ZEITSPIEL Legenden: Fußballvereine, Band 2
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Hardy Grüne (Hrsg.)
ZEITSPIEL-LEGENDEN
FUSSBALLVEREINE
BAND 2
Mit Beiträgen von
Carsten Gier, Hardy Grüne,
Hansjürgen Jablonski, Bernd
Sautter und Olaf Wuttke
LEGENDEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
1. Auflage, 2021
Copyright © ZEITSPIEL Verlag
Rambergstraße 29, 30161 Hannover
WWW.ZEITSPIEL-MAGAZIN.DE
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Hardy Grüne
Lektorat: Carsten Gier, Holger Hoeck
Druck und Bindung: Silber Druck, Lohfelden
ISBN: 978-3-96736-007-3
ZEITSPIEL-LEGENDEN
FUSSBALLVEREINE
BAND 2
WELT
INHALT
Anstoß 7
WEST
Alemannia Aachen 8
Frechen 20 27
TSG Harsewinkel 28
SV Höntrop 29
1. FC Recklinghausen 32
Sportfreunde Siegen 34
NORD
Bremerhaven 93 (OSC) 40
FC Bremerhaven 53
Phönix Lübeck 54
Düneberger SV 64
Preußen Hameln 65
VfR 08 Osterode 68
NORDOST
Tasmania Berlin 70
FSV Optik Rathenow 86
Glückauf/Aktivist Brieske 88
BSG Chemie IW Ilmenau 98
BSG Empor Sosa 100
BSG Rotes Banner
Trinwillershagen 100
SÜDWEST
FK Pirmasens 102
Viktoria Herxheim 116
VfL Neuwied 117
FSV Salmrohr 118
SÜD
Freiburger FC 124
FSV Bergshausen 138
SSV Reutlingen 05 140
1. FC Lichtenfels 151
FC Vilshofen 154
SpVgg Ansbach 156
REST DER WELT
Blackpool FC 158
Stade de Reims 164
Orlando Pirates 170
Autoren 174
Register und Ausblick #3 175
LEGENDEN
ANSTOSS
#2
Fußballgeschichte ist Erinnerung und konservierte
Zeitgeschichte. Im zweiten Band
der „ZEITSPIEL-Legenden“ werden ein paar
Klubs porträtiert, bei denen jüngere Zeitgenossen
berechtigt fragen, wer denn das sei.
Das ist das Wesen von Fußballgeschichte, und
das ist der Kern unserer Buchreihe: Fußball
und seine Vergangenheit in ganzer Breite und
Tiefe darzustellen – auch mit aus der Zeit gefallener
Klubs.
Fußball als Zeitgeschichte bildet die Bedingungen
der Zeit ab und erzählt ihren Wandlungsprozess.
Dass ein Klub wie der Wattenscheider
Stadtteilverein SV Höntrop in den
1930er Jahren Zehntausende Fans anlockte
und zum Rivalen des FC Schalke 04 aufstieg,
ist ein solches Beispiel. Damals funktionierte
Fußball lokal, bildete jeder Verein seinen eigenen
Nachwuchs aus, der in der fußläufigen
Umgebung lebte. Wo heute Zwölfjährige mit
dem ICE zwischen ihrem Wohnort und dem
Trainingszentrum eines Bundesligisten pendeln,
gingen Zwölfjährige in den 1930er Jahren
zu Fuß zum Training und freuten sich,
wenn ihr Verein mal ein paar Schuhe springen
ließ, weil das Talent Anlass zur Hoffnung gab.
Bis in die 1950er Jahre herrschte dadurch eine
personelle und regionale Kontinuität, von der
heute nicht mehr viel zu sehen ist.
Alemannia Aachen beispielsweise war stets
ein Verein, der seine Spieler aus der Region
holte und Wert auf Identifikation mit dem
Grenzland legte. Namen wie Reinhold Münzenberg,
Jupp Martinelli, Jo Montanes oder
Günter Delzepich stehen dafür. So schaffte
man es 1967 in die Bundesliga, und so kickte
man 2004 sogar im Europapokal. Mit der
Rückkehr in die Bundesliga brach 2006 der
„große“ Fußball über Aachen heein. Der Tivoli,
die ikonische Herzkammer des Klubs, wurde
aufgegeben. Die Alemannia stürzte ab.
Einen anderen Weg ging man in Reutlingen,
einer Provinzstadt, in der engagierte und
vermögene Patriarchen ihre Träume erfüllen
wollten. Schon in den 1950er Jahren lockte
der SSV 05 Ausnahmekicker aus dem ganzen
Land an, denn die regionalen Talente reichten
nicht, um den Klub in der Spitze zu etablieren.
Geklappt hat es jedoch immer nur kurzzeitig,
nie dauerhaft – denn dafür war Reutlingen
dann doch wieder zu klein und hatte in entscheidenden
Momenten zudem schlicht Pech.
Ein weiteres Attribut dieser Buchreihe ist
die Verbindung von Fußball und Sozialgeschichte.
In Bremerhaven, einer Stadt mit
schwierigem sozialen Umfeld, bildete man
1973 einen Großverein, der mit neuem Stadion
im Rücken nach oben kommen sollte. Doch
die Verantwortlichen ignorierten die emotionale
Bedeutung von Tradition. Sie tauschten
den Namen Bremerhaven 93 gegen ein nichtssagendes
„Olympischer Sportclub“, gaben das
kultige Zolli-Stadion auf und schufen eine
Betonarena ohne Atmosphäre. Zudem ließen
sie die Hoffnung auf Etablierung allzu schnell
fallen, denn der neue Großverein kümmerte
sich lieber um den Breitensport. Konsequenz:
Heute ist Bremerhaven Fußballprovinz.
ANSTOSS
Baumwolltrikots, echte Lederbälle, volle Ränge - die 70er in
Bremerhaven, hier repräsentiert von Gerd Zebrowski
ALS DIE STADT BREMERHAVEN UND IHR HAFEN
FLORIERTEN, BLÜHTE AUCH BREMERHAVEN 93
AUF. DANN KAMEN WERFTENKRISE,
SOZIALE UMWÄLZUNGEN UND
EIN HARTNÄCKIGES STADIONPROBLEM.
NACHFOLGER OSC SCHEITERTE DRAMATISCH
BREMERHAVEN 93 (OSC)
TuS Bremerhaven 93
(OSC Bremerhaven)
Gegründet: 7. 8.1893 (14.2.1972)
Vereinsfarben: Weinrot-Weiß (Rot-
Weiß)
Spielstätte: Zolli Pestalozzistraße
(Nordseestadion)
Größter Erfolg: Endrunde Deutsche
Meisterschaft 1955
Das alte Umkleidegebäude steht zwar noch, doch es wirkt
seltsam deplaziert in der urbanen Gartenlandschaft, in der
nichts an ein Fußballstadion erinnert. Jahrzehntelang schlug
hier im „Zolli“ das Fußballherz von Bremerhaven, einer Stadt,
deren goldene Jahre weit zurückliegen und die seit langem
vor allem dann in die Schlagzeilen gerät, wenn es um soziale
Brennpunkte geht.
Bis 2013 war der Zolli eine dieser Fußballspielstätten, die
beim Gegner gefürchtet sind. Ein enger Platz, in dem der
Heimvorteil regelrecht greifbar war. Im Zolli kumulierte die
große Fußballtradition der Arbeiterstadt Bremerhaven, die
Spieler wie Egon Coordes, Uwe Klimaschewski, Horst Bertl
und Willi Reimann hervorbrachte. Und hier war zuletzt auch
deren Niedergang zu beobachten. Sechs Jahre lag das Gelände
brach, ehe es in den heutigen „Mitmach-Park“ verwandelt
wurde. Dass der Zolli nicht mehr ist, passt zur Geschichte von
Bremerhaven 93, denn der Klub ist ebenfalls nicht mehr da.
Sein Erbe verwaltet seit 1977 der OSC Bremerhaven, der nie
im Zolli spielte und dem es auch nie gelang, an die Popularität
der Weinroten anzuknüpfen. Bremerhaven und der große
Fußball, das ist ein geschlossenes Kapitel. Heute ist die Hafenstadt
fußballerisch Werderland.
ERSTE ERFOLGE IM ARBEITERFUSSBALL
Zolli steht für „Zollinlandhafen“ und damit für 350 Jahre
Wirtschafts- und Migrationsgeschichte an der Unterweser.
Einerseits brachte der „Bremer Hafen“ Reichtum und Wohlstand.
Andererseits war er für mehr als 1,2 Millionen Deutsche
Ausgangstor in die „neue Welt“ auf der anderen Seite
des Atlantiks. Eine Dauerausstellung im „Deutschen Auswan-
41
Heraldik
TuS 93
Bremerhaven
Die OSC-Stammvereine ATS Bremerhaven
und Polizei SV Bremerhaven
OSC
Bremerhaven
Die Arbeitermeisterschaft-
Siegerelf von 1932
Bremerhaven 93 (OSC) in Zahlen
7.8.1893 gegründet als ATV Bremerhaven 93 Mai 1912 Gründung
Fußballabteilung 8.7.1933 nach Verbot aufgelöst (Arbeitersport),
Gründung TuS Bremerhaven 93 13.6.1943-45 KSG Bremerhaven (mit
Leher Turnerschaft) 18.11.1945 aufgelöst, Gründung SG Bremerhaven
März 1947 TuS Bremerhaven 93 25.6.1974 Anschluss an OSC Bremerhaven
(zunächst weiter als „TuS 93“. Vorgeschichte OSC: 14.2.1972
gegründung durch Fusion des ATS Bremerhaven und des Polizei SV
Bremerhaven 1.1.1974 + Judo-Club 1955 1974 + Tanzsportclub
1955”) 1.7.1977 endgültiges Aufgehen im OSC Bremerhaven
BREMERHAVEN 93 (OSC) IM HÖHERKLASSIGEN FUSSBALL
42/43: GL Weser-Ems 5. 18 9 1 8 48:68 19-17
43/44: GL Osthann. 3. 14 8 2 4 53:39 18-10
44/45: GL Osthann. - 0 0 0 0 0:0 0-0
45/46: nicht erfasst
46/47: OL Nied.-Nord 5. 23 13 4 6 82:45 30-16
47/48: AL Bremen 1. 24 74:23 40-8
Q zur OL-AR 1. 4 2 2 0 8:3 6-2
OL-AR Nord h1. 5 3 1 1 11:7 7-3
48/49: OL Nord 12. 22 7 0 15 28:54 14-30 10.299
49/50: OL Nord 10. 30 13 4 13 57:65 30-30 9.733
50/51: OL Nord 8. 32 13 6 13 66:61 32-32 8.687
51/52: OL Nord 8. 30 12 9 9 63:56 33-27 8.000
52/53: OL Nord 8. 30 9 11 10 50:60 29-31 7.800
53/54: OL Nord 7. 30 11 7 12 53:55 29-31 6.266
54/55: OL Nord 2. 30 17 7 6 56:38 41-19 8.000
DM-ER (Q): TuS 93 - Wormatia Worms 3:3 n.V., 3:2
DM-ER, Gr. 2 2. 6 2 2 2 5:10 6-6
55/56: OL Nord 7. 30 11 10 9 55:49 32-28 5.700
56/57: OL Nord 9. 30 12 5 13 42:49 29-31 6.233
57/58: OL Nord 5. 30 13 7 10 52:42 33-27 5.000
58/59: OL Nord 9. 30 12 4 14 54:66 28-32 5.766
59/60: OL Nord 5. 30 13 8 9 59:47 34-26 6.066
60/61: OL Nord 14. 30 9 5 16 37:67 23-37 4.066
61/62: OL Nord 14. 30 8 7 15 35:65 23-37 4.000
62/63: OL Nord 13. 30 9 6 15 40:56 24-36 4.600
63/64: RL Nord 12. 34 9 10 15 48:48 28-40 2.852
64/65: RL Nord 7. 32 11 9 12 46:55 31-33 2.593
65/66: RL Nord 4. 32 15 8 9 61:47 38-26 3.235
66/67: RL Nord 15. 32 7 10 15 34:57 24-40 2.118
67/68: RL Nord 5. 32 17 5 10 48:53 39-25 3.876
68/69: RL Nord 9. 32 10 10 12 53:57 30-34 2.688
69/70: RL Nord 6. 32 16 5 11 57:47 37-27 2.353
70/71: RL Nord 8. 34 15 7 12 54:48 37-31 3.735
71/72: RL Nord 15. 34 8 9 17 42:60 25-43 2.647
72/73: RL Nord 14. 34 6 13 15 40:60 25-43 2.429
73/74: RL Nord 14. 36 11 9 16 35:61 31-41 1.900
74/75: AOL Nord 6. 34 14 9 11 51:43 37-31 972
75/76: AOL Nord 10. 34 12 8 14 67:50 32-36 1.445
76/77: AOL Nord 1. 34 22 7 5 98:35 51-17
2. BL-Nord-AR h1. 6 4 0 2 14:5 8-4
77/78: 2. BL-Nord i19. 38 11 10 17 61:88 32-44 2.973
78/79: AOL Nord 2. 34 19 8 7 68:32 46-22
AS zur 2. BL-Nord: OSC - Hertha Zehlendorf 1:0, 4:5 h
79/80: 2. BL-Nord i18. 38 10 7 21 52:79 27-49 2.116
80/81: AOL Nord 5. 34 19 8 7 60:39 46-22 1.037
81/82: AOL Nord 16. 34 6 13 15 34:62 25-43 777
82/83: AOL Nord 10. 34 12 8 14 45:57 32-36 494
83/84: AOL Nord 12. 34 10 11 13 52:53 31-37 618
84/85: AOL Nord i17 34 5 9 20 43:74 19-49 488
1985-2020: nicht erfasst
20/21: Bremen-Liga wegen Corona annuliert
dererhaus“ erinnert an diesen Teil der Stadtgeschichte.
Ziel der Auswanderer waren vor
allem die Vereinigten Staaten, die wiederum
nach dem Zweiten Weltkrieg die entscheidende
Rolle spielten, dass Bremen zum
kleinsten Bundesland wurde. Weil die amerikanischen
Besatzungstruppen einen Zugang
zum Meer brauchten, wurden Bremen und
Bremerhaven zur US-Exklave in der britischen
Zone und später zum Bundesland. 1947 erhielt
die 1924 durch Zusammenschluss von
Bremer-Hafen (dem heutigen Stadtteil Mitte),
dem preußischen Konkurrenzhafen Geestemünde
sowie der Kreisstadt Lehe gebildete
Stadt Wesermünde offiziell ihren schon länger
verwendeten Namen Bremerhaven (mit
„v“ statt mit „f“!).
Proletarisch geprägt, war die Hafenstadt
prädestiniert für eine lebhafte Fußballkultur.
