Das Tanzen bleibt - Unterwegs mit den Ballets Jooss. Das Album der Tänzerin Bé 1924-1956
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Martin Lobigs
»Das Tanzen bleibt.«
Unterwegs mit den Ballets Jooss
Das Album der Tänzerin Bé
1924 –1956
Henschel
Martin Lobigs
»Das Tanzen bleibt.«
Unterwegs mit den Ballets Jooss
Das Album der Tänzerin Bé
1924–1956
Inhalt
9 Zwei weltumspannende Geschichten.
Ein Vorwort.
13 Von Java zu Jooss:
Die Geschichte von Beatrijs Vitringa
14 1924
»Eine zweite Pawlowa werden«.
Aufwachsen auf Java.
18 1939
England – ein kurzer Traum
22 1940
Zurück auf Java
25 1942
Im Internierungslager
30 1945
Befreit
35 1947
Wieder in England
41 Die Ballets Jooss
42 Kurt Jooss
47 Die Tournee der Ballets Jooss
im Zweiten Weltkrieg
48 1940
Nordamerika
48 Startschuss
53 Von Kuba bis Kanada
55 Aufbruch ins Neuland
58 1940–1941
Südamerika
58 Die Trudi-Schoop-Affäre
59 Startschwierigkeiten
63 Aufstieg
64 Freudentaumel
69 »Ein Tanz für Menschen, die denken«
74 »Das Zentrum des modernen Tanzes«
75 Enttäuschungen
77 Freundschaften und Opferbereitschaft
83 1942
Das Ende in New York
91 Die Ballets Jooss in Essen
92 1950
Tanztheater möglich machen
92 »Jooss nicht im Stich lassen«
95 1951
»Auftakt zu einer neuen und
glanzvollen Epoche«
98 »Den ganzen Körper in Bewegung umsetzen«
100 »Fröhliche Gemeinschaft«
101 »Essen: Stadt des Tanzes«
106 »Eine wunderbare Tänzerin und Freundin«
108 1951–1952
»Die Wiedergeburt einer
großen Vergangenheit«
110 Ein niederländischer Star
115 »Was ich gerne tue, das ist tanzen«
116 Der »aufstrebende Stern«
119 1953
Ein stürmisches Jahr
121 »Du bist fantastisch gut geworden«
122 Abschied
123 Und noch ein Abschied
125 1953–1956
»Das Tanzen bleibt«
129 Was bleibt.
Ein Nachtrag
137 Anhänge
138 Frühere Studierende der Tanzabteilung
der Folkwangschule
139 Brief von Cornelius Conyn
140 Bés Diplom, ausgestellt von Herta Ruth Brod
141 Otto Mandls Empfehlungsschreiben
an Arnold Haskell
142 Kurt Jooss’ Empfehlungsschreiben für Bé
143 Verlängerung des Vertrags mit
dem Folkwang-Tanztheater
144 Brief von Frank McLoughlin
146 Scheidungsantrag von Frank
147 Bés Zeugnis der Folkwangschule
148 Bemerkungen des Autors
150 Anmerkungen
155 Personenregister
158 Bildnachweise
Von Java zu Jooss:
Die Geschichte von
Beatrijs Vitringa
13
1924
»Eine zweite Pawlowa werden«.
Aufwachsen auf Java.
Am 7. Juli 1924 wird in Bandoeng (heute Bandung) auf Java ein Mädchen
geboren: Beatrijs Vitringa, die von allen bald nur noch liebevoll
»Bé« genannt wird. Bandoeng gilt damals als eine aufstrebende Stadt
auf der zu Niederländisch-Indien gehörenden Insel; von den etwa
200 000 Einwohnern sind ein Zehntel europäischer Abstammung.
Bei den Vitringas schätzt man Kunst und Kultur, die Eltern gehören
zu den 848 Mitgliedern des sogenannten Kunstkreises (Kunstkring).
Der Vater William Adrian Vitringa ist Chefingenieur der Bandoeng-
Wasserkraftwerke, Mutter Theodora Vitringa, geborene Jürrjens, ist
gelernte Krankenschwester. Theodora ist 1894 als uneheliches Kind
auf die Welt gekommen, ihr biologischer Vater ist nicht bekannt. Sie
besucht eine französische Schule in Brüssel, danach Schulen in den
Niederlanden und England. Als ihre Mutter 1910 stirbt, wird sie von
ihrem Stiefvater zur Familie der Mutter nach Amsterdam geschickt. Sie
macht ihren Abschluss als Krankenpflegerin und lernt William kennen,
einen Ingenieur, der an der Universität in Delft studiert hat. Beide
heiraten 1921. William wird von der niederländischen Regierung die
Leitung der Wasserwerke auf Java anvertraut – und Theodora geht mit
ihm gemeinsam diesen großen Schritt: Sie ziehen nach Bandoeng.
Die beiden, die sich nur Wim and Thea nennen, gehen liebevoll miteinander
um, obwohl Thea in der Regel das Familienleben bestimmt
und Wim sich den Wünschen seiner Frau unterordnet. 1922 wird Bés
ältere Schwester Johanna (»Jo«) geboren.
Für Thea ist es von Anfang an wichtig, ihre Kinder so zu erziehen, dass
sie auf eigenen Beinen stehen und im Leben etwas erreichen. Sie sieht,
dass ihre jüngste Tochter Talent zum Tanzen hat, und arrangiert für sie
Unterricht. Schon nach einer Woche weiß Bé, dass sie zum Tanzen
bestimmt ist – sie träumt davon, wie sie später berichtet, »eine zweite
Pawlowa oder Markowa zu werden«. Sie ist noch keine fünf Jahre alt,
als sie Anna Pawlowa tatsächlich auf der Bühne sieht: Die russische
Wim und Thea Anfang der 1920er Jahre
Primaballerina tritt im Rahmen ihrer Welttournee im Dezember 1928
auf Java auf. In der Hauptstadt Batavia (dem heutigen Jakarta) führt
der Andrang zu einem Verkehrsstau.
Da Java auf der Schiffsroute zwischen Europa und Australien liegt,
macht nicht nur die berühmte Pawlowa hier einen Stopp auf ihrer
Tournee. Viele reisende Künstler tun das in dieser Zeit, Java ist eine
beliebte Zwischenstation. Dass dem so ist, dafür sorgen die Kunstkreise,
zu denen auch die Vitringas gehören. Sie engagieren sich für
die Kultur- und Kunstszene und wollen das Leben in der Kolonie ein
wenig in Einklang bringen mit den kulturellen und künstlerischen
Entwicklungen in Europa. Wohlhabende Mitglieder beherbergen die
Künstler in ihren Häusern.
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So kommt es, dass unter der kolonialen Regierung der Niederlande in
Indonesien das Ballett seine besten Tage sieht. Viele berühmte Tänzer
kommen aber nicht nur, um aufzutreten. Sie kommen auch, um die
Tänze der Einheimischen zu studieren. Zum Beispiel bereisen Ruth
St. Denis und Ted Shawn, die Pioniere des Modern Dance in den USA,
im Juli 1926 Java, um den Tanz Serimpi zu erforschen. Solche Tänze,
begleitet von einem Gamelan (Musikensemble) mit Metallophonen,
Gongs und seltenen Xylophonen, faszinieren die westliche Welt. Auch
Bé lernt später von ihnen.
Walter Spies
Auch der deutsche Musiker und Maler Walter Spies setzt sich für die
indonesische Kunst ein. Er kommt 1923 nach Java und 1927 nach
Bali, wo er ein Kunstzentrum aufbaut, was ihn zum »berühmtesten
Europäer auf Bali« 7 macht. 1931 besucht ihn der kanadische Musiker
Colin McPhee und erzählt danach begeistert seinem englischen
Freund Benjamin Britten von Balis Musik. Britten wiederum kennt
Kurt Jooss, der später »in enger Verbindung mit dem englischen
Nachwuchskomponisten« ein Opern- und Tanzstudio in London leiten
wird. 8
Doch das ist nicht die einzige Verbindung zwischen Walter Spies
und Kurt Jooss; es gibt noch einen viel stärkeren Berührungspunkt:
Die englische Tanzforscherin Beryl de Zoete, selbst eine klassisch
ausgebildete Ballerina, arbeitet in den 1930er Jahren gemeinsam mit
Spies an dem Buch Dance and Drama in Bali. Es wird 1938 veröffentlicht
und ist bis heute ein wichtiges Nachschlagewerk. Einige Jahre zuvor
hat de Zoete, eine leidenschaftliche Jooss-Unterstützerin, an einem
heißen Nachmittag im Juli 1933 in dem Pariser Café de la Paix Kurt
Jooss den Vorschlag gemacht, nach Dartington Hall zu ziehen. Dank
ihr finden die Ballets Jooss dort 1934 ihr Exil, vermutlich rettet sie auf
diese Weise auch den jüdischen Mitgliedern der Truppe das Leben.
