Sprechtraining für Schauspieler
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Barbara Maria
Bernhard
Sprechtraining
für
Schauspieler
Ein Übungsprogramm für
Körper, Stimme und Gehör
HENSCHEL
Barbara Maria Bernhard
Sprechtraining
für Schauspieler
Ein Übungsprogramm für Körper,
Stimme und Gehör
HENSCHEL
Inhalt
Einführung 7
Achtsames Sprechtraining – die Methode
für Schauspieler im Beruf 7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne
Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies
gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und für die Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-89487-735-4
© 2014, 2021, 2022 by Henschel Verlag
in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig,
Lektorat: Anja Herrling
Umschlaggestaltung: Ingo Scheffer, Berlin
Titelbild: © Barbara Maria Bernhard
Abbildungen im Innenteil:
S. 129, 132, 138, 146: © Volkstheater Wien
Alle übrigen Abbildungen: Fotostudio Helmreich,
© Barbara Maria Bernhard
Satz und Gestaltung: Das Herstellungsbüro, Hamburg
Printed in the EU
Das achtsame Warm-up 14
Übungen für Körper und Atem 16
Übungen für Stimme und Gehör 28
Übungen für die Stimme im Raum 55
Übungen für die Stimme im Partnerkontakt 69
Übungen mit Stimme und Stille 74
Übungen zur Strukturierung von Gedanken 78
Übungen zum Führen durch Artikulation 83
anatomische Körperreise 89
Grundlagen zu Aufbau und Funktion des Stimmorgans 90
Übungen zum Erleben der Physiologie 100
Vor dem auftritt 109
Achtsames Sprechtraining als Einsprech programm 109
Chorisches Sprechen 114
Die Herangehensweise 115
Die sprecherischen Gestaltungsmittel 117
Die Wahrnehmungsschulung 119
Einsprechübungen für Sprechchöre 120
Chorisches Sprechen am Beispiel eines antiken
Stückes: Antigone 128
Chorisches Sprechen am Beispiel eines zeitgenössischen
Stückes: Das letzte Feuer 138
www.henschel-verlag.de
Anhang
Literatur 148
Arbeitstexte 149
Dank 150
Zur Autorin 150
Tracks zum Buch 151
Trackliste 152
EInführung
achtsames Sprechtraining – die Methode
für Schauspieler im Beruf
Für einen im Engagement stehenden Schauspieler bedeutet der Alltag
harte Arbeit – und zwar körperlich und psychisch: Die Probenzeiten
betragen täglich bis zu sieben Stunden. Die Abende sind mit
Vorstellungen aus dem Repertoire ebenfalls gefüllt.
Diese Arbeitszeiten sind anstrengend und bieten wenig Raum für
persönlichen Rückzug und Regeneration. Gerade dies ist aber für
eine gesunde Stimme unerlässlich. Denn wie soll eine ständig beanspruchte
und teils bis an die Grenze der Belastbarkeit benutzte
Stimme persönlich, ausdrucksstark, vielseitig und kreativ bleiben?
Ein Blick hinter die Kulissen
In den ersten Probenwochen sind die Schauspieler dabei, ihre Figuren
zu finden und gemeinsam mit dem Regisseur Situationen zu entwickeln,
um diese nach und nach so zu fixieren, dass sie auf der Bühne
als Szenen »funktionieren« und wiederholbar sind. Im Lauf der
Proben werden diese Szenen mit der Bühnentechnik und den Lichtstimmungen
koordiniert. Letztendlich ist möglicherweise kein Gang
des Schauspielers mehr spontan und kein Satz mehr improvisiert,
da alles minutiös aufeinander abgestimmt ist. Alle Mitarbeiter einer
Theaterproduktion, von der Souffeuse bis zum Tonmeister, sind
voneinander abhängig und gemeinsam für das Gelingen einer Vorstellung
verantwortlich. Gleichzeitig besteht der Anspruch, dass die
Schauspieler schöpferisch tätig sind und Einzigartiges, ja Genia les in
jeder Vorstellung leisten. Die Verlässlichkeit auf der Bühne und die
Bereitschaft, sich auf den Augenblick und den Bühnenpartner voll-
7
ständig einzulassen, sind fordernde und nicht endende Aufgaben,
denen Sie sich als Schauspieler immer wieder neu stellen müssen:
»In seiner Arena, der Bühne, setzt der Schauspieler nicht weniger
als sich selbst mit Haut und Haaren aufs Spiel. […] Ist er nicht Hase
und Igel in einer Person, ständig im Wettstreit mit sich selbst?«
(Granzer, Schauspieler außer sich; S. 65 u. S. 74)
Auch sind Sie als Schauspieler in Ihrem Beruf täglich der Kritik anderer
ausgesetzt und zusätzlich Ihrer Selbstkritik:
»Wir wissen theoretisch, dass jeder Schauspieler seine Kunst täglich
in Frage stellen muss – genau wie Pianisten, Tänzer, Maler –
und dass er sonst fast sicher stagnieren, Klischees entwickeln und
irgendwann einen Niedergang erleben wird.« (Peter Brook im
Vorwort zu: Jerzy Grotowski, Für ein armes Theater; S. 12)
Sich infrage zu stellen gehört zu Ihrem Beruf also existenziell dazu.