Erster Klub war der 1899 gebildete FC Bremerhaven-Lehe,
der sich 1918 in den SC Sparta
Bremerhaven und den VfB Lehe (ab 1992
FC Bremerhaven) aufspaltete. Wesentlich erfolgreicher
agierten jedoch die Kicker der am
7. August 1893 gegründeten Freien Turnerschaft
Unterweser, die Mitglied im Arbeiter-
Turnerbund (ATB, später ATSB) war und sich
bereits 1912 – ungewöhnlich früh für einen
Arbeiterverein – eine Fußballabteilung zulegte.
Ihr gehörten vor allem jugendliche Hafenarbeiter
aus dem Freigebiet Lehe an.
Im April 1912 verselbständigte sich die Abteilung
als Arbeiter-TuS Bremerhaven 93 und
stieg unter Führung von Abteilungsleiter Albert
Paecht zu den spielstärksten Teams im
norddeutschen Arbeiterfußball auf. Parallel
avancierten die kickenden Werftarbeiter zu
Lieblingen des Volkes, waren die Ränge des
Sportplatzes an der Rickmersstraße oft gut
gefüllt, wenn der ATuS 93 auflief.
So wie im Sommer 1921, als sich die Weinroten
erstmals für die Endrunde um die ATSB-
Bundesmeisterschaft qualifizierten und erst
im Halbfinale von Nordiska Berlin gestoppt
wurden (2:3 n.V.). Im Inflationsjahr 1923
musste der Klub dann zwar seinen Rasenplatz
an der Rickmersstraße wegen zu hoher Pachtforderungen
aufgeben, erreichte jedoch zwei
Jahre später auf dem staubigen Leher Kasernensportplatz
erneut das Halbfinale um die
ATSB-Meisterschaft (0:2 gegen den Berliner
SV Stralau). Im darauffolgenden Frühjahr
konnte schließlich an der Pestalozzistraße –
und damit mitten im Zollinlandhafen – der
mit städtischen Mitteln finanzierte Zolli bezogen
werden. Gleich drei Spieler stellte 93 damals
für die deutsche Arbeiterauswahl: Mittelläufer
Willi Knebel debütierte 1926 gegen
Belgien, Bernhard Peetz 1927 gegen England
und der gebürtige Kieler Werner Krohn 1932
gegen Norwegen.
AUS ATUS 93 WIRD TUS 93
Unter den Nationalsozialisten wurde die Arbeitersportbewegung
im Mai 1933 zerschlagen.
Der inzwischen zum Vorsitzenden aufgestiegene
Albert Paecht holte daraufhin mit
Walter Bleicher den Vorsitzenden der NSDAP-
Stadtverordnetenfraktion ins Boot und ließ
die Mitglieder am 11. Juni 1933 über die Tagesordnungspunkte
„Gleichschaltung“ sowie
„Namensänderung“ abstimmen. Aus dem proletarischen
„Arbeiter Turn- und Sport-Verein“
(ATuS 93) wurde der bürgerliche „Turn- und
Sportverein“ (TuS 93), der nach einer einjährigen
Spielpause - verstärkt durch die Akteure
der zerschlagenen Freien-Spielvereinigung
Lehe - im DFB-Lager antrat und 1942 deren
höchste Spielklasse erreichte.
Nach dem Krieg stand das zu 56 Prozent
kriegsgeschädigte Bremerhaven vor einem
Neuanfang und wurde zum größten deutschen
Passagierhafen. Ozeanriesen dampften
ein und aus, die Fischerei boomte, die amerikanischen
Besatzungsbehörden sorgten für
attraktive Arbeitsplätze und die Bevölkerungszahl
stieg an. Aus 98.000 Einwohnern
1945 wurden bis 1956 mehr als 130.000. Davon
profitierte auch der Fußball. 1946/47
hatte Bremerhaven 93 trotz eines historischen
3:2 bei Werder Bremen zwar die neue Oberliga
Nord verpasst, holte Versäumtes jedoch
1948 nach. Nach einem 3:2 über die SV Hemelingen
feierten 6.000 Fans am Zolli zunächst
den Einzug in die Aufstiegsrunde, wo das
Team um die Vorkriegshaudegen Ewald Zan-
BREMERHAVEN 93
43
Der Zolli mit alter Holztribüne
der und Harry Teschmacher mit einem 3:0
über Itzehoe alles klar machte.
Während der Sommerpause wurde der Zolli
in Eigenregie auf oberligataugliche 15.000
Plätze ausgebaut. Nach einem ernüchternden
1:7 zum Auftakt beim HSV setzten die Weinroten
mit einem 3:0 über St. Paulis Dresdner
„Wunderelf“ ein erstes Ausrufezeichen. Am
Ende stand zwar der sportliche Abstieg, durch
die Aufstockung der Oberliga auf 16 Teams
blieb Bremerhaven aber dennoch erstklassig.
BUNTER HAUFEN WIRD ZUM TEAM
In der Folge reifte unter dem ehemaligen österreichischen
Nationalspieler Gustav „Opa“
Wieser ein Team, das Geschichte schreiben
sollte. Mit dem Hafen und den amerikanischen
Besatzungsbehörden standen 93 zwei attraktive
Arbeitgeber an der Seite, mit denen man
Fußball-Asse an die Unterweser locken konnte,
die nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue
Heimat suchten. Schon 1935 war Fritz Bergmann,
gebürtig aus Hamborn im Ruhrgebiet,
als Marine-Berufssoldat nach Bremerhaven
gekommen. 1946 lockte „Friedel“ Drewes Torhüter
Heinz Colla, den er in Kriegsgefangenschaft
kennengelernt hatte, an die Unterweser.
Der gebürtige Essener Max König war in
der Sowjetzone bei Einheit Pankow gerade
auf dem Weg nach oben, als er 1951 zunächst
nach Westberlin und dann nach Bremerhaven
emigrierte - die 93ern hatten in Berlin per
Zeitungsannonce nach Verstärkungen gesucht.
Im selben Jahr kam auch Erich „Ete“
Bücker aus dem südniedersächsischen Hann.
Münden, der mehr als 500 Spiele für Bremerhaven
93 absolvieren sollte. Werner Lang, Galionsfigur
der angehenden Erfolgself, stammte
aus Plauen, landete nach dem Krieg zunächst
in Lamstedt und kam dann der Liebe wegen
nach Bremerhaven, wo er zum Nationalspieler
aufstieg. Linksverteidiger Horst Wagenbreth,
1939 mit dem Zeitzer BC Jugendmeister,
war im Krieg als Marinesoldat in die Stadt
gekommen und wechselte 1947 von der SG
Lehe-Nord zum Zolli. Willi Kapteina, aus dem
SC Gelsenkirchen 07 hervorgehend, verschlug
es ebenfalls beruflich an die Unterweser, wo
er bis 1951 für den Geestemünder SC auflief
und dann zu 93 kam. Ein Jahr später schloss
sich auch der oberschlesische Wandervogel
(und Torjäger) Heini Mokroß, der in Bremerhaven
ein Fotolabor eröffnet hatte, den Weinroten
an. Dazu kamen Günter „Flocki“ Gese
aus Nordenham, der aus Wulsdorf stammende
Günter Lühr, der zunächst als Stürmer auf-
lief und später zum Torwart wurde, Mittelläufer
Werner Kolditz, schon zu Gauligazeiten in
Weinrot am Ball, sowie Eigengewächs Robert
„Sonny“ Bock, der 1948 aus der Gefangenschaft
zurückgekehrt war. Ein bunter Haufen,
der zum Team werden sollte.
Im Hintergrund stand eine rührige Sponsorenschaft,
die zu allen Spielen hinterherreiste
und keineswegs nur Naturalien springen
ließ. Allen voran Heini Erbe, Fleischermeister
und angehender Klubvorsitzender, sowie Rolf
Brithan, der im Ligaauschuss saß und Spielern
Jobs „beim Ami“ verschaffte. Mit dieser
Mischung war Bremerhaven 93 so etwas wie
ein fußballerisches Abbild der Verhältnisse in
Nachkriegsdeutschland. Das Publikum in der
stetig größer werdenden Stadt war begeistert.
Im ersten Oberligajahr 1948/49 sorgten
durchschnittlich 10.229 Zahlende für einen
ewigen Klubrekord und veranlassten die Führung,
das Vertragsspielerstatut anzunehmen
und den alten Arbeiterverein in einen professionellen
Klub umzuwandeln. Bremerhaven
war damals am Puls der Zeit im Fußball.
1950/51 wurde Herberger-Schüler Helmuth
Johannsen die Übungsleitung übertragen. Ein
strategisch denkender junger Mann, der die
Eckpfeiler für die nächste Erfolgsstufe setzte.
Während die meisten Oberligisten noch im
WM-System verharrten, experimentierte Johannsen
mit einem zurückhängenden Mittelstürmer
und einem 4-3-3, das die Gegner reihenweise
verwirrte. Im Oktober 1951
kletterte 93 mit einem 2:0 bei Eintracht Osnabrück
erstmals auf Platz zwei der Oberliga
und bot selbst dem ewigen Nordmeister HSV
Paroli. Am 3. Dezember 1951 feierten 14.000
auf dem überfüllten Zolli Werner Kolditz, der
drei Minuten vor Schluss den 2:2-Ausgleich
markierte. Mit seinen engen Ausmaßen und
dem begeisterungsfähigen Publikums genoss
der Zolli längst Kultstatus an der Unterweser.
ENDRUNDENTEILNAHME 1955
1953 übernahm mit Paul Fraas der langjährige
Fußball-Abteilungsleiter (und Deutsche
Meister im Kegeln 1949) die Führung über
den Gesamtverein, der sich längst von einem
Turn- in einen Fußballverein verwandelt hatte.
Mit Robert „Zapf“ Gebhardt lockte Fraas
einen Nürnberger Meisterspieler (1948) an
die Unterweser, der dort zwar lediglich fünfmal
auflief, 1954 jedoch die Nachfolge des
nach Kiel wechselnden Helmuth Johannsen
antrat. Der lebensfrohe Franke riss die spröden
Norddeutschen mit und weckte den Ehrgeiz,
zu den großen Teams im Norden aufzuschließen.
Dazu holte er den zwischenzeitlich
zu Schalke 04 gewechselten, dort aber unglücklichen
Kapteina zurück und formte ein
Team, das mit mannschaftlicher Geschlossenheit
und hoher Spielkultur bundesweit in die
Schlagzeilen rückte.
Die Saison 1954/55 begann mit einem 3:1
gegen den frischgebackenen Deutschen Meister
Hannover 96. Eine Woche später übernahmen
die Weinroten mit einem 2:1 beim
Bremer SV erstmals die Oberligatabellenführung
und ließen sich auch von der ersten Saisonniederlage
– 0:3 beim HSV am fünften
Spieltag – nicht aufhalten. Als sie sich im Frühjahr
1955 noch immer in der Spitzengruppe
tummelten, breiteten sich erste Hoffnungen
auf die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft
aus. Selbst die anfangs noch skeptischen
Fans strömten nun zuhauf ins Zolli und standen
wie ein Mann hinter ihrem Team. Dessen
Performance war unwiderstehlich: 5:3 in
Braunschweig, 5:4 in Osnabrück, 5:0 gegen Altona
93, 2:1 in Kiel, 2:2 gegen den HSV - Bremerhaven
93 war nicht zu stoppen. Ein 2:1 in
Wolfsburg besiegelte schließlich die Vizemeisterschaft
hinter dem HSV und damit die Qualifikation
für die Endrunde um die „Deutsche“.
Lediglich 38 Gegentore verrieten, wem der Erfolg
zu verdanken war: Der Abwehr um den
zum Torwart gewendeten Stürmer Lühr sowie
den Innenverteidigern Lill und Wagenbreth.
Parallel rückte 93 im Vereinspokal mit einem
5:1 über Erkenschwick und einem 3:1 gegen
den HSV ins Viertelfinale vor, wo Schalke 04
für das Aus sorgte (0:2). Als sich die Bremerhavener
in zwei packenden Spielen binnen 24
Stunden im Düsseldorfer Rheinstadion gegen
Südwestvize Wormatia Worms durchsetzten
und die Gruppenspiele um die Deutsche Mei-
BREMERHAVEN 93
45
sterschaft erreichten, brandete eine nie erlebte
Fußballeuphorie an der Unterweser auf.
30.000 Fans empfingen das Team, das in geschmückten
Wagen zum Rathaus kutschiert
wurde, wo sich Oberbürgermeister Gullasch
in den Reigen der Gratulanten einreihte. Bremerhaven
einig Fußballstadt!
Doch es gab ein Problem: Der Zolli. Als der
DFB zur Besichtigung kam, schüttelte er den
Kopf. Weder verfügte das Stadion über die geforderten
25.000 Plätze bzw. 4.000 Sitzplätze,
noch war er überhaupt in endrundentauglichem
Zustand. Eilig versuchte man, auf dem
Platz der Leher Turnerschaft in Speckenbüttel
binnen acht Tagen mittels Tonnen von Sand
Stehwälle aufzuschütten und durch von den
amerikanischen Besatzern geliehene Stahlrohr-
und Holztribünen für 4.000 Sitzplätze zu
sorgen. Vergeblich. Der Boden konnte die Tonnenlast
nicht tragen, und weil auch die Parkplatzfrage
ungeklärt blieb, sagte DFB-Spielausschussvorsitzender
Körfer erneut „Nein“.
Damit blieb nur noch das Bremer Weserstadion.
Um den Fans die 3 DM teure Anreise zu
ersparen, charterte der Klub die Weserdampfer
„Deutschland“ und „Weserstolz“, auf denen
die Reise auch für 2 DM möglich war, und nahm
den Kampf um die „Deutsche“ in fremden Gefilden
auf. Die legendäre Heimstärke (1954/55
auf dem „Zolli“ ungeschlagen) blieb auch im
Exil intakt. „Daheim“ unbesiegt (1:0 gegen
Wormatia Worms, 2:0 gegen Kickers Offenbach,
1:1 gegen Rot-Weiss Essen) verpasste die
Elf um Kapitän Werner Lühr jedoch aufgrund
der Auswärtsschwäche (in Essen und Offenbach
gab es jeweils 0:4-Pleiten, in Worms immerhin
ein 1:1) eine bessere Platzierung als
Rang 3. „Ete“ Bücker sollte noch viele Jahre
später von der „eingeschworenen Truppe“
schwärmen, die für den größten Erfolg in der
Bremerhavener Fußballgeschichte sorgte.