Die auf Java auftretenden Tänzer hinterlassen bei Bé einen starken
Eindruck. Sechs Jahre nach dem Auftritt von Anna Pawlowa sieht die
zehnjährige Bé die russische Dandré-Levitoff-Ballettcompagnie auf
der Bühne, die am 18. und 19. September 1934 im Concordia-Theater
in der Braga Straße in Bandoeng gastiert. Nach Pawlowas Tod 1931
hat deren Ehemann Victor Dandré die Compagnie gegründet, die
von Ende 1934 bis Anfang 1935 unter anderem durch Australien tourt
und in der einige Tänzer der früheren Pawlowa-Compagnie auftreten.
Dazu gehört auch Anna Northcote, die sich später den Ballets Jooss
anschließen und Bés Lehrerin in England werden wird.
In der belebten Braga Straße befindet sich das
Concordia-Theater. Bandoeng, 1930er Jahre
16
1937, als Bé 13 Jahre alt ist, tritt auf Java die niederländische Tänzerin
Darja Collin zusammen mit dem deutschen Star Alexander von
Swaine auf. Dass Bé zu Collin, von Swaine und seinem Partner Botjo
Markoff einen engen Kontakt aufbauen wird, dafür sorgt eine ganz
besonders wichtige Person in ihrem Leben: ihre Tanzlehrerin Herta
Ruth Brod.
Herta Ruth Brod
Ruth Brod wird 1909 in Wien geboren. 1935 siedelt sie um nach Bandoeng
und eröffnet dort das »Gymnastik- und Tanzinstitut« in der
Riouw Straße 53. Die Tänzerin ist zuvor Schülerin der Tschechin Rosalia
Chladek gewesen, die beim Internationalen Choreografiewettbewerb
1932 in Paris den zweiten Platz – hinter Kurt Jooss – gewonnen
hat. Wie Jooss stammt Chladek aus der Schule Rudolf von Labans
und ist Ausdruckstänzerin.
Die Beziehung zwischen Ruth Brod und dem Kunstkreis und seinen
Mitgliedern ist von Anfang an eng, Ruth wird zu einer zentralen Figur
des Tanzes auf Java. Ihre Tanzschule ist nur einen Kilometer von
der Geschäftsstelle des Kunstkreises im Dago Weg 47 entfernt, auch
das Haus der Vitringas – Ecke Sim de Ruyters Weg/Engelbert van
Bevervoorde Weg – steht in diesem vornehmen Viertel nördlich der
Eisenbahnlinie. Hier wohnen die höheren Berufsstände, wie der Leiter
der niederländischen Eisenbahn in Bandoeng oder der Architekt
J. L. Riedé, hier trifft man sich auf geselligen Abenden.
Bé lässt sich ab 1935 von Ruth Brod im Tanz unterrichten. Von ihr
hört das tänzerisch begabte Mädchen auch zum ersten Mal von der
Jooss-Leeder School of Dance, die zu Ostern 1934 in Dartington Hall
entstanden ist und mittlerweile Schüler aus aller Welt anzieht.
Als Bé im Herbst 1935 mit ihren Eltern Amsterdam besucht, treten dort
die Ballets Jooss auf. Bé ist wie elektrisiert. Zurück in Bandoeng kann
sie es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein für ihren ersten Reisepass:
Sie will nach Dartington Hall, zu Kurt Jooss.
Am 16. Juni 1939 – drei Wochen vor ihrem 15. Geburtstag – ist es
so weit: Sie bekommt ihren Pass. Nur einen Monat später besteigt sie
in Begleitung ihrer zwei Jahre älteren Schwester Johanna das Schiff
von Batavia nach England. Jo ist auf dem Weg nach Amsterdam, um
am dortigen Lyzeum zu studieren. Für die wohlhabenden Familien auf
Java ist es üblich, die Kinder an die besseren Institute in Europa zu
schicken. Zum ersten Mal sind die beiden Schwestern weit weg von
den Eltern, von ihrem Zuhause. Sie müssen schnell erwachsen werden,
schneller, als sie damals ahnen.
Die 11-jährige Bé (links) und ihre Schwester
Jo sehen die Ballets Jooss zum ersten Mal
bei ihrem Besuch in Amsterdam 1935.
17
1939
England – ein kurzer Traum
Es ist eine lange Reise: Das Schiff braucht drei bis vier Wochen, bis es
am 14. August 1939 in Southhampton anlegt. Bé und Jo werden von
Camille Manusset in Empfang genommen, einer alten Schulfreundin
von Thea aus London. Camille bringt die Mädchen zu ihrer Schwester
Marcelle und ihrem Mann William Brimicombe, der an seiner Schule
in London Englisch und Geschichte unterrichtet. Das Ehepaar nimmt
die Kinder zunächst in ihrer großen Wohnung in Blackheath auf. Jo
verlässt nach nur wenigen Tagen die Familie und ihre Schwester und
nimmt die Fähre nach Holland.
Auch Bé macht sich auf den Weg: Endlich geht es nach Dartington
Hall, zu Kurt Jooss. Das in der Grafschaft Devon gelegene Lehrinstitut
ist eine Elite-Schule der Moderne, die reformpädagogischen
Prinzipien folgt. Mädchen und Jungen lernen gemeinsam, unter anderem
auch praktische landwirtschaftliche Arbeit in der ländlichen
Umgebung. Daneben haben die darstellenden Künste einen großen
Stellenwert, kreatives Leben und ökologisches Verstehen werden gefördert.
Dartington Hall gehört zu den revolutionärsten Schulen ihrer
Zeit, sogar Künstler und Musiker wie Merce Cunningham, Paul Hindemith,
Igor Strawinsky oder Walter Gropius kommen hierher – und 1934
auch Kurt Jooss mit seiner Tanzcompagnie, den Ballets Jooss.
Sigurd Leeder arbeitet mit Jooss seit 1924, er emigriert im Frühjahr
1934 nach Dartington Hall und bringt eine große Schülerschar aus Essen
mit. Bis 1939 unterrichtet er gemeinsam mit Kurt Jooss an der neu
gegründeten Jooss-Leeder School of Dance und leitet das dazugehörige
Dance Theatre Studio.
Bé wird als »Beatrys Vitringa« eingeschrieben, ihr Unterricht beginnt
im September 1939. Mit ihren nur 15 Jahren ist sie die jüngste Schülerin
der Jooss-Leeder School of Dance. Sie fühlt sich von Anfang an wohl,
der offene, kreative und fortschrittliche Umgang erinnert sie an ihr
Elternhaus. Sie bewohnt ein Zimmer im Studentenheim, in dem mehrere
hundert Schüler untergebracht sind. Das ehemals verwahrloste
mittelalterliche Landgut ist 1926 vom Ehepaar Leonard und Dorothy
Kurt Jooss (Mitte) spaziert mit Kollegen
über das Gelände von Dartington Hall.
18
Elmhirst gekauft und mit viel Geld – Dorothy ist eine vermögende
Amerikanerin – modernisiert worden. Die Gebäude sind mit zentraler
Heizung, Bädern und Duschen ausgestattet, es gibt Einzel-, Doppel-
und Dreierzimmer, qualifiziertes Lehrpersonal und hochwertiges
Essen.
Im Innenhof befindet sich das »Barn Theatre«, das der deutsche
Bauhaus-Architekt Walter Gropius aus einer alten Scheune entworfen
hat. In diesem Theater treten die Ballets Jooss auf (bzw. haben hier
ihre Generalproben), es entwickelt sich zu einem wichtigen Aufführungsort
für Theater und Tanz in Dartington Hall.
