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Sprechtraining für Schauspieler

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Barbara Maria<br />

Bernhard<br />

<strong>Sprechtraining</strong><br />

<strong>für</strong><br />

<strong>Schauspieler</strong><br />

Ein Übungsprogramm <strong>für</strong><br />

Körper, Stimme und Gehör<br />

HENSCHEL


Barbara Maria Bernhard<br />

<strong>Sprechtraining</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong><br />

Ein Übungsprogramm <strong>für</strong> Körper,<br />

Stimme und Gehör<br />

HENSCHEL


Inhalt<br />

Einführung 7<br />

Achtsames <strong>Sprechtraining</strong> – die Methode<br />

<strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong> im Beruf 7<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies<br />

gilt auch <strong>für</strong> Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und <strong>für</strong> die Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

ISBN 978-3-89487-735-4<br />

© 2014, 2021, 2022 by Henschel Verlag<br />

in der E. A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig,<br />

Lektorat: Anja Herrling<br />

Umschlaggestaltung: Ingo Scheffer, Berlin<br />

Titelbild: © Barbara Maria Bernhard<br />

Abbildungen im Innenteil:<br />

S. 129, 132, 138, 146: © Volkstheater Wien<br />

Alle übrigen Abbildungen: Fotostudio Helmreich,<br />

© Barbara Maria Bernhard<br />

Satz und Gestaltung: Das Herstellungsbüro, Hamburg<br />

Printed in the EU<br />

Das achtsame Warm-up 14<br />

Übungen <strong>für</strong> Körper und Atem 16<br />

Übungen <strong>für</strong> Stimme und Gehör 28<br />

Übungen <strong>für</strong> die Stimme im Raum 55<br />

Übungen <strong>für</strong> die Stimme im Partnerkontakt 69<br />

Übungen mit Stimme und Stille 74<br />

Übungen zur Strukturierung von Gedanken 78<br />

Übungen zum Führen durch Artikulation 83<br />

anatomische Körperreise 89<br />

Grundlagen zu Aufbau und Funktion des Stimmorgans 90<br />

Übungen zum Erleben der Physiologie 100<br />

Vor dem auftritt 109<br />

Achtsames <strong>Sprechtraining</strong> als Einsprech programm 109<br />

Chorisches Sprechen 114<br />

Die Herangehensweise 115<br />

Die sprecherischen Gestaltungsmittel 117<br />

Die Wahrnehmungsschulung 119<br />

Einsprechübungen <strong>für</strong> Sprechchöre 120<br />

Chorisches Sprechen am Beispiel eines antiken<br />

Stückes: Antigone 128<br />

Chorisches Sprechen am Beispiel eines zeitgenössischen<br />

Stückes: Das letzte Feuer 138<br />

www.henschel-verlag.de


Anhang<br />

Literatur 148<br />

Arbeitstexte 149<br />

Dank 150<br />

Zur Autorin 150<br />

Tracks zum Buch 151<br />

Trackliste 152<br />

EInführung<br />

achtsames <strong>Sprechtraining</strong> – die Methode<br />

<strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong> im Beruf<br />

Für einen im Engagement stehenden <strong>Schauspieler</strong> bedeutet der Alltag<br />

harte Arbeit – und zwar körperlich und psychisch: Die Probenzeiten<br />

betragen täglich bis zu sieben Stunden. Die Abende sind mit<br />

Vorstellungen aus dem Repertoire ebenfalls gefüllt.<br />

Diese Arbeitszeiten sind anstrengend und bieten wenig Raum <strong>für</strong><br />

persönlichen Rückzug und Regeneration. Gerade dies ist aber <strong>für</strong><br />

eine gesunde Stimme unerlässlich. Denn wie soll eine ständig beanspruchte<br />

und teils bis an die Grenze der Belastbarkeit benutzte<br />

Stimme persönlich, ausdrucksstark, vielseitig und kreativ bleiben?<br />

Ein Blick hinter die Kulissen<br />

In den ersten Probenwochen sind die <strong>Schauspieler</strong> dabei, ihre Figuren<br />

zu finden und gemeinsam mit dem Regisseur Situationen zu entwickeln,<br />

um diese nach und nach so zu fixieren, dass sie auf der Bühne<br />

als Szenen »funktionieren« und wiederholbar sind. Im Lauf der<br />

Proben werden diese Szenen mit der Bühnentechnik und den Lichtstimmungen<br />

koordiniert. Letztendlich ist möglicherweise kein Gang<br />

des <strong>Schauspieler</strong>s mehr spontan und kein Satz mehr improvisiert,<br />

da alles minutiös aufeinander abgestimmt ist. Alle Mitarbeiter einer<br />

Theaterproduktion, von der Souffeuse bis zum Tonmeister, sind<br />

voneinander abhängig und gemeinsam <strong>für</strong> das Gelingen einer Vorstellung<br />

verantwortlich. Gleichzeitig besteht der Anspruch, dass die<br />

<strong>Schauspieler</strong> schöpferisch tätig sind und Einzigartiges, ja Genia les in<br />

jeder Vorstellung leisten. Die Verlässlichkeit auf der Bühne und die<br />

Bereitschaft, sich auf den Augenblick und den Bühnenpartner voll-<br />

7


ständig einzulassen, sind fordernde und nicht endende Aufgaben,<br />

denen Sie sich als <strong>Schauspieler</strong> immer wieder neu stellen müssen:<br />

»In seiner Arena, der Bühne, setzt der <strong>Schauspieler</strong> nicht weniger<br />

als sich selbst mit Haut und Haaren aufs Spiel. […] Ist er nicht Hase<br />

und Igel in einer Person, ständig im Wettstreit mit sich selbst?«<br />

(Granzer, <strong>Schauspieler</strong> außer sich; S. 65 u. S. 74)<br />

Auch sind Sie als <strong>Schauspieler</strong> in Ihrem Beruf täglich der Kritik anderer<br />

ausgesetzt und zusätzlich Ihrer Selbstkritik:<br />

»Wir wissen theoretisch, dass jeder <strong>Schauspieler</strong> seine Kunst täglich<br />

in Frage stellen muss – genau wie Pianisten, Tänzer, Maler –<br />

und dass er sonst fast sicher stagnieren, Klischees entwickeln und<br />

irgendwann einen Niedergang erleben wird.« (Peter Brook im<br />

Vorwort zu: Jerzy Grotowski, Für ein armes Theater; S. 12)<br />

Sich infrage zu stellen gehört zu Ihrem Beruf also existenziell dazu.<br />

Dieses ständige Bewertetwerden kann auf Dauer dazu führen, dass<br />

Sie sich mehr und mehr über die Sicht der anderen, also des Regisseurs<br />

oder des Publikums, definieren. Lob und Verriss können zu<br />

einer Droge werden, die abhängig macht und somit unfrei:<br />

»In der Theorie klingt die physische Exponiertheit der <strong>Schauspieler</strong><br />

