171_StadtBILD_Oktober_2017
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Görlitz, Kaiserliches Postamt am Postplatz (Ansichtskarte um 1910)
Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
„Deutschland hat ewigen Bestand, es ist<br />
ein kerngesundes Land; mit seinen Eichen,<br />
seinen Linden wierd` ich es immer wiederfinden...<br />
Das Vaterland wird nie verderben“.<br />
Wer kennt die Verse noch, wer den Dichter?<br />
Wer wollte es heute noch wagen, das<br />
öffentlich zu zitieren? Sofort würden störrische<br />
Nörgler, zänkische Parteiideologen<br />
und karrierebewußte Presseleute mit Totschlagsvokabeln<br />
wie „Nationalismus“ oder<br />
„Rassismus“ ihr bekanntes Hass-Vokabular<br />
einsetzen, um unbefangene Zeitgenossen<br />
einzuschüchtern. Wird der Text noch im<br />
Deutschunterricht vermittelt? Er stammt<br />
aus den „Nachtgedanken“ von Heinrich Heine.<br />
Wer kennt den noch hierzulande? Welcher<br />
Zeitzeuge der Nachkriegsjahre erinnert<br />
sich nicht noch gern an Bertolt Brechts<br />
„Kinderhymne“ (1950), von Ernst Busch<br />
schlicht und anrührend gesungen? „Anmut<br />
sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht<br />
noch Verstand, daß ein gutes Deutschland<br />
blühe wie ein andres gutes Land... Und<br />
weil wir dies Land verbessern, lieben und<br />
beschirmen wir´s, und das liebste mag`s<br />
uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.“<br />
Zum Glück liegt die Schlammschlacht der<br />
Wahlvorbereitung nun hinter uns. Für viele<br />
Ältere, einst erzogen zu Ehrfurcht und<br />
Tatbereitschaft beim Hören der Worte<br />
„Heimat“, „Muttersprache“, „Vaterland“,<br />
drückte Heinrich Heines enthusiastische<br />
Überzeugung von Deutschlands Zukunft etwas<br />
Selbstverständliches aus. Aber heute?<br />
Dennoch ließ des Wahlergebnis in Sachsen<br />
keinen Zweifel daran, daß ein beträchtlicher<br />
Teil der Bevölkerung zum Vaterland<br />
Deutschland steht und Kopfgeburten der<br />
Globalisierer wie einen Einheitsstaat Europa<br />
oder gar eine Weltgemeinschaft ablehnt. Ja<br />
zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und<br />
zu friedlichen Beziehungen der Völker Europas,<br />
frei von den Weltherrschaftsallüren der<br />
„westlichen“ Großmacht. Nur die freie und<br />
freudige Zusammenarbeit der Völker und<br />
Vaterländer bereitet den Boden für die verpflichtende<br />
Überzeugung, daß jede Generation<br />
das Erbe der Väter aufgreifen und zugleich<br />
den Boden für künftige Generationen<br />
bereiten muß. Es ist unvernünftig und nicht<br />
hinnehmbar, wenn immer noch von Politikern<br />
und Meinungsmachern alles Deutsche<br />
für überholt und sogar gefährlich erklärt<br />
wird. Niemand muß aus Furcht vor Unannehmlichkeiten<br />
seine Treue zu Deutschland<br />
für sich behalten. Vielmehr sollten Eltern<br />
und Großeltern, Lehrer und Berufsausbilder,<br />
Medien und Künstler frühzeitig damit beginnen,<br />
durch Vermittlung einer gediegenen<br />
Muttersprache, der Geschichte und Kultur,<br />
der Liebe zur Heimatlandschaft den jungen<br />
Görlitzern einen selbstverständlichen Patriotismus<br />
zu vermitteln. Ohne diesen gibt es<br />
keine gesicherte Zukunft. Auch <strong>StadtBILD</strong><br />
sieht sich in der Pflicht.<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
3
Jugenderinnerung<br />
Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />
Sylvia (rechts) mit Bruder Joachim auf dem Wilhelmsplatz, um 1958<br />
Aus den Lebenserinnerungen meines Vaters<br />
Manfred Junge wurden bereits einige<br />
Beiträge veröffentlicht. Nun will auch ich<br />
versuchen, einige meiner Kindheits- und<br />
Jugenderinnerungen zu Papier zu bringen.<br />
Heute ist ja alles anders, und da ist<br />
es für den Leser vielleicht interessant,<br />
etwas über das Leben in der damaligen<br />
DDR zu erfahren, in der ich (Jahrgang<br />
1953) groß geworden bin.<br />
Ich wuchs auf dem Bauernhof bei meinen<br />
Großeltern in Kunnersdorf auf, den Eltern<br />
meines Vaters. Zur Wirtschaft gehörten<br />
10 Hektar Land, das sich vom Hof über<br />
die Nieskyer Chaussee (F115) bis zur<br />
Waldstraße erstreckte. Zu meiner Kindheit<br />
waren die Großeltern noch Einzelbauern.<br />
Bis zum LPG-Eintritt 1960 bauten sie u.<br />
a. Getreide, Raps und Kartoffeln an, aber<br />
auch Tabak und Mohn. Der Tabak wurde<br />
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4<br />
Geschichte
weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />
nach der Ernte bündelweise aufgefädelt<br />
und an die Dachsparren auf dem Dachboden<br />
zum Trocknen aufgehängt. Die dann<br />
trockenen Tabakblätter wurden in eine<br />
selbstgebaute hölzerne Tabakpresse gelegt,<br />
mit einem Holzdeckel abgedeckt und<br />
anschließend gepresst. Als Kind durfte ich<br />
beim Pressen mitmachen. Hinter unserer<br />
Streuobstwiese lag das Mohnfeld. Das<br />
Rasseln der Mohnkörner, welches beim<br />
Schütteln der reifen Mohnkapseln zu hören<br />
war, liegt mir heute noch in den Ohren.<br />
Ich naschte gern von den frischen<br />
Mohnkörnern direkt aus der Kapsel.<br />