Bé ist glücklich in diesem Frühherbst 1939. In Bandoeng auf Java
war es üblich, die Treffen des Kunstkreises zu besuchen. Jetzt erlebt
sie jeden Sonntagabend im Barn Theatre einen Vortrag, ein Konzert
oder eine Vorstellung. Der Biologe Julian Huxley, sein Bruder Aldous
Huxley (Autor des futuristischen Romans Schöne, neue Welt), Philosoph
Bertrand Russell, der anti-autoritäre Reformpädagoge Alexander
S. Neill, Benjamin Britten und der Bildhauer Henry Moore sind unter
den Vortragenden.
Auf diese Weise wird Jooss’ Schülern von Anfang an ein geistiger
Horizont eröffnet, der sie inspiriert, der sie für den Tanz, die darstellende
Kunst sowie für ihre Interpretation durchlässig macht. Jooss
gewinnt auf diese Weise »ein neues Publikum für die Tanzkunst, vielleicht
vor allem ein intellektuelles«. 9 Zudem bringen die Exilkünstler in
Dartington Hall auch eine Ernsthaftigkeit in der künstlerischen Arbeit
mit. Neben Jooss, Gropius, dem Schauspieler Michael Tschechow und
vielen anderen wird auch Rosalinde von Ossietzky in Dartington Hall
ausgebildet. Dieses »attraktive junge Mädchen« 10 lernt bei Kurt Jooss
tanzen – während die Nationalsozialisten ihren Vater foltern. Jooss
kennt Carl von Ossietzky, den Redakteur der Weltbühne. 1936 erhält
von Ossietzky den Friedensnobelpreis, zwei Jahre später stirbt er an
den Folgen der Misshandlungen im Konzentrationslager. Seine Tochter
ist dann bereits im sicheren Exil in Schweden.
Im November 1939 erlebt Bé, wie sich die Ballets Jooss auf eine Amerika-Tournee
vorbereiten. Anlass ist der im September 1939 ausgebrochene
Krieg: Man fürchtet, dass Dartington Hall geschlossen wird
und damit die Existenz der Ballets Jooss bedroht ist. Da scheint es
am besten, sie auf Tournee zu schicken – »weit weg vom Krieg«. 11 Es
wird ein Vertrag mit Columbia Concerts geschlossen und 7000 Kilogramm
Bühnenausstattung im Wert von 20 000 US-Dollar (heute rund
420 000 Euro) gepackt. 12 Kurz vor Weihnachten 1939 legt die Truppe
von Southampton ab. Den 29 Mitgliedern steht eine der abenteuerlichsten
Tourneen bevor, die je von einer Balletttruppe gemacht worden
sind.
Zur gleichen Zeit erhalten Bé und auch Jo in den Niederlanden
eine Nachricht: Ihre Eltern bitten sie, nach Bandoeng zurückzukehren:
»Wir haben euch lieber hier, falls etwas passiert.« 13 Die Schwestern
treffen sich während der Weihnachtsferien in Amsterdam und
entscheiden sich für eine Rückfahrt nach dem Ende ihrer jeweiligen
Semester. Doch die Ereignisse überschlagen sich, der Krieg fegt nach
Westen. Bé muss Dartington Hall im März 1940 verlassen – eine Anordnung,
die alle Ausländer an der Küste um Plymouth betrifft. Am
20. März 1940 fährt sie nach London und wartet bei den Brimicombes
auf ihre Schwester. Doch Jo kommt nicht mehr aus den Niederlanden
weg. Alle Schiffe nach England sind überladen mit Flüchtlingen.
Am 10. Mai 1940 überrennt die deutsche Armee die Niederlande, die
Grenzen werden geschlossen. Als Bé am 6. Juni 1940, einen Monat vor
ihrem 16. Geburtstag, mit dem Schiff zurück nach Java fährt, muss sie
ihre Schwester in Europa zurücklassen.
An Jooss’ Schule in Dartington Hall lernen die Tanzschüler alles, was
mit Tanz verbunden ist: klassisches Ballett, Improvisation, Choreografie,
Bühnenarbeit, Beleuchtung, Bühnenbild, Make-Up. Bé selbst erhält
in ihrem ersten Semester keinen Unterricht von Jooss: Er arbeitet
mit seiner Truppe an der Choreografie Der verlorene Sohn. Das Stück
soll im Oktober 1939 im Prince Theatre in Bristol aufgeführt werden.
Es scheint wie eine ironische Wendung des Schicksals, dass Bé dabei
zusieht, wie Jooss dieses Stück in Dartington Hall probiert. Viele Jahre
später, 1956, wird es das letzte Ballett sein, das sie für Jooss tanzt.
20
Zwischen den Trainingsstunden verbringen die
Tänzerinnen und Tänzer ihre Freizeit im Innenhof
des Lehrinstituts.
21
Kurt Jooss
12. Januar 1901–22. Mai 1979
Jooss studiert ab 1919 Gesang, Klavier und Musiktheorie am Konservatorium
für Musik in Stuttgart und nimmt parallel Schauspielunterricht
an der Remolt-Jessen-Schule in Stuttgart sowie Tanzstunden bei Grete
Heid, einer Schülerin Rudolf von Labans. Im September 1920 wird er
Schüler bei von Laban und von 1922 bis 1924 Tänzer bei seiner Tanzbühne.
1924 ist er für drei Spielzeiten Bewegungsregisseur am Theater
in Münster. Er entwickelt unter dem Einfluss von Rudolf von Labans
Prinzipien bald einen eigenständigen Tanzstil und gründet die Neue
Tanzbühne. Im Mai 1927 zieht er nach Essen.
Jooss ist dort am 8. Oktober 1927 Mitbegründer der Folkwangschulen
für Musik, Tanz und Sprache und wird Leiter der Tanzabteilung. Im
September 1928 gründet er zudem das Folkwang-Tanztheater-Studio
(später umbenannt in Folkwang-Tanzbühne) als Verbindungsglied
zwischen Ausbildungsinstitut und Bühne. Im Oktober 1929 folgt die
Integration der Zentralschule Laban in die Tanzabteilung der Folkwangschule
unter Jooss’ Leitung. Hier findet er ebenso wie am Essener
Opernhaus, wohin er im September 1929 als choreografischer Oberleiter
mit damit verbundener Beraterfunktion berufen worden war, um
die Neue Tanzbühne zu leiten, optimale Bedingungen, seine tanzästhetischen
Vorstellungen umzusetzen. Mit der Spielzeit 1930/1931 wird
er Ballettmeister am Essener Opernhaus; zugleich erfolgt die Verpflichtung
der Folkwang-Tanzbühne als ständiges und einziges Ensemble
des Theaters. Exemplarisch für seine damalige Arbeit steht der Grüne
Tisch, ein Tanzdrama, das durch die Darstellung mittelalterlicher Totentänze
angeregt wurde. Es zeigt, wie Leid und Krieg durch Machthaber,
politische Fanatiker und Profiteure verursacht werden. Dieses Werk
entsteht für den 1932 in Paris ausgetragenen internationalen Wettbewerb
der Choreografen der Archives Internationales de la Danse und
wird mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Der Wettbewerbserfolg führt
zum Start einer internationalen Karriere; im Ausland firmiert die Folkwang-Tanzbühne
fortan unter der Bezeichnung Ballets Jooss.