weitaus harmloser, als sie sich am eigenen Leib anspürt. Die<br />

Intimität, die ausgestellt wird, ist äußerst fragil, das Risiko hoch<br />

und immer brisant, da es nie zeitversetzt, sondern immer im Augenblick<br />

stattfindet. […] Er selbst kann nicht zurücktreten, um<br />

zu prüfen, was er da eben gemacht hat. Er bleibt distanzlos in der<br />

eigenen Nähe befangen. Er bekommt seine Arbeit nie leibhaftig<br />

vor den eigenen Blick, immer nur die anderen. Das macht extrem<br />

abhängig von dem, was man über die eigene Wirkung zu hören<br />

bekommt, und es macht extrem sensitiv.« (Granzer, <strong>Schauspieler</strong><br />

außer sich; S. 30)<br />

Das Arbeitsmaterial Stimme<br />

»[…] der <strong>Schauspieler</strong> [ist] Arbeiter, Werkzeug, Material und<br />

Produkt zugleich! Obendrein muss er sich in das Ensemble einer<br />

Aufführung fügen! Und er ist Mensch mit persönlichen Erfahrungen,<br />

Gedanken und Gefühlen, also mit all dem, was ihn geistig<br />

bewegt.« (Ebert, ABC des Schauspielens; S. 28)<br />

Als <strong>Schauspieler</strong> müssen Sie nicht nur große Räume mit Ihrer Stimme<br />

füllen. Sie müssen oft Menschen in Extremsituationen darstellen,<br />

ohne dabei Ihrer Stimme dauerhaft zu schaden.<br />

Ihre Stimme ist Ihr persönliches Instrument und eines Ihrer<br />

wichtigsten Arbeitsmaterialien. Sie muss Ihnen zur Verfügung stehen<br />

– auch in Erkältungszeiten, wenn alle um Sie herum husten und<br />

schniefen. Sie muss auch dann funktionieren, wenn Sie sich privat in<br />

einer schwierigen Situation befinden. Sie sind auf Ihre Stimme existenziell<br />

angewiesen.<br />

Ihre Stimme verdient es daher, besonders gepflegt zu werden. Viele<br />

Menschen schenken ihrer Stimme aber nur dann Beachtung, wenn<br />

sie nicht mehr so funktioniert, wie sie es gerne hätten. Sie meldet sich<br />

dann unangenehm dünn, kraftlos, heiser, gedrückt, mitunter sogar<br />

schmerzvoll.<br />

Es ist besonders im <strong>Schauspieler</strong>beruf wichtig, grundsätzlich achtsam<br />

mit der Stimme umzugehen, sie aufzuwärmen, zu pflegen und<br />

überhaupt in ständigem Kontakt mit ihr zu bleiben und daraus die<br />

künstlerische Arbeit zu bewältigen. Mit der eigenen Stimme in Kontakt<br />

zu sein bedeutet letzten Endes auch, mit sich selbst in Kontakt<br />

zu bleiben. Besonders <strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong> ist die Arbeit an sich selbst,<br />

unabhängig vom Ego, unerlässlich, um aus den künstlerischen Ressourcen<br />

zu schöpfen.<br />

Ein regelmäßiges achtsames Stimmtraining kann dazu beitragen,<br />

dem professionellen Anspruch des Schauspielalltags gerecht zu werden<br />

und gleichzeitig einer Überlastung oder gar einem Burnout-<br />

Syndrom vorzubeugen. Dazu ist es notwendig, dass Sie sich vor jeder<br />

Probe mit dem momentanen Zustand Ihrer Stimme vertraut machen<br />

und sie behutsam auf ein Niveau bringen, das von der aktuellen Ta-<br />

8<br />

9


gesform unabhängig ist und sie leistungsfähig und ausdrucksstark<br />

macht. Über die gezielte Wahrnehmung unseres echten Stimmklangs<br />

kommen wir mit unserer Gestaltungskraft direkt in Verbindung. Das<br />

<strong>Sprechtraining</strong> <strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong> bewirkt nicht zuletzt, dass Sie sich<br />

mit Ihrer Stimme sicher fühlen und Ihr auch in kritischen Situationen<br />

vertrauen können.<br />

Es hat sich als sinnvoll und praktikabel erwiesen, nach einer gewissen<br />

Zeit ein individuelles Einsprechprogramm zu erstellen, das die<br />

wesentlichen Bereiche Atem, Stimme, Artikulation, Raumstimme<br />

und Partnerkontakt abdeckt. Dabei ist immer wieder die Supervision<br />

eines ausgebildeten Sprecherziehers hilfreich, damit sich keine kontraproduktiven<br />

Gewohnheiten einschleichen. Häufig zu hören sind<br />

bei <strong>Schauspieler</strong>n folgende schädliche Stimmeigenschaften: Hauchen,<br />

Näseln, Pressen, Unter- oder Überspannung des Körpers, Nackenfehlhaltungen,<br />

Zungenfehlstellungen usw. Genaueren Einblick<br />

in unser Instrument bietet das Kapitel »Anatomische Körperreise«.<br />

Was will das Buch?<br />

Dieses Buch stellt Ihnen vor allem Übungen vor, die »Wellness« <strong>für</strong><br />

die Stimme sind. Sie sind wohltuend und helfen, Körper und Stimme<br />

zu regenerieren. Sie bieten die Möglichkeit, die inneren Prozesse der<br />

Atmung und Stimme neu wahrzunehmen. Sie können dann besser<br />

auf Ihre künstlerischen Ressourcen zurückgreifen. Es handelt sich<br />

um eine Art »Genusstraining«, denn Sie arbeiten, indem Sie genießen.<br />

Dieser Ansatz möchte Verbindungen aktivieren:<br />

• zwischen den einzelnen Organsystemen Gehör, Stimme, Atmung<br />

und Muskelspannung,<br />

• zwischen den Körperresonanzräumen und den akustischen<br />

Gegebenheiten der jeweiligen Bühne,<br />

• zwischen dem Künstler und dem Text.<br />

Durch die im Buch vorgestellten Übungen schärfen Sie Ihre Wahrnehmungsfähigkeit<br />

und vergrößern somit Ihren Handlungsspiel-<br />

raum auf der Bühne. Die schauspielerischen Möglichkeiten werden<br />

reicher, weil die Stimme variabler wird. Sie kann Gefühle genauer<br />

transportieren und differenzierter auf den Partner reagieren. Besonders<br />

die regenerativen Übungen, die Sie entspannen und achtsam<br />

werden lassen, können ein sicheres Fundament sein, das sie<br />

auf Ihrem persönlichen Weg unterstützt und Ihnen immer wieder<br />

klarmacht, was Sie auf der Bühne anzubieten haben – nämlich sich<br />

selbst! Es handelt sich dabei nicht um mechanische Sprechtechnik,<br />

bei der Sie akribisch alle Sprechwerkzeuge durcharbeiten und auswendig<br />

gelernte Abläufe wiederholen. Es geht in diesem <strong>Sprechtraining</strong>,<br />

wie schon gesagt, vielmehr darum, mit sich selbst in Kontakt zu<br />

treten. Die im Buch vorgestellten Stimmübungen sowie die Übungen<br />

mit der Stille werden Ihnen Sicherheit und Vertrauen in Ihre Stimme<br />

schenken und diese »authentisch« zum Klingen bringen.<br />

Die Methode der Achtsamkeit<br />

Besonders in diesem fordernden Beruf brauchen Sie einen Rückzugsraum,<br />

um zu sich kommen zu können und sich zu stärken. Die<br />

innere Arbeit mit Stimme und Stille stärkt <strong>für</strong> die Arbeit im Außen.<br />