Mein Opa kümmerte sich um die Feldarbeit<br />
und Oma besorgte das Vieh: Kühe,<br />
Schweine und Hühner. So manches Mal<br />
fuhr ich mit Opa hinaus auf das Feld,<br />
auf dem Leiterwagen sitzend, den zwei<br />
Ochsen zogen. Das Getreide mähte Opa<br />
mit der Flügelmaschine, die es in kleinen<br />
Häufchen auf dem Feld ablegte, so dass<br />
es nur noch mit Strohseilen zu Garben<br />
gebunden werden musste. Die Garben<br />
wurden auf dem Feld zu Getreidepuppen<br />
zum Trocknen aufgestellt (bei Weizen 8<br />
Garben für eine Puppe.) Nie vergessen<br />
werde ich, dass ich einmal mit meinen<br />
neuen Lackschuhen über das Stoppelfeld<br />
ging, wobei diese natürlich arg zerkratzt<br />
wurden.<br />
Oma stand früh auf, um die Kühe zu melken.<br />
Die Milchkannen mussten zur Milchrampe<br />
am Fuße unseres Berges geschafft<br />
werden, was bei Eis und Schnee schwierig<br />
war. Das Milchauto transportierte sie<br />
von dort aus zur Görlitzer Molkerei. Wir<br />
verwendeten einen Teil der Milch zum<br />
Selberbuttern. Die fertige Butter wurde<br />
in eine kleine Holzform gedrückt. Beim<br />
Stürzen der Butterform war dann das<br />
Muster auf der Butter (kleine Röschen) zu<br />
sehen.<br />
Oma bereitete auch Quark aus saurer<br />
Milch zu. Sie ließ die Rohmilch sauer werden,<br />
gab die Dickmilch in ein sauberes<br />
Geschirrtuch, drehte es zu einem Säckchen<br />
zusammen und band es an den<br />
Wasserhahn in der Küche. Dort konnte<br />
die Molke abtropfen, und fertig war der<br />
Quark! Aus altgewordenem Quark stellte<br />
sie Kochkäse her, indem sie den Quark<br />
mit Natron, Steinsalz und Kümmel kochte.<br />
Er hatte eine besondere Konsistenz<br />
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Geschichte<br />
5
Jugenderinnerung<br />
Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />
und schmeckte mir ausgezeichnet. Bisher<br />
scheiterten alle meine Versuche, so einen<br />
Käse wie die Oma zu kochen.<br />
Jedes Jahr im Winter war Schweinschlachten<br />
angesagt. Herr Randig machte<br />
die gutgewürzten Blut- und Leberwürstel<br />
mit Semmeln und viel Majoran. Fleisch<br />
wurde eingepökelt und in unserer Räucherkammer<br />
zu Schinken geräuchert.<br />
Fleisch, Weiß- und Blutwurst weckte Oma<br />
auch im Waschkessel in Rillengläsern<br />
ein. Einen Kühlschrank besaßen wir damals<br />
noch nicht, so dass unser Hauskeller<br />
vorerst diese Funktion übernahm. Der<br />
Waschkessel diente auch zum Sirupkochen.<br />
Der Sirup hatte eine dunkle Farbe.<br />
Er schmeckte sehr gut und wurde anstelle<br />
von Weißzucker und als Brotaufstrich<br />
verwendet.<br />
Als Kind durfte ich die Hühnereier aus<br />
den Legenestern im Hühnerstall abnehmen<br />
und die Anzahl der Eier in eine Liste<br />
eintragen. lm Dorf gab es eine Eieraufkaufstelle.<br />
Die Hühner konnten auf unserer<br />
Wiese frei herumlaufen und nach<br />
Herzenslust Futter suchen. Damals hatten<br />
wir noch nicht alles eingefriedet. Das<br />
Einzäunen war ab ca. 1968 Pflicht, um<br />
der TBC (Tuberculose)-Übertragung auf<br />
die Kühe vorzubeugen.<br />
Für tierische und pflanzliche Erzeugnisse<br />
der Einzelbauern gab es ab 1949 ein<br />
Pflichtablieferungssoll, für das sie einen<br />
geringeren Verkaufspreis erzielten. Alles,<br />
was der Bauer darüber hinaus erzeugte,<br />
konnte er als sogenannte „Freie Spitze“<br />
teurer verkaufen. Diese Regelung sollte<br />
der Erhöhung der landwirtschaftlichen<br />
Produktion dienen. Unser Pflichtsoll 1956<br />
betrug für Eier z.B. 1225 Stück und für<br />
Milch 5747 kg.<br />
Vor Eintritt in die LPG (Landwirtschaftliche<br />
Produktionsgenossenschaft) 1960<br />
droschen meine Großeltern das Getreide<br />
noch selbst in unserer Scheune mit<br />
der Dreschmaschine. Eine Strohpresse<br />
presste das Stroh. Mit Nachbars Kindern<br />
bauten wir auf der Tenne aus den Strohgebündeln<br />
kleine Tunnel. Durch diese<br />
Konstruktion krochen wir gerne hindurch<br />
und hatten dabei viel Spaß. Wir Kinder<br />
liebten es, von der Dreschbühne in den<br />
Bansen ins Stroh zu springen. Dabei fielen<br />
wir manchmal unglücklich auf den Rü-<br />
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6<br />
Geschichte
weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />
Zugochsen in Kunnersdorf, um 1950<br />
cken, so dass uns für Sekunden die Luft<br />
wegblieb. Aber es kam glücklichenıveise<br />
nie zu einem Unfall!<br />
Mein Großvater mähte das Gras auf unseren<br />
Feldern mit dem Grasmäher, gezogen<br />
von zwei Zugochsen. Das Futter<br />
wurde dann mit dem Handrechen immer<br />
wieder gewendet und abends mit dem<br />
Schlepprechen, von einem Ochsen gezogen,<br />
zu Schwaden (=lange schmale<br />
Reihen) zusammengerecht und diese anschließend<br />
zu vielen kleinen Heuhaufen<br />
(den Schäbern) geschäbert. Das trockene<br />
Heu wurde mit dem Leiterwagen oder<br />
den LKW meines Vaters (Fuhrunternehmer)<br />
eingefahren und auf den Heuboden<br />
gesteckt.<br />
Das Grünland an unserem Gehöft wurde<br />
seit jeher und noch heute mit der Handsense<br />
gemäht und von Hand mit dem<br />