Im März 1933 gibt Jooss seinen Ballettmeisterposten am Essener
Theater auf, seinen offiziellen Rücktritt von der Leitung der Tanzabteilung
der Folkwangschule erklärt er am 20. Januar 1934: Weder die zunehmend
politisch angepasste Spielplangestaltung sagt ihm zu, noch
sind für ihn die Anfeindungen tragbar, denen seine jüdischen Compagniemitglieder,
allen voran der Komponist Friedrich Cohen, zunehmend
ausgesetzt sind. Da er nicht bereit ist, sich von seinen jüdischen
Mitarbeitern zu trennen, bleibt ihm nur die Flucht aus Deutschland. Im
Rahmen der ersten Welttournee fliehen Jooss, der aus Freimaurerkreisen
erfahren hat, dass die NSDAP-Gauleitung beschlossen habe, ihn in
Schutzhaft zu nehmen, und sein Ensemble, das sich am 7. August 1933
vom Essener Opernhaus vertraglich gelöst hatte, im September 1933
zunächst in die Niederlande. Nach Gastauftritten in New York und verschiedenen
europäischen Ländern können sie schließlich auf dem im
englischen Devonshire gelegenen Landsitz Dartington Hall ein neues
Zuhause finden. Hier gründet Jooss im April 1934 gemeinsam mit seinem
langjährigen künstlerischen Mitarbeiter, dem Tänzer und Pädagogen
Sigurd Leeder, die Jooss-Leeder School of Dance. Wenngleich
Jooss von der deutschen Theaterarbeit abgeschnitten ist, so bietet sich
ihm im Exil zunächst das seltene Privileg, auch während der Zeit des
deutschen Faschismus kontinuierlich weiterarbeiten zu können. Mehrmonatige
Tourneen führen die Ballets Jooss 1937 und 1938 durch
West- und Osteuropa sowie durch die USA und Kanada. Im Rahmen
einer Tournee durch die englische Provinz findet am 14. Februar 1938
in Cambridge die Uraufführung von Chronica statt. Das ist zum einen
bemerkenswert, weil sich das Stück erneut um das Thema Macht und
Herrschaftsstrukturen dreht und als neuer Höhepunkt im Schaffen von
Kurt Jooss rezipiert wird. Zum anderen, weil das Libretto von Berthold
Goldschmidt vertont wird, der selbst aus Deutschland geflohen ist.
Doch die dramatischen politischen Veränderungen holen Jooss
und sein Ballett ein: Mitte Juni 1940 wird Jooss als »feindlicher Ausländer«
zunächst im Lager Huyton, später auf der Isle of Man interniert,
trotz seiner Bekanntheit und ungeachtet seiner zahlreichen
Verbindungen. Im November 1940, als sich weite Teile der englischen
Bevölkerung, Politiker und Presse zunehmend über die willkürliche
Inhaftierung deutscher Exilanten empören, wird Jooss die
Freilassung angeboten – unter der Bedingung, dass er ausreise. Die
Möglichkeit, sich seiner zu diesem Zeitpunkt in Argentinien auf Tournee
befindlichen Compagnie anzuschließen, nutzt er jedoch nicht.
42
Kurt Jooss
Kurt Jooss bei der Probe. Bé ist im Hintergrund
zu sehen, sie trägt ein schwarzes Trikot.
Die Ballets Jooss ihrerseits können aufgrund des Kriegs nicht nach
Europa zurückkehren; zugleich fehlt ihnen neues Repertoire, um in
Übersee weiter auftreten zu können. Auf abenteuerlichen Wegen kommen
schließlich acht der insgesamt 23 Tänzerinnen und Tänzer nach
England zurück, wo sie dank der Unterstützung des Council for the
Encouragement of Music and the Arts (CEMA, später in Arts Council
umbenannt) ab 1942 gemeinsam mit Jooss ihre Arbeit in Cambridge
fortführen können, wohin Jooss bereits im Januar 1941 unter dem Namen
Jooss-Leeder-Dance-Studio seinen Tanzunterricht verlegt hatte.
Bis 1947 bleibt die Truppe bestehen, dann wird die finanzielle Unterstützung
von staatlicher Seite eingestellt und seine wichtigsten Tänzer,
sechs Jahre ununterbrochen im Einsatz, verlangen nach einer Pause.
Damit ist die Auflösung der Ballets Jooss besiegelt und Jooss steht
zum wiederholten Male vor einem Neuanfang. Die ehemaligen Mitglieder
der Ballets Jooss sind gezwungen, sich bei anderen Ensembles
zu bewerben.
Jooss folgt einigen seiner Tänzer nach Chile, wo die Ballets Jooss auf
ihrer Tournee einen großen Eindruck hinterlassen haben. Nach einem
erfolgreichen Jahr kehrt Jooss schließlich im Alter von 48 Jahren im
Herbst 1949 als britischer Staatsbürger nach Essen zurück. Der Grund
ist das Angebot, die Leitung der Tanzabteilung der Folkwangschule
erneut zu übernehmen. Unter der Bedingung, ähnlich wie 1932 ein
unabhängiges Tanztheater gründen zu dürfen, nimmt Jooss das Angebot
an. Nach dem Ende der Ballets Jooss 1953 arbeitet er von 1954
bis 1956 als Choreograf und Leiter des Balletts an der Oper der Stadt
Düsseldorf und konzentriert sich danach auf seine Lehrtätigkeit an
der Essener Folkwangschule.
So positiv für ihn die Einladung nach Essen gewesen ist, so belastend
ist aber auch der Neubeginn. In der Zeit der politischen und kulturellen
Restauration wird Jooss’ gesamtkünstlerische Entwicklung
nach seiner Rückkehr aus dem Exil weder von der Tanzwissenschaft
noch von der Kritik entsprechend wahrgenommen und gewürdigt.
43
Der Vorwurf künstlerischer Stagnation dürfte erst mit dem großen Erfolg
der Choreografie zur Feenkönigin von Henry Purcell im Rahmen
der Schwetzinger Festspiele 1959 überwunden worden sein. Als Tanzpädagoge
gelingt es ihm, die Essener Tanzabteilung erneut zum Anziehungspunkt
einer internationalen Schülerschaft auszubauen. Mit der
Einrichtung einer Meisterklasse 1960, schulintern Folkwang-Tanzstudio
genannt und später Folkwang-Ballett, schafft er schließlich eine
bis dahin in der Bundesrepublik Deutschland einzigartige Organisationsstruktur
zur Nachwuchsförderung im Tanzbereich.
Im Oktober 1968 beendet Jooss seine Lehrtätigkeit in Essen und
übergibt die Leitung des Folkwang-Tanzstudios an seine einstige
Schülerin Pina Bausch. Er wirkt fortan international als Gast lehrer
und begibt sich auf Vortragsreisen. Nach dem Tod seiner Frau
und langjährigen choreografischen Assistentin, der Tänzerin Aino
Siimola, im Februar 1971 zieht er sich weitgehend aus dem professionellen
Leben zurück. Auf Anregung seiner Tochter, der Tänzerin und
Tanzpädagogin Anna Markard, legt Jooss mit ihr die Form der vier
Choreografien Der Grüne Tisch, Großstadt, Pavane auf den Tod einer
Infantin und Ein Ball in Alt-Wien fest. Fortan übernimmt Anna Markard
die Einstudierung dieses choreografischen Erbes in aller Welt.
Kurt Jooss verunglückt 1979 bei einem Autounfall und stirbt wenig
später. Im Bereich des Tanzes wirken seine künstlerischen und pädagogischen
Impulse bis heute fort.
Die Tänzerinnen und Tänzer aus
sieben Nationen, die 1939 auf die große
Amerika-Tournee aufbrechen
Aus Deutschland
Rudolf Pescht
Ernst Uthoff
Rolf Alexander
Hans Gansert
Erika Hanka
Otto Struller
Heinz Schwarze
Alida Mennen
Aus Großbritannien
Jack Skinner
David Grey
Bunty Slack
Monica Johnston
Joy Bolton-Carter
Aus Schweden
Ulla Söderbaum
Yat Malmgren
Eva Leckstroem
Aus der Schweiz
Hans Züllig
Angelo Rovida
Maya Kübler
Aus den
Niederlanden
Noelle de Mosa
Lucas Hovinga
Aus Lettland
Lydia Kocers
Aus Ungarn
Lola Botka
Hinzu kommen die in Deutschland geborenen Pianisten Friedrich
Alexander Cohen und Fritz Waldmann, Cohens Ehefrau
Elsa Kahl, die im Ensemble tanzt und ihm als Sekretärin zur
Seite steht, der ungarische Bühnenmanager Gabor Cossa, der
britische Elektriker Frank Lafferty und die deutsche Garderobenfrau
Anja Valentine.
44
Die Ballets Jooss auf dem Weg nach New York, 1933.
Viele von ihnen sind auch auf der Amerika-Tournee
1940 wieder dabei.