Die Achtsamkeitslehre kommt aus der fernöstlich buddhistischen<br />

Tradition. Für uns ist im Zusammenhang mit der Schauspielkunst<br />

dabei nicht in erster Linie der philosophisch-religiöse Hintergrund<br />

interessant, sondern die Anwendung dieser Praxis <strong>für</strong> den Alltag des<br />

<strong>Schauspieler</strong>s.<br />

Achtsam zu sein bedeutet mehr als aufmerksam und konzentriert<br />

zu sein, vielmehr gilt es darüber hinaus:<br />

»[zu] bemerken, was gerade geschieht, und erinnern, was heilsam<br />

ist, was uns und andere heilt.« (Sylvia Wetzel, in: Buddhismus aktuell;<br />

4 / 2011, S. 56)<br />

»Achtsamkeit praktizieren bedeutet, im Hinblick auf die inneren<br />

und äußeren Erscheinungen bewusst und wach zu sein, und zwar<br />

weder bewertend noch vorschnell reagierend, sondern zunächst<br />

10<br />

11


akzeptierend, nicht interpretierend.« (Wilfried Reuter, in: Buddhismus<br />

aktuell; 2 / 2012, S. 31)<br />

Achtsamkeit ist in der buddhistischen Tradition eine Hauptlehre. Sie<br />

wird Vipassana genannt, was so viel bedeutet wie »klare Einsicht«.<br />

Schon die alten Buddhisten erkannten, dass die Achtsamkeitspraxis<br />

viele förderliche Funktionen hat. Seit den Siebzigerjahren wächst daher<br />

das Interesse und die Vernetzung mit der westlichen Medizin,<br />

Wissenschaft, Psychologie und Pädagogik. Dieser Einfluss geht sogar<br />

noch weiter: Auch <strong>für</strong> Künstler kann Achtsamkeit zur essenziellen<br />

Quelle <strong>für</strong> ihre Gestaltungskraft werden!<br />

Meine sprecherzieherische Erfahrung hat mir Folgendes gezeigt:<br />

Durch die Anwendung der Achtsamkeitspraxis im Stimm- und<br />

<strong>Sprechtraining</strong> ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die künstlerische<br />

Produktivität und Kreativität spürbar zu erhöhen und dem eigentlichen<br />

Wesen des Künstlers Raum zu geben.<br />

Das Warm-up<br />

Im Kapitel »Das achtsame Warm-up« finden Sie ein Einsprechprogramm<br />

mit über 50 Übungen, die von mir speziell <strong>für</strong> <strong>Schauspieler</strong><br />

entwickelt wurden. Das Grundgerüst meiner Methode bildet<br />

eine aufeinander aufbauende Übungsfolge, in der der Körper achtsam<br />

aufgeweckt wird – zuerst der Atem, dann die Stimme, dann der<br />

Kontakt zum Partner und schließlich die Stimme im Raum. Die Anwendung<br />

an kurzen Gedichten, Monologen und Szenenausschnitten<br />

schaff den Transfer zur Arbeit am eigentlichen Text. Es handelt sich<br />

dabei um einen systemischen Ansatz, bei dem die verschiedenen<br />

Bereiche Stimme, Gehör und Kreativität vernetzt werden. Besondere<br />

Bedeutung kommt dabei der Arbeit mit der Stille zu, da sie den<br />

<strong>Schauspieler</strong> immer wieder einlädt, sich mit dem »großen Ganzen«<br />

zu verbinden. Ich habe die Übungen so aufbereitet, dass sie als einzelne<br />

Bausteine zu einem Übungsprogramm zusammengesetzt werden<br />

können. Damit können Sie sich selbstständig ein tägliches Aufwärmtraining<br />

bauen, das Sie effektiv auf eine Vorstellung vorbereitet.<br />

Beeinflusst wurde meine Arbeit durch verschiedene bestehende<br />

Methoden: Der sogenannten »Selbstorganisation der Stimme« aus<br />

der funktionalen Methode, die von Gisela Rohmert im Lichtenberger-Institut<br />

entwickelt wurde. Diese wurde von Uta Feuerstein in der<br />

»Stimmig sein«-Methode weitergeführt. Auch aus Techniken des<br />

Obertongesangs, die ich bei Wolfgang Saus kennengelernt habe, finden<br />

Sie von mir <strong>für</strong> den <strong>Schauspieler</strong> weiterentwickelte Übungen in<br />

diesem Buch. Ein ebenso anregender Ansatz war <strong>für</strong> mich die Osteophonie<br />

von François Louche, einem Schüler von Alfred A. Tomatis,<br />

der die Pädagogik des Hörens entwickelt hat.<br />

Da ich täglich neue Entdeckungen mit meinen Studenten und<br />

<strong>Schauspieler</strong>n am Theater mache, ist ein Grundsatz meiner Methode,<br />

dass diese offen und prozesshaft bleibt. Ich stelle Ihnen dazu zwei<br />

aktuelle Arbeiten mit Sprechchören in einem eigenen Kapitel vor.<br />

Dabei wende ich die Methode beim chorischen Sprechen auf der<br />

Bühne an und biete ein chorisches Warm-up an.<br />

Das Buch richtet sich nicht zuletzt an Schauspielstudierende, die<br />

ihre stimmlichen Möglichkeiten entdecken und erweitern möchten!<br />

Alle Übungen sind sowohl <strong>für</strong> tendenziell verspannte wie auch unterspannte<br />

Typen geeignet, da sie den Muskeltonus regulieren. Das<br />

Schöne ist: Sie wirken regenerierend und aktivierend zugleich!<br />

Die Berufsbezeichnung »<strong>Schauspieler</strong>« verwende ich im Übrigen<br />

aus Gründen der besseren Lesbarkeit <strong>für</strong> beide Geschlechter.<br />