DAS DRAMA UM DEN „ZOLLI“
Die Erwartungen in der Hafenstadt stiegen
mit dem Erfolg allerdings sprunghaft an. Erwartungen,
die die Weinroten in der Folgezeit
nie erfüllen konnten, zumal sich zeigte, dass
die Vizemeisterelf über ihren Möglichkeiten
gespielt hatte. Nach einem Traumstart mit fünf
Siegen in sechs Spielen beendete Bremerhaven
93 das Spieljahr 1955/56 lediglich auf Platz 7,
kamen durchschnittlich nur noch 5.700 Fans
statt 8.000 wie im Vorjahr. 1958 und 1960
wurden die Weinroten jeweils Fünfter, war an
eine weitere Endrundenteilnahme nicht zu
denken.
Zumal das Stadionproblem drängte. Auf der
einen Seite war der Zolli eine romantisch verklärte
Fußballstätte, die voller Erinnerungen
steckte. Auf der anderen Seite war sie unzumutbar
für Spieler wie Publikum. Der Rasen
einer der schlechtesten im Norden, die hölzerne
Sitzplatztribüne, die einer Straßenerweiterung
zum Opfer gefallen war, niemals
ersetzt und die Umkleiden schlicht nicht zeitgemäß.
Eine schwierige Situation auch für die
Stadt Bremerhaven, die noch immer voller
Kriegsruinen war und für die der Ausbau der
Infrastruktur und die Schaffung von Wohnraum
wichtiger war als ein oberligataugliches
Fußballstadion. Erst 1975, 20 Jahre nach dem
größten Erfolg des lokalen Fußballs, sollte
Bremerhaven ein neues Stadion bekommen.
In der Rückschau eine fatale Entwicklung,
denn an der Stadionfrage sollte Bremerhaven
93 zerbrechen. 1957 fragten die Weinroten in
ihrer Verzweiflung sogar in Bremen nach, ob
sie künftig im Weserstadion spielen dürften,
verzichteten aber schließlich aus Rücksicht
auf ihre Fans auf den Umzug.
Der Stillstand in der Stadionfrage übertrug
sich auf die sportliche Situation. Bremerhaven
93 waren die Hände gebunden. 1958
wechselte Erfolgscoach Gebhardt nach Herne-
Sodingen, hielt es Nachfolger Oswald Pfau
ganze zwölf Monate an der Unterweser. Anschließend
verabschiedeten sich mit Wagenbreth,
Kapteina, Mokroß, Lühr und Preuße
gleich fünf Eckpfeiler der Vizemeisterelf. Der
ehemalige 96er Erich Garske leitete die längst
überfällige Verjüngung ein. Mit Günter Bolte
(Bremen 1860), Klaus Niemuth und Bruno
Ziebs (beide Arminia Hannover) sowie den
unter Jugendleiter und Talentspäher Albert
Kraemmer aufgebauten Eigengewächsen
Werner Torner, Manfred Bertl (älterer Bruder
Oben: Horst Wagenbreth zieht ab. Unten: Volles Haus im Zolli beim freundschaftlichen
Gastspiel des 1. FC Kaiserslautern im Jahr 1952
BREMERHAVEN 93
47
Elegant am Hamburger Rothenbaum: Werner Lang 1959 im Spiel beim HSV.
von Horst) und Uwe Klimaschefski kamen frische
Kräfte ins Teams. Zunächst schien der
Umbau geglückt, schlug 93 den ewigen Nordmeister
HSV 4:2 und überwinterte auf Rang 2.
Doch dann zerstritt sich Trainer Garske mit
dem Vorstand und wechselte zu Bayer Leverkusen.
Klimaschefski, Niemuth, Ziebs und
Torner nahm er mit, womit Bremerhaven 93
nicht nur seines „magischen Vierecks“ beraubt
war, sondern vor allem seiner Zukunft.
Als 1960 auch Kapitän Werner Lang und „Flocki“
Geise aufhörten, rutschte das Team in die
Abstiegszone, kamen im Schnitt nur noch 4.000
Fans ins marode Zolli. Die Kasse war inzwischen
leer, und nachdem zwei Jahre später die
Gehälter gekürzt worden waren, ließ sich auch
„Ete“ Bücker reamateurisieren und lief fortan
für die 93-Amateure auf. Parallel bekam es
Bremerhaven zunehmend mit den Folgen des
wirtschaftlichen Strukturwandels und steigenden
Arbeitslosenzahlen zu tun. Deutschland
steckte mitten im Wirtschaftswunder, das
an Bremerhaven jedoch vorbeiging.
Während Nachbar SV Werder 1963 Bundesligist
wurde, konnte Bremerhaven 93 froh sein,
es zumindest in die zweitklassige Regionalliga
Nord geschafft zu haben. Dort löste Ex-Kapitän
Werner Lang Wilfried Kapteina auf der Trainerbank
ab und knüpfte noch einmal an erfolgreichere
Tage an. Doch Platz sieben (1964/65)
bzw. vier (1965/66) entpuppten sich als Strohfeuer.
1966/67 fielen die Weinroten auf Rang
15 zurück und begrüßten durchschnittlich nur
noch 2.200 Zuschauer. „Es wird festgestellt,
dass die augenblickliche Mannschaft eine der
schlechtesten der letzten Jahre ist“, hieß es steif
auf der Jahreshauptversammlung. Für Lang
kam Fritz Schollmeyer, ein feinsinniger Theaterfreund,
der Arminia Hannover 1962 in die
Oberliga zurückgeführt hatte.
ROTER FADEN STADIONDRAMA
Durch einen fulminanten Siegeszug mit 16:0
Punkten und 18:8 Toren übernahmen die
Weinroten im Frühjahr 1968 erstmals in ihrer
Geschichte die Tabellenführung der Regionalliga
Nord und träumten von der Bundesligaaufstiegsrunde.
Doch nachdem es im Februar
eine 0:2-Niederlage bei Abstiegskandidat Altona
93 gegeben hatte, ging plötzlich alles
schief. Gehrke und Neumann wurden wegen
Randale gesperrt, Trainer Schollmeyer wechselte
„aus klimatischen Gründen“ zum Bonner
SC, und mit dem 1:4 gegen Arminia Hannover
– nach 1:0-Führung – verpasste 93 die Aufstiegsrunde
zur Bundesliga endgültig. Mit
3.900 Zuschauern hatte man noch einmal einen
akzeptablen Zuschauerzuspruch erzielt,
der in den folgenden sechs Spielzeiten auf
1.900 sinken und im maroden Zolli einen
Schuldenberg auftürmen sollte. 1968 betrug
er noch „nur“ 100.000 DM.
1970/71 lamentierte Fußball-Obmann Carl
F. Bruns nach dem 4:0 im Spitzenspiel gegen
Arminia Hannover über das Desinteresse der
Fans: „Was sollen wir noch tun? Wir haben
heute eine gut harmonierende Mannschaft,
die nach dem fünften Spieltag unbesiegt ist
und ein Torverhältnis von 16:7 aufweist, aber
das Spiel gegen den zweifachen Nordmeister
besuchten nur 4.600 zahlende Zuschauer.
Eine Mannschaft, die an der Spitze steht,
braucht heute Rückenstärke. Woanders sieht
es weitaus günstiger aus.“
Langsam gingen die höherklassigen Fußballlichter
im Zolli aus - ungeachtet nachgerückter
Kräfte wie Egon Coordes, Norbert
Kurtenbach, Eckhard Deterding, Lothar Lazar,
Willi Reimann oder Dieter Rost sowie den erfahrenen
Recken Rolf Kaemmer und Gerhard
Zebrowski. 1971/72 geriet das Team unter
dem aus Wien gekommenen Trainer Walter
Pfeiffer und nach Abgang von Libero Mensink
zu Borussia Dortmund erstmals in Abstiegsgefahr.
1974 reichten Bremerhaven dann 59
Qualifikationspunkte nicht zur Zulassung für
die neue 2. Bundesliga Nord. Erstmals wurde
auf dem Zolli, der allerdings ohnehin niemals
die Zulassung für Halbprofifußball erhalten
hätte, nur noch drittklassiger Fußball dargeboten.
Zwischenzeitlich war Bewegung in die Bremerhavener
Vereinslandschaft gekommen. Vor
dem Hintergrund der sich rasant ändernden
Sozialstruktur durch die folgenschwere Werften-
und Fischereikrise war die Forderung
nach einem mitgliederstarken Großverein aufgekommen.
Am 14. Februar des Olympiajahrs
1972 machten der ATS Bremerhaven unter seinem
Vorsitzenden Max Popken sowie der Polizei-SV
mit ihrem Zusammenschluss zum Olympischen
Sportclub (OSC) Nägel mit Köpfen. Die
ebenfalls als Fusionspartner vorgesehenen
Klubs Leher Turnerschaft, TV Lehe sowie Sparta
Bremerhaven sagten indes in letzter Sekunde
ab und blieben eigenständig.
ANSCHLUSS AN OSC, ENDLICH STADION
Die Stadt Bremerhaven beschleunigte den
Konzentrationsprozess mit dem Bau eines
WERNER LANG
Der gebürtige Plauener
kam nach dem
Krieg zu 93 und war
von April 1952 bis
Oktober 1955 in
jedem Spiel dabei.
Bundestrainer
Herberger berief ihn
1954 in den erweiterten
WM-Kader.
U. KLIMASCHEfSKI
Später eisenharter
Verteidiger in Berlin
und Kaiserslautern
sowie erfolgreicher
Trainer, ging „Klima“
aus der Nachwuchsarbeit
der 93er
hervor und bestritt
bis 1960 56 Oberligaspiele.
WILLI REIMANN
Der langjährige HSV-
Torjäger kam 1967
vom VfL Rheine und
traf in 51 Regionalligaspielen
für
Bremerhaven 26
Mal, ehe er 1970
zu Hannover 96
in die Bundesliga
wechselte.
EGON COORDES
Kam 1967 von der
Leher Turnerschaft
und bildete mit Willi
Reimann ein Erfolgsduo.
1969 ging
der Polizeischüler
zum SV Werder
und kam später als
Trainer zum OSC in
der 2. Liga zurück.
WOLFGANG ROLFF
Der bislang letzte
große Name aus
der Bremerhavener
Fußballtradition
kam 1978 vom
TSV Lamstedt zum
damaligen Zweitligaaufsteiger
OSC.
Wechselte 1980 zur
Kölner Fortuna.
Spielerlegenden
49
Sportkomplexes mitsamt Großstadion im Leher
Ortsteil Eckernfeld. Anschließend wurde
der inzwischen mit 400.000 DM verschuldete
TuS 93 zum Aufgehen im Großverein OSC gedrängt.
Das war durchaus verlockend, vor
allem vor dem Hintergrund des neuen Nordseestadions,
das Profifußball ermöglichte.
Nachdem im Sommer 1972 bereits 100.000
DM städtischer Zuschüsse geflossen waren,
stimmten die 93-Mitglieder schließlich am 25.
Juni 1974 der Fusion zu. Vorsitzender Jürgen
Aldag: „Durch diesen Zusammenschluss soll
erreicht werden, in allen sportlichen Bereichen,
aber auch in wirtschaftlicher und organisatorischer
Hinsicht, optimal arbeiten zu können.“
Es war ein komplizierter Vereinigungsprozess.
Zum 10. Juli 1974 traten alle 93-Mitglieder
mit Ausnahme der Vertragsspielerelf
zum OSC über, der auch die Altlasten der
Weinroten übernahm. Erst drei Jahre später,
zum 1. Juli 1977, konnte aus verfahrenstechnischen
Gründen auch die bis dahin weiter als
„93“ spielende Ligaelf unter das zeitgemäß
modische OSC-Wappen schlüpfen. Dass der
Name Bremerhaven 93 damit verschwand, erzürnte
nicht nur Ex-Erfolgscoach Johannsen:
„93 war ein Markenzeichen, ein Begriff, den
man nicht hätte aufgeben sollen.“
Mit dem Aus von Bremerhaven 93 waren
auch die Tage des Zollis gezählt. Am 7. September
1975 wohnten 2.500 Fans bei herrlichem
Sonnenschein dem letzten 93-Spiel auf
historischem Boden bei und ärgerten sich
über ein torloses Unentschieden gegen Victoria
Hamburg. Zwei Wochen später, am 21.
September, erging es 8.000 beim Auftakt im
25 Millionen DM teuren Nordseestadion gegen
Eintracht Nordhorn noch ärger - es setzte
eine 1:4-Schlappe. „93 verdarb die Freude am
neuen Stadion gründlich“, schrieb die „Nordsee-Zeitung“.
Dass die Gelder zur Schuldentilgung aus
dem Verkauf des alten ATSB-Platzes am Siebenbergensweg
stammten und der Vertrag
die Übernahme der Nutzungsrechte für den
Zolli durch den OSC beinhalteten, sollte noch
für Ärger sorgen. Während die bundesdeutschen
Medien verwirrt einen nie existierenden
„OSC 93“ konstruierten, wurden hinter
den Kulissen die Weichen für eine bessere
Fußballzukunft Bremerhavens gestellt. Die
aus ehemaligen Akteuren des ATSB bzw. des
PSV gebildete Mannschaft des OSC erklomm
1974 zunächst die Verbandsliga und drei Jahre
später sogar die höchste Bremer Landesklasse,
womit sie nur noch eine Ligastufe unterhalb
93 spielte.
Die bis Juli 1977 weiter als TuS 93 auflaufende
Amateur-Oberligaelf wurde vor der Spielzeit
1976/77 erstmals gezielt verstärkt. Aus
Stuttgart kehrte der aus der Leher Turnerschaft
stammende Egon Coordes zurück und
übernahm das Training, mit Brexendorf, Lazar,
Diekmann, Steinlein, Kaemmer und
Freund entstand ein schlagkräftiges Team,
während sich im Hintergrund ein Förderkreis
bildete, an dessen Spitze Bremerhavens Senator
Karl Wilms stand.
Das Ziel war die 2. Bundesliga,
wobei Kritiker munkelten, der
Aufstieg sei ein „Muss“, um nicht
gleich wieder in die Verschuldungsfalle
zu geraten. Das Risiko
wurde belohnt. Nach einem 2:0
über die SVA Gütersloh hatte Bremerhaven
93 am 19. Juni 1977 in der Aufstiegsrunde
zur 2. Bundesliga Nord aufgrund des
Torverhältnisses gegenüber dem 1. FC Bocholt
knapp die Nase vorn und rückte ins Halbprofilager
auf. Angesichts attraktiver Zweitligagegner
wie Wuppertaler SV, Arminia Bielefeld
oder Hannover 96 schienen rosige Zeiten auf
Bremerhaven zuzukommen. Doch die Hoffnungen
zerschlugen sich. In seinem ersten
Zweitligaspiel unterlag das erstmals offiziell
als OSC auflaufende Team Arminia Bielefeld
vor 7.200 Fans im Nordseestadion mit 0:3. Die
Coordes-Elf kam nie aus der Abstiegszone heraus,
lockte im Schnitt kaum 3.000 Zahlende an
und verpasste trotz starker Rückrunde den
Klassenerhalt. Binnen weniger Monate war die
Euphorie nach Fusion, Stadionbau und Aufstieg
verpufft.
