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Sandman Deluxe 10 (Leseprobe) DSANHC010

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DIE WELT ENDET IM JAHR 2000!

Es ist wahr, behauptet Ravi Mukerji, ein

bekannter Hellseher. ”Es gibt alte Schriften

verschiedener Kulturen, die alle den Tag

des Jüngsten Gerichts auf das Ende des

zweiten Jahrtausends datieren”, sagt Ravi.

Nach unserer Zeitrechnung wäre das der

1. Januar des Jahres 2000, also in weniger

als zwei Monaten! – The Weekly Grapevine,

5. November 1999

22. OKTOBER 2009, TAGE-

BUCH VON RUTH KNIGHT:

ES heißt, man nimmt

unmittelbar vor dem Ende

einen seltsam süßlichen

Geruch wahr.

“Es ist jetzt zwei Minuten nach

Mitternacht auf der größten Silvesterparty

aller Zeiten in New York

und ich freue mich, Ihnen mitteilen

zu können, dass die Apokalypse nicht

eingetreten ist.” – Alan Morgan live

vom Times Square, 1. Januar 2000

In meinem Zimmer

roch es nach

Flieder.

Santa Fe, Neumexiko: VIER

FÄLLE VON BEULENPEST

wurden im vergangenen Monat

diagnostiziert. Die Opfer waren

vier Angehörige einer Familie,

die über Nacht im Zuni-Cibola-

Nationalpark gecampt hatte.

– 3. Mai 2002, Associated Press

Ich wusste, ich

würde nicht

sterben.


Zur Sicherheit

wurde den Kindern

einiger Schulbezirke

geraten, zu Hause

zu bleiben, bis drei

neue Fälle von antibiotikaresistenten

Pestbakterienstämmen

untersucht sind.

– 12. Juni 2002,

The New York Times

Ich träumte.

DER SCHWARZE TOD IST WIEDER DA

Allein in New York über

1000 Tote – 35 bestätigte

Fälle in London

Während hierzulande

manche Menschen daheim

bleiben und Vorräte anlegen,

gehen andere auf die

Straße und ergehen

sich in zügellosen,

karnevalesken

Ausschweifungen.

– 7. August 2002,

London, The Times

Im Traum

kam die Pest

zu meinem

Haus.

”Er kommt in der sterbenden Jahreszeit

im siebten Jahr nach der Pestilenz:

Und keine Tür wird ihn aufhalten:

Am Antlitz wird man ihn nicht erkennen.”

- Die Schriftrolle des

Schicksals

Wieder.


Sie kam in

mein Zimmer

im Gewande

dessen, was von

meiner Schwester

übrig war.

Obwohl sie

nicht sprechen

konnte, wusste

ich, dass sie

ungeduldig war.

Sie wollte unbedingt,

dass ich mir etwas

ansehe.

Plötzlich war der Raum voller

Blumendüfte: Päonien, sanft

und üppig, die zarte Süße von

Gardenien, der volle Duft

von Rosen.

Ich sah hinaus

und erwartete

einen Garten.


Und sah stattdessen

feiernde Tote.

Freunde, deren Namen

ich vergessen hatte. Alle, die

einst zu meinem Leben gehörten,

tanzten zu einer Musik, die nur

sie hören konnten. Ich dachte, ich

könnte mich ihnen anschließen,

doch--

Alle waren da. Mein Mann.

Meine Eltern. Meine

Tochter.


Hätte ich nicht diesen

Traum gehabt, hätte ich

wahrscheinlich zum Gewehr

gegriffen und ihm gesagt,

dass er verschwinden soll.

Ich erwachte und

wusste, dass ich nicht

mehr allein war.

Ich musste

annehmen, dass

er mich töten

wollte.

Doch er war höflich-- geradezu

artig, mit einem fremden Akzent

in seiner Art zu reden-- und so

durfte er bleiben.

Er nannte sich John Ryder... Ich habe

keine Ahnung, ob er wirklich so

hieß.

Beulenpest braucht zwei bis fünf Tage,

bis sie ausbricht, darum ließ ich Ryder

eine Woche lang im Schuppen schlafen.

Es schien ihm nichts auszumachen Er bot

sogar an, sich um Paladin zu kümmern.

Ich ließ es zu, denn Pferde

bekommen keine Pest und ironischerweise

ist Paladin darum

der Einzige, der noch da ist.

Der Rest wurde

geschlachtet,

wegen unverseuchten

Fleisches.