Viel Erfolg und Vergnügen!<br />

12<br />

13


DAS ACHTSAME WARM-UP<br />

In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie einen achtsamen Zugang zu<br />

Ihrem Körper, Ihrer Stimme, Ihrer Artikulation, zu Ihrem Bühnenpartner<br />

und zu Ihrer Rolle finden können. Dies erleichtert es, zu einer<br />

»authentischen« Sprechweise zu gelangen, und ermöglicht eine<br />

Anbindung an Ihre kreative Kraft. Auch im beruflichen Alltag können<br />

Sie sich durch diese Übungen mit Ihrem Körper verbinden, sodass<br />

Sie seine aktuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten bestmöglich<br />

erkennen. Da die Übungen verstärkt auch die rechte Gehirnhälfte<br />

einbeziehen, aktivieren Sie im Besonderen Ihre Intuition und Spontaneität.<br />

Sie werden nach und nach Ihr Potenzial entdecken und in<br />

Ihre tägliche Arbeit einbringen können. Ihre Stimme gewinnt an<br />

Leistungsfähigkeit. Der Übungsweg geht von der Innenwahrnehmung<br />

des Körpers und der Stimme hinaus in die Wahrnehmung und<br />

Nutzung des Raums bis zum Kontakt zum Partner. Es wird ein umfassendes<br />

Übungsangebot vorgestellt, aus dem Sie sich nach einiger<br />

Erfahrung einige Übungen auswählen und daraus Ihr persönliches<br />

Warm-up-Programm zusammenstellen können.<br />

Was ist besonders und neu an diesem Einsprechtraining?<br />

Bei einem <strong>Sprechtraining</strong> <strong>für</strong> andere redeintensive Berufe wie<br />

Lehrer, Manager oder Radiosprecher ist die Herangehensweise an<br />

das Einsprechen oft eher »handwerklich«: Um uns die Sprechwerkzeuge<br />

bewusst zu machen, bewegen wir diese isoliert und bekommen<br />

dadurch ein Gefühl <strong>für</strong> den Sprechapparat. Denken Sie zum Beispiel<br />

an Übungen wie Kieferlockerung, Lippengymnastik, Zungenturnen<br />

und einfache Stimmübungen zum Finden der natürlichen Sprechstimmlage<br />

(= Indifferenzlage).<br />

Als <strong>Schauspieler</strong> haben Sie in Ihrer Ausbildung außerdem wahrscheinlich<br />

zahlreiche bewährte Methoden der Sprecherziehung<br />

kennengelernt: die Linklater-Methode, das Gestische Sprechen, die<br />

Atemrhythmisch angepasste Phonation nach Colenzer und Muhar<br />

oder das Jurij-Vasiljev-Training. Diese Ansätze sollten Sie in Ihrem<br />

Beruf unbedingt weiterverfolgen.<br />

Als bereits künstlerisch tätiger <strong>Schauspieler</strong> können Sie darüber<br />

hinaus die Möglichkeiten des achtsamen <strong>Sprechtraining</strong>s bei Ihrem<br />

Warm-up nutzen, das Sie als Person in Ihrem kreativen Prozess unterstützt,<br />

fördert und da abholt, wo Sie gerade stehen.<br />

Wir üben dabei mehr und mehr, unsere körpereigenen Systeme<br />

zu vernetzen und diese selbstständig arbeiten zu lassen. Wir können<br />

zum Beispiel dem Gehör einen großen Teil der »Verantwortung«<br />

beim Sprechen im Theater übergeben. Nicht primär der Wille regiert<br />

in diesen Übungen, sondern mehr und mehr zusätzlich die Intuition.<br />

Mit Intuition meine ich die Fähigkeit, im Moment offen zu sein<br />

<strong>für</strong> die stimmigste Entscheidung. Der schöpferische Prozess beginnt<br />

also nicht erst in der Ihnen bevorstehenden Szenenprobe oder gar in<br />

der Vorstellung, sondern schon beim Einsprechen! Dabei spulen wir<br />

nicht oberflächlich einen vorgegebenen Übungskanon ab, sondern<br />

gehen bei jeder Übung in die Tiefe und bleiben neugierig auf die unvorhersehbaren<br />

Erfahrungen in der »Welt der Stimme«.<br />

Nach meiner Erfahrung brauchen sowohl Studierende als auch<br />

<strong>Schauspieler</strong> im Beruf mehrere Übungsstunden, um die Wirkung der<br />

Einsprechübungen zu spüren. Es handelt sich also um nachhaltige<br />

Übungen, die prozesshaft sind, sowie gleichzeitig um Basisübungen,<br />

um das Instrument Stimme überhaupt erst intensiv kennenzulernen.<br />

Folgende Entspannungsübungen sind Weiterentwicklungen von<br />

Übungen der Feldenkrais-Methode, der Franklin-Methode und anderer<br />

bekannter Körpertechniken. Die Methodik und Herkunft meiner<br />

Stimmübungen wurde bereits auf den vorigen Seiten erwähnt.<br />

Ich habe alle Übungen mit Blick auf die Bedürfnisse des <strong>Schauspieler</strong>s<br />