Zumal sich zeigte, dass ein Breitensportverein
mit zahlreichen Sparten und ambitionierter
Profifußball nicht zusammenpassten. Genau
Das letzte 93-Meister- und Aufstiegsteam von 1977. Rechts Trainer Coordes
davor hatten Fusionskritiker im Vorfeld gewarnt.
Erschwerend hinzu kam der Höhenflug
des Eishockeyteams vom RSC Bremerhaven,
das 1978 ebenfalls in die 2. Liga Nord aufstieg.
„Für beide Sportarten war in Bremerhaven
kein Geld da, weder bei möglichen Sponsoren
noch beim Publikum. Leider zog der Fußball
dabei den Kürzeren“, sagte Trainer Coordes
und klammerte in seiner Kritik auch das Nordseestadion
nicht aus. In der weitläufigen
Leichtathletikarena kam, im Gegensatz zum legendären
Zolli, keine Atmosphäre auf, was
nach Coordes‘ Ansicht viele Fans in die stimmungsvolle
Eishockeyhalle trieb.
Profifußball im OSC, das war nach dem gescheiterten
ersten Zweitligabenteuer klar,
würde es auf Dauer schwer haben. Zumal die
Abstiegssaison finanziell ein Debakel war. Bereits
im April 1978 hatte die Stadt den OSC-
Fußballern mit einem Zuschuss unter die
Arme greifen müssen. Ungeachtet der ungünstigen
Rahmenbedingungen kehrten die
„Olympischen“ zwölf Monate später nach
einem Aufstiegskrimi gegen Hertha Zehlendorf
(1:0 in Bremerhaven, 4:5 in Berlin) jedoch
ins Profilager zurück. Das Training leitete
inzwischen der von Landesligist Germania
Leer gekommene Bata Tijanic. Eigentlich hatte
man den polnischen Nationaltrainer Jacek
Gmoch holen wollen, dem jedoch die nötige
deutsche Profilizenz fehlte. Spötter lästerten
inzwischen vom „Olympischen Sparklub“, weil
sich der auf 8.000 Mitglieder angewachsene
OSC ziemlich knauserig zeigte. 400 DM Grundgehalt,
dazu eine bescheidene Prämie - kein
Wunder, dass sich Leistungsträger wie Mohammed
Amiq, André Frercks oder Uwe
Dreyer Angebote anderer Vereine anhörten.
DER ABSTURZ
Die Spielzeit 1979/80 wurde zur Katastrophe,
in der nicht nur die Träume vom Profifußball
in Bremerhaven vermutlich für immer
platzten. Den OSC-Fußballern wurde ein
Schlag versetzt, von dem sie sich nie erholten.
Vom ersten Spieltag an stand die Feierabendtruppe
in der 2. Bundesliga Nord mit dem Rücken
zur Wand und kassierte Niederlage auf
Niederlage. Mit einem 2:3 beim lange abgeschlagenen
Tabellenletzten Arminia Hannover
übernahm der OSC schließlich am 21. Oktober
1979 selbst die Rote Laterne. Resigniert
bemerkte Trainer Tijanic, der mit Nachwuchsspieler
Wolfgang Rolff lediglich einen zweitligatauglichen
Akteur im Kader hatte, nach nur
elf Saisonspielen: „Ich wäre ein schlechter
Trainer, wenn ich jetzt schon alle Hoffnungen
aufgeben würde.“
OSC BREMERHAVEN
51
Links: Bernd Günther. Rechts: der Zweitligakader des OSC in der Saison 1979/80
Begleitet wurde der Niedergang von Grabenkämpfen
zwischen Gesamtverein und
Fußballabteilung. Vier Jahre nach seiner Entstehung
schien das OSC-Fußballprojekt auf
allen Ebenen gescheitert zu sein. Als man im
Frühjahr 1980 Paul Linz vom SV Werder holte
und Egon Coordes wieder die Trainingsleitung
übernahm, glückten zwar Heimsiege
über Wuppertal, Arminia Hannover, Wanne-
Eickel sowie Aachen, nach dem 1:2 im Kellerderby
bei Rot-Weiß Oberhausen stand der
Abstieg aber bereits am 37. Spieltag fest. 500
Zuschauer erlebten am 31. Mai 1980 beim 1:1
gegen Preußen Münster das wohl letzte Profispiel
einer Bremerhavener Fußballelf.
Es folgte ein schleichender Abgang. 1980/81
spielte der OSC zum letzten Mal in der Oberligaspitze
mit, begrüßte gegen den FC St. Pauli
noch einmal 2.800 Zahlende und wurde Fünfter.
1981/82 kämpfte er erstmals gegen den
Abstieg und trat vor durchschnittlich nur
noch 777 Zuschauern auf. Nach drei weiteren
Spielzeiten gingen 1985 mit nur 19 Punkten
und bei einem Zuschauerzuspruch von 488
pro Partie selbst die Drittligalichter aus. Fortan
gastierten im Nordseestadion Teams wie
TSV Lesum-Burgdamm oder TSV Grolland.
POSSE MIT DEM FC BREMERHAVEN
Bremerhavens ambitionierter Fußball lag am
Boden. Viele träumten den 93ern hinterher,
während sich der OSC 1988 selbst aus dem
Bremer Oberhaus verabschiedete und fünftklassig
wurde. Die leere Kasse der Fußballabteilung
und das Desinteresse des Großvereins
am Leistungsfußball veranlassten zahlreiche
Spieler zum Wechsel zum aufstrebenden VfB
Lehe, der 1991 in die Verbandsliga und 1994 –
inzwischen als FC Bremerhaven auflaufend – in
die Regionalliga aufstieg. Beim OSC reagierte
man darauf 1991 mit dem Rückzug in die Bezirksliga,
schloss einen Kooperationsvertrag
mit dem SV Werder und wollte gemeinsam mit
dem ambitionierten FCB den Leistungsfußball
in der Stadt ankurbeln.
Dann ging plötzlich alles drunter und drüber.
1994 erstritt FCB-Boss Bernd Günther nach
dem Aufstieg seines Klubs in die Regionalliga
die Nutzungsberechtigung für den Zolli, der
seit Tilgung der 93-Schulden dem OSC gehörte.
Als daraufhin die Nachwuchsarbeit beim OSC
wegen Platzmangels in Gefahr geriet, kam es
zum Zerwürfnis zwischen OSC und FCB. Von
der eigenen Vereinsführung im Stich gelassen,
fristeten die just in die Landesliga zurückgekehrten
OSC-Kicker unter ihrem rührigen Abteilungsleiter
Gustav Harlep ein Schattendasein
und sahen erst ab 1996 unter einem
fußballfreundlicheren Gesamtvorstand wieder
etwas bessere Zeiten auf sich zukommen.
Anschließend kickte der ehemalige Zweitligist
vor einer Hand voll Fans im allmählich vor
sich hinrottenden Nordseestadion vornehmlich
um Verbandsligapunkte. Erst 2020 glückte
im Zuge der Corona-Pandemie erstmals seit 36
Jahren die Rückkehr ins Bremer Fußballoberhaus.
Möglich war das nicht zuletzt durch
Bernd Günther, der nach der Pleite des FCB
zum OSC wechselte. Weil zudem eine Stadionsanierung
ansteht, könnte die Zeit für eine Renaissance
des Bremerhavener Spitzenfußballs
nun tatsächlich reif sein!
FC BREMERHAVEN
Durch Bremerhavens höherklassige Fußballgeschichte
durchzusteigen, ist wahrlich nicht
einfach. 93, OSC, Sparta und FCB sind die entscheidenden
Protagonisten. Arbeiten wir uns
zunächst durch die nüchternen Fakten. Am 1.
Juni 1899 entstand mit dem FC Bremerhaven-
Lehe der erste Fußballklub an der Unterweser.
1918 spaltete er sich in SC Sparta Bremerhaven
und VfB Lehe. Letzterer war ab 1977 an
der Pestalozzistraße in unmittelbarer Nachbarschaft
zum SC Sparta und unweit des legendären
„Zolli“ ansässig und kickte zumeist
in unteren Spielklassen.
Das änderte sich, als 1989 Jugendleiter
Bernd Günther den Vorsitz übernahm. Bremerhavens
Leistungsfußball lag damals
kollektiv am Boden, und ein ambitionierter
Klub, das zu ändern, war weit und breit nicht
zu sehen. Jene Rolle beanspruchte Günther
daher für seinen VfB Lehe. Als 1990 der Aufstieg
in die Landesliga gelang, holte man mit
Mohamed Amiq eine lokale Fußball-Legende
und marschierte ins Bremer Oberhaus
durch.
Zum 24. Januar 1992 wurde aus dem VfB
Lehe der FC Bremerhaven, der als dritte
Klubfarbe zum vertrauten Schwarz-Weiß das
Weinrot der legendären 93er adaptierte. Drei
Monate später präsentierte Günther beim
2:2 gegen den FC Mahndorf mit Ex-Nationalspieler
Felix Magath einen prominenten
Neuzugang, der Bremerhaven nach sieben
Jahren zurück ins norddeutsche Oberhaus
bringen sollte. Das allerdings gelang erst Ma-
gath-Nachfolger Jürgen Fahlbusch, der das
Team um Torjäger Jani Meyer 1994 in die Regionalliga
Nord führte. Neun Jahre nach dem
Abstieg des OSC aus der Oberliga Nord war
Bremerhaven zurück auf der großen Fußball-Landkarte!
Das Problem: Die FCB-Spielstätte an der Pestalozzistraße
war nicht drittligatauglich. Vor
die Wahl gestellt, entweder im ungeliebten
Nordseestadion oder auf dem maroden Zolli
zu spielen, entschied man sich für die alte
93-Tradition, was bei den OSC-Verantwortlichen
nicht gut ankam. Ohne den nach Herzlake
gewechselten Meyer war der FCB in der
Halbprofiliga ziemlich überfordert und stieg
direkt wieder ab. Damit begann das nächste
Drama in der so tragischen Fußballgeschichte
von Bremerhaven. Die Aufbruchstimmung
um den FCB verpuffte, zumal Alleinherrscher
Günther mit einer Legionärspolitik viele regionale
Fußball-Talente verprellte und sich das
anfangs mitziehende Publikum wieder abwandte.
Selbst zum Pokalspiel gegen Bundesligist
Karlsruhe (2:3) kamen 1996 nur 3.000
ins Zolli.
Ein Jahr später leitete der gebürtige Stralsunder
Norbert Riedel die nächste Erfolgsepoche
ein. 1999 gelang die Rückkehr in die
Regionalliga, wo der FCB trotz renommierter
Gegner wie Eintracht Braunschweig oder VfB
Oldenburg lediglich 812 Zahlende pro Spiel
anlockte. Das Dilemma eines Klubs, der wenig
Akzeptanz fand. Erneut direkt wieder abgestiegen,
wurde der FCB anschließend in die
5. Liga durchgereicht.
2008 begann das finale Kapitel. Sportlich
zurückgekehrt in die nunmehr viertklassige
Regionalliga, erhielt der FCB keine Lizenz, weil
weder Zolli noch Nordseestadion ligatauglich
waren und außerdem die Kasse leer war. Vier
Jahre später verschmolz man in einem von
Querelen begleiteten Prozess mit Ex-Partner
SC Sparta zum FC Sparta, der zwischen 2015
und 2018 von der Bremen-Liga in die Kreisliga
A durchgereicht wurde. Bremerhavens
Leistungsfußball lag mal wieder am Boden.
FC BREMERHAVEN
53
SIE WAREN DAS „SCHALKE DES OSTENS“
UND WURDEN 1956 VIZEMEISTER DER DDR.
EIN KLASSISCHER KUMPELKLUB, BELIEBT
IM GANZEN LAND. DANN GRIFF DIE POLITIK
EIN, UND IM KLEINEN LAUSITZDORF WURDE
ALLES ANDERS
FSV GLÜCKAUF
BRIESKE/SENFTENBERG
Zwei gekreuzte Hämmer im Wappen, „Glückauf“ im Namen
– schon der erste Blick verrät viel über den FSV Glückauf
Brieske/Senftenberg, einem mythenumrankten Kumpelklub
mit goldener Vergangenheit. Was er nicht verrät, ist die am
Ende tragische Geschichte der kleinen Lausitz-Gemeinde, die
eine Zeitlang als das „Schalke des Ostens“ galt und später in
die Mühlen der Politik geriet.
FSV Glückauf
Brieske/Senftenberg
Gegründet: 1919/1945
Vereinsfarben: Schwarz-Gelb
Spielstätten: Elsterkampfbahn
oder Glückauf-Stadion Briesker
Straße
Größter Erfolg: DDR-Vizemeister
1956
MARGA: DIE GARTENSTADT AUS DER RETORTE
Drehen wir die Zeit zurück ins Jahr 1907. Damals wurde
unweit des Dorfes Brieske, in der Lausitz südlich von Senftenberg
gelegen, ein Tagebauaufschluss vorgenommen. Um
die Kumpel, die oft von weit her kamen, unterzubringen,
entstand eine der ersten Gartenstädte Deutschlands. Gartenstädte
nach englischem Vorbild waren der letzte Schrei im
sich rasant industrialisierenden Reich, die eine Verbindung
zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeit schaffen sollten. Das
Leben konzentrierte sich um einen Marktplatz mit Kirche,
Verwaltungsgebäuden und Einkaufsmöglichkeiten. Die kleinen
Kumpelhäuser waren von Kleingärten umgeben und befanden
sich in Laufdistanz von Markt- wie Arbeitsplatz. Ein
echtes Arbeiterparadies.
