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Vorschau FOCUS 08/2023

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AUSGABE 8 18. Februar <strong>2023</strong> € 4,90 DAS MAGAZIN /// HIER SIND DIE FAKTEN /// SEIT 1993<br />

Wirecard-<br />

Prozess<br />

Markus Braun,<br />

der CEO, der von<br />

nichts wusste<br />

250 Jahre<br />

leben<br />

Begegnung mit dem<br />

umstrittenen Forscher<br />

Aubrey de Grey<br />

KANN ES FRIEDEN<br />

MIT PUTIN GEBEN?<br />

Worauf es im zweiten Jahr des russischen<br />

Vernichtungskriegs ankommt


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E-PAPER LESEN:


EDITORIAL<br />

Das linke Spiel in Berlin<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Foto: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

das Schauspiel ist eigentlich zu bekannt,<br />

als dass es einen noch überraschen sollte:<br />

Vor der Wahl werden die Wähler von den<br />

Parteien umworben, das Licht von den<br />

Sehenden. Doch mit Schließung der Wahllokale<br />

um 18.00 Uhr geht es wieder um das<br />

Lebenselixier der Politik: um die Macht.<br />

Und Berlin wäre nicht Berlin, wenn in der<br />

Hauptstadt diese Inszenierung nicht greller<br />

ausfallen würde als überall sonst.<br />

So beeilten sich vor allem SPD und Grüne<br />

schon am Sonntagabend, sich gegenseitig<br />

zu versichern, es spreche bei näherer<br />

Betrachtung doch nichts dagegen, die Koalition<br />

mit der Linken fortzusetzen – Niederlage<br />

hin oder her. Garniert wurde das mit<br />

wohlfeilen Sprüchen: Natürlich müsse sich<br />

etwas ändern, ein Weiter-so dürfe es nicht<br />

geben, man müsse das Wahlergebnis ernst<br />

nehmen. Doch was sich konkret ändern<br />

müsste – Fehlanzeige. Natürlich wäre –<br />

das versteht eigentlich jeder – eine neue<br />

Regierung mit einem neuen Regierenden<br />

Bürgermeister die beste Garantie dafür,<br />

dass sich tatsächlich etwas ändert. Doch<br />

genau das halten die Führungen von SPD<br />

und Grünen für falsch – mit abenteuerlich<br />

anmutenden Argumenten.<br />

Michael Müller, der als langjähriger<br />

Regierender von Berlin deutlich mehr<br />

Anteile am Untergang der SPD hat als<br />

seine Nachfolgerin Franziska Giffey,<br />

argumentierte: „Die Wählerinnen und<br />

Wähler wollten offensichtlich eine starke<br />

CDU, aber nicht zwingend Kai Wegner<br />

als Regierenden Bürgermeister.“ Mutig,<br />

wenn man selbst etwas mehr als 18 Prozent<br />

hat. SPD-Chef Lars Klingbeil befand,<br />

Giffey habe eine zweite Chance als Stadtoberhaupt<br />

verdient – was nur mit Grünen<br />

und Linken ginge, auf keinen Fall aber<br />

mit der CDU. Klingbeils Co-Chefin Saskia<br />

Esken stellte noch vor der ersten Sondierungsrunde<br />

mit der CDU deren Koalitionsfähigkeit<br />

infrage: Inhaltlich konzeptionslos<br />

habe sie nur den Unmut in der Stadt<br />

populistisch für sich genutzt.<br />

Doch dieser Unmut ist mit der Gewalt<br />

eines Tsunamis über die SPD hereingebrochen.<br />

Die Partei von Ernst Reuter, Willy<br />

Brandt und Klaus Wowereit hat in keinem<br />

der zwölf Stadtbezirke noch eine Mehrheit.<br />

Neun Bezirke gingen an die CDU, drei an<br />

die Grünen. Nur in vier von 78 Wahlkreisen<br />