im Beruf weiterentwickelt und mit neuen Namen versehen.<br />

Damit Sie eine konkrete Vorstellung von der Methode bekommen<br />

können, werden viele Übungen auch auf den Tracks zum Buch angeleitet.<br />

Sie können sie über den QR-Code hinten im Buch herunterladen.<br />

Achten Sie beim Üben auf bequeme Kleidung, insbesondere<br />

auf eine dehnbare Hose.<br />

14<br />

15


Übungen <strong>für</strong> Körper und Atem<br />

• Sandstrand<br />

Track 2<br />

Legen Sie sich auf den Boden oder eine Matte und spüren Sie die<br />

angenehme Schwere Ihres Körpers. Nehmen Sie sich dazu ein paar<br />

Atemzüge Zeit. Ihre Muskeln dürfen passiv sein und müssen nicht<br />

arbeiten. Sicher gibt es Körperstellen, die spürbar schwer auf der<br />

Matte liegen, und andere, die sich im Moment noch eher leicht und<br />

»undeutlich« anfühlen. Stellen Sie sich vor, dass Sie am Strand liegen.<br />

Der Sand gibt unter Ihnen nach. Jede Körperstelle, die mit dem Sand<br />

Kontakt hat, erzeugt einen charakteristischen Abdruck. Lassen Sie<br />

jede Stelle ihres Körpers bewusst in den Sand sinken – Ihre Muskeln<br />

lösen sich dabei langsam und schrittweise. Sie nehmen Kontakt zu<br />

Ihrem Körper auf, und andere Gedanken, die Sie gerade beschäftigen,<br />

verlieren <strong>für</strong> diese Zeit an Wichtigkeit.<br />

• Schneemann<br />

Stellen Sie sich vor, es ist März und der letzte Schnee beginnt zu<br />

tauen: Fühlen Sie sich nun als umgefallener Schneemann, der von<br />

den Sonnenstrahlen erwärmt wird. Nach und nach dürfen Ihre Muskeln<br />

in Richtung Boden schmelzen. Vielleicht können Sie bemerken,<br />

dass dies beim Ausatmen besonders gut gelingt. Alles wird weich<br />

und warm. Falls Sie bei diesen entspannenden Übungen Ihre Magengeräusche<br />

hören, so ist das ein positives Signal Ihres Körpers,<br />

welches zeigt, dass das vegetative Nervensystem mit der Verdauung<br />

zu arbeiten beginnt – weil Sie es ihm gestatten!<br />

Rücken, die Hände machen sich selbstständig und zucken nervös,<br />

die Augen wollen offen bleiben und die Kontrolle behalten, die Gedanken<br />

schweifen ab oder plötzliche Müdigkeit tritt auf. Nach einigen<br />

Übungseinheiten lassen sich die Teilnehmer jedoch immer mehr<br />

auf diese innerliche Arbeit ein und finden Geschmack an diesem<br />

Stundeneinstieg. Die Kontaktaufnahme mit dem Körper klappt von<br />

Mal zu Mal besser. Das stille Üben im Liegen fällt leichter, weil sich<br />

der Anspruch an die Übungen verändert hat und der Körper seine<br />

wahren Bedürfnisse ausdrückt. Das »Nichtstun« hat sich verwandelt:<br />

Wertvolle Prozesse werden in Gang gebracht. Wir begegnen dem<br />

Körper auf eine wertschätzende Art. Aus Müdigkeit entsteht somit<br />

Regeneration und Kraft. In diesem Rückzug vor der Umwelt tanken<br />

die Teilnehmer Energie <strong>für</strong> die szenische Partnerarbeit. Sie laden ihren<br />

Akku auf <strong>für</strong> die Ensemblearbeit.<br />

• Schoko-Nikolaus<br />

Wir benutzen eine Vorstellungsübung, um Räume im Körper zu<br />

entdecken, die wir später als Resonanzräume <strong>für</strong> die Stimme nutzen<br />

können. Sollten Ihre Gedanken dabei abschweifen, so führen Sie diese<br />

geduldig und sanft wieder zur Vorstellung und Empfindung<br />

zurück.<br />

Verwandeln Sie sich in eine süße Köstlichkeit: Stellen Sie sich vor,<br />

Ihr ganzer Körper ist ein großer Hohlraum, der nur aus oberen, unteren<br />

und seitlichen Wänden besteht. Werden Sie in der Vorstellung zu<br />

einem Schokoladen-Nikolaus. Dieser große Raum in Ihrem Körper<br />

fühlt sich angenehm weit und warm an. Beginnen Sie langsam, aber<br />

Falls Sie mit Entspannungstechniken noch nicht vertraut sind, könnte<br />

es sein, dass Sie das stille Liegen und scheinbare »Nichtstun« anfangs<br />

irritiert. Die meisten von uns sind es nicht gewohnt, die körperliche<br />

Wahrnehmung so in den Vordergrund zu rücken und nach<br />

innen zu richten, ohne sich dabei aktiv zu bewegen. Auch bei Studierenden<br />

kann ich immer wieder beobachten, dass sie anfangs mit<br />

den Übungen im Liegen überfordert sind – plötzlich zwickt es im<br />

16<br />

17


genau, diese Körperräume atmend zu ertasten. Atmen Sie in der Vorstellung<br />

zunächst in Ihren rechten Arm hinein, dann in den Rumpf,<br />

in das linke Bein usw. Bleiben Sie einige Atemzüge lang in diesem<br />

Gefühl der Weite. Wenn Sie zuletzt das gesamte Volumen dieses<br />

Hohlraumes empfinden, so wandeln Sie dieses in Klang um, indem<br />

Sie herzhaft und genüsslich gähnen. Der ganze Schoko-Nikolaus<br />

tönt. Beachten Sie dabei, dass Sie beim Gähnen die Stimmbänder<br />

nicht plötzlich verschließen, sondern die Kehle durchlässig und offen<br />

lassen wie ein Rohr. Beim spontanen Gähnen passiert es nämlich oft,<br />

dass wir die Luftsäule abschließen und ruckartig wieder lösen, also<br />

gleichsam abklemmen. Beim »Übungsgähnen« würde dies aber die<br />

gefundenen Räume eher wieder verengen. Bemühen Sie sich deshalb<br />

um einen lauten, weichen und fließenden Gähnton.<br />

• Beckenkissen<br />

Track 3<br />

Legen Sie die Hände unter das Becken, die Handflächen sind zum<br />

Boden gerichtet. Spüren Sie die Schwere des Beckens und lassen Sie<br />

das ganze Gewicht auf die Hände sinken. Indem wir unsere Schwere<br />

spüren, gewinnen wir ein Bewusstsein <strong>für</strong> unsere physische Substanz.<br />

Alle »Körpermaterialien« wie Knochen, Muskeln, Fett, Gewebe,<br />

Organe usw. können wir uns bewusster machen. Je mehr Sie<br />

Ihren sogenannten Körperschwerpunkt spüren, desto kerniger und<br />

kraftvoller kann daraus später die Stimme entstehen. Sie können sozusagen<br />

jede Körperzelle gebrauchen, um Ihrem Bühnenpartner Ihre<br />

stimmliche Substanz entgegenzusetzen. Ihre »Masse« verleiht Ihrer<br />

Stimme Gewicht!<br />

Geben Sie nun in dieser Haltung Ihrer Atmung Raum, das heißt,<br />

dass Sie die Bauchmuskulatur und die Rückenmuskulatur <strong>für</strong> die<br />