Nach dieser Quarantänezeit saßen

wir zusammen und unterhielten uns. Ryder

sagte, dass Manhattan ein einziger

Friedhof sei und dass er gehört hätte,

in Boston sähe es nicht anders aus.

Er fragte mich, ob in dieser Stadt

noch Menschen lebten. Ich sagte,

ich wüsste von einigen.

Er wollte

sie kennenlernen.

Ich sagte, wir

könnten es versuchen,

dass ich

aber nicht wüsste,

ob jemand kommen

würde. Die Menschen

hätten immer noch

Angst vor Fremden

und Menschenmengen.

Verängstigte Menschen

können gefährlich sein:

Ich habe eine Narbe,

wo ein infiziertes Kind

mich gebissen hat, als

ich ihm Essen geben

wollte.

Ich fragte mich, ob sie die

Lebenden noch herbeirufen

konnte.

Als die Kirchenglocke

letztes Mal

läutete, rief

sie die

Toten aus.


Doch sie kamen. Wahrscheinlich

aus Neugier. Oder aus Angst, etwas

zu verpassen, was in Wahrheit dasselbe

ist.

Julian und Clarissa Boyle,

die ihre Kinder in Manhattan

zusammen mit der Kinderfrau

sterben

ließen.

Martin O'Donnel,

ehemals der Besitzer

von O'Donnel

Sporting Goods, der

im vergangenen Jahr

Bürgermeister einer

Geisterstadt wurde.

Norman Leberman,

der die gesamte

Beredsamkeit

eines Kleinstadtreporters

aufbrachte,

um meine Tochter

mit etwas Würde

zu bestatten.

Und Janet Clark, die die Bestattung

meiner Tochter unterbrach, um Norman

einen dreckigen Juden zu nennen,

der die Pest verursacht

hätte.

Sie waren meine Nachbarn.

Und der Grund dafür, dass

ich sechs Monate lang nicht

in der Stadt gewesen

war.

OKAY,

FREMDER.

EINE FALSCHE

BEWEGUNG,

UND ICH

SCHIESSE.

BERUHIGE

DICH, MARTIN. DIES

IST RYDER, UND ER IST

GESUND WIE EIN FISCH

IM WASSER, ALSO TU

NICHTS UNÜBER-

LEGTES.

RUTH,

WAS SOLL

DENN DAS? HAST

DU DICH ANGE-

STECKT?

WAS IST SO

WICHTIG, DASS DU DIE

GLOCKE GELÄUTET HAST?

SIND MEDIKAMENTE IN

DER TASCHE? ANTI-

BIOTIKA?

NEIN.

MEDIKAMEN-

TE HABE ICH

NICHT.

ABER

EINIGE WAREN

ZU VERKAUFEN,

UND NOCH

ETWAS.

WISSEN.

UND DIE MACHT,

DIE DAMIT EIN-

HERGEHT.

WAS

HEISST

DAS?

DAS

HEISST, SIE

MÜSSEN KEINE

ANGST MEHR

HABEN.

DENN

ICH HABE DAS

MITTEL, UM DAS

SCHICKSAL ZU

BETRÜGEN.


WENN SIE CHRIST WÄREN,

WÜSSTEN SIE, DASS MAN DAS SCHICKSAL

NICHT BETRÜGEN KANN. DIE SÜNDER WER-

DEN BESTRAFT, DIE UNSCHULDIGEN

ERLÖST.

DIESES LEBEN

IST NICHT WICHTIG,

LEBERMAN. DER TAG

DES GERICHTS WIRD

KOMMEN.

WIE KOMMT ES

DANN, DASS IHRE GUTEN

CHRISTEN DRAUSSEN

VERFAULEN?

DIESES

BUCH ENTHÄLT

DAS GENAUE

DATUM UND DIE

STUNDE.

JA, DAS

STIMMT.

EIN IRRER HATTE ALSO

EINE VISION UND SAGT AUF 500

SEITEN DIE PEST VORAUS?

VOR ETWAS ÜBER 100 JAHREN FAND

EIN PFARRER NAMENS LORCAN CAVENDISH EIN PERGA-

MENT, DAS IM ÄLTESTEN TEIL EINER KLEINEN KIRCHE

IN NORDENGLAND VERSTECKT WAR.