45
Die Tournee
der Ballets Jooss im
Zweiten Weltkrieg
47
1940
Nordamerika
Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schickt Dartington Hall
ihr »flagship« 23 Ballets Jooss mit 7000 Kilogramm Bühnenausrüstung
unter der Leitung von Friedrich Cohen auf Tournee in die USA. Daraus
ergibt sich eine Odyssee, auf der »erstaunliche Leistungen vollbracht«
werden, schreibt Reporter Hans Mak. Die Truppe überquert »als erste
große Theatergesellschaft« die Anden und reist »als Karawane, die aus
zwei Autobussen und drei Lastwagen bestand« durch eisige Kälte und
»tropische Glut«. 24
Die Ballets Jooss haben mit vielen Problemen zu kämpfen und
große Hürden zu überwinden. Und doch können sie zwei Jahre lang
fortbestehen und der Welt die Choreografie von Kurt Jooss zeigen, bevor
sie sich im Februar 1942 auf Weisung von dem in England zurückgebliebenen
Jooss auflösen. Die Unterstützung, die die Truppe auf
der Reise erfährt, sowie ihr Antifaschismus angesichts des Krieges in
Europa und ihr Zusammenleben sind einmalig in der Geschichte und
haben diese Reise und auch die Compagnie stark geprägt.
Startschuss
Kurz vor Weihnachten 1939 machen sich die 29 Mitglieder der Ballets
Jooss von Southhampton aus auf den Weg nach New York. Jooss
bleibt in England zurück, die Leitung der Compagnie übernimmt stattdessen
sein Stellvertreter Cohen.
Friedrich Alexander Cohen
Der 1904 in Bonn geborene Friedrich Cohen trifft während seines Engagements
als Spielleiter am Theater in Münster auf Kurt Jooss, mit
dem er in den nächsten Jahren eng verbunden bleibt. Nach seiner
Hochzeit mit der Tänzerin Elsa Kahl erhält Cohen 1928 eine Dozentur
in der von Jooss mitgegründeten Folkwangschule in Essen. Mit dem
Erfolg des Grünen Tischs feiern die beiden ihren Durchbruch und werden
gemeinsam 1932 bei den Archives Internationales de la Danse
in Paris mit dem ersten Platz für Choreografie ausgezeichnet. Von
diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem Zerwürfnis 1942 fungiert Cohen als
musikalischer Leiter der Ballets Jooss. Nach der Amerika-Tournee
der Compagnie bleibt er in den USA und arbeitet fortan als Lehrer an
den berühmtesten Musik-Universitäten des Landes.
Gleich bei ihrer Ankunft in den USA hat die Truppe allerdings schon
mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Die Ungarin Lola Botka, eine der
Haupttänzerinnen (Die alte Mutter) im Grünen Tisch, wird auf Ellis Island
festgehalten – eine ernsthafte Situation: Die Ballets Jooss können
ohne Botka nicht tanzen und sind in Gefahr, auch Botkas Ehemann
Ernst Uthoff zu verlieren, der im Fall einer Festsetzung bei seiner Frau
bleiben würde.
Doch noch Anfang Januar 1940 schafft es Rombout van Riemsdyk,
der für die Ballets Jooss in den USA als Manager tätig ist, Botka freizubekommen.
Dabei wird er vom britischen Konsul unterstützt, auch
weil die Truppe als britisches Unternehmen mit einem britischen
48
Der bis oben hin bepackte Laster zeigt den Abtransport
der Ausrüstung der Ballets Jooss aus Dartington Hall.
49
Sammelpass reist. Dass knapp eineinhalb Jahre später der Absprung
der beiden Tänzer in Caracas dann für die Truppe zu einer wahren
Zerreißprobe werden wird, soll später erzählt werden.
Von New York aus bereist die Compagnie mit dem Zug den Osten der
USA. Bis Ende Januar 1940 führt sie ihre Tour von Pennsylvania über
Maine, New Hampshire, Massachusetts, New Jersey, Maryland, Virginia
und Georgia bis nach Florida. Vor allem in Boston läuft es für sie
gut: Cohen berichtet an Jooss, dass die Vorstellung im mit 1600 Sitzplätzen
ausgestatteten Schubert-Theater ausverkauft ist.
Die schwere Ausrüstung muss die gesamte Zeit mitgeschleppt werden,
einschließlich des berühmten großen grünen Tisches, der in der
gleichnamigen Choreografie der Truppe 1932 zu Ruhm verholfen hat.
Hinzu kommen Kostüme, Bühnenvorhänge, Teppiche, Möbel, Kronleuchter,
Bühnenbilder (mit Landschaftsszenen), Elektronik, Scheinwerfer
und eine Unmenge von Kabeln, die in großen Holzkisten
verstaut sind. Alles zusammen hat einen Wert von 6400 Britischen
Pfund (heute rund 480 000 Euro). 25
Nur die zwei Klaviere, die für die eindrucksvolle Begleitung der
Jooss-Ballette sorgen, sind natürlich nicht im Gepäck. Diese müssen
jeweils von den Theatern bereitgestellt werden, deren Bühnenarbeiter
an der Einrichtung der Vorstellungen arbeiten. Die Klaviere werden
für die Vorstellungen der Ballets Jooss »vor der Bühne so aufgestellt,
dass die Pianisten die Bühne gut übersehen können«. Dabei stehen
»die Flügel mit den beiden schmalen Enden so ineinander, dass die
Pianisten sich gegenübersitzen«. 26
Bühnenmanager Gabor Cossa ist dafür verantwortlich, dass alle
Kisten und Koffer von eigens dafür angeheuertem Personal zwischen
den Theaterbühnen und den Gepäckräumen der Züge heil hin- und
hertransportiert werden. Er ist von Ungarn nach Dartington Hall gekommen,
sein jüdischer Name lautet Gabor Kuleyan Niklen. Er ist
wohl der richtige Mann für diese Aufgabe: Laut einer Mitteilung von
Greanin an Manager van Riemsdyk kann er »wie ein Sklave« arbeiten
und hat gleichzeitig keine Angst, klare Anweisungen zu geben. 27
Cossa gilt als jemand, der offen sagt, was er denkt, selbst wenn er sich
dadurch unbeliebt macht. Später wird sich das auf die Beziehung zu
Cohen auswirken – bis zum Zerwürfnis.
Der bald dazustoßende Impresario Leonid Greanin, ein der Sowjetunion
entflohener Belarusse, der nur Französisch spricht, berichtet,
dass die Tanztruppe während der Reise fortwährend sowohl im Zug
als auch bei der Ankunft an den Bahnhöfen unter Beobachtung steht
und alle Blicke auf sich zieht. Dabei versichert er, dass alle »einen gepflegten
Eindruck« machen. 28
Dass die Compagnie bereits mit Neugier beäugt wird, ist kein Wunder,
denn sie ist keinesfalls neu in den USA. 1933 sind die Ballets Jooss
zum ersten Mal in New York, zwischen Oktober und Dezember tanzen
sie 44 Vorstellungen. Die erste richtige USA-Tour mit Abstechern nach
Kanada findet dann im Frühjahr 1936, die zweite im Winter statt. Von
Oktober 1937 bis März 1938 reisen die Ballets Jooss ein drittes Mal quer
durch das Land. Züllig, Pescht, Uthoff, Botka, Cohen und Kahl sind
auf allen Tourneen dabei, viele andere Mitglieder mindestens ein Mal.
Diese Erfahrung mit der amerikanischen Theaterwelt mag wohl
auch der Grund dafür sein, dass die Truppe in den nächsten zwei Jahren
einen so starken Zusammenhalt beweist. Sie sind von Jooss, der
auf allen bisherigen US-Tourneen dabei gewesen war, persönlich auf
die Teamarbeit auf und hinter der Bühne eingeschworen worden. Dafür
bewundert sie sogar die Presse. Bei den Mitgliedern gibt es keine
Starallüren, man hilft einander, löst Probleme gemeinsam, teilt Aufgaben
gerecht auf und verzichtet auf eine autoritäre Hierarchie. Und
auf diesen Touren lernen sie auch, leere Theater zu verkraften – die
ersten Auftritte in New York 1933 sind finanziell eine Pleite. Dennoch
hält Columbia Concerts, überzeugt von ihrem künstlerischen Können,
weiterhin an den Ballets Jooss fest. Wenn man die Truppe ständig in
Bewegung hielte, so die Überlegungen, anstatt sie an einem einzigen
Theater dauerhaft zu engagieren, würden sich die Auftritte schließlich
finanziell lohnen. Wer im Schlafwaggon übernachten kann, der spart
auch die teuren Hotelkosten. Dieses Vorgehen würde eine Weile aufgehen,
sich allerdings auch nicht ewig rechnen.