Atembewegung freigeben. Auch der Beckenboden sollte elastisch<br />

sein und die Bewegungen des Zwerchfells nicht blockieren, sondern<br />

unterstützen. Nehmen Sie nach ca. einer Minute die Hände unter<br />

dem Becken heraus und legen Sie diese wieder neben dem Körper<br />

ab. Wie hat sich der Kontakt des Beckens zum Boden verändert? Liegen<br />

Sie »satter« am Boden? Fühlt es sich an, als liege Ihr Becken in<br />

einer Erdmulde? Ist dieser Körperteil spürbar schwerer geworden?<br />

Hat sich Ihre Atmung in Richtung Becken sanft vertieft?<br />

Prägen Sie sich die gewonnenen Erfahrungen ein – denn wir können<br />

sie besonders beim lauten Sprechen gebrauchen, um das Becken<br />

als den Kraftquell der Stimme zu nutzen. Unser Becken ist der Anker,<br />

der verhindert, dass uns die Stimme nach oben rutscht und piepsig<br />

und flach wird. Wir können mehr und mehr innerhalb einer vollen<br />

Resonanz modulieren, die mühelos alle Räume des Körpers nutzt.<br />

• Achtsames Atmen<br />

Physiologisch betrachtet arbeitet das Zwerchfell, das zwischen<br />

Brustbein, Wirbelsäule und Flanken angewachsen ist, wie ein<br />

Sprungtuch, welches hin- und herschwingt. Wenn wir einatmen,<br />

schwingt das Zwerchfell in Richtung Beckenboden, wenn wir ausatmen,<br />

schwingt es in Richtung Herz. Begleiten Sie diese Bewegung<br />

gedanklich einige Male. Da wir das Zwerchfell selbst nicht spüren<br />

können, nehmen wir seine Bewegung nur sekundär über die Bauchdecke<br />

war.<br />

Im Alltag verhält sich unser Zwerchfell oft wie ein eingesperrter<br />

Vogel, der nervös umherflattert, weil er herauswill. In der Übung<br />

können Sie erleben, wie dieser Vogel als Adler seine Schwingen ausbreitet,<br />

durch die Luft segelt und sich vom Wind tragen lässt.<br />

Verfolgen Sie nun den gesamten Weg, den die Luft macht: Riechen<br />

Sie die Luft, die in die Nase eintritt – spüren Sie, wie sie durch den<br />

Rachen fließt – in den Kehlkopf gelangt – die geöffnete Stimmritze<br />

18<br />

19


mit den Stimmbändern passiert – die Luftröhre entlangstreicht – in<br />

die Bronchien und die Lunge gesogen wird. Alles geschieht durch die<br />

Kraft des Zwerchfells. Der Bauch weitet sich wie ein Luftballon.<br />

Beobachten Sie umgekehrt auch die Ausatmung, wenn das<br />

Zwerchfell erschlaff: Der Bauch fällt zusammen – die Luft strömt<br />

aus der Lunge über die Bronchien durch die Luftröhre – an den geöffneten<br />

Stimmbändern vorbei – durch den Rachen und schließlich<br />

durch die Nase hinaus.<br />

Dies ist der Vorgang der sogenannten Ruheatmung. Wir üben zunächst<br />

mit ihr, um die später folgende Sprechatmung vorzubereiten.<br />

Die beiden wesentlichen Aspekte sind dabei, dass uns die Einatmung<br />

Weite <strong>für</strong> die Stimme gibt und die Ausatmung uns die Masse unseres<br />

Körpers verdeutlicht. Beobachten Sie Ihre Ruheatmung, ohne einzugreifen.<br />

Spüren Sie nun einige Male beim bewussten Atmen folgender<br />

»Formel« nach:<br />

Einatmen gibt Weite und Raum.<br />

Ausatmen schenkt Lösen und Schwere.<br />

»[die] Atemempfindung zu beobachten, mit der Aufmerksamkeit<br />

den Körper von den Zehen bis zum Scheitel in einer Haltung der<br />

Akzeptanz zu durchwandern (Body Scan).« (Ulrich Ott, in: Buddhismus<br />

aktuell; 3 /2012, S. 7)<br />

• Vorhang auf<br />

Streichen Sie mit den Fingerkuppen beider Hände Ihre Stirn aus,<br />

als ob Sie einen Vorhang oberhalb der Nase zu beiden Seiten öffnen<br />

wollten. Beginnen Sie in der Mitte der Stirn und streichen Sie<br />

rechts und links behutsam auseinander. Sie entspannen dadurch die<br />

Gegend des sogenannten Stirnlappens – dahinter liegt der stammesgeschichtlich<br />

jüngste Teil der Großhirnrinde, der Neokortex. Dieser<br />

reguliert wichtige kognitive Prozesse. Streichen Sie beim nächsten<br />

Mal weiter abwärts bis zum Kiefer und dehnen Sie die Kaumuskulatur.<br />

Diese beiden Stellen sind bei intellektuell geforderten Menschen<br />

oft angespannt. Die Übung regt die Durchlässigkeit dieser wichtigen<br />

Stellen an.<br />

• Reinigung und Erfrischung<br />

Track 4<br />

Besonders wenn wir im Stress sind, tut es gut, sich an den eigentlichen<br />

Zweck der Atmung zu erinnern: Wenn wir einatmen, versorgt<br />

der Sauerstoff in der Luft unsere Zellen mit neuer Energie. Wenn wir<br />

ausatmen, geben wir alles, was wir nicht mehr brauchen, an die Ausatemluft<br />

ab. Nehmen Sie sich einige Atemzüge Zeit und stellen Sie<br />

sich vor, wie der Atem in jener Weise jede Zelle des Körpers versorgt<br />

und wie dieser Stoffwechsel funktioniert. Der Austauschprozess der<br />

Atmung verbindet uns auch mit der Umwelt und mit anderen Menschen<br />

– schließlich teilen wir mit ihnen die Atemluft.<br />

Auch in buddhistischen Meditationen werden derartige Achtsamkeitsübungen<br />

zum Körpergewahrsein praktiziert. Im Westen wurde<br />

die therapeutische Wirkung dieser Übungen erkannt und man<br />

wendet sie als Mindfulnessbased Stress Reduction (Stressbewältigung<br />

durch Achtsamkeit) an. Es gilt dabei:<br />

20<br />

21


• Schafsgesicht<br />

Lösen Sie nun bewusst Ihr ganzes Gesicht: Lassen Sie die Augen<br />

in die Augenhöhlen zurücksinken und entspannen Sie noch einmal<br />

die Stelle zwischen den Augen. Der Mund darf sich nun leicht öffnen,<br />

als seien Sie eingeschlafen. Sie können sich auch vorstellen, dass Sie<br />

eine Maske aus Wachs auf Ihrem Gesicht haben, die in der Sonne<br />

nach und nach weicher wird und schließlich ganz schmilzt. Oft wird<br />

uns bei dieser Übung klar, wie viel Spannung wir <strong>für</strong> unsere Mimik<br />

und das Sprechen benötigen. Unsere mehr als 36 Gesichtsmuskeln<br />

arbeiten den ganzen Tag. Wenn wir diese Muskulatur von Zeit zu<br />

Zeit bewusst lösen, wird sie flexibler und kann sich der jeweiligen<br />

Kommunikationssituation besser anpassen. Wir können mimisch<br />

differenzierter reagieren.<br />

• Ohrmeditation<br />

Track 5<br />

Wir versuchen, uns unser Ohr genau vorzustellen, um somit Achtsamkeit<br />

<strong>für</strong> dieses wichtige Organsystem zu üben und gezielt mit ihm<br />