Rechen gewendet. Bei einer längeren<br />
Schlechtwetterperiode „reutern“ wir das<br />
halbfertige Heu auf. Ein Reuter ist ein hölzernes<br />
Gestell. Es besteht aus zwei gegeneinander<br />
gestellten Holzteilen in einer<br />
sogenannten Heuhütte. Auf dem Reuter<br />
dauert die Trockung zwar länger, das Heu<br />
hat aber eine höhere Qualität. Der Regen<br />
kann vom Heudach ablaufen. Mitunter<br />
wird der Reuter auch mit einer Plane<br />
als zusätzlicher Regenschutz abgedeckt.<br />
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Geschichte<br />
7
Jugenderinnerung<br />
Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />
Oma holt Holz aus der Scheune, um 1968<br />
Kommentar meiner Oma: „Auf dem Reuter<br />
ist das Heu erstmal aus der Arbeit“.<br />
Das Wäschewaschen besorgte Oma mit<br />
dem Waschbrett in einer großen ovalen<br />
Zinkwanne. lm Waschkessel kochte sie<br />
u.a. Handtücher, Tischtücher, Geschirrtücher,<br />
Taschentücher und Bettwäsche mit<br />
Waschpulver. Dieses starke Erhitzen der<br />
Wäsche löste schon viel Schmutz. Oma<br />
sagte immer im Vergleich zur späteren<br />
Waschmaschine: „Kesselwäsche ist Kesselwäsche“!<br />
Anschließend bearbeitete sie<br />
die Kochwäsche mit der Waschbürste auf<br />
dem Waschbrett, wobei auch Kernseife<br />
zum Einsatz kam. Nach dem Waschvorgang<br />
war ein dreimaliges Spülen der<br />
gewaschenen Wäsche mittels Hand mit<br />
jeweils sauberem Wasser angesagt. Nach<br />
den drei Spülgängen sollte das letzte<br />
Spülwasser in der Regel klar, also frei von<br />
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8<br />
Geschichte
weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />
Sylvia vor Getreidepuppen, um 1957<br />
Seifenrückständen sein. Zu meiner Kindheit<br />
war es allgemein üblich, die Kleidung<br />
in der Regel nur einmal wöchentlich nach<br />
dem Baden am Sonnabend zu wechseln.<br />
Ein Bad hatten wir nicht. Zum Baden wurde<br />
die Zinkbadewanne in die Küche neben<br />
den alten geheizten Küchenherd gestellt.<br />
Das Wasser holten wir vom Waschkessel<br />
in Eimern zur Badewanne.<br />
Zu meiner Kindheit gab es in unserem<br />
großen Bauernhaus neben dem gesetzten<br />
Küchenherd noch zwei Kachelöfen<br />
als Wärmequellen. Sämtliche Räume im<br />
Obergeschoss wurden damals nicht beheizt.<br />
Auf dem alten Küchenherd koche<br />
ich heute noch gelegentlich. Der Herd hat<br />
eine gusseiserne Wasserpfanne, was sehr<br />
praktisch war. So hatte man immer gleich<br />
warmes Wasser für den Abwasch.<br />
Sehr gern hackte die Großmutter Holz-<br />
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Geschichte<br />
9
Jugenderinnerung<br />
Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />
scheite und Reisig. Letzteres bündelte<br />
sie mit Strohseilen. Das gehackte Holz<br />
stapelte sie, genau wie wir heute noch,<br />
zum Trocknen in den Holzschuppen. Nach<br />
zwei bis drei Jahren Trockenzeit lagerte<br />
sie es in die Scheune um. Von dort holte<br />
sie dann das Feuerholz in einem großen<br />
Holzkorb auf einem kleinen Wagen ins<br />
Wohnhaus. Das Reisig verfeuerte sie im<br />
alten Küchenherd zur Zubereitung des<br />
Mittagessens. Ein Gebündel Reisig reichte<br />
für eine Mahlzeit. Der Küchenherd wurde<br />
das ganze Jahr über beheizt. So war die<br />
Küche immer gut temperiert. Über dem<br />
Küchentisch zum Anbau hin war in der<br />
Raumdecke ein Dunstloch angebracht,<br />
durch welches der Brodem beim Kochen<br />
über ein anschließendes Rohr, das durch<br />
das Dach ragte, nach außen entweichen<br />
konnte.<br />
Der hintere Hausflur, der an den Stall angrenzt,<br />
war auch im Winter temperiert,<br />
solange Vieh eingestallt war. Das Heu lag<br />
auf dem Heuboden über dem Stall und<br />
hatte auch eine wärmeisolierende Wirkung.<br />
Meine Großeltern mussten 1960<br />
zwangsweise in die LPG eintreten. Die<br />
Milchkühe kamen in größere Ställe. Die<br />
nun freien Plätze in unserem Stall wurden<br />
mit Mastbullen belegt. Oma betreute<br />
die Tiere bis zum Eintritt in ihren Ruhestand<br />
1965. Es war für eine Frau eine<br />
sehr schwere körperliche Arbeit. Die mit<br />
Grünfutter beladene Karre musste in den<br />
Stall und die Mistkarre aus dem Stall zum<br />
Misthaufen gefahren werden. Manchmal<br />
versprach ich Oma, ihr bei der Arbeit im<br />
Stall zu helfen und auch zeitig aufzustehen.<br />
Aber daraus wurde nie etwas, da<br />
ich das zeitige Aufstehen nicht gewohnt<br />
war und sie meine Hilfe auch nicht wollte.<br />
Als die Bullen eingestallt waren, musste<br />
es abends und nachts mäuschenstill sein,<br />
ansonsten fühlten sich die Bullen beunruhigt<br />
und rissen sich von ihren Ketten los.<br />
Dabei verfielen sie in ein ohrenbetäubendes<br />
Gebrüll. Die Oma stand nun vor der<br />
schwierigen Aufgabe, die ungestümen<br />
Kerle wieder anzubinden.<br />
Früher hatten die Bauern keinen Urlaub<br />
im Gegensatz zu LPG-Zeiten und heutzutage.<br />
Meine Großeltern waren in ihrem<br />
Leben wohl nur einmal auf der Görlitzer<br />
Landeskrone. Ich erinnere mich, dass wir<br />