haben SPD-Bewerber noch das Direktmandat<br />

geholt. Giffey selbst und der mächtige<br />

SPD-Fraktionschef Raed Saleh schaffen<br />

es nur über die Landesliste ins neue<br />

Abgeordnetenhaus. Saleh wurde im Wahlkreis<br />

Spandau 2 vom CDU-Bewerber Ersin<br />

Nas mit 33,2 zu 26 Prozent abgehängt.<br />

Die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch<br />

landete in Spandau 2 sogar nur auf<br />

Platz vier – hinter AfD-Mann Tommy Tabor.<br />

Und auch der Spitzenkandidat der Linken,<br />

Klaus Lederer, scheiterte im Wahlkreis<br />

Pankow 3 an der Grünen Oda Hassepaß.<br />

Mit einem Wort: Das Führungspersonal<br />

von Rot-Grün-Rot ist am Sonntag bei den<br />

Wählern komplett durchgefallen. Auch<br />

wenn die drei Wahlverlierer noch rechnerisch<br />

über eine Mehrheit verfügen – nicht<br />

wirklich überraschend in einem Fünf-Parteien-Parlament<br />

–, ist es mir unbegreiflich,<br />

wie man daraus einen Wählerauftrag zum<br />

Weitermachen ableiten kann.<br />

Das hinderte die Spitzen-Grüne und<br />

Verkehrssenatorin Jarasch nicht, schon<br />

in der ersten Stunde nach Schließung<br />

der Wahllokale immer wieder ihre Präferenz<br />

für die Fortsetzung des Bündnisses<br />

mit SPD und Linken zu betonen und von<br />

einer „progressiven Koalition“ als ihrem<br />

Ziel zu sprechen. Schwarz-Grün war damit<br />

eher nicht gemeint. Die SED-Nachfolgepartei<br />

Die Linke, die auch mehr als drei<br />

Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR<br />

noch auf Verstaatlichungen setzt, hielt sich<br />

zurück. Sonst wäre vielleicht noch aufgefallen,<br />

dass Die Linke 7000 Stimmen ausgerechnet<br />

an die AfD verloren hat, netto<br />

betrachtet mehr als jede andere Partei<br />

übrigens (Infratest dimap).<br />

Wenn es tatsächlich zu einer Fortsetzung<br />

von Rot-Grün-Rot kommen sollte,<br />

dann nicht im Interesse der Stadt, sondern<br />

der drei Parteien. Die Linkspartei, deren<br />

politisches Lebenslicht seit Längerem flackert,<br />

ist existenziell auf die Regierungsbeteiligung<br />

angewiesen. Und im Willy-<br />

Brandt-Haus schlottert die SPD-Spitze<br />

vor Angst bei dem Gedanken, in Berlin<br />

könnte es wie in Nordrhein-Westfalen zu<br />

Schwarz-Grün kommen. Den Bundeskanzler<br />

Olaf Scholz gibt es schließlich nur,<br />

weil die Grünen nach der Bundestagswahl<br />

nicht bereit waren, einer Jamaikakoalition<br />

unter Führung der Union zur Mehrheit zu<br />

verhelfen. Schwarz-Grün in Berlin könnte<br />

also auf Dauer die Macht der SPD im<br />

Bund bedrohen. In der Hauptstadt wäre<br />

man dann – wohl auf längere Zeit – ohnehin<br />

in der Opposition.<br />

Die Basis der Grünen wiederum bekommt<br />

Albträume schon bei dem Gedanken, welche<br />

Kompromisse sie für ein Bündnis mit<br />

der CDU bei Autoverkehr, Wohnungsbau,<br />

Migration und innerer Sicherheit verkraften<br />

müsste. „Grün und Gerecht“ war das –<br />

von Fritz-Kola wörtlich abgekupferte –<br />

Wahlkampfmotto von Jarasch. Gemeint<br />

war: Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit.<br />

Die Berliner Grünen sind klar im linken<br />

Lager verortet, sodass man auch von<br />