in Verbindung zu treten. Dabei liegen (oder sitzen) Sie und gehen die<br />

einzelnen Stationen nur gedanklich durch und versuchen langsam,<br />

Schritt <strong>für</strong> Schritt, die genauen Orte im Ohr zu finden.<br />

Beginnen wir beim Außenohr: Fühlen Sie, wie groß Ihre Ohrmuschel<br />

ist, ohne diese zu berühren. Wie ist sie genau geformt? Spüren<br />

Sie weiter zum Gehörgang: Wie lang und weit oder eng ist er?<br />

Gehen Sie dann mit der Aufmerksamkeit weiter zum Mittelohr:<br />

Wo genau befindet sich wohl Ihr Trommelfell? Erahnen Sie die Stelle<br />

in Ihrem Körper. Stellen Sie sich dann die winzigen Gehörknöchelchen<br />

Hammer, Amboss und Steigbügel vor, die während des Hörvorgangs<br />

ständig in Bewegung sind. Spüren Sie dann die zwei kleinen<br />

Muskeln, die das Gehör schützen, wenn ein Reiz zu stark wird.<br />

Gehen Sie mit der Vorstellung noch weiter bis ins Innenohr hinein:<br />

Orten Sie die Schnecke mit den Sinneshärchen, welche die Reize<br />

in elektrische Impulse umwandeln und so ans Gehirn weiterleiten.<br />

Schicken Sie nun Entspannung und Aufmerksamkeit in Ihre Ohren.<br />

Vielleicht sind Ihre Ohren durch diese Übung bewusster, wacher,<br />

wärmer oder sogar größer geworden … Eine anschauliche Abbildung<br />

des Gehörs finden Sie im Kapitel »Anatomische Körperreise«.<br />

• Meeresmuschel<br />

Track 6<br />

(Siehe auch das Foto im Kap.<br />

»Vor dem Auftritt«, S. 110 Mitte)<br />

Vielleicht kennen Sie das Kinderspiel,<br />

bei dem man eine Muschel ums Ohr legt<br />

und dem Meeresrauschen darin lauscht.<br />

Den Effekt dessen machen wir uns <strong>für</strong> die<br />

Stimme nutzbar: Legen Sie die Hände wie<br />

Schalen um Ihre Ohren. Nehmen Sie wahr,<br />

was Sie hören. Vielleicht können Sie bemerken,<br />

wie der Restschall, den es in fast jeder Raum-<br />

Situation gibt, von Ihren Händen reflektiert, gebündelt und verstärkt<br />

wird. Sie brauchen dazu einen relativ stillen Raum, in dem aber zumindest<br />

ein leises Geräusch, z. B. Heizungsrauschen, Straßengeräusche,<br />

Baumrascheln oder Regen zu hören ist. In einem schalltoten<br />

Raum wie z. B. einem Tonstudio ist die Übung schwieriger. Wenn<br />

Sie also den reflektierten Restschall wahrnehmen, können Sie die<br />

Haltung der Handflächen etwas variieren, ohne den Abstand zu verändern<br />

– von gebogen zu gerade usw. Bewegen Sie dann die Hände<br />

langsam von den Ohren weg und gleich zurück. Können Sie Unterschiede<br />

in der Schallreflexion bei den Positionen bemerken? Spielen<br />

Sie nun mit der Veränderung der Hände und machen Sie eine kleine<br />

musikalische »Restschallimprovisation«, die nur Ihre Ohren hören<br />

können!<br />

Suchen Sie dann den Abstand, bei dem die Hände keine Auswirkung<br />

mehr haben. Dies wird vermutlich bei ca. 12 cm sein.<br />

Ihre Ohren werden durch die Übung angeregt. Es ist beinahe so,<br />

als ob sie wachsen würden. Der ganze Muskeltonus im Atem- und<br />

Stimmapparat reagiert auf das achtsame Lauschen, indem er sich<br />

fein reguliert. Sie können nun auch ausprobieren, wie Ihre Stimme<br />

22<br />

23


auf diese Anregung der Ohren reagiert. Vielleicht hört sie sich tiefer,<br />

satter, entspannter oder kompakter an?<br />

Durch die »Meeresmuschel« gewinnen auch die Sprechpausen an<br />

Atmosphäre. Sie werden dichter und bereiten den nächsten Gedanken<br />

und Stimmimpuls vor.<br />

Das Ohr ist auch ein psychisches Organ. Wenn wir ihm zu viel zumuten,<br />

reagiert es »beleidigt«. Das heißt, wenn wir über längere Zeit<br />

Straßenlärm, Kindergeschrei, Motorengeräuschen oder elektronischem<br />

Surren von Geräten ausgesetzt sind, fühlen wir uns schlapp<br />

und leer, reagieren gereizt oder müde. Da Gehör und Stimme zusammenarbeiten,<br />

leidet die Stimme in diesen Situationen ebenso. Das<br />

Ohr ist das empfangende Organ, die Stimme das sendende.<br />

Deshalb ist es wichtig, Stimmarbeit immer eng mit Hörarbeit zu<br />

vernetzen. Im eigentlichen Sinne ist es keine »Arbeit«, sondern eine<br />

Übung der Achtsamkeit, wie sie ebenso in Meditationstechniken<br />

praktiziert wird. Diese kann zwar auch auf eigene Weise anstrengend<br />

sein, bewirkt aber, dass wir uns danach frei und gestärkt fühlen. Für<br />

<strong>Schauspieler</strong> stellt die Kombination von Sprech- und Hörübungen<br />

eine wirksame Art des Warm-ups dar, um sich auf das Sprechen auf<br />

der Bühne vorzubereiten oder aber die ermattete Stimme neu zu<br />

beleben.<br />

• Das »ffff-Seil«<br />

Track 7<br />

(Siehe Abb. S. 112 links)<br />

Wir regen in der folgenden einfachen Übung Ohren, Artikulation<br />

und Zwerchfell an und stimmen diese Bereiche aufeinander ab. Wenn<br />

Sie grundsätzlich eher unterspannt sind, öffnen Sie die Augen dabei.<br />

Wenn Sie grundsätzlich eher angespannt sind, lassen Sie die Augen<br />

geschlossen. Bei einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Übung<br />

können wir mehrere Effekte beobachten. Haben Sie bereits öfter mit<br />

dem »ffff-Seil« geübt, werden Sie die Vielschichtigkeit deutlich erleben:<br />

Lassen Sie den Einatem einfließen, sodass sich die Bauchdecke<br />

sanft wölbt. Atmen Sie auf ein sehr langes, gedehntes und gut dosier-<br />

tes, gleichmäßiges »f« aus. Stellen Sie sich vor, dass eine kraftvolle,<br />

aber gleichmäßig fließende Fontäne nach oben steigt. Im Gegensatz<br />

zur Ruheatmung üben wir nun die Sprechatmung, indem wir den<br />

Ausatem nicht passiv ausströmen lassen, sondern ihn aktiv verlängern.<br />

Das Zwerchfell wird trainiert, da es sich nur ganz langsam und<br />

gleichmäßig entspannen darf. Im Gesangsunterricht und teilweise<br />

in der Sprecherziehung nennt man dies etwas veraltet die »Stütze«.<br />

Dem <strong>Schauspieler</strong> ermöglicht sie, einen langen gesprochenen Satz<br />