Dieses ständige Bewertetwerden kann auf Dauer dazu führen, dass
Sie sich mehr und mehr über die Sicht der anderen, also des Regisseurs
oder des Publikums, definieren. Lob und Verriss können zu
einer Droge werden, die abhängig macht und somit unfrei:
»In der Theorie klingt die physische Exponiertheit der Schauspieler
weitaus harmloser, als sie sich am eigenen Leib anspürt. Die
Intimität, die ausgestellt wird, ist äußerst fragil, das Risiko hoch
und immer brisant, da es nie zeitversetzt, sondern immer im Augenblick
stattfindet. […] Er selbst kann nicht zurücktreten, um
zu prüfen, was er da eben gemacht hat. Er bleibt distanzlos in der
eigenen Nähe befangen. Er bekommt seine Arbeit nie leibhaftig
vor den eigenen Blick, immer nur die anderen. Das macht extrem
abhängig von dem, was man über die eigene Wirkung zu hören
bekommt, und es macht extrem sensitiv.« (Granzer, Schauspieler
außer sich; S. 30)
Das Arbeitsmaterial Stimme
»[…] der Schauspieler [ist] Arbeiter, Werkzeug, Material und
Produkt zugleich! Obendrein muss er sich in das Ensemble einer
Aufführung fügen! Und er ist Mensch mit persönlichen Erfahrungen,
Gedanken und Gefühlen, also mit all dem, was ihn geistig
bewegt.« (Ebert, ABC des Schauspielens; S. 28)
Als Schauspieler müssen Sie nicht nur große Räume mit Ihrer Stimme
füllen. Sie müssen oft Menschen in Extremsituationen darstellen,
ohne dabei Ihrer Stimme dauerhaft zu schaden.
Ihre Stimme ist Ihr persönliches Instrument und eines Ihrer
wichtigsten Arbeitsmaterialien. Sie muss Ihnen zur Verfügung stehen
– auch in Erkältungszeiten, wenn alle um Sie herum husten und
schniefen. Sie muss auch dann funktionieren, wenn Sie sich privat in
einer schwierigen Situation befinden. Sie sind auf Ihre Stimme existenziell
angewiesen.
Ihre Stimme verdient es daher, besonders gepflegt zu werden. Viele
Menschen schenken ihrer Stimme aber nur dann Beachtung, wenn
sie nicht mehr so funktioniert, wie sie es gerne hätten. Sie meldet sich
dann unangenehm dünn, kraftlos, heiser, gedrückt, mitunter sogar
schmerzvoll.
Es ist besonders im Schauspielerberuf wichtig, grundsätzlich achtsam
mit der Stimme umzugehen, sie aufzuwärmen, zu pflegen und
überhaupt in ständigem Kontakt mit ihr zu bleiben und daraus die
künstlerische Arbeit zu bewältigen. Mit der eigenen Stimme in Kontakt
zu sein bedeutet letzten Endes auch, mit sich selbst in Kontakt
zu bleiben. Besonders für Schauspieler ist die Arbeit an sich selbst,
unabhängig vom Ego, unerlässlich, um aus den künstlerischen Ressourcen
zu schöpfen.
Ein regelmäßiges achtsames Stimmtraining kann dazu beitragen,
dem professionellen Anspruch des Schauspielalltags gerecht zu werden
und gleichzeitig einer Überlastung oder gar einem Burnout-
Syndrom vorzubeugen. Dazu ist es notwendig, dass Sie sich vor jeder
Probe mit dem momentanen Zustand Ihrer Stimme vertraut machen
und sie behutsam auf ein Niveau bringen, das von der aktuellen Ta-
8
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gesform unabhängig ist und sie leistungsfähig und ausdrucksstark
macht. Über die gezielte Wahrnehmung unseres echten Stimmklangs
kommen wir mit unserer Gestaltungskraft direkt in Verbindung. Das
Sprechtraining für Schauspieler bewirkt nicht zuletzt, dass Sie sich
mit Ihrer Stimme sicher fühlen und Ihr auch in kritischen Situationen
vertrauen können.
Es hat sich als sinnvoll und praktikabel erwiesen, nach einer gewissen
Zeit ein individuelles Einsprechprogramm zu erstellen, das die
wesentlichen Bereiche Atem, Stimme, Artikulation, Raumstimme
und Partnerkontakt abdeckt. Dabei ist immer wieder die Supervision
eines ausgebildeten Sprecherziehers hilfreich, damit sich keine kontraproduktiven
Gewohnheiten einschleichen. Häufig zu hören sind
bei Schauspielern folgende schädliche Stimmeigenschaften: Hauchen,
Näseln, Pressen, Unter- oder Überspannung des Körpers, Nackenfehlhaltungen,
Zungenfehlstellungen usw. Genaueren Einblick
in unser Instrument bietet das Kapitel »Anatomische Körperreise«.
Was will das Buch?
Dieses Buch stellt Ihnen vor allem Übungen vor, die »Wellness« für
die Stimme sind. Sie sind wohltuend und helfen, Körper und Stimme
zu regenerieren. Sie bieten die Möglichkeit, die inneren Prozesse der
Atmung und Stimme neu wahrzunehmen. Sie können dann besser
auf Ihre künstlerischen Ressourcen zurückgreifen. Es handelt sich
um eine Art »Genusstraining«, denn Sie arbeiten, indem Sie genießen.
Dieser Ansatz möchte Verbindungen aktivieren:
• zwischen den einzelnen Organsystemen Gehör, Stimme, Atmung
und Muskelspannung,
• zwischen den Körperresonanzräumen und den akustischen
Gegebenheiten der jeweiligen Bühne,
• zwischen dem Künstler und dem Text.
Durch die im Buch vorgestellten Übungen schärfen Sie Ihre Wahrnehmungsfähigkeit
und vergrößern somit Ihren Handlungsspiel-
raum auf der Bühne. Die schauspielerischen Möglichkeiten werden
reicher, weil die Stimme variabler wird. Sie kann Gefühle genauer
transportieren und differenzierter auf den Partner reagieren. Besonders
die regenerativen Übungen, die Sie entspannen und achtsam
werden lassen, können ein sicheres Fundament sein, das sie
auf Ihrem persönlichen Weg unterstützt und Ihnen immer wieder
klarmacht, was Sie auf der Bühne anzubieten haben – nämlich sich
selbst! Es handelt sich dabei nicht um mechanische Sprechtechnik,
bei der Sie akribisch alle Sprechwerkzeuge durcharbeiten und auswendig
gelernte Abläufe wiederholen. Es geht in diesem Sprechtraining,
wie schon gesagt, vielmehr darum, mit sich selbst in Kontakt zu
treten. Die im Buch vorgestellten Stimmübungen sowie die Übungen
mit der Stille werden Ihnen Sicherheit und Vertrauen in Ihre Stimme
schenken und diese »authentisch« zum Klingen bringen.