Rot-Rot-Rot sprechen könnte.<br />

Ja, es ist ein gefährliches Spiel, das SPD,<br />

Grüne und Linke in Berlin spielen. Es ist<br />

nicht zuletzt ein Spiel mit der Akzeptanz<br />

unseres demokratischen Systems, wenn<br />

die drei Parteien den Wählerwillen derartig<br />

zu ihrem Vorteil verbiegen.<br />

„Befreit“ von solchen Sorgen sind die<br />

Liberalen, denen die Wähler erneut in<br />

einem Landesparlament den Stecker gezogen<br />

haben. Dazu hat sicherlich die Polarisierung<br />

zwischen der CDU und Rot-<br />

Grün-Rot beigetragen, aber auch das Wegducken<br />

der FDP vor wichtigen Themen,<br />

wie der Wohnungsnot. Statt klar zu sagen,<br />

dass man Wohnungsmangel am besten mit<br />

mehr Wohnungsbau bekämpft und dass<br />

man dafür private Investitionen anlocken<br />

muss, schob man eine Verwaltungsreform<br />

in den Vordergrund.<br />

Eher putzig mutete die Debatte unter<br />

Liberalen darüber an, ob die streitbare Verteidigungsexpertin<br />

Marie-Agnes Strack-<br />

Zimmermann mit ihrer Polemik beim<br />

Aachener Karneval gegen CDU-Chef Friedrich<br />

Merz („Flugzwerg aus dem Mittelstand“)<br />

vor einer Woche zu dem Debakel<br />

geführt habe. Mir scheint da die Analyse<br />

von FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki<br />

stringenter zu sein: „Es fehlt momentan<br />

die Erzählung. Es fehlt die Vermittlung des<br />

Lebensgefühls.“<br />

Man tritt Kubicki sicher nicht zu nahe,<br />

wenn man ihn so zusammenfasst: Liberal<br />

kommt nicht von lieb.<br />

Herzlich Ihr<br />

<strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong><br />

3


Verbindlich<br />

Von Migration bis<br />

Klimakleber: CSU-<br />

Landesgruppenchef<br />

Alexander Dobrindt<br />

nimmt kein Blatt vor<br />

den Mund<br />

Seite 40<br />

Vernetzt<br />

Die Gebäude in Singapur<br />

sind grün –<br />

innen und außen.<br />

Doch wie lebt es<br />

sich in einer datengetriebenen<br />

Stadt?<br />

Seite 22<br />

Verspätet<br />

Die Beschwerden<br />

über die Post haben<br />

sich 2022 verdreifacht.<br />

Was sagt Chef<br />

Frank Appel dazu?<br />

Seite 48<br />

Verfilmt<br />

Die Szene aus „Der<br />

Schwarm“ zeigt<br />

Wale. Zu Besuch bei<br />

dem Forscher, der<br />

die Serie prägte<br />

Seite 62<br />

Vermeert<br />

„Das Mädchen mit<br />

dem Perlenohrring“<br />

ist sein wohl bekanntestes<br />

Werk:<br />

der Maler Vermeer<br />

Seite 74<br />

Verschärft Ottolenghis pikante Chicken Wings Seite 96<br />

4 <strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong>


Seite 4<br />

Seite 5<br />

INHALT NR. 8 | 18. FEBRUAR <strong>2023</strong><br />

Titelthema<br />

Wirtschaft<br />

Kultur<br />

Titel: Contributor/Getty Images, Mustafa Ciftci/Anadolu Agency/<br />

picture alliance (2), Composing: <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />

Fotos: Doro Zinn für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Antoine Lorgnier/ONLYWORLD.NET/FOTOFINDER.COM, dpa, Margareta Svensson, Staudinger + Franke/[M] Serviceplan/ZDF,<br />

Louise Hagger/Photography, Emily Kydd/Food Styling, Jennifer Kay/Prop Styling, Katy Gilhooly/Food Stylist Assistant, Marina Rosa Weigl für <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />