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10<br />
Geschichte
weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />
damals mit dem Auto meines Vaters auf<br />
den Görlitzer Hausberg fuhren. Durch<br />
den steilen Anstieg kochte das Kühlwasser!<br />
In den Genuss des Urlaubs kamen<br />
meine Großeltern erst zu LPG-Zeiten, als<br />
Oma noch Vieh im eigenen Stall versorgen<br />
musste. Eine Vertretung kam, und so<br />
konnten sie im Harz ihren ersten Urlaub<br />
antreten. Sie fuhren bis zum Ferienort mit<br />
dem Zug. Wie schwärmte meine Oma von<br />
diesem Urlaub! lm Jahre 1969 durfte ich<br />
als 16jährige gemeinsam mit den Großeltern<br />
in den Harz reisen. Opa, nun schon<br />
76jährig, war nicht mehr so gut zu Fuß<br />
und blieb daher an manchen Tagen auf<br />
einer Bank im Kurpark von Blankenburg<br />
sitzen. Oma mit ihren 64 Jahren und ich<br />
wanderten im Bodetal über die Schurre<br />
(Zickzackweg) zum Hexentanzplatz, denn<br />
damals gab es noch keine Seilbahn. Oma<br />
erzählte noch nach Jahren immer wieder<br />
dankbar von dem schönen Urlaub im Harz,<br />
dem einzigen Urlaubsziel in ihrem Leben.<br />
Oma war zu meiner Kindheit im Theaterring.<br />
Einmal im Monat fuhr ein Omnibus<br />
zur einer Theateraufführung nach Görlitz.<br />
Morgens lag zu meiner großen Freude auf<br />
Heueinfahrt, um 1955<br />
meinem Nachtschränkchen neben dem<br />
Bett immer eine Nascherei aus der Theaterkantine.<br />
Besonders liebte ich kandierte<br />
Erdnüsse.<br />
Sylvia Vieweg<br />
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Geschichte<br />
11
Johann-Raschke-Haus<br />
„Töchter und Söhne von Niesky –<br />
Niesky feiert in diesem Jahr das 275.<br />
Ortsjubiläum und lädt bereits das ganze<br />
Jahr mit verschiedenen Veranstaltungen,<br />
Festen und Ausstellungen Bewohner und<br />
Gäste zum Mitfeiern ein. Am 8. August<br />
1742, dem Tag der Grundsteinlegung für<br />
die ersten drei Häuser Nieskys, wurde<br />
im ältesten Haus der Stadt die Jubiläumsausstellung<br />
„Töchter und Söhne von<br />
Niesky – Lebenswege aus 275 Jahren“<br />
eröffnet.<br />
Im Laufe der noch recht jungen Ortsgeschichte<br />
brachten die Nieskyer zahlreiche<br />
herausragende Innovationen hervor, die<br />
dem kleinen Ort teilweise sogar weltweiten<br />
Ruhm einbrachten. Die Biografien<br />
dieser Menschen erzählen Orts- und<br />
Zeitgeschichte.<br />
Niesky wurde 1742 durch böhmische<br />
Glaubensflüchtlinge, die sich der Herrnhuter<br />
Brüdergemeine angeschlossen<br />
hatten, gegründet. Das Gebäude des<br />
heutigen Stadtmuseums wurde damals<br />
vom ersten Nieskyer Ortsvorsteher Johann<br />
Raschke (1702-1762) erbaut.<br />
Der Weber stammte selbst aus Böhmen<br />
und war den Repressalien gegenüber<br />
evangelisch gläubigen Menschen selbst<br />
ausgesetzt. Gutsherr Sigmund August<br />
von Gersdorf (1702-1777) gehörte<br />
selbst der Herrnhuter Brüdergemeine an<br />
und stellte den Emigranten sein Land auf<br />
Trebuser Flur zur Verfügung. Die neuen<br />
Siedler standen unter dem Schutz ihres<br />
Gutsherrn, genossen alle Freiheiten in<br />
kirchlichen Dingen und waren von Frondiensten<br />
und Leibeigenschaft frei. Als<br />
späterer Generalbaumeister der Brüdergemeine<br />
verwirklichte Gersdorf mit der<br />
Planung von Niesky seine Vorstellungen<br />
von einer idealtypischen barocken Ortsanlage.<br />
Außerdem lieferte er die Pläne<br />
für viele Gemeinschaftshäuser und prägte<br />
so maßgeblich die künftige Architektur<br />
in Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine<br />
weltweit. Bis weit ins 19. Jahrhundert<br />
hinein war das Leben in Niesky maßgeblich<br />
von den Glaubensrichtlinien und<br />
Traditionen der Brüdergemeine geprägt.<br />
Schon wenige Jahre nach der Gründung<br />
etablierte sich Niesky zu einem bedeutenden<br />
Schulstandort. Viele große Persönlichkeiten<br />
der Zeitgeschichte erhielten<br />
ihre ersten Lebenseindrücke und ihr<br />
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12<br />
Jubiläum
Johann-Raschke-Haus<br />
Lebenswege aus 275 Jahren“<br />
Sportunterricht in der Turnhalle des Pädagogiums<br />
geistiges Rüstzeug in den Nieskyer Schulen,<br />
die wegen ihrer umfassenden und<br />
humanistischen Ausbildung weit bekannt<br />
und beliebt waren.<br />
Der bekannteste Absolvent war der Philosoph<br />
und Theologe Friedrich Daniel<br />
Ernst Schleiermacher (1768-1834),<br />
dessen Namen das Nieskyer Gymnasium<br />
heute trägt. Nicht weniger prominent,<br />
aber in Deutschland nicht so bekannt,<br />
ist Benjamin Henry Latrobe (1764-<br />
1820). Er gilt als der erste professionel-<br />
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Jubiläum<br />
13
Johann-Raschke-Haus<br />
„Töchter und Söhne von Niesky –<br />
Ortspolizist Carl August Fischer mit Marktfrauen<br />
le Architekt in den USA. Bekannt ist er<br />
insbesondere für die Konstruktion des<br />
United States Capitol. In Niesky absolvierte<br />
er zunächst die Knabenanstalt und<br />
im Anschluss das Pädagogium als weiterführende<br />
Schule. Rückblickend lobte<br />