Die Methode der Achtsamkeit
Besonders in diesem fordernden Beruf brauchen Sie einen Rückzugsraum,
um zu sich kommen zu können und sich zu stärken. Die
innere Arbeit mit Stimme und Stille stärkt für die Arbeit im Außen.
Die Achtsamkeitslehre kommt aus der fernöstlich buddhistischen
Tradition. Für uns ist im Zusammenhang mit der Schauspielkunst
dabei nicht in erster Linie der philosophisch-religiöse Hintergrund
interessant, sondern die Anwendung dieser Praxis für den Alltag des
Schauspielers.
Achtsam zu sein bedeutet mehr als aufmerksam und konzentriert
zu sein, vielmehr gilt es darüber hinaus:
»[zu] bemerken, was gerade geschieht, und erinnern, was heilsam
ist, was uns und andere heilt.« (Sylvia Wetzel, in: Buddhismus aktuell;
4 / 2011, S. 56)
»Achtsamkeit praktizieren bedeutet, im Hinblick auf die inneren
und äußeren Erscheinungen bewusst und wach zu sein, und zwar
weder bewertend noch vorschnell reagierend, sondern zunächst
10
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akzeptierend, nicht interpretierend.« (Wilfried Reuter, in: Buddhismus
aktuell; 2 / 2012, S. 31)
Achtsamkeit ist in der buddhistischen Tradition eine Hauptlehre. Sie
wird Vipassana genannt, was so viel bedeutet wie »klare Einsicht«.
Schon die alten Buddhisten erkannten, dass die Achtsamkeitspraxis
viele förderliche Funktionen hat. Seit den Siebzigerjahren wächst daher
das Interesse und die Vernetzung mit der westlichen Medizin,
Wissenschaft, Psychologie und Pädagogik. Dieser Einfluss geht sogar
noch weiter: Auch für Künstler kann Achtsamkeit zur essenziellen
Quelle für ihre Gestaltungskraft werden!
Meine sprecherzieherische Erfahrung hat mir Folgendes gezeigt:
Durch die Anwendung der Achtsamkeitspraxis im Stimm- und
Sprechtraining ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die künstlerische
Produktivität und Kreativität spürbar zu erhöhen und dem eigentlichen
Wesen des Künstlers Raum zu geben.
Das Warm-up
Im Kapitel »Das achtsame Warm-up« finden Sie ein Einsprechprogramm
mit über 50 Übungen, die von mir speziell für Schauspieler
entwickelt wurden. Das Grundgerüst meiner Methode bildet
eine aufeinander aufbauende Übungsfolge, in der der Körper achtsam
aufgeweckt wird – zuerst der Atem, dann die Stimme, dann der
Kontakt zum Partner und schließlich die Stimme im Raum. Die Anwendung
an kurzen Gedichten, Monologen und Szenenausschnitten
schaff den Transfer zur Arbeit am eigentlichen Text. Es handelt sich
dabei um einen systemischen Ansatz, bei dem die verschiedenen
Bereiche Stimme, Gehör und Kreativität vernetzt werden. Besondere
Bedeutung kommt dabei der Arbeit mit der Stille zu, da sie den
Schauspieler immer wieder einlädt, sich mit dem »großen Ganzen«
zu verbinden. Ich habe die Übungen so aufbereitet, dass sie als einzelne
Bausteine zu einem Übungsprogramm zusammengesetzt werden
können. Damit können Sie sich selbstständig ein tägliches Aufwärmtraining
bauen, das Sie effektiv auf eine Vorstellung vorbereitet.
Beeinflusst wurde meine Arbeit durch verschiedene bestehende
Methoden: Der sogenannten »Selbstorganisation der Stimme« aus
der funktionalen Methode, die von Gisela Rohmert im Lichtenberger-Institut
entwickelt wurde. Diese wurde von Uta Feuerstein in der
»Stimmig sein«-Methode weitergeführt. Auch aus Techniken des
Obertongesangs, die ich bei Wolfgang Saus kennengelernt habe, finden
Sie von mir für den Schauspieler weiterentwickelte Übungen in
diesem Buch. Ein ebenso anregender Ansatz war für mich die Osteophonie
von François Louche, einem Schüler von Alfred A. Tomatis,
der die Pädagogik des Hörens entwickelt hat.
Da ich täglich neue Entdeckungen mit meinen Studenten und
Schauspielern am Theater mache, ist ein Grundsatz meiner Methode,
dass diese offen und prozesshaft bleibt. Ich stelle Ihnen dazu zwei
aktuelle Arbeiten mit Sprechchören in einem eigenen Kapitel vor.
Dabei wende ich die Methode beim chorischen Sprechen auf der
Bühne an und biete ein chorisches Warm-up an.
Das Buch richtet sich nicht zuletzt an Schauspielstudierende, die
ihre stimmlichen Möglichkeiten entdecken und erweitern möchten!
Alle Übungen sind sowohl für tendenziell verspannte wie auch unterspannte
Typen geeignet, da sie den Muskeltonus regulieren. Das
Schöne ist: Sie wirken regenerierend und aktivierend zugleich!
Die Berufsbezeichnung »Schauspieler« verwende ich im Übrigen
aus Gründen der besseren Lesbarkeit für beide Geschlechter.
Viel Erfolg und Vergnügen!
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DAS ACHTSAME WARM-UP
In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie einen achtsamen Zugang zu
Ihrem Körper, Ihrer Stimme, Ihrer Artikulation, zu Ihrem Bühnenpartner
und zu Ihrer Rolle finden können. Dies erleichtert es, zu einer
»authentischen« Sprechweise zu gelangen, und ermöglicht eine
Anbindung an Ihre kreative Kraft. Auch im beruflichen Alltag können
Sie sich durch diese Übungen mit Ihrem Körper verbinden, sodass
Sie seine aktuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten bestmöglich
erkennen. Da die Übungen verstärkt auch die rechte Gehirnhälfte
einbeziehen, aktivieren Sie im Besonderen Ihre Intuition und Spontaneität.