28 Der Jahrhundertkrieg<br />

Vor einem Jahr begann Russlands brutaler<br />

Angriff auf die Ukraine. Tausende haben<br />

seither ihr Leben verloren, wurden gefoltert<br />

und vergewaltigt. Millionen mussten aus ihrer<br />

Heimat flüchten. Der Versuch einer Bilanz<br />

33 Wie wirken die Sanktionen?<br />

Harte Strafen sollten Russlands Wirtschaft<br />

schwächen und die Kosten des Krieges<br />

erhöhen. Das hat nur bedingt funktioniert<br />

38 „Versöhnung? In 100 Jahren nicht“<br />

Der ukrainische Regierungschef Denys<br />

Schmyhal über Durchhaltewillen, Kompromisse<br />

und die Kleideretikette des Krieges<br />

Agenda<br />

22 Die Übermorgenstadt<br />

Singapur ist eine der klügsten, effizientesten<br />

Städte der Welt. Konzerne testen dort, wie<br />

die Zukunft aussehen könnte. Doch wie frei<br />

ist die datengetriebene Smart Nation?<br />

Politik<br />

40 „Ich will keine linken Maulkörbe“<br />

Migration, Klimakleber, Industrie: Alexander<br />

Dobrindt gehen die Themen nicht aus.<br />

Auch deshalb zeigt er sich gut gelaunt.<br />

Ein Gespräch zum Aschermittwoch<br />

44 Schlau oder Schummelei?<br />

KI-basierte Anwendungen, die Texte<br />

schreiben, wie ChatGPT, bringen Bewegung<br />

in die Bildung. Werden Kompetenzen durch<br />

sie gestärkt oder gehen sie verloren?<br />

46 Datenstrudel<br />

Joe Biden gibt sich romantisch,<br />

und Markus Söder wird<br />

Stammesältester<br />

48 „Jede Beschwerde ist eine zu viel“<br />

Rekordgewinne, Kundenärger und Krach mit<br />

der Gewerkschaft. Post-Chef Frank Appel<br />

hat sich seinen Abschied ruhiger vorgestellt<br />

54 Die Unschuldszumutung<br />

Wirecard-Chef Markus Braun sagt vor Gericht<br />

aus. Und will von nichts gewusst haben<br />

58 Geldmarkt<br />

Wissen<br />

62 Die Intelligenz hinter dem Schwarm<br />

Er war die Inspiration für Frank Schätzings<br />

Roman: der Meeresgeologe Gerhard Bohrmann.<br />

Ein Besuch zum Start der TV-Serie<br />

68 Dem Zucker entkommen<br />

Etwa 20 Prozent der Deutschen betrifft<br />

der Prädiabetes. Forschende haben herausgefunden,<br />

wer besonders gefährdet ist<br />

73 Mein Freund, das Nashorn<br />

Ein Foto-Award für besondere Kumpels<br />

Verdient<br />

Als Biathletin holte<br />

Laura Dahlmeier zwei<br />

Olympiasiege. Später<br />

gab sie den Sport auf<br />

Seite 98<br />

74 Meister des Lichts<br />

Das Rijksmuseum in Amsterdam<br />

zeigt eine Vermeer-Schau der Superlative<br />

und entschlüsselt die letzten<br />

Geheimnisse des Malers<br />

80 Die Liebe, ein zerbrechliches Ding<br />

Unsere Empfehlungen der Woche loten die<br />

Höhen und Tiefen der Paarbeziehung aus<br />

82 Der Mytchenspieler<br />

Kinoschamane M. Night Shyamalan verstört<br />

wieder mit einem düsteren Endzeit-Thriller<br />

Leben<br />

92 Für immer jung<br />

Der Brite Aubrey de Grey forscht nach Behandlungen,<br />

die uns länger gesund leben<br />

lassen – er verspricht bis zu 250 Jahre.<br />

Natürlich ist er umstritten. Eine Begegnung<br />

96 Movie Night<br />

Zum Filmabend serviert Ottolenghi selbst<br />

gemachtes Fingerfood: scharfe Chicken Wings<br />

98 „Mein Körper war schlauer“<br />