CAVENDISH

BEMERKTE SCHNELL,

DASS DIE SEITE ÄLTER WAR

ALS DER ALTARRAUM AUS

DEM 13. JAHRHUNDERT,

IN DEM ER SIE ENT-

DECKT HATTE.

FALSCH.

DAS SCHRIFTSTÜCK BEHANDELTE

DIE JUSTINIANISCHE PEST, DEN SCHWARZEN TOD

UND DIE GROSSE PEST BIS INS DETAIL, OBSCHON DAS

ERSTE DIESER EREIGNISSE SICH VIEL SPÄTER EREIG-

NETE, ALS ES AUFGESCHRIEBEN WURDE.


CAVENDISH NANNTE DAS

PERGAMENT DIE SCHRIFTROLLE DES

SCHICKSALS UND VERBRACHTE 17

JAHRE DAMIT, DEN INHALT ZU

ENTSCHLÜSSELN.

ER BESCHRIEB DIE

DREI PESTAUSBRÜCHE,

WELCHE DIE SCHRIFTROLLE

DES SCHICKSALS VORHER-

SAGTE UND LIESS DEN TEXT

ZU DIESEM BUCH ZUSAM-

MENBINDEN.

WEIT WICHTIGER WAR,

DASS CAVENDISH DIE SCHRIFT-

ROLLE DES SCHICKSALS IN DAS

BUCH EINARBEITETE. UND DIESES PER-

GAMENT-- DIE ORIGINALSEITE, DIE IN

DER KIRCHENWAND VERBORGEN WAR--

SAGT AUCH DEN VERLAUF DER VIERTEN

PESTEPIDEMIE VORAUS. DIE,

DIE WIR JETZT ERLEBEN.

WIE KOMMT

ES, DASS WIR VON

DIESEM HISTORISCHEN

FUND NIE GEHÖRT HABEN?

WARUM WURDE NICHT DA-

RÜBER BERICHTET WIE ÜBER

DAS LEICHENTUCH CHRISTI

UND DIE SCHRIFT-

ROLLEN VOM TOTEN

MEER?

WEIL NIEMAND

CAVENDISH GLAUBTE.

DIE SCHRIFTROLLEN

VOM TOTEN MEER

WAREN ÄLTERE VERSI-

ONEN VON WERKEN, DIE

MAN SCHON VORHER

KANNTE. DIE SCHRIFT-

ROLLE DES SCHICK-

SALS HATTE KEINEN

VORLÄUFER.

WARUM

ZEIGEN SIE UNS

NICHT DIE SEITE UND

LASSEN UNS ENT-

SCHEIDEN?

RYDER,

WELCHEN SINN SOLL

DAS HABEN?

HABEN SIE

EINEN BEWEIS

DAFÜR, DASS

IHR BUCH ECHT

IST?

DIE SEITE

SELBST ZEIGE

ICH IHNEN NICHT.

ABER ICH LESE

IHNEN AUS DEM

BUCH VOR, DANN

KÖNNEN SIE ENT-

SCHEIDEN, WAS

ES WERT IST.

MEIN MANN

UND MEINE TOCH-

TER STARBEN WIM-

MERND IN MEINEN

ARMEN.

ICH WILL NICHT

WISSEN, WIE ANDERE

LEUTE AN DER PEST

STARBEN.


WARTE!

DU DARFST NICHT

GEHEN, RUTH. ICH MÖCH-

TE, DASS DU--

ICH MEINE,

DU BIST DIE,

DIE--

ICH GLAUBE NICHT, DASS

MAN IN DIE ZUKUNFT SEHEN KANN,

DA KANNST DU SAGEN, WAS

DU WILLST.

Als ich meinen Mann

zum letzten Mal

küsste, war sein

Atem süß von

Fäulnis.

Ich dachte, ich würde

mit ihm sterben,

so hätte es sein

müssen...

Aber so war es nicht.

DANN HÖR EINFACH

ZU, RUTH. DU MUSST MIR

NICHT GLAUBEN-- NOCH

NICHT.

SIEH MAL, ICH

BIN KEIN BESONDERS

GUTER REDNER. UND

AUCH KEIN GUTER

HÄNDLER.

ABER IST ES NICHT

BESSER, IRGENDETWAS ZU

TUN, ALS NUR IM HAUS ZU

SITZEN UND AUF DEN TOD

ZU WARTEN?

Nur ein sehr guter Händler

sagt einem, dass er kein guter

Händler ist.

Und egal, was er sonst noch

war, er war ein sehr guter

Händler.

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