Bei allen drei Tourneen haben die Ballets Jooss bereits die meisten
der neun Stücke aus ihrem Repertoire getanzt. Dazu gehören Die sieben
Helden, Pavane auf den Tod einer Infantin, Ein Ball in Alt-Wien, Der
Grüne Tisch, Ballade, Großstadt, A Spring Tale und Chronica. Aber auf
das Stück, an das sich das amerikanische Publikum jetzt bei der vierten
Tournee am besten erinnert und das nach wie vor das größte Interesse
hervorruft, Johann Strauss To-night, sind die Tänzerinnen und
Tänzer nicht vorbereitet. Dass ein solch ausgesprochen »deutsches
Stück« (denn der Walzer gilt »doch im Ausland noch immer als der
eigentliche deutsche Beitrag zu den Formen des Tanzes« 29 ) in diesem
eher von einer anti-deutschen Stimmung geprägten Land so begeistern
kann, überrascht alle:
»Eine bemerkenswerte Sache ist, dass sich in den USA anscheinend
jeder erheblich für Johann Strauss To-night interessiert – wahrscheinlich
wegen der heiteren Musik. Jedenfalls ist der Name [des
Stücks] ein sehr guter Werbeträger. [...] Obwohl die Kostüme in
einem schlechten Zustand sind.« 30
50
Was die vierte Tournee außerdem von den vorhergegangenen unterscheidet,
ist die ungeschriebene Regel, untereinander nur noch Englisch
zu sprechen, selbst unter den deutschen oder schwedischen
Tänzerinnen und Tänzern. Viele in der Truppe sprechen ein flüssiges
und »ausdrucksstarkes« Englisch, wenn auch kein besonders
gutes, Cohen spricht mit seiner Frau ausschließlich Englisch: »Unter
uns – selbst zwischen Elsa und mir – ist Englisch nun zur einzigen
Sprache geworden, beruflich und privat.« 31 Zusätzlich legt Rolf Alexander
Schulte, geboren 1919 in Hattingen an der Ruhr bei Essen, seinen
deutschen Namen ab – es scheint wichtig, dass die Truppe in der Öffentlichkeit
als britisch wahrgenommen wird, sie baut auf die Unterstützung
der britischen Konsulate.
Von Kuba bis Kanada
Nach den von Stürmen und Stress geprägten 1000 Kilometern zwischen
Baltimore und Atlanta, auf denen einige Mitglieder wegen
Krankheit ausfallen, besteigt die Truppe am 1. Februar 1940 ein Schiff
nach Kuba. Dort wird sie von der Musikgesellschaft Pro-Arte Musical
im Viertel El Vedado erwartet, drei Meilen von Havannas Zentrum
entfernt. Pro-Arte Musical ist zu dieser Zeit die bedeutendste künstlerische
Organisation Kubas. Sie wird 1918 von der Mäzenin María
Teresa García Montes de Giberga und ihren Freunden in ihrem Haus
in El Vedado gegründet – mit dem Ziel, einen Kreis von Interessenten
zu schaffen, die in einem Abonnementsystem Sitzplätze kaufen
und damit den finanziellen Erfolg von Produktionen sichern und den
auftretenden Künstlern die Blamage eines leeren Theaters ersparen.
Auch will sie durch niedrige Preise für Konzerte, Mitgliedschaft und
Unterrichtsklassen (Theater, Ballett und Gitarre) Kunst den ärmeren
Schichten zugänglich machen.
Pro-Arte wird ausschließlich von Frauen geleitet, die in der Erziehung
in Kuba in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein eine
dominierende Rolle innehaben. Das erklärt das energische Eingreifen
der Pro-Arte Frauen in den Tribünen: Nachdem der polnische Pianist
Ignacy Paderewski bei einem Auftritt von einem Papierflugzeug getroffen
wird, stellen sich die Pro-Arte Frauen die Aufgabe, das Publikum zu
erziehen. Während der Vorstellungen patrouillieren sie die Ränge und
scheuen sich nicht, Prominente aus Politik und Wirtschaft in die Schranken
zu weisen. Schwatzen und störendes Verhalten werden streng geahndet.
Auch müssen Spätkommer bis zur Pause warten, bevor sie zu
ihren Sitzplätzen gehen dürfen. Das beeindruckt Cohen. In Peru wird
auch er versuchen, das Publikum zu Pünktlichkeit zu »erziehen«.
Der Stadtteil El Vedado, wo Pro-Arte ihren Sitz hat, besteht aus Villen.
Die besten Architekten haben dort stolze Bauten im Jugendstil des
frühen 20. Jahrhunderts errichtet, mit zwei Etagen, kleinen Türmchen
und Gärten mit Skulpturen aus Marmor ringsherum. Dort liegt auch
das Teatro Auditorium, damals wegen seiner Akustik, Ausstattung
und Lage eines der besten Theaterhäuser der Stadt. Der dreistöckige
Prunkbau, der für seine Fassade den ersten Preis des Rotary Club de
La Habana bekommt, wird 1928 auf Wunsch von Pro-Arte gebaut und
zählt insgesamt 2700 Sitzplätze. In diesem Theater erringt die »prima
ballerina assoluta« Alicia Alonso am 29. Dezember 1931 mit dem Walzer
in Dornröschen große Bekanntheit. Zuvor hatte sie an den Ballett-
Klassen von Pro-Arte teilgenommen.
Nach der Kubanischen Revolution (1953–1959) wird es 1961 vom
kommunistischen Staat in Beschlag genommen und zu Ehren des
kubanischen Komponisten in Teatro Amadeo Roldán umbenannt.
Gleichzeitig emigrieren viele Mitglieder von Pro-Arte, die Gruppe
muss ihr öffentliches Wirken fortan stark einschränken.
Die Ballets Jooss stehen mit der Leiterin von Pro-Arte, Laura Rayneri
de Alonso, in Kontakt. Doch bevor ein Auftritt im Teatro Auditorium
arrangiert werden kann, müssen einige Probleme gelöst werden.
Die New Yorker Konzertorganisation Columbia Concerts, die die
Ballets Jooss engagiert haben, hat sich nicht um die Visa nach Kuba
gekümmert. Deshalb schickt Cohen, als die Truppe noch in Atlanta
gastiert, David Grey mit allen Pässen voraus zum kubanischen Konsulat
im 1100 Kilometer entfernten Miami, auch weil dieser fließend
Spanisch spricht. Grey gelingt es, die Visa zu bekommen, und erwartet
die Truppe am Bahnhof, von wo aus sie mit dem Bus zum Hafen
fahren. Doch dort ergeben sich weitere Probleme, bevor die Ballets
Jooss überhaupt die Überfahrt von Miami nach Kuba antreten können:
Die Truppe sitzt im Hafen von Miami fest und hält den gesamten
Betrieb ihres Schiffes auf. Der amerikanische Zoll ist von ihrem
Erscheinen überrascht, Columbia Concerts hat es versäumt, die Reisenden
dort anzukündigen. Zudem hat der unerfahrene Vertreter von
Columbia Concerts, der mit der Truppe reist, nicht alle Dokumente
bei sich. Das macht die Steuerbehörden misstrauisch. Cohen bietet
all seine Überredungskunst auf und tritt mit Cossa hinter das Pult des
Steuerbeamten, um mit diesem die Formulare auszufüllen. Zum großen
Ärger der Truppe müssen alle 25 Mitglieder 10 % ihrer bis dato
in den USA verdienten Gagen zahlen, um nach Kuba übersetzen zu
dürfen – und das, obwohl sie schon direkt am nächsten Tag wieder in
die USA zurückkehren wollen. Insgesamt belaufen sich die Kosten auf
400 US-Dollar. Schließlich schaffen es die Ballets Jooss aber auf das
Schiff nach Kuba, das um 23 Uhr in See stechen darf.
53
Tänzerinnen der Ballets Jooss am Strand von
Santa Monica, Kalifornien
56
1940–1941
Südamerika
Die Trudi-Schoop-Affäre
Auf ihrer weiteren Reise erwartet die Ballets Jooss der aufregende
Glanz des Südamerikas der 1940er Jahre, weltberühmte Metropolen,
große Theater und unglaubliche Chancen, aber auch die Auswirkungen
der Schoop-Krise, die bereits vor ihrer Abfahrt in New York ihren
Anfang genommen hat. Sie sollte für die Ballets Jooss die vierte große
Hürde ihrer Amerika-Tournee darstellen und den gerade begossenen
Zusammenhalt der Truppe auf eine harte Probe stellen.