Brieskes Gartenstadt für etwa 3.000 Kumpel erhielt den
Namen „Marga“, nach der gleichnamigen Tagebaugrube. Deren
Name wiederum ging zurück auf eine früh verstorbene
Tochter von Generaldirektor Gottlob Schumann, dessen
89
Heraldik
SV Marga
BSG Aktivist
Brieske-Ost
SC Aktivist Brieske/
Senftenberg
BSG Aktivist Brieske/
Senftenberg
BSG Aktivist Brieske/
Senftenberg
BSG Aktivist Brieske/
Senftenberg
FSV Glückauf Brieske/Senftenberg
Glückauf/Aktivist in Zahlen
1919 Gründung FV Grube Marga 1925 aufgelöst, Gründung Glückauf
Marga 1928 aufgelöst Februar 1928 Gründung Freie Spielvereinigung
Grube Marga 1933 nach Verbot zerschlagen, Gründung SV Marga Ende
1945 aufgelöst, Gründung Sport- und Kulturkartell Brieske-Grube Marga
1946 SG Marga 1948 BSG Franz Mehring Marga August 1950 BSG
Aktivist Brieske-Ost Oktober 1954 Ligamannschaft zum SC Aktivist
Brieske-Senftenberg delegiert 14.7.1963 nach Delegierung zum SC
Cottbus aufgelöst, BSG Aktivist Brieske-Ost übernimmt Spielbetrieb
in Brieske-Ost Februar 1972 Fusion mit BSG Aktivist Senftenberg =
BSG Aktivist Brieske-Senftenberg 20.7.1990 FSV Glückauf Brieske-
Senftenberg
GLÜCKAUF/AKTIVIST IM HOCHKLASSIGEN FUSSBALL
34/35: GL-AR Berl.-BB 5. 12 4 1 7 16:26 9-15
35/36 - 38/39: nicht erfasst
39/40: GL-AR Berl.-BB 3. 8 3 2 3 17:20 8-8
40/41: GL-AR Berl.-BB h2. 8 6 0 2 27:21 12-4
41/42: GL Berlin-BB 6. 18 7 3 8 26:35 17-19
42/43: GL Berlin-BB i10. 18 2 4 12 27:69 8-28
48/49: ER der Ostzone: (Q) Marga - SG Schwerin 2:0 (in Cottbus),
(VF) Eintracht Stendal - Marga 4:0 (in Dessau)
49/50: OL der DDR 6. 26 13 5 8 49:48 31-21 5.310
50/51: OL der DDR 5. 34 20 3 11 87:79 43-25 7.235
51/52: OL der DDR 9. 36 16 6 14 72:74 38-34 5.940
52/53: OL der DDR 9. 32 13 8 11 55:52 34-30 6.750
53/54: OL der DDR 6. 28 11 8 9 48:43 30-26 6.685
54/55: OL der DDR 6. 26 11 5 10 37:44 27-25 5.714
55: OL der DDR 13. 13 4 0 9 17:33 8-18 6.500
56: OL der DDR 2. 26 14 8 4 34:15 36-16 9.077
57: OL der DDR 5. 26 11 6 9 33:26 28-24 4.554
58: OL der DDR 3. 26 12 6 8 41:25 30-22 4.923
59: OL der DDR 7. 26 8 8 10 36:30 24-28 4.538
60: OL der DDR 9. 26 8 8 10 35:39 24-28 2.854
61/62: OL der DDR 12. 39 10 13 16 45:53 33-45 3.910
62/63: OL der DDR i14. 26 6 5 15 22:56 17-35 2.100
(anschließend Delegierung der Ligamannschaft zum
SC Cottbus, weiter als BSG Aktivist Brieske-Ost)
63/64: BL Cottbus-W. 1. 26 21 2 3 73:23 44-8
Endspiel Bezirk Cottbus: Vorwärts Cottbus II - Aktivist
0:4, 3:3 h
64/65: DDR-Liga/Nord i16. 30 4 2 24 32:85 10-50
65/66 – 70/71: nicht erfasst
71/72: DDR-Liga/B i11. 22 4 7 11 34:42 15-29 2.155
72/73: BL Cottbus h1. 30 82:16 54-6
73/74: DDR-Liga/D 2. 22 9 8 5 29:30 26-18 2.054
74/75: DDR-Liga/D i10. 22 7 5 10 26:24 19-25 1.673
75/76: BL Cottbus h1. 30 95:13 54-6
76/77: DDR-Liga/D 4. 20 7 8 5 23:22 22-18 2.675
77/78: DDR-Liga/D 5. 22 8 10 4 44:34 26-18 1.682
78/79: DDR-Liga/D 5. 22 8 7 7 23:34 23-21 1.500
79/80: DDR-Liga/D i11. 22 5 5 12 31:37 15-29 1.423
80/81: BL Cottbus h1. 30 89:19 48-12
81/82: DDR-Liga/D 3. 22 11 6 5 37:28 28-16 1.522
82/83: DDR-Liga/D 5. 22 9 5 8 28:27 23-21 1.490
83/84: DDR-Liga/D 5. 22 11 4 7 34:30 26-18 1.936
84/85: DDR-Liga/D 11. 34 11 11 12 43:45 33-35 1.782
85/86: DDR-Liga/D i16. 34 10 8 16 32:53 28-40 1.212
86/87: BL Cottbus 1. 34 106:16 59-9
Liga-AR, St. C h2. 4 2 1 1 8:7 5-3
87/88: DDR-Liga/A 5. 34 13 11 10 49:44 37-31 1.512
88/89: DDR-Liga/A i16. 34 9 8 17 35:59 26-42 1.012
89/90: Liga-AR, St. A h2. 4 3 0 1 8:5 6-2
90/91: NO-Liga, St. A 10. 30 8 15 7 34:35 31-29 584
91/92: AOL NO-Mitte 11. 38 10 13 15 50:55 33-43 384
92/93: AOL O-Mitte 13. 32 9 7 16 37:67 25-39 339
93/94: AOL NO-Mitte 13. 30 3 14 13 31:62 20-40 301
94/95: OL NO-Süd 13. 30 7 11 12 26:45 25-35 238
95/96: OL NO-Süd i15. 30 5 9 16 32:55 24 321
Standort des alten Glückauf-Stadions
Das Zentrum der Gartenstadt Marga
Margas streitbare Gauligaelf der 1930er Jahre
„Ilse“-Bergbau A.G. in der ganzen Senftenberger
Region Tagebau betrieb. Eine weitere
Tochter hieß Brigitta und gab ihren Namen
jenen charakteristischen Kohlebriketts, die
zunächst im Deutschen Reich und nach dem
Zweiten Weltkrieg dann in der DDR die Wohnstuben
erwärmten. Während „Brigitta“ noch in
den 1980er Jahren vom aus der Region stammenden
Liedermacher Gerhard Gundermann
hymnisch besungen wurde, nahm Marga 1950
den Namen des naheliegenden Dorfes Brieske
an und wurde zu „Brieske-Ost“.
Zu diesem Zeitpunkt waren Margas Kumpelkicker
längst landesweit bekannt. 1919
war mit dem FV Grube Marga ein erster Verein
entstanden, der sich klassenbewusst dem
Arbeiter Turn- und Sportbund (ATSB) angeschlossen
hatte. Aus allen Teilen Deutschlands,
dem polnischen Schlesien, Böhmen sowie
Österreich strömten junge Männer in die
Lausitz, wo sie als Landarbeiter oder Tagelöhner
Jobs fanden. Viele wurden sesshaft, während
der Fußball willkommene Ablenkung
von den harten Schichten im Tagebergbau
schenkte. Das erste Spiel endete mit einem
2:1 in Laubusch, damals noch „Grube Erika“.
Im September 1920 wechselten die Margaer
zum bürgerlichen DFB, und 1923 gab es in der
3.000-Einwohnergemeinde bereits jeweils
zwei Männer, Jugend- sowie Schülermannschaften.
Margas Schlackeplatz, unweit der
Brikettfabrik gelegen, wo die „Brigittas“ direkt
aus dem abgebaggerten „Schwarzen Gold“ gepresst
wurden, war gefürchtet, und dem Publikum
wurde eine rustikale Note nachgesagt.
Selbst die Frauen genossen, so heißt es in der
Klubchronik, großen Respekt, wenn sie mit
Stöcken bewaffnet am Spielfeldrand lauerten.
Marga, einig Fußballdorf!
Dann kamen Wirtschaftskrise, Arbeitskämpfe
und Streiks, schließlich Abwanderung.
1925 stellte der FV Grube Marga seinen
FSV GLÜCKAUF BRIESKE/SENFTENBERG
91
Spielbetrieb ein. Ein von einem lokalen Zigarrenhändler
gegründeter Nachfolger mit dem
Namen „Glückauf“ entstand, trat dem DFB
bei, schlief aber nach drei Jahren wieder ein.
Fortan bot nur noch die deutschnationale Viktoria
09 Leibesübungen – aber keinen Fußball
– in Marga an. Erst im Februar 1928 gelang es,
mit der Freien Spielvereinigung Sturm Marga
einen dauerhaften Nachfolger zu installieren,
der wie einst der FV Grube im Arbeitssportlager
spielte und wie das große Vorbild Schalke
04 in Königsblau auflief. 1932/33 gewann die
Elf um die Brüder Erich und Otto Lehmann vor
1.500 Zuschauern – der Hälfte aller Einwohner!
– gegen die FT Cottbus die Kreismeisterschaft
(5:1), fegte anschließend die FT Danzig-
Langfuhr mit 8:0 vom Feld und setzte sich am
9. April 1933 im Finale um die Ostdeutsche
ATSB-Meisterschaft auch gegen die FT Stettin-
Sydowsaue durch (4:2). 4.000 Zuschauer waren
auf dem neuen Sportplatz an der Spremberger
Straße in Senftenberg dabei.
Es sollte jedoch das letzte Spiel der Margaer
Knappen gewesen sein. Noch im April
zerschlugen die Nationalsozialisten die Arbeitersportbewegung,
verschleppten viele Funktionäre
in Konzentrationslager und forderten
von jedem Sportler zwei bürgerliche Bürgen,
wenn sie bei einem DFB-Verein weiterspielen
wollten. Anstelle der zerschlagenen FSV Sturm
entstand der SV Marga, der in der untersten
DFB-Liga neu anfangen musste. Auf ihrem
1935 eröffneten Sportplatz an der Badeanstalt
– der heutigen Elsterkampfbahn des FSV
Glückauf – legten die nunmehr „bürgerlichen“
königsblauen Knappen einen fulminanten
Aufschwung hin. 1935 standen sie erstmals
vor dem Aufstieg in die Gauliga Berlin-Brandenburg,
die schließlich 1941 im dritten Anlauf
erreicht wurde. Der kleine Provinzverein
spielte im Konzert der großen Teams aus der
Reichshauptstadt!
Und schlug sich mehr als achtbar. Im ersten
Gauligajahr ging die kampfstarke Elf um Edeltechniker
Erich Lehmann siebenmal als Sieger
vom Feld und war vor allem auf eigenem Platz
kaum zu bezwingen. Selbst Tennis Borussia
musste sich in Marga mit einem 1:1 begnügen.
Platz sechs im Aufstiegsjahr 1941/42 folgte
allerdings der Abstieg in der Saison 1942/43,
die bereits stark von den Kriegsereignissen
beeinträchtigt war.
SCHWERPUNKTKLUB „AKTIVIST“
1945 entstand als Nachfolger zunächst
das Sport- und Kulturkartell Brieske Grube
Marga, aus dem 1946 die Sportgruppe Marga
hervorging, die 1948 nach Umstellung auf
Betriebssport den Namen BSG Franz Mehring
erhielt. Der 1919 verstorbene Namensgeber
des Braunkohlenbrikettwerks war einer der
bedeutendsten Autoren zur Geschichte der
Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung,
der u.a. eine wichtige Biografie zu Karl Marx
verfasst hatte. 1949 qualifizierten sich die
Blau-Weißen für die Ostzonenendrunde (0:4
im Viertelfinale gegen Eintracht Stendal) und
wurden Gründungsmitglied der DDR-Oberliga,
wo sie 1949/50 mit einem sensationellen
4:3 beim amtierenden Ostzonenmeister Halle
starteten und am Ende als Sechster einliefen.
Das kleine Marga war wieder da!
1950 wurde aus der Gartenstadt Marga
Brieske-Ost und aus der BSG Franz Mehring
Marga die BSG Aktivist Brieske-Ost. Die kleine
Kumpelgemeinde stand nun vor den größten
Fußballtagen ihrer Geschichte. Von der alten
ATSB-Mannschaft war noch immer Erich
Lehmann dabei, als sie 1950/51 vor durchschnittlich
7.235 Zahlenden aufspielte und
Fünfter im DDR-Oberhaus wurde. Margas Erfolgsrezept
bestand vor allem aus Kollektivund
Kampfgeist. Das ab 1952 vom früheren
Dresdner Meisterspieler Willi Schober, stets
mit dem Fahrrad unterwegs, trainierte Team
wurde republikweit zum Gesprächsthema.
Nach einem Freundschaftsspiel gegen Hertha
BSC baggerten 1951 sogar vom Ostflüchtling
Bachmann angestiftete Westberliner Funktionäre
um die Briesker Leistungsträger, die
jedoch in der DDR blieben. Zwei Jahre später
öffnete das neue Glückauf-Stadion am Rande
der alten Gartenstadt seine Pforten. Längst
war der Dorf- und Kumpelklub wie dereinst
Schalke im Ruhrgebiet zum Regionalverein
geworden, der seine Fans in der ganzen Westlausitz
hatte. 33.000 Zuschauer sahen bei der
Eröffnung gegen Torpedo Moskau trotz 0:5
ein Spiel, das begeisterte.
1954 entstanden republikweit Sportvereinigungen
(„SV“), die entlang der Berufsgruppen
Schwerpunktklubs bildeten. Der Bergbau-Zweig
„Aktivist“ wählte Brieske-Ost als
seinen Fußball-Leistungsschwerpunkt und
verselbständigte die Oberligamannschaft als
SC Aktivist Brieske/Senftenberg. Damit wechselten
nicht nur die Klubfarben zum Schwarz-
Gelb der SV Aktivist, sondern es begann eine
Verbindung von Briesker und Senftenberger
Fußball, die nicht immer harmonisch verlief
– ungewollt zu erkennen am Schrägstrich
statt des üblichen Verbindungsstrichs zwischen
den beiden Ortsnamen. Die Kreisstadt
Senftenberg hatte eine wichtige Rolle im frühen
Entwicklungsprozess der DDR gespielt.
Am 24. März 1946 war es im dortigen Gesellschaftshaus
zur historischen Vereinigung von
KPD und SPD zur SED gekommen, und in den
1950er Jahren wurde Senftenberg zur „Ener-
Oben: Das Oberligakollektiv des
SC Aktivist. Unten: Trainer Willi
Schober mit Fahrrad
FSV GLÜCKAUF BRIESKE/SENFTENBERG
93
DDR-Vizemeister 1956. V.l.: Ratsch, Jünemann, Krüger, Franke, Lemanczyk, Marquart,
Gentsch, Pietcrczak, Lehmann, Weist, John
giezentrale“ des Landes, die ein stetiges Bevölkerungswachstum
registrierte.
Davon profitierte man auch in der ehemaligen
Gartenstadt Marga. Mit Unterstützung
der SV Aktivist und dank des guten Talenteblicks
von Trainer Schober rückten Spieler
wie Hans Jünemann, Karl-Heinz Bergmann,
Harry Ratsch, Heinz Krüger, Gerhard „Jumbo“
Marquardt sowie Lothar Gentsch in das
Oberligakollektiv auf, stellte der SC Aktivist
mit Heinz Lemanczyk, Horst Franke und
Heinz Krüger sogar drei DDR-Nationalspieler.