er immer wieder die gute Schulbildung,<br />
die ihm die Grundlagen für strukturiertes<br />
Denken und detaillierte Kenntnisse in<br />
der Zeichenlehre vermittelte. In die Reihe<br />
berühmter Schüler reihen sich über<br />
die Jahrzehnte verschiedene bekannte<br />
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14<br />
Jubiläum
Johann-Raschke-Haus<br />
Lebenswege aus 275 Jahren“<br />
Eingang zur Maschinenfabrik von J. E. Christoph an der Muskauer Straße<br />
Namen, so der Militärstratege Alfred<br />
Graf von Schlieffen (1833-1913), der<br />
Begründer der Homöopathie in Amerika<br />
Prof. Dr. med. Adolph zur Lippe<br />
(1812–1888), der Orientexperte Gustaf<br />
Dalman (1855-1941) oder der Bischof<br />
der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg<br />
Gottfried Forck (1923-1996).<br />
Niesky hat sich als Sportstadt bis in die<br />
Gegenwart einen Namen gemacht. Am<br />
Nieskyer Pädagogium wurde bereits geturnt,<br />
als es andernorts noch verboten<br />
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Jubiläum<br />
15
Johann-Raschke-Haus<br />
„Töchter und Söhne von Niesky –<br />
war. Leib und Seele galten<br />
im Verständnis der Brüdergemeine<br />
als Einheit, ein gesunder<br />
Verstand erforderte auch<br />
einen gesunden Körper. Ausländische<br />
Schüler und Lehrer<br />
sowie die Kinder von Missionaren<br />
brachten neue Spiele<br />
und Sportarten nach Niesky.<br />
Dank der Initiative des jungen<br />
Lehrers Johann Heinrich<br />
Theodor Bourquin (1833-<br />
1914) steht in Niesky heute<br />
eine der ältesten Schulturnhallen<br />
Deutschlands. Er war<br />
auch der Herausgeber der<br />
Erstauflage des „Nieskyer<br />
Turnliederbuchs“.<br />
Auch im diakonischen Bereich<br />
erhielt Niesky wichtige Impulse<br />
durch die Brüdergemeine.<br />
Dr. Ernst Hermann Plitt<br />
(1821-1900) begründete die<br />
Diakonissenanstalt Emmaus,<br />
die seit 150 Jahren das wichtigste<br />
Sozialunternehmen<br />
Nieskys ist.<br />
Schwimmunterricht im Nieskyer Waldbad<br />
bei Bademeister Richard Haupt<br />
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16<br />
Jubiläum
Johann-Raschke-Haus<br />
Lebenswege aus 275 Jahren“<br />
Bereits im 18. Jahrhundert entwickelte<br />
sich Niesky zu einem Handwerker- und<br />
Handelszentrum und wuchs zu einer<br />
Siedlung städtischen Typs heran. In der<br />
Ausstellung wird u.a. die Geschichte des<br />
Seifensieders Friedrich Oswald Geller<br />
(<strong>171</strong>6-1782), des Händlers und Imkers<br />
Johann Karl August Barthel (1846-<br />
1914), des Ortspolizisten Carl August<br />
Fischer (1844-1925), des Bademeisters<br />
Richard Haupt (1887-1967) oder die<br />
des Buchhändlers in dritter Generation<br />
Carl-Heinrich Hoberg (1904-1985)<br />
erzählt.<br />
Ende des 19. Jahrhundert erlebte Niesky<br />
schließlich einen gigantischen wirtschaftlichen<br />
Aufschwung. Aus der Werkstatt<br />
des Kupferschmieds Johann Ehregott<br />
Christoph (1810-1887) entwickelte<br />
sich im Zuge der Industrialisierung ein<br />
expandierender Maschinenbaubetrieb,<br />
der bis heute mit dem WBN Waggonbau<br />
Niesky GmbH und dem Stahl- und Brückenbau<br />
Niesky GmbH fortbesteht. Der<br />
Däne Christian Ferdinand Christoph<br />
(1846-1932) etablierte 1887 mit dem<br />
Holzbau ein weiteres Unternehmen, das<br />
Niesky zum europaweit führenden Zentrum<br />
für industriell vorgefertigte Holzbauten<br />
entwickelte und Kunden auf der<br />
ganzen Welt belieferte. Im Werk waren<br />
bekannte Architekten und Ingenieure,<br />
wie der Holzbaupionier Konrad Wachsmann<br />
(1901-1980) oder der für seine<br />
enormen Spannweiten im Hallenbau bekannte<br />
Otto Alfred Hetzer jun. (1876-<br />
1937) angestellt.<br />
Insgesamt 35 verschiedene Lebensläufe<br />
werden in der Ausstellung vorgestellt.<br />
Darunter sind berühmte Persönlichkeiten,<br />
aber auch „ganz normale“<br />
Leute, die in Niesky gelebt und gearbeitet<br />
haben und so die Ortsgeschichte<br />
mitgestaltet haben. Die Ausstellung im<br />
Johann-Raschke-Haus am Zinzendorfplatz<br />
8 ist noch bis 5. November von<br />
Montag-Freitag von 10-17 Uhr und am<br />
Sonntag von 14-17 Uhr geöffnet.<br />
Eva-Maria Bergmann<br />
Museum Niesky<br />
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Jubiläum 17
Theologischer Sammelband –<br />
Einband vor der Restaurierung<br />
Bei den Veranstaltungen<br />
im Wissenschaftlichen<br />
und Heimatgeschichtlichen<br />
Altbestand der<br />
Christian-Weise-Bibliothek<br />
Zittau ist es seit<br />
Jahren üblich, kein Eintrittsgeld<br />
zu verlangen.<br />
Dafür wird am Ende<br />
regelmäßig um Spenden<br />
gebeten, die dann<br />
zu notwendigen Restaurierungen<br />
wertvoller<br />
Handschriften- und<br />
Buchschätze verwendet<br />
werden. Dankenswerterweise<br />
spenden unsere<br />
Besucher auch immer<br />
fleißig. So waren in den<br />
letzten beiden Jahren<br />
reichlich 2.000 Euro zusammengekommen.<br />
Passend zum 500jährigen<br />
Reformationsjubiläum<br />
in diesem Jahr wurde<br />
diese Spendensumme<br />
jetzt zur Restaurierung<br />