Biathlon-Olympiasiegerin Laura Dahlmeier<br />

erklärt, warum sie den Leistungssport aufgab<br />

100 Dirty Talk<br />

Subaru bringt einen elektrischen SUV auf den<br />

Markt, der schnell an seine Grenzen stößt<br />

3 Editorial<br />

6 Kolumne von<br />

Jan Fleischhauer<br />

9 Nachrichten<br />

10 Fotos der Woche<br />

16 Grafik der Woche<br />

Karneval<br />

18 Menschen<br />

72 Wir müssen reden<br />

Rubriken<br />

Titelthemen sind rot markiert<br />

IKONE<br />

Günter Bannas über Leben<br />

und Sterben Petra Kellys<br />

81 Salon<br />

84 Bestseller<br />

84 Impressum<br />

102 Die Einflussreichen<br />

104 Leserbriefe<br />

105 Nachrufe<br />

105 Servicenummern<br />

106 Tagebuch<br />

DER HAUPTSTADTBRIEF<br />

Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch<br />

WUNDERWUMMSIS<br />

Inge Kloepfer über<br />

politische Neologismen<br />

Jetzt noch mehr Politik im digitalen Format<br />

Der Hauptstadtbrief Der für <strong>FOCUS</strong>-Leser<br />

Lesen Sie digital und kostenlos noch mehr<br />

Osten<br />

Analysen zur aktuellen Politik.<br />

Über eine politische Himmelsrichtung<br />

Von Gabriel Kords Seite 2<br />

Scannen Sie dazu einfach diesen<br />

QR-Code: 15. Oktober 2022 | #41<br />

<strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong><br />

5


POLITIK<br />

400 km<br />

BELARUS<br />

POLEN<br />

russisch kontrolliertes<br />

ukrainisches<br />

Territorium am 8.3.22<br />

RUMÄNIEN<br />

russischer Vorstoß<br />

am 8.3.22<br />

MOLDAWIEN<br />

Kiew<br />

Mykolajiw<br />

Odessa<br />

Tschernihiw<br />

UKRAINE<br />

15. Febr. <strong>2023</strong><br />

Saporischschja<br />

Cherson<br />

schwere Gefechte<br />

russischer Vorstoß<br />

ukrainische Gegenoffensive<br />

angebliche ukrainische Partisanenkämpfe<br />

russisch kontrolliertes ukrainisches Territorium<br />

russisch kontrolliertes Gebiet vor dem 24. Februar 2022<br />

Besatzung Im Laufe des Krieges hat sich die Front<br />

im Osten verfestigt. Russland okkupiert derzeit<br />

etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums<br />

Sumy<br />

Charkiw<br />

Bachmut<br />

RUSSLAND<br />

Donezk<br />

Mariupol<br />

Krim<br />

2014 von<br />

Russland<br />

annektiert<br />

Luhansk<br />

Der Überfall<br />

Am 24. Februar 2022 im Morgengrauen<br />

greift das russische Militär<br />

die Ukraine an. Über die Grenzen<br />

rollen Panzer, das ganze Land wird<br />

mit Raketen beschossen<br />

Foto: Ukrainian President’s Office/dpa<br />

28<br />

<strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong>


-<br />

TITEL<br />

Die Stunde null<br />

Russland bombardiert die<br />

ukrainische Hauptstadt<br />

Kiew – sowohl militärische<br />

als auch zivile Objekte wie<br />

Kliniken und Wohngebäude<br />

werden getroffen<br />

Der Jahrhundertkrieg<br />

Seit einem Jahr führt Russland einen brutalen Angriff gegen die<br />

Ukraine. Damit hat Moskau die Nachkriegsordnung in Europa und in der Welt<br />

zerstört. Jeden Tag sterben Tausende Menschen, Millionen sind<br />

geflüchtet, die Schäden gehen in die Milliarden. Und Frieden ist nicht in Sicht.<br />