Sie werden nach und nach Ihr Potenzial entdecken und in
Ihre tägliche Arbeit einbringen können. Ihre Stimme gewinnt an
Leistungsfähigkeit. Der Übungsweg geht von der Innenwahrnehmung
des Körpers und der Stimme hinaus in die Wahrnehmung und
Nutzung des Raums bis zum Kontakt zum Partner. Es wird ein umfassendes
Übungsangebot vorgestellt, aus dem Sie sich nach einiger
Erfahrung einige Übungen auswählen und daraus Ihr persönliches
Warm-up-Programm zusammenstellen können.
Was ist besonders und neu an diesem Einsprechtraining?
Bei einem Sprechtraining für andere redeintensive Berufe wie
Lehrer, Manager oder Radiosprecher ist die Herangehensweise an
das Einsprechen oft eher »handwerklich«: Um uns die Sprechwerkzeuge
bewusst zu machen, bewegen wir diese isoliert und bekommen
dadurch ein Gefühl für den Sprechapparat. Denken Sie zum Beispiel
an Übungen wie Kieferlockerung, Lippengymnastik, Zungenturnen
und einfache Stimmübungen zum Finden der natürlichen Sprechstimmlage
(= Indifferenzlage).
Als Schauspieler haben Sie in Ihrer Ausbildung außerdem wahrscheinlich
zahlreiche bewährte Methoden der Sprecherziehung
kennengelernt: die Linklater-Methode, das Gestische Sprechen, die
Atemrhythmisch angepasste Phonation nach Colenzer und Muhar
oder das Jurij-Vasiljev-Training. Diese Ansätze sollten Sie in Ihrem
Beruf unbedingt weiterverfolgen.
Als bereits künstlerisch tätiger Schauspieler können Sie darüber
hinaus die Möglichkeiten des achtsamen Sprechtrainings bei Ihrem
Warm-up nutzen, das Sie als Person in Ihrem kreativen Prozess unterstützt,
fördert und da abholt, wo Sie gerade stehen.
Wir üben dabei mehr und mehr, unsere körpereigenen Systeme
zu vernetzen und diese selbstständig arbeiten zu lassen. Wir können
zum Beispiel dem Gehör einen großen Teil der »Verantwortung«
beim Sprechen im Theater übergeben. Nicht primär der Wille regiert
in diesen Übungen, sondern mehr und mehr zusätzlich die Intuition.
Mit Intuition meine ich die Fähigkeit, im Moment offen zu sein
für die stimmigste Entscheidung. Der schöpferische Prozess beginnt
also nicht erst in der Ihnen bevorstehenden Szenenprobe oder gar in
der Vorstellung, sondern schon beim Einsprechen! Dabei spulen wir
nicht oberflächlich einen vorgegebenen Übungskanon ab, sondern
gehen bei jeder Übung in die Tiefe und bleiben neugierig auf die unvorhersehbaren
Erfahrungen in der »Welt der Stimme«.
Nach meiner Erfahrung brauchen sowohl Studierende als auch
Schauspieler im Beruf mehrere Übungsstunden, um die Wirkung der
Einsprechübungen zu spüren. Es handelt sich also um nachhaltige
Übungen, die prozesshaft sind, sowie gleichzeitig um Basisübungen,
um das Instrument Stimme überhaupt erst intensiv kennenzulernen.
Folgende Entspannungsübungen sind Weiterentwicklungen von
Übungen der Feldenkrais-Methode, der Franklin-Methode und anderer
bekannter Körpertechniken. Die Methodik und Herkunft meiner
Stimmübungen wurde bereits auf den vorigen Seiten erwähnt.
Ich habe alle Übungen mit Blick auf die Bedürfnisse des Schauspielers
im Beruf weiterentwickelt und mit neuen Namen versehen.
Damit Sie eine konkrete Vorstellung von der Methode bekommen
können, werden viele Übungen auch auf den Tracks zum Buch angeleitet.
Sie können sie über den QR-Code hinten im Buch herunterladen.
Achten Sie beim Üben auf bequeme Kleidung, insbesondere
auf eine dehnbare Hose.
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Übungen für Körper und Atem
• Sandstrand
Track 2
Legen Sie sich auf den Boden oder eine Matte und spüren Sie die
angenehme Schwere Ihres Körpers. Nehmen Sie sich dazu ein paar
Atemzüge Zeit. Ihre Muskeln dürfen passiv sein und müssen nicht
arbeiten. Sicher gibt es Körperstellen, die spürbar schwer auf der
Matte liegen, und andere, die sich im Moment noch eher leicht und
»undeutlich« anfühlen. Stellen Sie sich vor, dass Sie am Strand liegen.
Der Sand gibt unter Ihnen nach. Jede Körperstelle, die mit dem Sand
Kontakt hat, erzeugt einen charakteristischen Abdruck. Lassen Sie
jede Stelle ihres Körpers bewusst in den Sand sinken – Ihre Muskeln
lösen sich dabei langsam und schrittweise. Sie nehmen Kontakt zu
Ihrem Körper auf, und andere Gedanken, die Sie gerade beschäftigen,
verlieren für diese Zeit an Wichtigkeit.
• Schneemann
Stellen Sie sich vor, es ist März und der letzte Schnee beginnt zu
tauen: Fühlen Sie sich nun als umgefallener Schneemann, der von
den Sonnenstrahlen erwärmt wird. Nach und nach dürfen Ihre Muskeln
in Richtung Boden schmelzen. Vielleicht können Sie bemerken,
dass dies beim Ausatmen besonders gut gelingt. Alles wird weich
und warm. Falls Sie bei diesen entspannenden Übungen Ihre Magengeräusche
hören, so ist das ein positives Signal Ihres Körpers,
welches zeigt, dass das vegetative Nervensystem mit der Verdauung
zu arbeiten beginnt – weil Sie es ihm gestatten!