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18<br />
Geschichte
Sammelband<br />
dank Spenden restauriert<br />
Einband nach der Restaurierung<br />
eines Sammelbandes theologischer<br />
Drucke des 16. Jahrhunderts verwendet.<br />
In diesem Band sind vier Schriften<br />
verschiedener Autoren der Reformationszeit<br />
vereint.<br />
Der erste Titel des Sammelbandes konnte<br />
bisher noch nicht identifiziert werden,<br />
da er leider keine Titelseite mehr besitzt.<br />
Es handelt sich um ein Gebetbuch,<br />
welches 1560 bei Valentin Bapsts Erben<br />
in Leipzig gedruckt wurde.<br />
Der zweite Titel beinhaltet die Auslegung<br />
des Spruches von Jesus Christus<br />
„Also hat Gott die Welt geliebt“ (Johannes<br />
3, 16) durch Martin Luther (1483-<br />
1546), gedruckt vom selben Drucker in<br />
Leipzig 1562.<br />
An dritter Stelle befindet sich in dem<br />
Band der Druck „Warzu das heilige<br />
Creutz nütz und gut sey. Item / Von den<br />
Christlichen Waffen“ des süddeutschen<br />
Theologen und Reformators Caspar Huberinus<br />
(1500-1553). Auch dieser Titel<br />
wurde vom selben Drucker 1560 in<br />
Leipzig gedruckt.<br />
„Wie man das Leiden unsers Herren<br />
Christi mit frucht bedencken / der Auf-<br />
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Geschichte<br />
19
Theologischer Sammelband –<br />
Textbeginn vor Restaurierung<br />
ferstehung Christi sich trösten / und das<br />
Erste Gebot recht verstehen sol“ lautet<br />
der Titel des vierten Druckes in diesem<br />
Sammelband. Verfasst wurde dieser von<br />
Hieronymus Weller (1499-1572), genannt<br />
der „Freibergische Prophet“. Die<br />
genaue Ausgabe dieses Titels konnte<br />
noch nicht bestimmt werden, da leider<br />
die letzten Blätter mit dem Impressum<br />
fehlen.<br />
Am Schluss des Buches ist noch ein<br />
knapp acht Seiten umfassendes hand-<br />
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20<br />
Geschichte
Sammelband<br />
dank Spenden restauriert<br />
schriftliches „Allgemeines Türcken<br />
Gebeth“ angebunden. Verfasser und<br />
Schreiber des Gebetes sind nicht bekannt.<br />
Zur Reformationszeit bedrohten<br />
die Türken das Heilige Römische Reich<br />
Deutscher Nation an seiner südöstlichen<br />
Flanke. Im Jahr 1529 standen die<br />
Türken sogar erstmals vor Wien. Die<br />
Türkengefahr war damals also allgegenwärtig.<br />
Die vier verschiedenen theologischen<br />
Bücher in dem Sammelband zeugen<br />
vom Interesse des einstigen, unbekannten<br />
Besitzers des Buches, der dieses<br />
wohl in den 1560er Jahren hat zusammenbinden<br />
lassen.<br />
Rund einhundert Jahre später haben<br />
sich zwei Besitzer auf den Vorsatzblättern<br />
verewigt: 1653 ein Herr Mönch<br />
(Vorname unleserlich), sowie 1656 und<br />
1657 ein Martin Mönch. Ob das Buch damals<br />
schon in Zittau gewesen ist, kann<br />
nicht mit Sicherheit gesagt werden. Mitte<br />
des 17. Jahrhunderts verzeichnet die<br />
Zittauer Häuserchronik mehrere Martin<br />
Mönch, darunter einen Gerichtsdiener<br />
und einen Leineweber.<br />
Seit mindestens 1827 war das Buch<br />
dann im Besitz des bedeutenden Zittauer<br />
und Oberlausitzer Geschichtsforschers<br />
Dr. Christian Adolph Pescheck<br />
(1787-1859), das jedenfalls belegt sein<br />
eigenhändiger Eintrag auf dem Vorsatzblatt.<br />
Nach Peschecks Tod kam das Buch<br />
dann mit seinem schriftlichen Nachlass<br />
in die damalige Stadtbibliothek Zittau.<br />
Seinerzeit war das Buch offensichtlich<br />
schon sehr zerlesen, und der Vorsatz<br />
hatte sich vom Buchdeckel gelöst. Das<br />
Eigentumszeichen der Bibliothek wurde<br />
damals auf die rohe Innenseite des<br />
Holzdeckels geklebt, wie man bis zur<br />
Restaurierung sehen konnte.<br />
Die Restaurierung des Bandes führte in<br />
bewährter Weise die Firma Buchrestaurierung<br />
Leipzig GmbH im ersten Halbjahr<br />
<strong>2017</strong> durch. Dabei stellte man den<br />
Buchblock wieder her. Besonders stark<br />
beschädigte Blätter wurden nachgeleimt<br />
und sogar angefasert. Der historische<br />
helle Ledereinband wurde zerlegt,<br />
gereinigt und wieder neu zusammengesetzt.<br />
Buchblock und Einband wurden<br />
zum Schluss durch die aufgearbeiteten<br />
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Geschichte<br />
21
Theologischer Sammelband –<br />
hinterer Buchdeckel vor der Restaurierung<br />
alten Vorsatzblätter erneut sachgerecht<br />
miteinander verbunden. Die alten Vorsätze<br />
waren unverzichtbar, da sie historische<br />
handschriftliche Eintragungen<br />
enthalten. Die verlorengegangenen<br />
Buchschließen sind durch nachgefertigte<br />
Stücke ergänzt worden. Damit kann<br />
das Buch wieder sicher verschlossen<br />
werden und ist somit vor Staub und<br />
Lichteinfall geschützt.<br />
Nach der erfolgreichen Restaurierung<br />
verleugnet das Buch zwar sein Alter<br />
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22<br />
Geschichte
Sammelband<br />
dank Spenden restauriert<br />
hinterer Buchdeckel nach der Restaurierung<br />
nicht, ist aber nun für die nächsten<br />
Jahrhunderte gerüstet.<br />