Der Versuch einer Bilanz des Horrors<br />

TEXT VON SERHIJ ZHADAN<br />

Lesen Sie auch<br />

Wie wirken<br />

die Sanktionen?<br />

Der Westen hat<br />

Russland mit harten<br />

Strafen belegt<br />

Seite 33<br />

Im Kriegsmodus<br />

nach Europa<br />

Der ukrainische Regierungschef<br />

Denys<br />

Schmyhal im Interview<br />

Seite 35<br />

Mit Druck und<br />

Diplomatie<br />

Wie kann das Töten<br />

enden und welche Chancen<br />

hat der Frieden?<br />

Seite 38<br />

29


WIRTSCHAFT<br />

Mann in Schwarz<br />

Markus Braun bei seinem<br />

Prozess am Montag. Wie<br />

sein Vorbild, Apple-Gründer<br />

Steve Jobs, liebt er dunkle<br />

Rollkragenpullover<br />

Die Unschuldszumutung<br />

Erstmals sagt Wirecard-Ex-Chef Markus Braun detailliert vor Gericht aus.<br />

Der 53-Jährige präsentiert sich gefühlig – und erstaunlich unwissend<br />

TEXT VON PATRICK GUYTON UND THOMAS TUMA<br />

Manchmal könnt er einem<br />

fast a bisserl ans Herz<br />

wachsen, dieser ruhige<br />

Österreicher mit der<br />

randlosen Brille, dem<br />

schwarzen Rollkragenpulli<br />

unterm ebenso<br />

schwarzen Sakko und dem schütter werdenden<br />

Haar. Etwa wenn er von seiner<br />

„sehr glücklichen Kindheit“ erzählt. Vom<br />

Geigenunterricht, als er fünf war. Auch<br />

vom beruflichen Aufstieg, der blöderweise<br />

im Sommer 2020 ausgesprochen jäh ende-<br />

te. „Am 18. Juni ist dann die Welt untergegangen“,<br />

sagt er. „Und ich darf dazu<br />

sagen: Es war schon auch meine Welt.“<br />

Markus Brauns Kosmos bis zu jenem<br />

Tag: diverse Villen in Saint-Tropez und<br />

anderswo, Weinkeller, Jachtausflüge im<br />

Mittelmeer und, ach ja: ein Hauptjob als<br />

Vorstandschef der Aschheimer Wirecard<br />

AG. Das Unternehmen war aus dem Fast-<br />

Nichts zum Börsenliebling im Dax aufgestiegen<br />

und Braun zum umjubelten<br />

Star nicht nur der deutschen Finanzwelt.<br />

Aber an jenem Sommertag erklärten ihm<br />

Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young eben<br />

auch, dass in seinen Bilanzen 1,9 Milliarden<br />

Euro leider unauffindbar seien.<br />

Der Angeklagte lobt sich selbst<br />

Eine Woche später war Wirecard pleite<br />

und Braun in Untersuchungshaft, die er<br />

seither nicht mehr verlassen hat. Er wurde<br />

zum Hassobjekt Zigtausender von<br />

Anlegern, der Finanzstandort Deutschland<br />

überdies zum Gespött der ganzen<br />

Branche bis rüber nach New York oder<br />

Hongkong. Aktionäre und Banken sollen<br />

Foto: Frank Hoermann/ddp images<br />

54 <strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong>


PROZESS<br />

durch die Pleite 20 Milliarden Euro verloren<br />

haben. Ein einmaliger Fall von Wirtschaftskriminalität,<br />

allenfalls vergleichbar<br />

mit der Dieselaffäre von Volkswagen.<br />

Apropos: Für die Motorentricksereien<br />

steht an anderen Werktagen noch ein weiterer<br />

tief gefallener Topmanager im gleichen<br />

Gericht Rede und Antwort: der frühere<br />

Audi-Chef Rupert Stadler. Beim<br />

Dieselbetrug müssen viele Dutzend Fachleute<br />

Bescheid gewusst haben. Im Fall<br />

Wirecard ist nur ein Trio angeklagt. Umso<br />

größer sind die Vorwürfe: Bilanzfälschung,<br />

Marktmanipulation, Untreue, Bandenbetrug.<br />

Und mittendrin, zwischen seinen vier<br />

Anwälten hinter einem Fujitsu-Laptop: der<br />

ruhige Herr Braun, der am vergangenen<br />

Montag überhaupt das erste Mal seit<br />

Beginn des Prozesses Anfang Dezember<br />

so richtig das Wort ergreift.<br />

„Ich hatte keinerlei Kenntnisse von Fälschungen<br />

und Veruntreuungen“, sagt er.<br />

Und: „Ich weise ganz klar alle Anklagepunkte<br />