Rücken, die Hände machen sich selbstständig und zucken nervös,
die Augen wollen offen bleiben und die Kontrolle behalten, die Gedanken
schweifen ab oder plötzliche Müdigkeit tritt auf. Nach einigen
Übungseinheiten lassen sich die Teilnehmer jedoch immer mehr
auf diese innerliche Arbeit ein und finden Geschmack an diesem
Stundeneinstieg. Die Kontaktaufnahme mit dem Körper klappt von
Mal zu Mal besser. Das stille Üben im Liegen fällt leichter, weil sich
der Anspruch an die Übungen verändert hat und der Körper seine
wahren Bedürfnisse ausdrückt. Das »Nichtstun« hat sich verwandelt:
Wertvolle Prozesse werden in Gang gebracht. Wir begegnen dem
Körper auf eine wertschätzende Art. Aus Müdigkeit entsteht somit
Regeneration und Kraft. In diesem Rückzug vor der Umwelt tanken
die Teilnehmer Energie für die szenische Partnerarbeit. Sie laden ihren
Akku auf für die Ensemblearbeit.
• Schoko-Nikolaus
Wir benutzen eine Vorstellungsübung, um Räume im Körper zu
entdecken, die wir später als Resonanzräume für die Stimme nutzen
können. Sollten Ihre Gedanken dabei abschweifen, so führen Sie diese
geduldig und sanft wieder zur Vorstellung und Empfindung
zurück.
Verwandeln Sie sich in eine süße Köstlichkeit: Stellen Sie sich vor,
Ihr ganzer Körper ist ein großer Hohlraum, der nur aus oberen, unteren
und seitlichen Wänden besteht. Werden Sie in der Vorstellung zu
einem Schokoladen-Nikolaus. Dieser große Raum in Ihrem Körper
fühlt sich angenehm weit und warm an. Beginnen Sie langsam, aber
Falls Sie mit Entspannungstechniken noch nicht vertraut sind, könnte
es sein, dass Sie das stille Liegen und scheinbare »Nichtstun« anfangs
irritiert. Die meisten von uns sind es nicht gewohnt, die körperliche
Wahrnehmung so in den Vordergrund zu rücken und nach
innen zu richten, ohne sich dabei aktiv zu bewegen. Auch bei Studierenden
kann ich immer wieder beobachten, dass sie anfangs mit
den Übungen im Liegen überfordert sind – plötzlich zwickt es im
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genau, diese Körperräume atmend zu ertasten. Atmen Sie in der Vorstellung
zunächst in Ihren rechten Arm hinein, dann in den Rumpf,
in das linke Bein usw. Bleiben Sie einige Atemzüge lang in diesem
Gefühl der Weite. Wenn Sie zuletzt das gesamte Volumen dieses
Hohlraumes empfinden, so wandeln Sie dieses in Klang um, indem
Sie herzhaft und genüsslich gähnen. Der ganze Schoko-Nikolaus
tönt. Beachten Sie dabei, dass Sie beim Gähnen die Stimmbänder
nicht plötzlich verschließen, sondern die Kehle durchlässig und offen
lassen wie ein Rohr. Beim spontanen Gähnen passiert es nämlich oft,
dass wir die Luftsäule abschließen und ruckartig wieder lösen, also
gleichsam abklemmen. Beim »Übungsgähnen« würde dies aber die
gefundenen Räume eher wieder verengen. Bemühen Sie sich deshalb
um einen lauten, weichen und fließenden Gähnton.
• Beckenkissen
Track 3
Legen Sie die Hände unter das Becken, die Handflächen sind zum
Boden gerichtet. Spüren Sie die Schwere des Beckens und lassen Sie
das ganze Gewicht auf die Hände sinken. Indem wir unsere Schwere
spüren, gewinnen wir ein Bewusstsein für unsere physische Substanz.
Alle »Körpermaterialien« wie Knochen, Muskeln, Fett, Gewebe,
Organe usw. können wir uns bewusster machen. Je mehr Sie
Ihren sogenannten Körperschwerpunkt spüren, desto kerniger und
kraftvoller kann daraus später die Stimme entstehen. Sie können sozusagen
jede Körperzelle gebrauchen, um Ihrem Bühnenpartner Ihre
stimmliche Substanz entgegenzusetzen. Ihre »Masse« verleiht Ihrer
Stimme Gewicht!
Geben Sie nun in dieser Haltung Ihrer Atmung Raum, das heißt,
dass Sie die Bauchmuskulatur und die Rückenmuskulatur für die
Atembewegung freigeben. Auch der Beckenboden sollte elastisch
sein und die Bewegungen des Zwerchfells nicht blockieren, sondern
unterstützen. Nehmen Sie nach ca. einer Minute die Hände unter
dem Becken heraus und legen Sie diese wieder neben dem Körper
ab. Wie hat sich der Kontakt des Beckens zum Boden verändert? Liegen
Sie »satter« am Boden? Fühlt es sich an, als liege Ihr Becken in
einer Erdmulde? Ist dieser Körperteil spürbar schwerer geworden?
Hat sich Ihre Atmung in Richtung Becken sanft vertieft?
Prägen Sie sich die gewonnenen Erfahrungen ein – denn wir können
sie besonders beim lauten Sprechen gebrauchen, um das Becken
als den Kraftquell der Stimme zu nutzen. Unser Becken ist der Anker,
der verhindert, dass uns die Stimme nach oben rutscht und piepsig
und flach wird. Wir können mehr und mehr innerhalb einer vollen
Resonanz modulieren, die mühelos alle Räume des Körpers nutzt.