Ihren Höhepunkt erreichten die Schwarzgelben
1956, als das Team um Kapitän Harry
Ratsch sensationell Vizemeister wurde. Zwei
Punkte fehlten am Ende auf Meister Wismut
Karl-Marx-Stadt, den die Briesker Kumpel
im Spitzenduell am 27. Mai 1956 mit 2:1 auf
eigenem Geläuf geschlagen hatten. Die ganze
Lausitz war verzaubert, und über 9.000 Fans
kamen durchschnittlich zu den Heimspielen
ins Glückauf-Stadion an der Briesker Straße.
„Der Kohlenstaub ist für Brieske so charakteristisch
wie für London der Nebel“, schrieb
eine Fachzeitung damals über das Fußballdorf
Brieske.
Es war das goldene Jahr der Briesker Fußballgeschichte.
Ein Jahr später, Trainer Schober
war aus Verärgerung über einige Funktionäre
zu Drittligist Stahl Eisleben gewechselt,
kamen nur noch 4.500, und auch 1958, als die
Aktivist-Elf mit Platz drei erneut ganz oben
dabei war, zahlten lediglich 5.000 pro Spiel
ihren Obolus. Hintergund war nicht zuletzt
die Verlegung des Vereinssitzes in die Kreisstadt
Senftenberg, was in Brieske-Ost großen
Unmut ausgelöst hatte. Zumal altgediente
Funktionäre von, wie es in der Chronik heißt,
„fremden Funktionären der Sportvereinigung
Aktivist“ abgelöst worden waren – darunter
Kurt Michalski, später Generalsekretär des DFV
der DDR. „Nach und nach ging vieles vom ‚alten
Briesker Geist‘ verloren“, schreibt die Chronik,
„nahmen wie überall in der DDR materielle,
profihafte Gebaren Einzug in das Sportleben.
Immer öfter wurde dazu der Gedanke verbreitet,
dass der Club sowohl aus ökonomischen
wie auch aus politischen Gründen in die Bezirksstadt
verlegt werden müsste“. Das wiederum
war Cottbus, womit die Kumpels nicht
mehr nur um Name und Führung, sondern sogar
um ihren Klub bangen mussten.
Statt sich um die sportliche Entwicklung
und die fällige Verjüngung der Oberligamannschaft
zu kümmern, kämpfte man plötzlich
ums Überleben. „In Brieske/Senftenberg
wehrte man sich verzweifelt gegen den Leistungsverfall,
den drohenden Abstieg, die
Verlegung nach Cottbus“, schreibt die Chronik:
„Es gab Aussprachen, Zeitungsartikel,
Auseinandersetzungen. Man forderte mehr
Kontakt zwischen Zuschauern, Spielern und
Leitung – Besinnung auf die alten Briesker
Traditionen.“ Im Januar 1963 richtete der abgesetzte
langjährige Fußball-Sektionsleiter
Werner Riska eine Eingabe an den Staatsrat
der DDR, in der er von „Empörung in breiten
Kreisen der Bevölkerung unseres Bergarbeitergebiets,
besonders aber bei den Einwohnern
von Brieske und den Kumpels des
Braunkohlenwerkes Franz Mehring“ sprach:
„Diese Empörung richtet sich sowohl gegen
die in unserer Sportbewegung noch immer
ausgeübte Methode des Kommandierens und
Administrierens, die seit Jahren ein Haupthindernis
für die kontinuierliche und zielgerichtete
Entwicklung des Leistungssports in
unserer Republik ist, sie richtet sich aber hauptsächlich
dagegen, dass mit der Wegnahme der
Fußball-Oberligamannschaft die schwere und
erfolgreiche Arbeit vieler Sportler, Funktionäre
und Werktätiger in Brieske/Senftenberg
völlig negiert, eine jahrzehntelange Tradition
des Fußballsports zerstört und Tausenden von
Kumpeln aus der Braunkohlenindustrie ein wesentliches
Mittel der Freude und Entspannung
nach schwerer Arbeit genommen wird.“ Unterschrieben
war die Eingabe von elf Spielern der
Oberligamannschaft. Das war eine mutige und
nicht ungefährliche offene Kritik.
VERLEGUNG NACH COTTBUS
Die Antwort aus Berlin beschränkte sich
auf ein „Warten Sie weitere Nachrichten ab“,
doch als Riska wenig später „parteimäßig“
zur Verantwortung gezogen wurde, weil er
das Publikum als Stadionsprecher zum Protest
aufgerufen hatte, waren die Würfel gefallen.
Am 14. Juli 1963 wurde die SC Aktivist
Brieske/Senftenberg nach Cottbus verlegt
und dem neugegründeten SC Cottbus angeschlossen,
aus dem 1966 der heutige FC Energie
hervorging. Mit in die Bezirkshauptstadt
wechselte der Startplatz in der zweitklassigen
Liga, in die das Aktivist-Kollektiv 1962/63 mit
lediglich sechs Siegen in 26 Spielen abgestiegen
war. Die Minuskulisse von 2.100 Zuschauern
pro Spiel verdeutlichte, was die Briesker
Kumpel von der Entwicklung hielten: Nichts!
In der Gartenstadt rückte nun die alte BSG
Aktivist Brieske-Ost wieder ins Blickfeld,
womit auch eine Rückkehr zum blauweißen
Spielkleid verbunden war. Unter Ex-Oberligaspieler
Heinz Auras war man bereits 1958, als
die Diskussion um die Verlegung nach Cottbus
noch weit entfernt gewesen war, in die
Bezirksklasse aufgestiegen und hatte den Bezirkspokal
gewonnen. 1959 erreichte Brieske-
Ost die Bezirksliga Cottbus-West. 1963/64,
im ersten Spieljahr nach Delegierung des SC
Aktivist nach Cottbus, wurde die BSG unter
dem zurückgekehrten Willy Schober Staffelsieger
und erreichte in der Aufstiegsrunde mit
einem Sieg bei Chemie Böhlen die Versetzung
in den Oberligaunterbau. Damit kam es wenige
Monate nach der umstrittenen Verlegung
zum Ligaduell zwischen BSG Aktivist Brieske-
Ost und SC Cottbus.
„Der Euphorie folgte die Ernüchterung!“,
schreibt die Klubchronik. Ganze vier Siege,
zwei 0:3-Derbyniederlagen und Enttäuschung
auf breiter Linie standen am Ende
FSV GLÜCKAUF BRIESKE/SENFTENBERG
95
der gemeinsamen Liga-Saison 1964/65, an
dem Brieske-Ost in die Bezirksliga abstieg
und Cottbus Vizemeister wurde. Für Aktivist
wurden die Zeiten hart. Erst mit der Ligareform
1971, als aus zwei Zweitligastaffeln fünf
wurden, konnten die Blau-Weißen in die Liga
zurückkehren, verfehlten jedoch 1971/72
abermals den Klassenerhalt. Passend dazu
endete auch die Bergbauära in Brieske. Bereits
1967 war der Tagebau geflutet worden,
entstand der Senftenberger See, der heute ein
beliebtes Naherholungsgebiet auch für die
Gartenstadt Marga ist. Die Brikettfabrik indes
blieb zunächst aktiv und produzierte noch bis
zur Wende „Brigittas“.
VERSCHMELZUNG MIT SENFTENBERG
Es kam noch schlimmer für Brieskes Kumpelkicker.
Bereits 1968 war aus mehreren
Teilbetrieben das Großkombinat VE BKK Senftenberg
entstanden, dessen Leitung in Senftenberg
residierte und das nach Ansicht der Funktionäre
eine leistungsfähige Sportgemeinschaft
benötigte. Im Februar 1972 wurden die rivalisierenden
Nachbarn BSG Aktivist Brieske-Ost
und BSG Aktivist Senftenberg zur BSG Aktivist
Brieske/Senftenberg vereint, die nun wieder
in Schwarz-Gelb spielte und deren Start vom
erwähnten Liga-Abstieg überschattet wurde.
„Die Ligazugehörigkeit sollte umgehend und
möglichst dauerhaft gesichert werden“, heißt
es in der Chronik über die anschließenden
Pläne und Hoffnungen: „Dies musste einhergehen
mit einer systematischen Verbesserung
der materiellen Bedingungen. Dafür standen
aus dem fußballinteressierten Leitungskreis
des neu gebildeten Großkombinats großzügige
Zuwendungen bereit. In Brieske zogen
verschleierte Profibedingungen ein. Die Spieler
wurden in einer Arbeitsgruppe zusammengestellt,
um den reibungslosen Trainingsbetrieb
auch tagsüber abzusichern. In Gehalt
und Rahmenbedingungen standen sie für damalige
Verhältnisse gut da, es war interessant
geworden, in und für Brieske Fußball zu spielen.“
Gefüllte Geldbörsen statt Kumpelgeist in
der alten Gartenstadt.
Erfolg brachte es nicht, denn über die Rolle
einer Fahrstuhlmannschaft zwischen Bezirksliga
und Liga kam die BSG Aktivist Brieske/
Senftenberg bis zur Wende nicht hinaus. Vier
Aufstiegen zwischen 1973 und 1989 standen
vier Abstiege gegenüber. Weder unter Langzeittrainer
Heinz Auras noch unter Ex-Oberligaspieler
Harry Ratsch, der 1980 den Übungsleiterstab
vom verstorbenen Auras übernahm
und auch die Nachwuchsabteilung führte, vermochte
sich das Team um Torjäger Franz Vogel
und den wieselflinken Außenstürmer Peter
„Stiftel“ Gajewski im Oberligaunterbau zu
etablieren. Nur im Nachwuchsbereich machten
sich die Lausitzer einen Namen, brachten
Spieler wie Schuppan, Leuthäuser, Stobernack
und Hoffmann hervor und begrüßten am 19.
Mai 1981 sogar die DDR-Nationalmannschaft
zu einem Freundschaftsspiel gegen Kuba im
Glückauf-Stadion an der Briesker Straße.
Sportlich durchlief die ehemalige Kumpelelf
ein Wellental. 1974 träumte sie als Vizemeister
in Staffel D von der Oberliga-Aufstiegsrunde
– und stieg in der Folgesaison ab.
1982 kam mit Platz drei erneut Hoffnung auf,
der 1984 mit Rang fünf die hauchdünne Qualifikation
für die neue zweigleisige Liga folgte.
Mit Hans Säckel kam daraufhin ein erfahrener
Trainerfuchs nach Senftenberg. Als Säckel
1985/86 nach einer ansprechenden Hinrunde
aus gesundheitlichen Gründen aufhören
musste, übernahm Peter Prell, langjährige
Trainerlegende der BSG Aktivist Schwarze
Pumpe. Prell startete mit einem 1:8 in Babelsberg
und fand sich am Saisonende mit seinem
Team auf einem Abstiegsplatz wieder.
Aufregung gab es zudem um Ex-Nachwuchsspieler
Andreas Leuthäuser, der nach
einem persönlichen Schicksalsschlag Energie
Cottbus verlassen wollte, dem ein Wechsel
nach Brieske von Cottbusser Funktionären jedoch
untersagt wurde. Erst nach langem Hin
und Her wurde eine zunächst verhängte Sperre
aufgehoben, und mit acht Treffern konnte
Leuthäuser im Saisonfinale immerhin noch
für etwas Hoffnung sorgen.
Modernes Funktionsgebäude in Brieske
ABSTURZ NACH DER WENDE
1987 kehrte Brieske/Senftenberg zurück in
die Liga, feierte zudem in der neugegründeten
Juniorenliga große Erfolge und wollte im Sommer
1989 eigentlich „der Zukunft zugewandt“
sein 70. Jubiläum feiern, als die Wende kam.
Nach einem von allerlei Gerüchten um einen
angeblichen „Geldkoffer“ umrankten 1:4 gegen
Stahl Hennigsdorf stand der erneute Abstieg
zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt
fest. Zeitgleich zerbrachen die ökonomischen
Strukturen im Lausitzer Braunkohlerevier.
Der Brikettabsatz brach um 60 Prozent ein,
das Trägerkombinat wurde abgewickelt, Industrieanlagen
stillgelegt und abgerissen. Die
Überführung der Betriebssportstrukturen in
marktwirtschaftliche fiel schwer, die Abwanderung
von Spielern und Fans in den Westen
hinterließ Spuren, und aus der BSG Aktivist
wurde der FSV Glückauf. Verfallene Häuser,
Leerstand und Resignation prägten die alte
Gartenstadt seinerzeit.
Immerhin glückte in der Aufstiegsrunde
1990 durch ein Last-Minute-Tor von Andreas
Pfennig zum 3:2 gegen Jenaer Glaswerke die
sofortige Rückkehr in die Liga. Dort gelang
in der letzten DDR-Saison 1990/91 sogar
die Qualifikation zur drittklassigen Oberliga
Nordost. Bis 1996 kamen daher vertraute
Gegner wie 1. FC Magdeburg, 1. FC Union
Berlin, Energie Cottbus oder Halle nach Brieske,
die jedoch nur noch selten mehr als 300
Unverdrossene anlockten. Gespielt wurde
inzwischen in der Elsterkampfbahn, dem
alten Sportplatz an der Badeanstalt, wo zu
DDR-Zeiten ein Trainingszentrum mit damals
moderner Traglufttrainingshalle entstanden
war. Das Glückauf-Stadion an der Briesker
Straße, in dem so viele legendäre Duelle stattgefunden
hatten, wurde 1997 abgerissen und
mit Wohnhäusern überbaut. Brieskes große
Fußballjahre verschwanden auch optisch.
1994 verabschiedeten sich mit Andreas
Leuthäuser und Norbert Schuppan die letzten
beiden „Großen“ des Briesker Fußballs aufs
Altenteil. Aus dem Nachwuchs rückten zwar
Talente wie Sven Benken, im benachbarten
Lauchhammer geboren und später mit Werder
Bremen Pokalsieger, nach, doch nach dem
Oberligaabstieg 1996 kamen die Schwarz-Gelben
über die Rolle einer Fahrstuhlmannschaft
zwischen Brandenburg- und Landesliga nicht
mehr hinaus.
Der große Ruf wurde zum Mythos, der in
der Gegenwart wenig Greifbares einbringt. Der
Zuschauerzuspruch im Jubiläumsjahr 2019
betrug ganze 79, und das Hauptaugenmerk in
der Elsterkampfbahn liegt längst auf der Nachwuchsarbeit,
in der der FSV Glückauf führend
in der Region ist. Man kann also durchaus sagen,
dass Brieske die Wende geschafft hat, auch
wenn das große Fußballflair weg ist und die
gekreuzten Hämmer im Wappen ebenso wie
der Klubname „Glückauf“ zu Reminiszenzen an
vergangene Tage wurden, in denen die Welt in
der Gartenstadt noch „in Ordnung“ war.