Im April 1940 planen Cohen und van Riemsdyk eine Zusammenarbeit
der Ballets Jooss mit dem Schweizer Trudi-Schoop-Ensemble.
Van Riemsdyk meint, dass das Programm von Jooss zu ernst sei, dass
zu Kriegszeiten lustige Programme gefragter wären, vor allem in Australien,
wo man die Truppe hinzubringen hofft: »Das Programm muss
fröhlich sein. [...] der Grüne Tisch oder Chronica gehen nicht für Australien,
weil dort Krieg herrscht.« 41 Deshalb wird Schoop angesprochen,
in der Hoffnung ein gemeinsames Projekt zu starten, und um an
den Erfolg, den sie auf ihrer Tournee Anfang 1940 in den USA erfahren
hatte, anknüpfen zu können.
Trudi Schoop
Die 1903 in Zürich geborene Trudi Schoop ist Tänzerin und Kabarettistin.
Gemeinsam mit zwei Geschwistern tourt sie in den 1920er
und 1930er Jahren durch viele europäische und amerikanische Großstädte
und besticht dabei vor allem durch ihre Komik und ihr Talent
als Ausdruckstänzerin. Während der Kriegsjahre von 1941 bis 1945
löst sich die Tanzgruppe auf, kommt aber nach Kriegsende wieder
zusammen und bereist erneut die USA. 1948 beendet Schoop ihre
Bühnenkarriere und arbeitet fortan als Tanztherapeutin.
Jooss aber ist erzürnt. Nicht nur hatte man mit Schoop Kontakt aufgenommen,
ohne ihn zu fragen, schon allein der Vorschlag läge unter
seiner Würde. Varieté schreckt ihn ab – und das, obwohl Jooss selbst
zugibt, dass eine Zusammenarbeit mit Schoop ein Riesenerfolg sein
würde.
In Buenos Aires erhält Cohen Jooss’ Antwort zu den Plänen mit
Schoop. Er beschuldigt Cohen eines unverzeihbaren Vergehens und
kündigt kurzerhand ihre 15 Jahre währende Zusammenarbeit auf. Die
Truppe müsse sich zwar nicht auflösen, so Jooss, aber Cohen solle sie
unter einem anderen Namen weiterleiten.
»Es scheint mir zwecklos, dich darauf hinzuweisen, [...] warum
jede Idee, die Ballets Jooss und Trudi Schoop zu vermischen, mehr
als undurchführbar ist. Wenn dir das nach 15 Jahren Zusammenarbeit
nicht sonnenklar war, wie sollen Worte das jetzt erreichen.
[...] So verzweifelt traurig es auch sein mag, das zu sagen und der
Wahrheit ins Auge zu sehen, du hast das Tuch zwischen dir und
mir klar und unmissverständlich zerschnitten; zumindest was die
Arbeit betrifft. Ich bin mir bewusst, dass dies das Ende einer langen
und fruchtbaren Zeit ist, einer Zusammenarbeit, in der wir uns gegenseitig
gegeben und empfangen haben. [...] Ich fürchte, du wirst
den Namen der Ballets Jooss aufgeben müssen, und ich muss als
Direktor zurücktreten. Du wirst die Gruppe vielleicht International
Ballets oder European Ballets nennen oder einen besseren Namen
finden.« 42
Cohen ist erschüttert. Er schreibt, er habe die Zusammenarbeit mit
Schoop planen wollen, um die Ballets Jooss über die Runden zu helfen
– und auf den renommierten Namen Ballets Jooss wolle er nicht
verzichten: »Ich habe 16 Jahre für die Ballets Jooss gearbeitet und werde
nicht für einen anderen Namen arbeiten.« 43 Am Ende willigt Jooss
ein, dass die Ballets Jooss unter Cohen fortfahren sollen. Aber das Verhältnis
zwischen Cohen und Jooss bleibt gestört.
58
Die Schoop-Affäre wirkt sich auch nachhaltig auf Greanin aus. Er ist
empört über Jooss’ Reaktion gegenüber seinem langjährigen Freund.
Am 15. Juni schreibt er ihm, dass er kündigen wolle. Zu Jooss’ Erleichterung
wird es dazu aber nicht kommen.
Zusätzlich zum Streit um Schoop bemängelt Greanin, dass seine
Taten von Jooss nicht genügend Anerkennung finden. Er meint, dass
man es ihm schuldig sei, und befürchtet in der Geschichtsschreibung
der Tanzgruppe übergangen zu werden:
»Bei aller Bescheidenheit, ich habe nie erlebt, dass die Ballets Jooss
meine Bemühungen ernsthaft und vor allem nach meiner Abreise
gewürdigt hätten. Mein Name wird nie in die Geschichte der Ballets
Jooss eingehen.« 44
Wenn Greanin sich Gedanken macht, wie sein Name Eingang in die
Geschichte der Gruppe finden würde, so tun das mit Sicherheit auch
Jooss und Cohen – eine Erwägung, die man in dem sich zuspitzenden
Streit über die Zukunft der Ballets Jooss nicht vergessen darf. So
bescheiden Jooss sich in der Öffentlichkeit auch zeigt, sicher muss
auch er gehofft haben, als ein großer Erneuerer der Tanzkunst in die
Geschichte einzugehen. Dieser Ehrgeiz mag Jooss’ heftige Reaktion
gegenüber Cohen, dessen Handeln seinen Ruf zweifellos beeinflusst,
erklären.
Startschwierigkeiten
Vor diesem Hintergrund reisen die Ballets Jooss weiter nach Brasilien,
angeschlagen durch das Zerwürfnis ihrer Leiter. Zwischen dem
17. Juli und 4. August 1940 treten die Ballets Jooss in Rio de Janeiro
und Sao Paulo auf. An den Erfolg, der ihnen in Argentinien noch gelungen
ist, können sie hier aber nicht anknüpfen: In den Theatern stehen
die Ballets Jooss vor leeren Sälen. Das Publikum kommt nicht. So
leere Häuser, schreibt Cohen, habe er seit Milan 1934 nicht erlebt.
Dann scheint die Ballets Jooss das Pech zu verfolgen: Es gibt erneut
Ärger mit der Finanzierung. Der Vertreter der brasilianischen Theater,
Viggiani, versucht, die fälligen Zahlungen an die Ballets Jooss mit
Hilfe des Bezirksamtes zu umgehen. Auch aus den erhofften Verträgen,
die den Ballets Jooss eine Rückkehr in die USA erlauben, wird
nichts. Die Alternative, von Brasilien aus durch den Panama-Kanal
nach Australien überzusetzen, wird von den australischen Behörden
blockiert – sie wollen keine Visa an Deutsche ausstellen.
Einen Ausweg aus der misslichen Lage erhofft sich Greanin in der
Organisation weiterer Vorstellungen in Uruguay und Argentinien. Anfang
August schreibt er aus Buenos Aires, dass die Ballets Jooss noch
Blick auf Rio de Janeiro mit der Botafogo
Bucht und der Copacabana, 1946
59
Kurt Jooss’ berühmtestes Ballett:
Der Grüne Tisch. Diese Szene öffnet
und schließt das Stück.
Alfonso Unanue spielt den Kriegsprofiteur
im Grünen Tisch.
72
Die Ballets Jooss
in Essen
91
1950
Tanztheater möglich machen
Essen nach dem Krieg: Die Stadt ist zerstört, noch jahrelang liegt überall
der Schutt. In der ehemaligen Benediktiner-Abtei in Essen-Werden,
einem Vorort von Essen, finden sich die Folkwang-Künste neu zusammen,
hier soll das neue Folkwang-Tanztheater entstehen – mit Kurt
Jooss an der Spitze, der 1949 aus dem Exil zurückkehrt und sich mit
neuer Energie in die Arbeit wirft.