• Achtsames Atmen
Physiologisch betrachtet arbeitet das Zwerchfell, das zwischen
Brustbein, Wirbelsäule und Flanken angewachsen ist, wie ein
Sprungtuch, welches hin- und herschwingt. Wenn wir einatmen,
schwingt das Zwerchfell in Richtung Beckenboden, wenn wir ausatmen,
schwingt es in Richtung Herz. Begleiten Sie diese Bewegung
gedanklich einige Male. Da wir das Zwerchfell selbst nicht spüren
können, nehmen wir seine Bewegung nur sekundär über die Bauchdecke
war.
Im Alltag verhält sich unser Zwerchfell oft wie ein eingesperrter
Vogel, der nervös umherflattert, weil er herauswill. In der Übung
können Sie erleben, wie dieser Vogel als Adler seine Schwingen ausbreitet,
durch die Luft segelt und sich vom Wind tragen lässt.
Verfolgen Sie nun den gesamten Weg, den die Luft macht: Riechen
Sie die Luft, die in die Nase eintritt – spüren Sie, wie sie durch den
Rachen fließt – in den Kehlkopf gelangt – die geöffnete Stimmritze
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mit den Stimmbändern passiert – die Luftröhre entlangstreicht – in
die Bronchien und die Lunge gesogen wird. Alles geschieht durch die
Kraft des Zwerchfells. Der Bauch weitet sich wie ein Luftballon.
Beobachten Sie umgekehrt auch die Ausatmung, wenn das
Zwerchfell erschlaff: Der Bauch fällt zusammen – die Luft strömt
aus der Lunge über die Bronchien durch die Luftröhre – an den geöffneten
Stimmbändern vorbei – durch den Rachen und schließlich
durch die Nase hinaus.
Dies ist der Vorgang der sogenannten Ruheatmung. Wir üben zunächst
mit ihr, um die später folgende Sprechatmung vorzubereiten.
Die beiden wesentlichen Aspekte sind dabei, dass uns die Einatmung
Weite für die Stimme gibt und die Ausatmung uns die Masse unseres
Körpers verdeutlicht. Beobachten Sie Ihre Ruheatmung, ohne einzugreifen.
Spüren Sie nun einige Male beim bewussten Atmen folgender
»Formel« nach:
Einatmen gibt Weite und Raum.
Ausatmen schenkt Lösen und Schwere.
»[die] Atemempfindung zu beobachten, mit der Aufmerksamkeit
den Körper von den Zehen bis zum Scheitel in einer Haltung der
Akzeptanz zu durchwandern (Body Scan).« (Ulrich Ott, in: Buddhismus
aktuell; 3 /2012, S. 7)
• Vorhang auf
Streichen Sie mit den Fingerkuppen beider Hände Ihre Stirn aus,
als ob Sie einen Vorhang oberhalb der Nase zu beiden Seiten öffnen
wollten. Beginnen Sie in der Mitte der Stirn und streichen Sie
rechts und links behutsam auseinander. Sie entspannen dadurch die
Gegend des sogenannten Stirnlappens – dahinter liegt der stammesgeschichtlich
jüngste Teil der Großhirnrinde, der Neokortex. Dieser
reguliert wichtige kognitive Prozesse. Streichen Sie beim nächsten
Mal weiter abwärts bis zum Kiefer und dehnen Sie die Kaumuskulatur.
Diese beiden Stellen sind bei intellektuell geforderten Menschen
oft angespannt. Die Übung regt die Durchlässigkeit dieser wichtigen
Stellen an.
• Reinigung und Erfrischung
Track 4
Besonders wenn wir im Stress sind, tut es gut, sich an den eigentlichen
Zweck der Atmung zu erinnern: Wenn wir einatmen, versorgt
der Sauerstoff in der Luft unsere Zellen mit neuer Energie. Wenn wir
ausatmen, geben wir alles, was wir nicht mehr brauchen, an die Ausatemluft
ab. Nehmen Sie sich einige Atemzüge Zeit und stellen Sie
sich vor, wie der Atem in jener Weise jede Zelle des Körpers versorgt
und wie dieser Stoffwechsel funktioniert. Der Austauschprozess der
Atmung verbindet uns auch mit der Umwelt und mit anderen Menschen
– schließlich teilen wir mit ihnen die Atemluft.
Auch in buddhistischen Meditationen werden derartige Achtsamkeitsübungen
zum Körpergewahrsein praktiziert. Im Westen wurde
die therapeutische Wirkung dieser Übungen erkannt und man
wendet sie als Mindfulnessbased Stress Reduction (Stressbewältigung
durch Achtsamkeit) an. Es gilt dabei:
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• Schafsgesicht
Lösen Sie nun bewusst Ihr ganzes Gesicht: Lassen Sie die Augen
in die Augenhöhlen zurücksinken und entspannen Sie noch einmal
die Stelle zwischen den Augen. Der Mund darf sich nun leicht öffnen,
als seien Sie eingeschlafen. Sie können sich auch vorstellen, dass Sie
eine Maske aus Wachs auf Ihrem Gesicht haben, die in der Sonne
nach und nach weicher wird und schließlich ganz schmilzt. Oft wird
uns bei dieser Übung klar, wie viel Spannung wir für unsere Mimik
und das Sprechen benötigen. Unsere mehr als 36 Gesichtsmuskeln
arbeiten den ganzen Tag. Wenn wir diese Muskulatur von Zeit zu
Zeit bewusst lösen, wird sie flexibler und kann sich der jeweiligen
Kommunikationssituation besser anpassen. Wir können mimisch
differenzierter reagieren.
• Ohrmeditation
Track 5
Wir versuchen, uns unser Ohr genau vorzustellen, um somit Achtsamkeit
für dieses wichtige Organsystem zu üben und gezielt mit ihm
in Verbindung zu treten. Dabei liegen (oder sitzen) Sie und gehen die
einzelnen Stationen nur gedanklich durch und versuchen langsam,
Schritt für Schritt, die genauen Orte im Ohr zu finden.