FSV GLÜCKAUF BRIESKE/SENFTENBERG
97
FC VILSHOFEN
Manche Vereine werden mit einem Spieler
verbunden, obwohl der anderswo große
Karriere machte. Klaus Augenthaler beispielsweise,
1990 Weltmeister, gehörte
über viele Jahre zu den großen Stars beim
FC Bayern München. Seit 2019 ist er Namensgeber
eines Stadions in Vilshofen.
in dem er nie selbst gespielt hat. Denn als
„Auge“ 1964 siebenjährig zum FC Vilshofen
kam, kickte der noch im Rennbahnstadion
am Ufer der Donau, auf dessen Areal
heute eine Berufsschule steht. Auch die
Bayernligazeiten der Grün-Weißen aus der
14.000-Einwohnerstadt zwischen Deggendorf
und Passau von 1978 bis 1985 erlebte
Augenthaler nur aus der Ferne - da war er
längst für den FC Bayern in der Bundesliga
unterwegs.
LANGE ZWISCHEN BEZIRK UND KREIS
Der FC Vilshofen entstand am 25. April
1919 aus der Spielabteilung des TV Vilshofen
und nannte sich zunächst Spielvereinigung
Vilshofen. Als Gründervater gilt
Franz Maurer. In der Donaustadt lebten
damals etwa 10.000 Menschen, und über
Jahrzehnte bewegten sich die Vilshofener
beschaulich zwischen Bezirksliga und B-
Klasse.
Erst in den 1970er Jahren ändert sich
das. Unter Trainer Keil entstand ein Team,
das 1973 erstmals in die Landesliga Mitte
und damit die vierthöchste Spielklasse aufstieg.
Basis war eine starke Nachwuchsgeneration,
zu der neben Klaus Augenthaler
auch Hans Pirkl, Josef Fischl sowie der aus
Alkofen zum FCV gestoßene Alfred „Fred“
Albinger gehörten, die 1975 allesamt vom
FC Bayern zum Probetraining eingeladen
wurden. Augenthaler und Albinger wurden
angenommen, wobei Albinger im Gegensatz
zu „Auge“ den Durchbruch beim Rekordmeister
allerdings verpasste.
Nach einigen Jahren im Mittelfeld gingen
die Vilshofener 1977/78 aus einem
rasanten Titelrennen gegen Bayernligaabsteiger
ASV Herzogenaurach als Sieger
hervor und fanden sich erstmals in der Bayernliga
wieder. Basis war die Heimstärke
- nur drei Punkte hatte man im Rennbahnstadion
abgeben müssen – sowie eine stabile
Abwehr, die lediglich 26 Treffer in 34
Spielen kassierte. Abseits des Spielfeldes
sorgten Präsident Matthias Hartl sowie
Abteilungsleiter Helmut Kohlbauer für
die passenden Rahmenbedingungen. Vilshofen
im bayerischen Oberhaus, das war
ein Höhepunkt in der Klubgeschichte.
Ein Jahr später folgte der nächste, als das
Team von Trainer Kunstmann im DFB-Pokal
auf Zweitligist Würzburg 04 traf. Vor
1.800 Zuschauern lieferten die kampfstarken
Niederbayern um Bayernauswahlspieler
Egresits ein unvergessenes Spiel, in
dem Hausberger und Köpfl in der 80. bzw.
83. Minute aus einem 0:2 ein 2:2 machten
und die Verlängerung erzwangen. In der
verhinderte ein Handelfmeter, den Groppe
für Würzburg verwandelte, die Sensation.
SECHS SPIELZEITEN BAYERNLIGA
In der Bayernliga stieß der rührige Klub
zunächst an seine Grenzen. 1980 nach zwei
Spielzeiten abgestiegen, kehrte man – abermals
daheim ungeschlagen – schon im ersten
Anlauf zurück. Und diesmal gelang die
Etablierung im Landesoberhaus, gingen die
Niederbayern 1981/82 sowie 1982/83 jeweils
als Neunter durchs Ziel. Schlagzeilen
4. September 1982 – die Löwen gastieren vor 11.500 Fans in Vilshofen
machte vor allem der aus Graz stammende
Trainer Adolf „Adi“ Pinter, ein bunter Paradiesvogel,
der an der Seitenlinie als „Showmaster
vom Feinsten“ galt und einst als
Co-Trainer unter Ernst Happel in Belgien
gearbeitet hatte. „Mit Goldkettchen um Hals
und Handgelenk ganz Playboy“, charakterisierte
eine Fachzeitung den exzentrischen
Vilshofener Coach 1982.
Unvergessen das 3:1 gegen Zweitligaaufsteiger
FC Augsburg im Spieljahr 1981/82,
das 3:2 gegen den aufgepäppelten Überflieger
SpVgg Unterhaching in der Folgesaison
sowie das 1:1 gegen Zweitligazwangsabsteiger
TSV 1860, bei dem 11.500 Fans am
4. September 1982 für eine Vilshofener
Rekordkulisse sorgten. „Die gefürchteten
Ausschreitungen hielten sich in Grenzen.
Nur einem Zuschauer war die Aufregung
zu groß, er erlitt einen Herzinfarkt“, schrieb
die Münchner „tz“ – etwa 8.000 Löwen waren
in Vilshofen dabei. Am 15. Oktober 1983 gelang
schließlich sogar ein 3:1-Auswärtssieg
bei den Löwen im Grünwalder Stadion.
Erfolgsbasis waren Kampfgeist sowie die
erwähnte Heimstärke. Personifiziert wurde
das Team von Libero Sepp Weiß, einst
mit Bayern München Europapokalsieger,
Bernhard Robl, 1981 vom SV Fürstenstein
gekommen, Armin Paulik sowie Günther
Stockinger, der aus dem Vilshofener Nachwuchspool
stammte und 1983/84 22 Saisontore
erzielte, ehe er zum Ligakonkurrenten
TSV 1860 wechselte. Später stieg
Stockinger mit der SpVgg Bayreuth in die 2.
Bundesliga auf, kehrte jedoch anschließend
nach Vilshofen zurück, wo er als Jugendtrainer
für den FCV arbeitete.
Als 1984/85 unter Pinter-Nachfolger
und Spielertrainer Loucoumanou Moussa-
Baba lediglich fünf Heimsiege gelangen,
endete auch der zweite Bayernligaausflug.
Diesmal gab es keine Rückkehr. 1986/87
war es knapp, reichte Platz drei hinter der
TSV Vestenbergsgreuth und dem FSV Bad
Windsheim jedoch nicht einmal für die Relegation.
In den 1990er Jahren rutschten
die Grün-Weißen dann ins Landesliga-Mittelmaß
und stiegen 1994/95 mit ganzen
vier Saisonsiegen in die Bezirksliga ab. Seitdem
ist vom FC Vilshofen auf Landesebene
nichts mehr zu sehen gewesen.
Gegenwärtig spielt man lediglich in der
Kreisliga. Seit 2019 im von der Stadt an der
Kloster-Mindsee-Straße errichteten Klaus-
Augenthaler-Stadion, das an den größten
Fußballsohn der Stadt erinnert, der die
größten Erfolge nur aus der Ferne sah.
FC VILSHOFEN
155
BLACKPOOL FC
BLACKPOOL FC
(England)
Es ist das Wesen des inhabergeführten britischen
Profifußballs, dass der Feind mitunter
im eigenen Bett liegt. So war es bis 2019 in
Blackpool, wo die Familie Oysten die Kontrolle
über den Klub ausübte und ihn beinahe zerstörte.
2017 urteilte ein Gericht, die Oystens
würden ihn als „persönliche Geldmaschine“
behandeln. Viele Fans der „Tangerines“ boykottierten
damals die Heimspiele und warteten
ungeduldig, dass die ungeliebten Besitzer endlich
einem Verkauf zustimmten.
Blackpool wird in Großbritannien entweder
als Kult gefeiert oder mit dem Adjektiv
„tacky“ verspottet. Das steht für „kitschig“,
denn die 140.000-Einwohnerstadt an der
Irischen See ist Englands Amüsierhochburg.
Alles begann im 19. Jahrhundert, als Blackpool
zum Ferienziel der Arbeiterklasse von
Nordengland wurde. Damals entstanden drei
Piers und der 1894 eingeweihte, 158 Meter
hohe „Blackpool Tower“, der zum Wahrzeichen
wurde.
Heute verkehrt eine Museums-Straßenbahn
entlang der Strandpromenade, erfreuen sich
rund 18 Mio. Besucher jährlich an einer spektakulären
abendlichen Strandbeleuchtung,
genießen die zuckersüßen „Blackpool Rock
Candies“ (eine Art Stangen-Lolli) und verspielen
ihr Geld in einer der ungezählten Spielhallen.
Fußballfans nutzen das Auswärtsspiel ihrer
Mannschaft beim Blackpool FC gerne zum
verlängerten Feierwochenende am Strand,
denn Blackpool ist zugleich der „Ballermann“
an Englands Westküste.
ERST AB 1930 IN DER FIRST DIVISION
Fußballerisch wird Blackpool vor allem mit
dem Pokalsieg 1953 verbunden, der größte
Erfolg eines Vereins, dessen Frühgeschichte
eher bescheiden ausfällt. Am 26. Juni 1887
als Nachfolger eines seit etwa einer Dekade
bestehenden Blackpool St. John FC gegründet,
wurde man 1896 in die Football League aufgenommen,
konnte sich aber erst nach Fusion
mit Stadtrivale South Shore FC im Dezember
1899 im Profifußball etablieren. Damals bezog
der Klub mit dem alten South-Shield-Platz an
der Bloomfield Road auch seine heutige Heimat.
Mehrfach musste Blackpool anschließend
um den Verbleib in der Football League bangen
und kämpfte mit wirtschaftlichen Problemen
sowie Zuschauerzahlen von unter 5.000.
Erst 1930 gelang unter Trainer Harry Evans
erstmals der Aufstieg in die First Division
(heutige Premier League), mischte das populäre
Seebad endlich im Konzert der Großen
mit! Bereits seit Mitte der 1920er Jahre
liefen die Blackpooler in mandarinefarbenen
(„tangerine“) Trikots statt der bis dahin verwendeten
blauen auf. Der Legende zufolge
soll Schiedsrichter Albert Hargreaves beim
Länderspiel Niederlande gegen Belgien vom
Spielkleid der „Oranje“ derart angetan gewesen
sein, dass man in der englischen Seestadt
fortan die Farben des niederländischen Könighauses
trug.
Über die Rolle einer Fahrstuhlmannschaft
zwischen First und Second Division kam man
trotz Talenten wie dem 1938 tragisch verunglückten
Nationalspieler Jimmy Hampson,
dem Schotten Bobby Finan oder dem 1933 zu
Manchester City wechselnden Nordiren Peter
Doherty nicht hinaus. Berühmt war Blackpool
für sein Talentscouting, das der spätere Wolves-Manager
Frank Buckley in den 1920er
Jahren eingeführt hatte. Ausgerechnet als
1939 der Zweite Weltkrieg begann und der
Spielbetrieb abgebrochen wurde, zierte das
Team nach drei Siegen in drei Spielen zum
ersten Mal in der Geschichte Platz 1 der First
Division.
Als es 1946 weiterging, brachen die goldenen
Jahre an. Blackpool hatte indirekt vom
Krieg profitiert. Im Stadion an der Bloomfield
Road war eine RAF-Einheit stationiert
worden, die zahlreiche Fußballer in die Stadt
brachte. 1943 waren die „Tangerines“ mit
einem 4:2 über Arsenal sogar englischer
Kriegsmeister geworden. Damals stand mit
Stanley „Stan“ Matthews ein aus Stoke stammender
Gastspieler im Team, der 1947 für
11.000 Pfund nach Blackpool zurückkehrte.
Ein Transfer, der sich mehr als auszahlte. Obwohl
bereits 32, überzeugte Matthews mit
bemerkenswerter physischer Fitness, mitreißenden
Flankenläufen und einem für die Zeit
extrem professionellen Lebenswandel. Davon
profitierte vor allem das aus South Shield
stammende lokale Talent Stan Mortensen, der
Matthews Zuspiele regelmäßig in Tore verwandelte.
Matthews und Mortensen waren
zwei der besten britischen Fußballer ihrer
Zeit, mit denen die „Tangerines“ 1948 erstmals
das Endspiel um den FA-Cup erreichten.
Nach 2:1-Halbzeitführung gegen Manchester
United verlor die vom extrovertierten Manager
Joe Smith trainierte Elf allerdings mit 2:4.
1951, inzwischen ergänzt mit den Offensivkräften
Jackie Mudie und Bill Perry, erreichte
die Matthews-Elf erneut das Finale, war gegen
das starke Newcastle-United-Team um Jacki
Milburn jedoch chancenlos und verlor 0:2.
DAS MATTHEWS-FINALE
Dann kam das Jahr 1953, das erfolgreichste
in der Geschichte des Blackpool Football Club.
Im FA-Cup schaltete man u.a. Tottenham, Arsenal
und Southampton aus und erreichte
zum dritten Mal binnen fünf Jahren das Finale
in Wembley. Gegner waren die Bolton Wanderers,
Heimatklub von Trainer Smith. 20
Minuten vor Schluss lag Bolton mit 3:1 vorne
und es schien, als würde Blackpool erneut
als Verlierer vom Platz gehen. Dann drehte
Stan Matthews, inzwischen 38, die Partie gemeinsam
mit Sturmpartner Mortensen quasi
im Alleingang. Matthews Dribblings auf dem
rechten Flügel waren unwiderstehlich, und
als Mortensen in der 89. Minute zum 3:3 traf
und damit als erster Spieler einen Hattrick im
Wembley-Stadion erzielte, hatte Blackpool
die Verlängerung erzwungen. In der sorgte
der 1949 aus Südafrika gekommene Bill
Perry schon nach zwei Minuten für den 4:3-
Siegtreffer – die Vorlage hatte natürlich Stan
Matthews geliefert. In Großbritannien spricht
man seitdem vom „Matthews-Finale“
Auch in der Meisterschaft standen die „Tangerines“
nun vor dem Durchbruch, der allerdings
verfehlt wurde. 1956 wurden sie mit elf
Punkten Rückstand auf Manchester United
immerhin Vizemeister und begrüßten regelmäßig
30.000 und mehr Zuschauer an der
Bloomfield Road. Die Rekordkulisse wurde
am 17. September 1955 registriert, als 38.098
ein 2:1 gegen Wolverhampton Wanderers sahen.