Die Unterkunft in der ehemaligen Abtei ist eine Notlösung. Die Tänzer
müssen Unterkünfte in der Nachbarschaft suchen, im Gebäude
selbst werden Büros, Klassenräume und ein mit 250 Sitzplätzen ausgestattetes
Auditorium für die Fakultäten Musik, Schauspiel und Tanz
eingerichtet. Um die 350 Schüler sind angemeldet, die meisten studieren
Musik. Zusätzlich zu den 20 bis 30 Elitetänzern bei Kurt Jooss besuchen
weitere 70 Schüler seinen Tanzunterricht. Es fehlt an Vielem,
doch das Team hat Jooss bereits zusammengestellt: Dazu gehören
die Lehrkräfte Trude Pohl für Improvisation, Laura Campbell-Maris für
den klassischen und Hans Züllig für den modernen Tanz.
Bé wird in den grauen Fassaden des Innenhofs noch die Spuren
des Kriegs, kaputte Scheiben und Brandflecken sehen. Alles wirkt
grau und trübe – und Jooss ist gestresst. Der Choreograf, der sein »Leben
für die Tanzkunst« geben möchte und zugibt, »kein Kaufmann«
zu sein, 122 hat seine neuen Aufgaben als Leiter der Tanzschule unterschätzt.
Er muss sich mit Geldsorgen herumschlagen: Er beantragt
eine Summe von über 84 000 Mark (heute rund 252 000 Euro) 123 , um
die Tanzschule aufzubauen, zu neuer Blüte zu führen und letztlich
mit den Ballets Jooss auch Essen zu einem neuen »kulturellen Mittelpunkt«
zu machen. 124 Doch diese Summe wird von den neuen Stadtvätern
abgelehnt. So ist Jooss nicht in der Lage, den zwei Dutzend
Tänzern, die er nach Essen geholt hat, Verträge vorzulegen. Viele
von ihnen, darunter auch Bé, haben bereits bestehende Verträge gekündigt,
um mit ihm arbeiten zu können: Rolf Alexander und Noelle
de Mosa haben Verpflichtungen in London gelöst, Ulla Söderbaum
beim Stadttheater St. Gallen in der Schweiz gekündigt, desgleichen
Kurt Paudler bei der Hamburger Staatsoper, Franziska Tona bei der
Münchener Staatsoper, Roger George beim Zürcher Theater, Walter
Kuhn bei der Zürcher Oper und Mark Hertzens bei der New York Metropolitan
Opera. Patricio Bunster and Alfonso Unanue haben beim
Chilenischen Nationalballett aufgehört.
Am 6. Dezember 1950 bittet Jooss in einem eher verzweifelten Brief
an Essens Oberbürgermeister Dr. Hans Toussaint darum, ihn nicht
durch einen »Zurückzieher in diesem äußersten Augenblick zum
Wortbrüchigen an all diesen Menschen zu machen, die im Vertrauen
auf die Stadt Essen und auf meine Reputation als verantwortlicher
Leiter der seit 18 Jahren unter meinen Ruf bestehenden Organisation
sich uns angeschlossen haben, und, wie ich wiederholt bei früheren
Gelegenheiten berichtet habe, entweder schon hier sind oder in ein
paar Wochen hier eintreffen werden.« Und er greift zum letzten Mittel:
Sollte man seine Bitte abschlagen, möchte er von seinen Pflichten, einschließlich
seines Lehrvertrages an der Folkwangschule, entbunden
werden. Für Jooss hat die Tanzschule nur dann eine Berechtigung,
»wenn gleichzeitig eine repräsentative künstlerische Plattform für die
besten ihrer Schüler besteht«. 125
»Jooss nicht im Stich lassen«
Jooss hat damit Erfolg. Fünf Tage nach seinem Schreiben ist die Stadt
bereit, die Tänzer ab dem 1. Januar 1951 vertraglich anzustellen. In
einer Abschrift der Besprechung zwischen den Verantwortlichen der
Stadt wird jedoch deutlich, dass aus Prestigegründen oder sogar aus
Mitleid klein beigegeben worden ist und man sich eigentlich lieber
von Jooss und allem, was dazugehörte, trennen würde:
»Oberstadtdirektor Greinert führte aus, dass er in Übereinstimmung
mit Oberbürgermeister Dr. Toussaint bereits im Kunstausschuss die
Auffassung vertreten habe, dass er sich gegen das Tanztheater ausspreche,
wenn es jetzt um die grundsätzliche Entscheidung gehen
würde. In der augenblicklichen Situation verlange es das Ansehen
92
der Stadt, Jooss nicht im Stich zu lassen [...]. Die Bedenken hinsichtlich
der Einnahmeentwicklung wurden den Besprechungsteilnehmern
mitgeteilt. Sie hielten es aber nicht für möglich, das
Tanztheater in der augenblicklichen Situation fallen zu lassen, da
dadurch das Ansehen der Stadt sehr leiden und Jooss selbst vollkommen
ruiniert würde [...].« 126
Unter den Teilnehmern der Besprechung sind Oberbürgermeister
Dr. Hans Toussaint, Bürgermeister Werner Lipa sowie die Ratsherren
Bessel, Kohlhoff, Nieswandt und Strunck. Von ihnen ist Lipa vielleicht
der schärfste Kritiker von Jooss. Schon 1949 stimmt er gegen das in
seinen Augen hohe Gehalt, das Jooss bekommt: 1200 Deutsche Mark
monatlich, zuzüglich 300 Mark Aufwandsentschädigung sowie Tantiemen
von zwei Prozent auf die »der Stadt zufließenden Einnahmen des
Tanztheaters«. 127 Lipa, Mitglied der SPD, sieht die Prioritäten eher bei
»Neuansiedlungen, Wohnungsbau und Schulwesen« und ärgert sich
über die Gleichgültigkeit der Wohlhabenden in der Stadt:
»In Essen gibt es über 230 000 Menschen, die aus öffentlichen Mitteln
unterstützt werden müssen. Daneben gibt es aber auch eine
kleine begüterte Schicht, die scheinbar von der Existenz dieser ungeheuer
großen Zahl von Notleidenden nichts weiß.« 128
Unter diesen Umständen der Nachkriegszeit ist für Lipa die Kunst
zweitrangig, soziale Verbesserungen gehen vor. Lipa berichtet, dass
ausländische Reisende entweder enthusiastisch ihre Begeisterung
über die Stadt zeigen oder erschrocken vor den brandschwarzen Ruinen
des Krieges stehen:
»Die schon in Essen waren, sind beeindruckt von dem Wiederaufbau,
wer Essen nach dem Zusammenbruch noch nicht sah, ist vom
Ausmaß der vorhandenen Zerstörungen erschüttert.« 129
Doch Jooss darf anfangen: Sein Vertrag wird von 1949 bis 1955 laufen.
Im Januar 1954 wird Lipa der einzige sein, der gegen die Weiterführung
von Jooss’ »Tätigkeit als Lehrer an der Folkwangschule« stimmt. 130
Oberbürgermeister Toussaint gewinnt dagegen im Laufe der Zeit eine
positive Meinung von Jooss als Lehrer und Künstler – und wird seinem
Tanztheater eine Chance geben.
Die Abtei Essen-Werden ist das Zuhause des Folkwang-
Tanztheaters und der Folkwangschule.
93
Die Kraft des Tanzes wirkt auch in Zeiten des Krieges
Der Choreograf: 1932 wird Kurt Jooss mit der
Choreografie Der Grüne Tisch weltberühmt. Sein
»moderner Totentanz« erzählt die Geschichte
des Krieges als Maschine des Todes und trifft
im Europa der Zwischenkriegszeit einen Nerv.
Schon früh erkennt Jooss die Zeichen der Zeit
und emigriert gemeinsam mit seiner Tanzcompagnie,
den Ballets Jooss, aus Deutschland.
Während des Zweiten Weltkrieges wird seine
Truppe weiterhin durch die Welt touren.
Die Tänzerin: Die Geschichte der Ballets Jooss
verbindet sich mit der Biografie einer begabten
Tänzerin. Die auf Java geborene Beatrijs Vitringa,
genannt »Bé«, verfolgt durch alle Wirrnisse der
Kriegszeit ihren Traum vom Tanzen und findet
schließlich 1950 beim deutschen Tanztheater
von Kurt Jooss in Essen ihre Bestimmung.
Zwei weltumspannende Geschichten erzählen
von der Kraft des Tanzes zwischen den 1920er
und 1950er Jahren.
ISBN: 978-3-89487-827-6
www.henschel-verlag.de