zurück.“ Dazwischen immer mal<br />

wieder gefühlige Sätze wie: „Der 18.6.2020<br />

ist ein Tag des tiefsten Bedauerns, ein Tag<br />

des Schmerzes.“<br />

Eine echte Entschuldigung bleibt aus.<br />

Und natürlich gilt auch für Markus Braun<br />

die Unschuldsvermutung. Aber sie wird in<br />

den fast sieben Stunden, in denen er am<br />

14. Verhandlungstag erstmals breit aussagt,<br />

eher zur Unschuldszumutung. Von<br />

ihm selbst dekoriert mit einem Hauch<br />

Eigenlob über die „sehr gute Gesprächskultur“<br />

in seinem früheren Vorstand. Und<br />

über seine eigene Arbeitsweise: „Ich bin<br />

immer sehr exakt.“<br />

Der Gerichtssaal – unterirdisch<br />

Das sieht nicht nur die Staatsanwaltschaft<br />

etwas anders, sondern auch Brauns früherer<br />

Wirecard-Statthalter in Dubai: Oliver<br />

Bellenhaus. Aus einem großen Büro im<br />

Wolkenkratzer Burj Khalifa organisierte<br />

er das bis heute undurchsichtige Asiengeschäft<br />

des Finanzdienstleisters, in dem<br />

kaum was korrekt lief. Man weiß das auch<br />

deshalb so genau, weil er es schon breit<br />

erzählt hat hier. Als Kronzeuge der Anklage.<br />

Immer hinter einem Mund-Nasen-<br />

Schutz versteckt, der nicht nur gegen<br />

Corona hilft, sondern auch gegen allzu<br />

neugierige Fotografen. Bellenhaus erklärt<br />

auch sich selbst für schuldig, hofft aber<br />

im Gegenzug auf eine mildere Strafe in<br />

diesem Mammutprozess.<br />

München-Stadelheim, Wirtschaftsstrafkammer<br />

des Landgerichts. Ein sechs Meter<br />

unter die Erde gegrabener Gerichtssaal am<br />

<strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong><br />

Rand der Justizvollzugsanstalt. Eigentlich<br />

für Terrorprozesse gedacht. Tageslicht<br />

dringt nur durch vergitterte Deckenfenster.<br />

Hier sitzen sie sich nun im wahrsten<br />

Sinne des Wortes im Nacken, keine zwei<br />

Meter voneinander entfernt: Braun meist<br />

hinten, Bellenhaus vorne. Aber wer wusste<br />

wie viel von den schmutzigen Deals? Bildeten<br />

sie mit kleiner Entourage eine Art Fälscherwerkstatt?<br />

Damit die Unternehmenszahlen<br />

immer weiter nach oben gingen<br />

wie der Aktienkurs des Dax-Unternehmens?<br />

Als Architekten eines gigantischen<br />

Luftschlosses?<br />

Der hagere Bellenhaus war eine Woche<br />

nach der Implosion vom 18. Juni 2020 von<br />

Dubai nach München geflogen, hatte sich<br />

den Ermittlern gestellt und als<br />

Kronzeuge angeboten. Vor<br />

Gericht sprach er seither gern<br />

und oft von einem „System<br />

des organisierten Betrugs“.<br />

Davon, dass Wirecard wie ein<br />

„Krebsgeschwür“ gewesen<br />

sei. Und dass Markus Braun<br />

als Mastermind über alles Bescheid<br />

gewusst habe.<br />

Die Staatsanwaltschaft<br />

glaubt, dass Braun, Bellenhaus<br />

sowie der ebenfalls angeklagte<br />

Ex-Chefbuchhalter<br />

Stephan von Erffa eine<br />

„kriminelle Bande“ gebildet<br />

haben. Einen Schaden von<br />

3,1 Milliarden Euro benennt die Anklage,<br />

weitere 1,9 Milliarden werden auf den<br />

Philippinen vermisst. Womöglich haben<br />

sie nie existiert.<br />

Braun sowie von Erffa – ein Cousin der<br />

AfD-Politikerin Beatrix von Storch – sehen<br />

die Lage anders. Braun-Anwalt Alfred<br />

Dierlamm, ein Star unter den Wirtschaftsstrafverteidigern,<br />

sagt über Bellenhaus:<br />

„Er lügt schamlos.“ Nichts von seiner<br />

Aussage „entspricht der Wahrheit“. Braun<br />

und auch von Erffa hätten nichts gewusst<br />

von dem Betrug, der hinter ihren Rücken<br />

stattgefunden habe. Aber kann das überhaupt<br />

sein angesichts solcher Dimensionen?<br />