Der Dank der Christian-Weise-Bibliothek<br />
Zittau gilt den wohlwollenden Spendern<br />
und den kunstfertigen Restauratoren in<br />
Leipzig.<br />
Uwe Kahl,<br />
Christian-Weise-Bibliothek Zittau,<br />
Wissenschaftlicher und<br />
Heimatgeschichtlicher Altbestand<br />
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Geschichte<br />
23
Franz Rotbart-Der Görlitzer Reformator –<br />
Im April 1520 verstarb der treu katholische<br />
Pfarrer Martin Schmidt. Der Rat wählte<br />
als Nachfolger den Görlitzer Gerbersohn<br />
Franz Rotbart (Franciscus Ruperti), welcher<br />
Pfarrer in Sprottau war. Rotbart hatte<br />
die Görlitzer Lateinschule besucht und<br />
in Leipzig studiert. Mit ihm schien der Rat<br />
einen willfährigen und treu zum alten<br />
Glauben stehenden Mann gewonnen zu<br />
haben. Schon am 29. April führte man<br />
ihn in sein Amt ein. Als zwischen Juli und<br />
Dezember 1521 die Pest in der Stadt wütete<br />
und nahezu der gesamte Rat geflohen<br />
war, begann Rotbart jedoch plötzlich<br />
ganz im Sinne Luthers zu predigen. Er<br />
gewann schnell viele Anhänger. Die Ratsherren<br />
kehrten erst zu Beginn des Jahres<br />
1522 zurück. Sie forderten den Pfarrer<br />
drastisch zur Mäßigung auf. Durch seine<br />
Rede werde das Volk zum Ungehorsam<br />
und zu Aufruhr veranlasst. Er aber rief<br />
darauf von der Kanzel, dass man dem<br />
Rat, was das Wort und das Evangelium<br />
beträfe, nicht gehorchen müsse. Und er<br />
fühlte sich durch den Umstand bestärkt,<br />
dass bereits einige Ratsherren und Braubürger<br />
Anhänger des neuen Glaubens<br />
geworden waren. Besonders der Bürgermeister<br />
Franz Schneider und der Stadtschreiber<br />
Johannes Hass übten nun ungeheuren<br />
Druck auf den Pfarrer aus. So<br />
sah er sich genötigt, Anfang April 1523<br />
Görlitz zu verlassen. Zum Nachfolger Rotbarts<br />
wählte der Rat Nikolaus Zeidler, Prediger<br />
zu St. Elisabeth in Breslau, welcher<br />
als treuer Anhänger des alten Glaubens<br />
galt. Aber auch er begann zum Entsetzen<br />
des altgläubigen Rates lutherisch zu predigen.<br />
Die Masse der Görlitzer Gemeinde<br />
war zu diesem Zeitpunkt schon und trotz<br />
Androhung höchster Strafe durch den Rat<br />
und allsonntäglichem Verlesen bischöflicher<br />
Mahnschreiben für den alten Glauben<br />
verloren. Die Spannungen zwischen<br />
Rat und Gemeinde verstärkten sich nun<br />
immer mehr. Im Rat herrschte einige<br />
Unsicherheit und wohl auch Uneinigkeit<br />
darüber, wie man nun handeln sollte. Besonders<br />
die Handwerker forderten immer<br />
stärker eine Kirchenreform im Sinne Luthers<br />
und den Sturz der Ratsoligarchie.<br />
Einige Ratsmitglieder sahen die Lösung<br />
dieses gefährlichen Dilemmas in der Erfüllung<br />
einer der wichtigsten Forderungen<br />
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24<br />
Geschichte
Franz<br />
Ratsarchiv<br />
Rotbart<br />
Görlitz<br />
Rotbart-Brief<br />
der Zünfte, den vertriebenen Pfarrer Franz<br />
Rotbart wieder in sein Amt einzusetzen.<br />
Am 5. April 1525 kehrte Franz Rotbart<br />
nach Görlitz zurück und wurde wieder in<br />
sein Amt eingesetzt. Franz Rotbart stellte<br />
jedoch eine Reihe von Bedingungen an<br />
den Rat, welche von jenem angenommen<br />
werden mussten: freie Predigt des Evangeliums,<br />
die Taufe in deutscher Sprache<br />
und das Abendmahl unter beiderlei Ge-<br />
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Geschichte<br />
25
Franz Rotbart-Der Görlitzer Reformator –<br />
stalt. Das Osterfest 1525 wurde erstmals<br />
nach der neuen Konfession begangen.<br />
Am 25. April taufte man das Kind des aus<br />
Bamberg stammenden Paul Gürtler als<br />
erstes in deutscher Sprache nach Luthers<br />
Taufbüchlein. Somit kann das Jahr 1525<br />
als Zeitpunkt der Einführung der Reformation<br />
in Görlitz festgehalten werden. Der<br />
Kompromiss des Rates mit den Innungen<br />
sollte sich nur zwei Jahre als tragfähig erweisen.<br />
Im großen Tuchmacheraufstand<br />
entluden sich die politischen Spannungen<br />
in der Stadtgemeinde und endeten für die<br />
Handwerker mit einer tragischen Niederlage.<br />
Trotz aller Bemühungen gelang es<br />
jedoch Hass nicht, Franz Rotbart als Aufrührer<br />
und Mitverschwörer einen Prozess<br />
zu machen. Die Forderung König Ferdinands<br />
I., den Pfarrer abzusetzen, umging<br />
man klug, indem man mit Rotbart vereinbarte,<br />
dass jener seinen Dienst im Falle<br />
einer Verehelichung quittieren würde. Am<br />
29. August des Jahres 1530 trat dieser<br />
Fall tatsächlich ein. In aller Stille ließ sich<br />
Franz Rotbart gegen den Willen des Rates<br />
mit der Tochter des Tuchmachers Simon<br />
Wolfs auf einer Pfarre außerhalb der<br />
Stadt trauen. Trotz der Vertreibung der<br />
Gäste von der Hochzeitsfeier durch zwei<br />
Ratsmitglieder und erfolgter Ladung und<br />
Ermahnung Rotbarts, das Beilager nicht<br />
zu vollziehen, blieb dieser bei seinem Entschluss<br />
und zog die Konsequenz, indem<br />
er mit seiner Frau nach Wittenberg zog.<br />
Auf Bericht des Rates an den Landvogt -<br />