Im Oktober 1958 wurden dort zudem
Flutlichtmasten aufgestellt. Es waren goldene
Tage für den britischen Profifußball, und
Blackpool war einer der renommiertesten
Repräsentanten des Landes. Zahlreiche Auslandstourneen
führte die Matthews-Elf durch
die ganze Welt und selbst nach Asien und Australien.
RÜCKFALL INS MITTELMASS
1955 wechselte Mortensen zu Hull City,
und als drei Jahre später Erfolgscoach Smith
die Leitung an Ronnie Stuart übergab, während
Matthews 1961 zu seinem Heimatverein
Stoke City zurückging, war die goldene Ära
BLACKPOOL FC
159
BLACKPOOL FC
Die goldene Elf um Stan Matthews
vorbei. Blackpool blieb zwar eine beachtete
Talenteschmiede, die Spieler wie Tommy
Hutchison, Gordon Milne, Tony Green oder
Alan Ball hervorbrachte, sie aus wirtschaftlichen
Gründen aber auch stets früh verkaufen
musste, um den Saisonetat zu sichern.
Lediglich Eigengewächs Jimmy Armfield
blieb Zeit seiner Karriere an der Bloomfield
Road und wurde mit 568 Einsätzen zwischen
1954 und 1971 Rekordspieler des Vereins.
1966 stand er gemeinsam mit Klubkamerad
Alan Ball zudem in der englischen Weltmeisterelf.
Anschließend kassierte Blackpool die
Rekordsumme von 112.000 Pfund für den
Wechsel von Ball zu Everton, bezahlte das jedoch
mit dem Abstieg im Folgejahr. Lediglich
ein Heimsieg sowie fünf Unentschieden waren
ein Negativrekord, der 39 Jahre Bestand
haben sollte.
1969 unter dem als Trainer zurückgekehrten
Stan Mortensen knapp am Wiederaufstieg
gescheitert, gelang 1970 zwar die Rückkehr
ins Oberhaus, wo die „Tangerines“ den Klassenerhalt
jedoch verfehlten. Inzwischen litt
Blackpool unter zurückgehenden Zuschauerzahlen
und konnte wirtschaftlich mit der
Konkurrenz nicht mehr mithalten. Die 1970er
Jahre wurden zur Dekade des Mittelmaßes in
der Second Division, regelmäßigen Verkäufen
von Talenten und weiter zurückgehenden Zuschauerzahlen.
Und des Pechs. 1974 brauchte
man nur noch einen Sieg im Abschlussspiel
gegen Sunderland zum Wiederaufstieg in
die First Division – doch nach dem 1:2 kam
Carlisle United zum einzigen Erstligajahr seiner
Geschichte. 1977 fehlten lediglich zwei
Punkte auf Nottingham Forest, ehe dann
1977/78 alles zusammenbrach an der Bloomfield
Road. Mitten in der Saison warf Trainer
Allan Brown das Handtuch, woraufhin das bis
dahin um den Aufstieg spielende Team in den
Tabellenkeller abstürzte und erstmals in die
dritte Liga abstieg.
PENDELN ZWISCHEN 3. UND 4. LIGA
Dass man anschließend 29 Jahre lang zwischen
dritter und vierter Liga pendeln würde,
hätte wohl niemand geahnt. Doch statt in die
Second Division hinauf stiegen die „Tangerines“
1981 unter dem als Trainer zurückgekehrten
Alan Ball sogar in die vierte Liga ab
und mussten dort 1982/83 als Viertletzter
erstmals wieder um ihre Wiederwahl in die
Football League bitten. Der stolze Blackpool
Football Club lag am Boden. Erst 1985 zeigten
sich leichte Lichtblicke im inzwischen reichlich
maroden Stadion an der Bloomfield Road,
kehrte das Team in die dritte Liga zurück, um
nur fünf Jahre später erneut ins Unterhaus
der Football League abzustürzen. In England
wurde Blackpool inzwischen als biederer Mitläufer
betrachtet, der seine Aura nahezu völlig
eingebüßt hatte.
1990/91 sorgte ein beherzter Pokalauftritt
bei Erstligist Tottenham Hotspurs (0:1) für
neuen Schwung, erreichte das lange abstiegsbedrohte
Team unter dem im November gekommenen
Trainer Billy Ayre das Play-Off-Finale
zur 3. Liga in Wembley (4:5 im Elfmeterschießen
gegen Torquay United). Ein Jahr später
feierte man an selber Stelle ein 4:3 im Elfmeterschießen
über Scunthorpe United, das die
„Tangerines“ in die 3. Liga zurückbrachte. Inzwischen
drückte allerdings das Stadionproblem,
denn Blackpools Spielstätte verharrte
im Zustand der 1960er Jahre und war jenseits
der Renovierfähigkeit. Die alte Stehplatztribüne
mit ihren 12.000 Plätzen war gesperrt, die
Flutlichtmasten aus Sicherheitsgründen gekappt,
alles ziemlich alt und verbraucht.
1987 hatte die Familie Oysten, aus Blackpool
stammend und seit langem mit dem Klub
verbunden, den Verein übernommen und ihn
1988 vor dem drohenden Konkurs gerettet.
Familienoberhaupt Owen Oysten wurde von
den Medien seinerzeit als „kleiner Medienbaron
und selbstgemachter, sozialistischer Millionär“
bezeichnet, der mit britischer Exzentrik
daherkam. Von ihm vorgelegte Pläne einer
kommerziellen Spielstätte mit beweglichem
Dach, Einkaufszentrum, Hotel sowie Konzerthalle
außerhalb des Stadtzentrums stießen
auf Widerstand. In einem undurchsichtigen
Geflecht, bei dem die lokale Tageszeitung
eine unrühmliche Rolle spielte und das im
Kern ein Konflikt zwischen der Familie Oysten
und einem Konsortium der Besitzer des
angedachten Baulandes war, kam es zu keiner
Lösung, sodass schließlich die existierende
Spielstätte an der Bloomfield Road notdürftig
renoviert wurde.
AUFSTIEG IN DIE PREMIER LEAGUE
Als Owen Oysten am 22. Mai 1996 der Vergewaltigung
einer 16-Jährigen schuldig gesprochen
wurde, stand der Klub vor einem
Scherbenhaufen. Eine Woche zuvor hatte man
unter dem jungen Trainer Sam Allardyce im
Halbfinale der Play-Offs gegen Bradford City
bereits die Rückkehr in die zweite Liga verspielt,
woraufhin Allardyce entlassen worden
war, was man noch bereuen sollte. Blackpools
Zukunft sah trübe aus.
Owen Oysten übergab die Vereinsgeschäfte
zunächst seiner Frau Vicki, ehe Sohn Karl
1999 vor dem Hintergrund wachsender Fanproteste
übernahm und den Klub auch weiterführte,
als sein Vater 2000 vorzeitig aus der
Haft entlassen wurde. Im selben Jahr erneut in
die vierte Liga abgestiegen, sorgte der ehemalige
Nationalspieler Steve McMahon mit einem
4:2 im Play-Off-Finale gegen Leyton Orient
umgehend für die Rückkehr in Liga 3. Finanziert
wurde der Spielbetrieb vor allem durch
Transfers. 2002 kassierte Blackpool die Rekordsumme
von 1,75 Millionen Pfund für den
Wechsel von Brett Ormerod zu Southampton.
Zwischenzeitlich verschärfte sich die Diskussion
um die Besitzerfamilie. Im Mai 2006
einigten sich die Oystens mit dem lettischen
Geschäftsmann Valērijs Belokoņs, der für fünf
Millionen Pfund 20 Prozent der Anteile übernahm.
Während Belokoņs gemeinsam mit
seinem Assistenten Normund Malnacs in den
Vorstand rückte und massiv in die Mannschaft
investierte, führte Karl Oysten weiterhin die
Vereinsgeschäfte. Belokoņs ehrgeiziges Ziel
war die Premier League.
2007 kehrte Blackpool mit einem 2:0 im
Play-Off-Finale gegen Yeovil Town nach 29
BLACKPOOL FC
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BLACKPOOL FC
Jahren zunächst in die zweithöchste Spielklasse
zurück. Die langsam wieder wachsende
Fangemeinde der „Tangerines“ stand
nun vor turbulenten Tagen. 2009 übernahm
der charismatische Ian Holloway die Trainingsleitung,
holte Geldgeber Belokoņs u.a.
Charlie Adam von den Glasgow Rangers. Mit
Platz sechs, der besten Platzierung seit 1971,
erreichte Blackpool die Play-Off-Spiele zur
Premier League, setzte sich im Halbfinale gegen
Nottingham Forest durch (2:1, 4:3) und
gewann das Finale am 22. Mai 2010 gegen
Cardiff City mit 3:2. Nach 39 Jahren waren die
„Seasider“ zurück im englischen Oberhaus!
Und damit im Fußballland, wo Milch und Honig
strömen, denn der Aufstieg spülte über
90 Millionen Pfund in die Vereinskasse, über
die die Oysten-Familie ungeachtet der Millioneninvestitionen
von Valērijs Belokoņs noch
immer die Oberaufsicht hatte.
100.000 Fans bejubelten das Team von Ian
Holloway bei einer Busparade durch die Stadt.
Es wäre „ein Wunder, wenn wir die Klasse halten
können“, dämpfte der Aufstiegstrainer die
Erwartungen, denn die Rahmenbedingungen
waren alles andere als erstligatauglich. Das
Trainingsgelände „Squires Gate“ eine runtergekommene
Bruchbude, der Etat nicht wettbewerbsfähig,
die Führung zerstritten, das
Stadion mit Nottribünen auf 17.338 Plätze
erweitert. „Die holen höchstens zehn Punkte“,
prognostizierten Experten.
Zunächst ging der Traum jedoch weiter,
und mit einem 4:0 gegen Wigan Athletic
übernahm Blackpool sogar für 24 Stunden
die Tabellenführung der Premier League.
Dann wurde aus dem Traum ein Alptraum.
Sportlich ging es nach starker Hin- und
schwacher Rückrunde mit 39 Punkten trotz
Siegen über Liverpool, Sunderland sowie Tottenham
Hotspurs zurück in die zweitklassige
Championship. Holloway hatte Recht behalten,
das Wunder war ausgeblieben. Die Fans
ärgerten sich jedoch über die Oysten-Familie,
die statt zu investieren, um Blackpool in
der Premier League zu verankern, sogar Geld
aus dem Klub gezogen hatte, um damit andere
Familienunternehmen zu stützen. Geldgeber
Belokoņs warf der Familie vor, den Klub
zu mißbrauchen und die Fans wandten sich
in Massen ab.
Während Charlie Adam anschließend für
den Klubrekord von sieben Mio. Pfund zu
Liverpool wechselte, geriet der BFC zu einer
bedauerlichen Karikatur eines Profivereins:
Innerlich zerrissen, orientierungslos, ausgebrannt.
2012 im Play-Off-Finale durch ein Tor
in letzter Sekunde gegen West Ham United an
der Rückkehr ins Oberhaus gescheitert, wechselte
der populäre Erfolgstrainer Holloway im
November zu Crystal Palace. Viele Fans verloren
nun endgültig das Vertrauen. Nach einer
chaotischen Saison 2014/15 in die dritte Liga
durchgereicht, standen Trainer José Riga dort
zum Saisonstart lediglich acht Akteure zur Verfügung;
darunter kein einziger Torwart. Sechs
Spieltage vor Schluss stand der zweite Abstieg
in Folge fest. Das letzte Saisonspiel gegen Huddersfield
am 9. Mai 2016 musste abgebrochen
werden, nachdem Fans aus Protest das Spielfeld
gestürmt hatten.
FANBOYKOTT UND DROHENDES AUS
Sportlich erholte sich die Mannschaft unter
Trainer Gary Bowyer und kehrte durch
ein 2:1 im Play-Off-Finale gegen Exeter City
umgehend in die dritthöchste Spielklasse
zurück. Blackpool war inzwischen ein echter
Wembley-Experte: Zum fünften Mal in sechs
Anläufen war den „Tangerines“ im ikonischen
Kultstadion ein Aufstieg gelungen – das war
Rekord. Abseits des Spielfelds jedoch drohte
das Aus. Im September 2015 hatte Teilhaber
und Geldgeber Belokoņs einen Prozess gegen
die Oyston-Familie angestrengt. Er warf ihnen
vor, sich am Verein bereichert zu haben,
was vom Gericht bestätigt wurde: Die Familie
habe den Klub als „persönliche Geldmaschine“
mißbraucht, ohne dass Belokoņs eingreifen
konnte. Im August 2017 trat der lettische
Investor, der zeitgleich der Geldwäsche beim
Verkauf zweier russischer Banken verdächtigt
wurde, als Klubdirektor zurück.
Die Oystens schrieben den Verein daraufhin
zum Verkauf aus. Im Februar 2018 entband
Owen Oysten seinen Sohn Karl tatsächlich von
BLACKPOOL FC
In den Farben vereint, in den Intentionen getrennt. Valērijs Belokoņs (oben links),
Owen Oysten (oben rechts) und die Fans des Blackpool FC
seinem Posten als Klubchef, setzte jedoch die
32-jährige Tochter Natalie Christopher an seine
Stelle. Die Fans tobten. Ihr Verein war zum
Spielball der Familie geworden. Karl Owen
hatte wiederholt protestierende Anhänger
vor Gericht gezerrt oder sie öffentlich beleidigt,
während in Blackpool ein Foto kursierte,
auf dem die ganze Familie grinsend ein Plakat
mit der Aufschrift „Blackpool cash cow“
(Geldmaschine Blackpool) in die Höhe hielt.
Die Fangemeinde boykottierte zu großen Teilen
die Spiele und versammelte sich stattdessen
im Stadionumfeld. Der Blackpool FC war
ein zerrissener Klub, der symbolisch für den
Ausverkauf des Fußballs stand.
Im August 2018 trat Aufstiegstrainer Gary
Bowyer zurück, und am 13. Februar 2019
musste der Klub in ein Insolvenzverfahren,
wurde Owen Oysten gerichtlich dazu verdonnert,
Ex-Direktor Belokoņs 25 Mio. Pfund für
seine Anteile auszuzahlen. Am 13. Juni 2019
endete die Tragikkomödie endlich, als der
lokale Investor Simon Sadler 96,2 Prozent
der Anteile erwarb und die Oystens nach 32
Jahren die Kontrolle abgaben. Umgehend
kehrten die Fans zurück, und am 30. Mai 2021
bestätigten die „Tangerines“ mal wieder ihre
Vorliebe für Play-off-Finals in Wembley, indem
sie mit einem 2:1 über Lincoln City in die
zweitklassige Championship zurückkehrten.
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