kenntnis zu nehmen.

Ich komme qua Heirat aus einem

Lehrerhaushalt. Meine Schwiegermutter

war bis vor Kurzem Realschullehrerin.

Ich nenne hier aus Rücksicht

auf sie nicht den Namen der Schule,

an der sie tätig war. Ich will nicht,

dass sie auch noch Schwierigkeiten

bekommt. Aber die kleinen Paschas,

die keinerlei Respekt zeigen, die

kennt sie gut. Sie hat auch ihre Erfahrungen

mit Vätern gemacht, die plötz-

Fo t o : M a r k u s C . H u r e k f ü r F O C U S - M a g a z i n

6 FOCUS 4/2023


KOLUMNE

Niveau eines Vorschulkinds

Illustration von Silke Werzinger

lich in der Schule auftauchen, wenn ihre Söhne gemaßregelt

wurden, und zwar um die Lehrerin zur Rede zu stellen.

Wir reden hier wohlgemerkt von einer Realschule in einer

Kleinstadt in Bayern. Sprechen Sie mal mit Lehrern aus

Berlin oder Frankfurt: Es ist abenteuerlich, was man da zu

hören bekommt. Es hat seinen Grund, warum sich kaum

noch Pädagogen finden, die bereit sind, an Gesamtschulen

zu unterrichten, wo der Anteil arabisch- oder türkischstämmiger

Schüler besonders hoch ist.

Auch das grüne Stammpublikum weiß selbstverständlich,

wovon die Rede ist. Die Leute sind ja nicht

blöd. Zu Beginn des neuen Schuljahrs

kann man deshalb in Städten wie Berlin

eine merkwürdige Wanderungsbewegung beobachten.

Pünktlich zum Einschreibetermin gibt

es eine auffällig hohe Zahl von Ummeldungen

aus Vierteln wie Kreuzberg oder Neukölln nach

Charlottenburg und Dahlem.

Es lebt sich super in Kreuzberg: toller Altbaubestand,

jede Menge hippe Kneipen und

Restaurants. Aber sein Kind auf eine Schule

geben, wo der Migrantenanteil bei 80 Prozent

liegt? Um Gottes willen! Also melden sich

Papa oder Mama um, damit sich Lisa und

Jonas im Einzugsbereich einer Schule befinden,

an der die einzigen Ausländer, auf die

man trifft, die Kinder von Diplomaten oder

russischen Millionären sind.

Ich kenne einen Journalistenkollegen, der

sich jeden Tag 40 Minuten von Kreuzberg

300 Seiten

Fleischhauer

„How dare you!“,

jetzt als Taschenbuch

Die wöchentliche Sendung

Fleischhauer – 9 Minuten

netto“, jeden Freitag

auf ServusTV vor dem „Talk“

ins Westend quält, damit der Sohn eine ordentliche Schule

besucht. Vier Fahrten am Tag macht drei Stunden im Auto.

Natürlich arbeitet der Vater für eine renommierte Zeitung,

die auf das Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung

viel Wert legt.

Wer will es den Eltern verdenken? Meinen Segen haben

sie, ich würde nicht anders handeln. Ich halte allerdings auch

keine Vorträge, warum das Wort „Pascha“ rassistische Vorurteile

bediene. Möglicherweise liegt hier eine Erklärung

für die Aufregung über die Äußerungen von Merz. Wenn

Lebenspraxis und politisches Bekenntnis zu weit auseinanderklaffen,

hat man nur die Möglichkeit, das Bekenntnis der

Lebenspraxis anzupassen – oder die Wirklichkeit zu leugnen.

Die Zahlen sind, wie gesagt, eindeutig. Und die Lage wird

nicht besser. Die stärksten Kompetenzrückgänge seien fast

durchgängig für Schüler zu verzeichnen, die im Ausland

geboren sind, heißt es in der Studie der Kultusminister. Bei

Kindern, die mit ihren Eltern nach Deutschland kamen, liegt

der Rückstand zwischen einem Dreivierteljahr und mehr

als zwei Schuljahren. Bei Kindern der zweiten Generation,

also Kindern, die bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen

sind, beträgt er noch immer bis zu eineinhalb

Schuljahren.

Das ist gewaltig. Es bedeutet, dass viele Schüler beim

Übertritt auf eine weiterführende Schule gerade mal das

Niveau eines Zweitklässlers erreicht haben.

Eine Erklärung ist die soziale Lage. Wer aus einer Familie

stammt, in der bislang niemand Abitur oder Hochschulabschluss

besitzt, hat schlechtere Voraussetzungen als sein

Banknachbar aus dem Bildungsbürgerhaushalt. Aber das

kann nicht alles sein. Auch Einwanderer aus Vietnam oder

Korea sind nicht auf Rosen gebettet, dennoch verläuft ihre

Bildungskarriere schon in der zweiten Generation

unauffällig. Außerdem: Läge es allein an der

sozialen Herkunft, dürfte es bei hier Geborenen

keinen Unterschied zu Kindern aus deutschen

Unterschichtshaushalten geben. Den gibt es aber.

Man kann es so weiterlaufen lassen. Es wird

halt ziemlich teuer. 44 Milliarden Euro geben

wir jetzt schon jedes Jahr für die Unterstützung

von Leuten aus, die entweder nicht arbeiten

können oder nicht arbeiten wollen, weil das,

was sie als Ungelernte verdienen würden, nicht

so wahnsinnig von dem entfernt ist, was sie an

Sozialhilfe bekommen.

Oder wir entscheiden uns, mal genauer hinzusehen,

was schiefläuft. Das würde allerdings

voraussetzen, dass man aufhört, jeden einen

Rassisten zu nennen, der auf Integrationsprobleme

hinweist. Ob wir dazu die Kraft haben? Ich

bin mir nicht sicher. 7

FOCUS 4/2023

7

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