Bei Wirecard wurde ja nicht mal<br />

eben bei den Reisespesen getrickst.<br />

Einer lügt. Einer sagt die Wahrheit. Wer<br />

spielt welche Rolle in diesem Schauspiel,<br />

das schon seit der Insolvenz Stoff für etliche<br />

Filme, Dokumentationen, Podcasts<br />

und Bücher lieferte? Wirecard – der Name<br />

elektrisierte mehr als ein Jahrzehnt lang.<br />

Das Unternehmen war ein „digitaler Zahlungsdienstleister“<br />

aus der Fintec-Branche.<br />

Es ging um die Entwicklung elek -<br />

»<br />

Am 18.6.2020<br />

ist die Welt<br />

untergegangen.<br />

Ich darf<br />

sagen: auch<br />

meine Welt<br />

«<br />

Markus Braun,<br />

Ex-Wirecard-Chef<br />

tronischer Bezahlsysteme, also darum, wie<br />

Geld in der digitalisierten Welt am besten<br />

vom Käufer zum Verkäufer kommt.<br />

Im Rotlichtmilieu ging’s los<br />

Angefangen hatte die Firma in den eher<br />

halbseidenen Nischen des Netzes, bei der<br />

Bezahlung von Onlineglücksspiel und<br />

Pornografie. Doch die Wirecard-Kunden<br />

wurden größer und seriöser. Das Unternehmen<br />

expandierte entsprechend. Anleger<br />

und Politiker bewunderten die Firma. Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel setzte sich in<br />

China für Wirecard ein, der gestürzte CSU-<br />

Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg fungierte<br />

als Lobbyist. Was ging da trotz all<br />

der Hymnen und Helfer schief?<br />

Dreh- und Hangelpunkt der<br />

Ermittlungen ist das einstige<br />

Asiengeschäft von Wirecard.<br />

Es nennt sich TPA, die Kurzform<br />

für „Third Party Acquiring“,<br />

also Drittpartnergeschäft.<br />

In vielen Ländern hatte<br />

Wirecard nämlich gar keine<br />

Lizenz für Geldbuchungen<br />

und holte sich dafür Partner. In<br />

weiten Teilen des seit Dezember<br />

laufenden Prozesses ging<br />

es bisher um die Aufarbeitung<br />

dieses schwer entwirrbaren<br />

Geflechts aus vielen<br />

eigens gegründeten Tochter-,<br />

Schwester-, aber eben immer<br />

wieder auch Scheinfirmen.<br />

Die Arbeit von Bellenhaus bestand seiner<br />

Aussage nach darin, das in Wirklichkeit<br />

gar nicht existierende Asiengeschäft<br />

wenigstens auf dem Papier am Laufen zu<br />

halten, ja sogar immer weiter auszubauen<br />

mit gefälschten Geschäftsvorgängen,<br />

Umsatz- und Gewinnzahlen. „Man musste<br />

Händler erfinden“, gestand er bereits.<br />

Damit wurden auch die Wirtschaftsprüfer<br />

getäuscht, die sich wegen möglicher<br />

Versäumnisse längst ebenfalls mit hohen<br />

Schadensersatzforderungen konfrontiert<br />

sehen.<br />

In seiner eigenen Vernehmung rutschte<br />

Bellenhaus immer wieder in einen jovialen<br />

Plauderton, wie ein Dozent, der seinen<br />

Studenten effizientes Fälschen und die<br />

eigene Cleverness dafür erklärt: „Manches<br />

von mir war richtig gut“, lobte er<br />

sich. Und Markus Braun? Soll bei diesen<br />

Machenschaften ein „absolutistischer<br />

CEO“ gewesen sein, auf den sich „alles<br />

ausgerichtet hat“.<br />

Der Vorstandschef galt durchaus als<br />

Zahlenjunkie, der alles im Blick hatte.<br />

55


LEBEN<br />

Rockstar der<br />

Longevity<br />

Aubrey de Grey, 59,<br />

kritisiert, dass<br />

wir Altern und<br />

Tod für unausweichlich<br />

halten<br />

Das Versprechen<br />

des ewigen Lebens<br />

Der Brite Aubrey de Grey forscht nach<br />

Behandlungen, die uns länger gesund leben lassen.<br />

250 Jahre, sagt er. Kein Wunder, dass der<br />

Bio gerontologe umstritten ist. Eine Begegnung<br />

92<br />

<strong>FOCUS</strong> 8/<strong>2023</strong>

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