physisch zu bewerkstelligen. Das bedeutet, dass Sie auch bei einem<br />

weitschweifigen Gedankengang beispielsweise von Kleist nicht leise<br />

und atemlos werden!<br />

Die Schultern sind weiterhin passiv und liegen schwer auf der<br />

Matte. Der Kehlkopf ist entspannt – die Stimmbänder haben nichts<br />

zu tun und befinden sich daher in der Atemstellung. Die Artikulationsorgane<br />

dagegen sind aktiv: Die Unterlippe schmiegt sich mit<br />

ihrer Innenseite an die oberen Schneidezähne und bildet eine Enge.<br />

Die Luft wird gegen einen spürbaren Widerstand durch diese Enge<br />

geschoben. Es entsteht das <strong>für</strong> »f« typische Reibegeräusch. Stellen Sie<br />

sich vor, dass Sie ein gleichmäßig dickes Seil in Richtung Zimmerdecke<br />

spannen. Dieses hat keine Risse und Knoten! Hören Sie sich<br />

dabei genau zu und genießen Sie, dass Ihr Ohr durch die hohen Frequenzen<br />

dieses Reibelaut-Geräusches angeregt wird. Wiederholen<br />

Sie den Vorgang einige Male. Sie können auch Ihre Hände auf die<br />

Bauchdecke legen, um die unterschiedlichen Spannungszustände zu<br />

beobachten. Die Einatmung ist immer weich und kommt von selbst.<br />

Die Bauchdecke wölbt sich in Richtung Zimmerdecke. Beim Ausatmen<br />

auf »ffff« sinkt sie langsam in Richtung Wirbelsäule. Da Sie<br />

sich bei dieser Übung noch nicht in einem Sprechdenkprozess befinden<br />

– also nicht auf einen Partner reagieren müssen –, haben Sie<br />

jedes Mal Zeit, auf den Einatem zu warten und ihn aufmerksam zu<br />

genießen. Lassen Sie sich auftanken – jedoch ohne zu übertanken:<br />

Wenn Sie sich dabei »ertappen«, dass Sie den Einatem geräuschvoll<br />

einziehen, so sollten Sie das »f« nicht so lange dehnen und den Einatem<br />

rechtzeitig kommen lassen.<br />

24<br />

25


Dank<br />

Herzlichen Dank an meine Schauspielstudierenden Konstantin<br />

Shklyar und Alexandra Gottschlich, die sich als Fotomodelle <strong>für</strong> das<br />

Kapitel »Vor dem Auftritt« zur Verfügung gestellt haben.<br />

Für die kreative Mitarbeit im Tonstudio danke ich den Schauspielstudenten<br />

Sebastian Schmeck, Okan Cömert und Silas Breiding.<br />

Für die kritischen Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln danke<br />

ich Dr. Michael Bernhard, Sebastian Bernhard, Prof. Annett Matzke,<br />

Simone Dorenburg und Mareike Tiede.<br />

Dem Volkstheater Wien danke ich <strong>für</strong> die Genehmigung, die Szenenfotos<br />

auf S. 129, 132, 138 und 146 sowie die Textauszüge aus seiner<br />

Antigone-Fassung verwenden zu dürfen.<br />

Tracks zum Buch<br />

Die Tracks zum Buch sind<br />

über diesen QR-Code auf der<br />

Website der Seemann Henschel<br />

Verlagsgruppe herunterladbar.<br />

Zur Autorin<br />

Barbara Maria Bernhard ist Diplom-<br />

Sprecherin und Di plom-Sprecherzieherin.<br />

Sie studierte an der Hochschule <strong>für</strong> Musik<br />

und Darstellende Kunst Stuttgart das<br />

Fach Sprecherziehung mit akademischkünstlerischem<br />

Abschluss. Unter der Intendanz<br />

von Michael Schottenberg war<br />

sie Sprechtrainerin des Volkstheater Wien<br />

und betreute zahlreiche Inszenierungen. Sie unterrichtet mittlerweile<br />

seit über zwanzig Jahren am Max Reinhardt Seminar Studierende<br />

der Studienrichtung Schauspiel und Regie im Fach Sprechen / Sprachgestaltung.<br />

Darüber hinaus ist sie Lehrbeauftragte an zwei weiteren<br />

Instituten der Universität <strong>für</strong> Musik und darstellende Kunst Wien. Sie<br />

coacht Journalisten <strong>für</strong> Radio- und Fernsehsender und spricht selbst<br />

wissenschaftliche Beiträge, verschiedene Hörbücher und Podcasts.<br />

Dieses Buch ist bereits ihr viertes Fachbuch zum Thema Sprechen.<br />

Mehr unter: www.sprechtraining-bernhard.at<br />

Foto: Fotostudio Brejcha, Wien<br />

150<br />

151


Trackliste<br />

Titel<br />

Dauer<br />

01 Goethe-Rap 00:43:74<br />

02 Sandstrand 01:15:51<br />

03 Beckenkissen 02:10:27<br />

04 Reinigung und Erfrischung 01:12:69<br />

05 Ohrmeditation 01:29:05<br />

06 Meeresmuschel 06:54:01<br />

07 ffff-Seil, ssss-Seil, sch-Seil 03:13:14<br />

08 Päckchenhaltung 01:50:62<br />

09 Pulston 01:18:62<br />

10 Käferhaltung 01:24:57<br />

11 Fersensitz 00:22:65<br />

12 Katzenjammer – »Mieaou« 01:02:34<br />

13 Zehenballensitz 00:45:03<br />

14 Kichern 00:23:53<br />

15 Tennisball 02:02:25<br />

16 Bouche fermée 01:30:00<br />

17 Clown 01:01:63<br />

18 Handyübung 01:41:05<br />

19 Klangbad 01:39:08<br />

20 Sprechgesang 01:17:72<br />

21 Rücken zur Ecke 00:42:00<br />

22 Elefant 01:18:02<br />

23 Verstecken 00:55:73<br />

24 UNTERTAGBLUES (19. Szene) 02:05:15<br />

© Alle Rechte bei und vorbehalten<br />

durch den Suhrkamp Verlag Berlin<br />

25 Pingpong 01:23:26<br />

26 Handwand 00:49:35<br />

27 Bürger-Text 01:24:32<br />

28 Bürger-Rap 00:52:42<br />

29 Ventiltönchen 01:24:00<br />

30 Flüstern 00:58:13<br />

31 ORF 00:55:62<br />

32 Dirigieren 01:30:00<br />

33 Goethe-Rap: Variation 00:54:03<br />

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