Beginnen wir beim Außenohr: Fühlen Sie, wie groß Ihre Ohrmuschel
ist, ohne diese zu berühren. Wie ist sie genau geformt? Spüren
Sie weiter zum Gehörgang: Wie lang und weit oder eng ist er?
Gehen Sie dann mit der Aufmerksamkeit weiter zum Mittelohr:
Wo genau befindet sich wohl Ihr Trommelfell? Erahnen Sie die Stelle
in Ihrem Körper. Stellen Sie sich dann die winzigen Gehörknöchelchen
Hammer, Amboss und Steigbügel vor, die während des Hörvorgangs
ständig in Bewegung sind. Spüren Sie dann die zwei kleinen
Muskeln, die das Gehör schützen, wenn ein Reiz zu stark wird.
Gehen Sie mit der Vorstellung noch weiter bis ins Innenohr hinein:
Orten Sie die Schnecke mit den Sinneshärchen, welche die Reize
in elektrische Impulse umwandeln und so ans Gehirn weiterleiten.
Schicken Sie nun Entspannung und Aufmerksamkeit in Ihre Ohren.
Vielleicht sind Ihre Ohren durch diese Übung bewusster, wacher,
wärmer oder sogar größer geworden … Eine anschauliche Abbildung
des Gehörs finden Sie im Kapitel »Anatomische Körperreise«.
• Meeresmuschel
Track 6
(Siehe auch das Foto im Kap.
»Vor dem Auftritt«, S. 110 Mitte)
Vielleicht kennen Sie das Kinderspiel,
bei dem man eine Muschel ums Ohr legt
und dem Meeresrauschen darin lauscht.
Den Effekt dessen machen wir uns für die
Stimme nutzbar: Legen Sie die Hände wie
Schalen um Ihre Ohren. Nehmen Sie wahr,
was Sie hören. Vielleicht können Sie bemerken,
wie der Restschall, den es in fast jeder Raum-
Situation gibt, von Ihren Händen reflektiert, gebündelt und verstärkt
wird. Sie brauchen dazu einen relativ stillen Raum, in dem aber zumindest
ein leises Geräusch, z. B. Heizungsrauschen, Straßengeräusche,
Baumrascheln oder Regen zu hören ist. In einem schalltoten
Raum wie z. B. einem Tonstudio ist die Übung schwieriger. Wenn
Sie also den reflektierten Restschall wahrnehmen, können Sie die
Haltung der Handflächen etwas variieren, ohne den Abstand zu verändern
– von gebogen zu gerade usw. Bewegen Sie dann die Hände
langsam von den Ohren weg und gleich zurück. Können Sie Unterschiede
in der Schallreflexion bei den Positionen bemerken? Spielen
Sie nun mit der Veränderung der Hände und machen Sie eine kleine
musikalische »Restschallimprovisation«, die nur Ihre Ohren hören
können!
Suchen Sie dann den Abstand, bei dem die Hände keine Auswirkung
mehr haben. Dies wird vermutlich bei ca. 12 cm sein.
Ihre Ohren werden durch die Übung angeregt. Es ist beinahe so,
als ob sie wachsen würden. Der ganze Muskeltonus im Atem- und
Stimmapparat reagiert auf das achtsame Lauschen, indem er sich
fein reguliert. Sie können nun auch ausprobieren, wie Ihre Stimme
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auf diese Anregung der Ohren reagiert. Vielleicht hört sie sich tiefer,
satter, entspannter oder kompakter an?
Durch die »Meeresmuschel« gewinnen auch die Sprechpausen an
Atmosphäre. Sie werden dichter und bereiten den nächsten Gedanken
und Stimmimpuls vor.
Das Ohr ist auch ein psychisches Organ. Wenn wir ihm zu viel zumuten,
reagiert es »beleidigt«. Das heißt, wenn wir über längere Zeit
Straßenlärm, Kindergeschrei, Motorengeräuschen oder elektronischem
Surren von Geräten ausgesetzt sind, fühlen wir uns schlapp
und leer, reagieren gereizt oder müde. Da Gehör und Stimme zusammenarbeiten,
leidet die Stimme in diesen Situationen ebenso. Das
Ohr ist das empfangende Organ, die Stimme das sendende.
Deshalb ist es wichtig, Stimmarbeit immer eng mit Hörarbeit zu
vernetzen. Im eigentlichen Sinne ist es keine »Arbeit«, sondern eine
Übung der Achtsamkeit, wie sie ebenso in Meditationstechniken
praktiziert wird. Diese kann zwar auch auf eigene Weise anstrengend
sein, bewirkt aber, dass wir uns danach frei und gestärkt fühlen. Für
Schauspieler stellt die Kombination von Sprech- und Hörübungen
eine wirksame Art des Warm-ups dar, um sich auf das Sprechen auf
der Bühne vorzubereiten oder aber die ermattete Stimme neu zu
beleben.
• Das »ffff-Seil«
Track 7
(Siehe Abb. S. 112 links)
Wir regen in der folgenden einfachen Übung Ohren, Artikulation
und Zwerchfell an und stimmen diese Bereiche aufeinander ab. Wenn
Sie grundsätzlich eher unterspannt sind, öffnen Sie die Augen dabei.
Wenn Sie grundsätzlich eher angespannt sind, lassen Sie die Augen
geschlossen. Bei einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Übung
können wir mehrere Effekte beobachten. Haben Sie bereits öfter mit
dem »ffff-Seil« geübt, werden Sie die Vielschichtigkeit deutlich erleben:
Lassen Sie den Einatem einfließen, sodass sich die Bauchdecke
sanft wölbt. Atmen Sie auf ein sehr langes, gedehntes und gut dosier-
tes, gleichmäßiges »f« aus. Stellen Sie sich vor, dass eine kraftvolle,
aber gleichmäßig fließende Fontäne nach oben steigt. Im Gegensatz
zur Ruheatmung üben wir nun die Sprechatmung, indem wir den
Ausatem nicht passiv ausströmen lassen, sondern ihn aktiv verlängern.