auch dies war ein kluger diplomatischer<br />
Schachzug - war nochmals der königliche<br />
Befehl ergangen, Rotbart zu verhaften.<br />
Der Rat hatte dies dem Pfarrer mitgeteilt.<br />
Sein schneller Auszug, der eher einer<br />
Flucht glich, verhinderte die Empörung<br />
oder gar weiteren Aufruhr der Stadtgemeinde<br />
und war so im Sinne des Rates<br />
wie des Pfarrers. Auch nach dem Wegzuge<br />
Rotbarts änderte sich also nichts mehr<br />
an den konfessionellen Verhältnissen.<br />
Im Jahre 1532 wird er Pfarrer in Bunzlau.<br />
Dort verstarb der 90jährige Görlitzer<br />
Reformator 1570. Nach seinem Wegzug<br />
aus Görlitz ließ der Rat das alte Pfarrhaus<br />
an der Nikolaikirche, welches er bewohnt<br />
hatte, abreißen.<br />
Siegfried Hoche<br />
Ratsarchiv<br />
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26<br />
Geschichte
Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />
Polizeiverordnung regelt in Görlitz<br />
das Teppichklopfen zur Unzeit.<br />
Unter der Rubrik Meldewesen ist im<br />
Görlitzer Adressbuch 1929/1930 die<br />
Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />
enthalten. Während im 1. Paragrafen<br />
peinlichst genau auf die Tages- und<br />
Uhrzeiten sowohl für das Teppichklopfen<br />
als auch auf dessen Verbot verwiesen<br />
wird, enthält der Paragraf 2 Geldstrafen<br />
bis zu 150 RM (Reichsmark) und<br />
zieht sogar Haftstrafen in Betracht. Dass<br />
es sich hierbei um eine Lärmschutzmaßnahme<br />
und nicht etwa um die mit dem<br />
Klopfen verbundene Staubbelastung<br />
handelt, sei hinzuzufügen. Aus heutiger<br />
Sicht mag eine solche Polizeiverordnung<br />
nicht mehr als ein taugliches Instrument<br />
zur Lärmbekämpfung begriffen werden.<br />
Teppichklopfer, Klopfpeitsche, Ochsenziemer<br />
und Klopfstange gehören ohnehin<br />
der Vergangenheit an, da hochwertige<br />
textile Auslegeware den klassischen<br />
Teppich weitgehend verdrängt hat. Als<br />
Züchtigungsinstrumente in der Familie<br />
in Elternhaus, Schule und Vollzug einer<br />
verhängten Strafe fanden sie noch lange<br />
Anwendung.<br />
Die Lärmbelastung in Städten und Ballungsgebieten<br />
ist jedoch nicht nur geblieben,<br />
sondern ins Unermessliche<br />
gestiegen und jeglicher Kontrolle entzogen.<br />
Immerhin bietet „Siemens“ ei-<br />
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Geschichte<br />
27
Polizeiverordnung über Teppichklopfen –<br />
Teppichklopfer im Ehestreit (Karrikatur)<br />
„Wehe Euch“<br />
nen Staubsauger mit einem Schallbelastungs-Pegel<br />
von nur 81 dB (Dezibel)<br />
an.<br />
Zwar existieren in Deutschland zahlreiche<br />
einschlägige Lärmschutzrichtlinien<br />
und Regelungen, jedoch keinerlei Kontrollsystem<br />
und Maßnahmen bezüglich<br />
deren Einhaltung. Laut WHO-Bericht<br />
(2011) soll Lärm neben Umweltverschmutzung<br />
die zweitgrößte Belastung<br />
für die Gesundheit sein. Schätzungen<br />
von Experten gehen davon aus, dass allein<br />
in Deutschland 40 000 Herzinfarkte<br />
pro Jahr auf Verkehrslärm zurückzuführen<br />
sind. Bereits im Jahre 1910 warnte<br />
der bekannte Arzt Robert Koch davor,<br />
dass eines Tages der Mensch den<br />
Lärm ebenso bekämpfen müsse wie<br />
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28<br />
Geschichte
Polizeiverordnung<br />
Heute ersetzt durch Staubsauger<br />
Reinigung des Fußabtreters, 20. Jh.<br />
Cholera und Pest! Gegenwärtig wird in<br />
den Medien immer wieder der Begriff<br />
„Lärmskandal“ verwendet. Von „Dröhnung<br />
auf der Straße“ ist die Rede. Autos<br />
und Motorräder starten wie Düsen-Jets<br />
mit ca. 137 Dezibel. Steuerbar ist der<br />
„Kalte sound“, auch „Frisieren“ genannt,<br />
über den Einbau einer Auspuff-Klappe.<br />
Man sollte dies nicht so ohne weiteres<br />
Läufer abklopfen an der Leine, 20. Jh.<br />
als Macho-Gehabe bzw. spätpubertäres<br />
Geltungsbedürfnis abtun. An kaum zu<br />
überschauenden gesetzlichen Regelungen<br />
und Lärmschutzverordnungen fehlt<br />
es nicht, allerdings enthalten die jetzigen<br />
Vorschriften keinerlei Grenzwerte,<br />
sondern lediglich Richt- und Orientierungswerte,<br />
von denen im Einzelfall zudem<br />
noch abgewichen werden kann.<br />
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Geschichte<br />
29
Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />
Teppichklopfer aus Weiden- oder Rattangeflecht<br />
Schallschutzwände, Erdwälle, geräuscharmer<br />
Straßenbelag und Gehörschutz<br />
können nur bedingt als wirksame Maßnahmen<br />
Einfluss nehmen, dem zunehmenden<br />
Verkehrslärm in unserer schönen<br />
Stadt dagegen wird der Görlitzer<br />
Einwohner offensichtlich weiterhin hilflos<br />
ausgeliefert sein. An die Polizeiverordnung<br />
über das Teppichklopfen in<br />
Klopfstange im Hof<br />
Görlitz aus dem Jahre 1929 erinnert,<br />
kann man gegenwärtig wenigstens darüber<br />
schmunzeln, vielleicht aber auch<br />
darüber nachdenken.<br />
Dr. Bernhard Wolf,<br />
Reichenbach/Schöps<br />
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30<br />
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