Das Zwerchfell wird trainiert, da es sich nur ganz langsam und
gleichmäßig entspannen darf. Im Gesangsunterricht und teilweise
in der Sprecherziehung nennt man dies etwas veraltet die »Stütze«.
Dem Schauspieler ermöglicht sie, einen langen gesprochenen Satz
physisch zu bewerkstelligen. Das bedeutet, dass Sie auch bei einem
weitschweifigen Gedankengang beispielsweise von Kleist nicht leise
und atemlos werden!
Die Schultern sind weiterhin passiv und liegen schwer auf der
Matte. Der Kehlkopf ist entspannt – die Stimmbänder haben nichts
zu tun und befinden sich daher in der Atemstellung. Die Artikulationsorgane
dagegen sind aktiv: Die Unterlippe schmiegt sich mit
ihrer Innenseite an die oberen Schneidezähne und bildet eine Enge.
Die Luft wird gegen einen spürbaren Widerstand durch diese Enge
geschoben. Es entsteht das für »f« typische Reibegeräusch. Stellen Sie
sich vor, dass Sie ein gleichmäßig dickes Seil in Richtung Zimmerdecke
spannen. Dieses hat keine Risse und Knoten! Hören Sie sich
dabei genau zu und genießen Sie, dass Ihr Ohr durch die hohen Frequenzen
dieses Reibelaut-Geräusches angeregt wird. Wiederholen
Sie den Vorgang einige Male. Sie können auch Ihre Hände auf die
Bauchdecke legen, um die unterschiedlichen Spannungszustände zu
beobachten. Die Einatmung ist immer weich und kommt von selbst.
Die Bauchdecke wölbt sich in Richtung Zimmerdecke. Beim Ausatmen
auf »ffff« sinkt sie langsam in Richtung Wirbelsäule. Da Sie
sich bei dieser Übung noch nicht in einem Sprechdenkprozess befinden
– also nicht auf einen Partner reagieren müssen –, haben Sie
jedes Mal Zeit, auf den Einatem zu warten und ihn aufmerksam zu
genießen. Lassen Sie sich auftanken – jedoch ohne zu übertanken:
Wenn Sie sich dabei »ertappen«, dass Sie den Einatem geräuschvoll
einziehen, so sollten Sie das »f« nicht so lange dehnen und den Einatem
rechtzeitig kommen lassen.
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Dank
Herzlichen Dank an meine Schauspielstudierenden Konstantin
Shklyar und Alexandra Gottschlich, die sich als Fotomodelle für das
Kapitel »Vor dem Auftritt« zur Verfügung gestellt haben.
Für die kreative Mitarbeit im Tonstudio danke ich den Schauspielstudenten
Sebastian Schmeck, Okan Cömert und Silas Breiding.
Für die kritischen Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln danke
ich Dr. Michael Bernhard, Sebastian Bernhard, Prof. Annett Matzke,
Simone Dorenburg und Mareike Tiede.
Dem Volkstheater Wien danke ich für die Genehmigung, die Szenenfotos
auf S. 129, 132, 138 und 146 sowie die Textauszüge aus seiner
Antigone-Fassung verwenden zu dürfen.
Tracks zum Buch
Die Tracks zum Buch sind
über diesen QR-Code auf der
Website der Seemann Henschel
Verlagsgruppe herunterladbar.
Zur Autorin
Barbara Maria Bernhard ist Diplom-
Sprecherin und Di plom-Sprecherzieherin.
Sie studierte an der Hochschule für Musik
und Darstellende Kunst Stuttgart das
Fach Sprecherziehung mit akademischkünstlerischem
Abschluss. Unter der Intendanz
von Michael Schottenberg war
sie Sprechtrainerin des Volkstheater Wien
und betreute zahlreiche Inszenierungen. Sie unterrichtet mittlerweile
seit über zwanzig Jahren am Max Reinhardt Seminar Studierende
der Studienrichtung Schauspiel und Regie im Fach Sprechen / Sprachgestaltung.
Darüber hinaus ist sie Lehrbeauftragte an zwei weiteren
Instituten der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie
coacht Journalisten für Radio- und Fernsehsender und spricht selbst
wissenschaftliche Beiträge, verschiedene Hörbücher und Podcasts.
Dieses Buch ist bereits ihr viertes Fachbuch zum Thema Sprechen.
Mehr unter: www.sprechtraining-bernhard.at
Foto: Fotostudio Brejcha, Wien
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Trackliste
Titel
Dauer
01 Goethe-Rap 00:43:74
02 Sandstrand 01:15:51
03 Beckenkissen 02:10:27
04 Reinigung und Erfrischung 01:12:69
05 Ohrmeditation 01:29:05
06 Meeresmuschel 06:54:01
07 ffff-Seil, ssss-Seil, sch-Seil 03:13:14
08 Päckchenhaltung 01:50:62
09 Pulston 01:18:62
10 Käferhaltung 01:24:57
11 Fersensitz 00:22:65
12 Katzenjammer – »Mieaou« 01:02:34
13 Zehenballensitz 00:45:03
14 Kichern 00:23:53
15 Tennisball 02:02:25
16 Bouche fermée 01:30:00
17 Clown 01:01:63
18 Handyübung 01:41:05
19 Klangbad 01:39:08
20 Sprechgesang 01:17:72
21 Rücken zur Ecke 00:42:00
22 Elefant 01:18:02
23 Verstecken 00:55:73
24 UNTERTAGBLUES (19. Szene) 02:05:15
© Alle Rechte bei und vorbehalten
durch den Suhrkamp Verlag Berlin
25 Pingpong 01:23:26
26 Handwand 00:49:35
27 Bürger-Text 01:24:32
28 Bürger-Rap 00:52:42
29 Ventiltönchen 01:24:00
30 Flüstern 00:58:13
31 ORF 00:55:62
32 Dirigieren 01:30:00
33 Goethe-Rap: Variation 00:54:03
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