Beschaffung aktuell 03.2023
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Ausgabe 03 | 2023<br />
www.beschaffung-<strong>aktuell</strong>.de<br />
Einkauf<br />
Materialwirtschaft<br />
Logistik<br />
Interview<br />
Kartelle im Fokus<br />
Die Oligarchen der Industrie –<br />
von Abgassystemen bis Zucker<br />
» Seite 18<br />
Finanzierung<br />
Sicherer Nachschub<br />
ohne Liquiditätsprobleme<br />
» Seite 58<br />
Whistleblowing<br />
Hinweisgeber werden geschützt –<br />
Compliance-Forderungen steigen<br />
» Seite 22<br />
Olaf Komitsch,<br />
CPO der EnBW AG<br />
» Seite 14<br />
Krisensicher<br />
beschaffen –<br />
Lieferfähigkeit<br />
sichern<br />
» Seite 40<br />
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2 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
» EDITORIAL<br />
Von Energie bis KI<br />
In den <strong>aktuell</strong>en Zeiten ist eines der bestimmenden Themen die Energie<br />
und auch Energiebeschaffung. Der viel beschworene harte Winter mit<br />
Mangellagen und Stromknappheit ist glücklicherweise nicht eingetreten.<br />
Die Strom- und Gaspreise sind <strong>aktuell</strong> wieder etwas gesunken. Doch der<br />
Energieeinkauf wird durch die Energiewende weiterhin einen hohen<br />
Stellen wert haben und große Herausforderungen meistern müssen. Wir<br />
haben mit Olaf Komitsch, CPO der EnBW Energie Baden-Württemberg AG,<br />
über die Energiewende und das veränderte Geschäftsmodell des Energieversorgers<br />
gesprochen. Zudem hat der Infrastrukturausbau das Einkaufsvolumen<br />
vervielfacht. Was das für den Einkauf bedeutet, erzählt CPO<br />
Komitsch im Interview ab Seite 14. Ein Zitat möchte ich Ihnen nicht<br />
vorenthalten „Es gibt in den Lieferketten unendlich viele Daten bei<br />
gleichzeitiger Unterinformation aller Beteiligten.“ Pflichtlektüre in dieser<br />
Ausgabe.<br />
Des Weiteren empfehle ich Ihnen unseren ersten Teil über Kartelle ab<br />
Seite 18. So ist das Bundeskartellamt <strong>aktuell</strong> auch mit der Kontrolle der<br />
Gaspreisbremse beschäftigt. In der nächsten Ausgabe der <strong>Beschaffung</strong><br />
<strong>aktuell</strong> erfahren Sie, wie die Deutsche Bahn mit Hilfe eines selbstentwickelten<br />
Kartellscreening-Tools den eigenen Einkauf unterstützt und<br />
Verdachtsfälle an die Behörden meldet.<br />
Neben den diversen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit ist die<br />
künstliche Intelligenz (KI) das Trendthema schlechthin. Nicht zuletzt<br />
wegen des intelligenten Chatbots „ChatGPT“ von OpenAI. Ob der Einkauf<br />
bei der Supply-Chain-Planung vom KI-Einsatz profitieren kann oder nicht,<br />
erfahren Sie ab Seite 30. Wir decken dort Wahrheiten und Irrtümer über KI<br />
auf. Zeigen, was sie kann, wo ihre Grenzen sind und was man unbedingt<br />
bei der Einführung beachten muss. Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen<br />
im Einkauf mit KI? Schreiben Sie mir gerne, ich freue mich.<br />
Alexander Gölz,<br />
Chefredakteur <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong><br />
alexander.goelz@konradin.de<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 3<br />
info@lederer-online.com
» INHALT 03 | 2023 70. JAHRGANG<br />
Krisensicher<br />
beschaffen –<br />
Lieferfähigkeit<br />
sichern<br />
» Seite 40<br />
Bild: Reyher<br />
Das Großhandelsunternehmen Reyher hat die Krisen erstaunlich gut<br />
gemeistert . Woran liegt das? Was unterscheidet die Firma von anderen?<br />
MAGAZIN<br />
Kollaboration in der Wertschöpfungskette<br />
Großes Potenzial, viele Hemmnisse 6<br />
Wirtschaftindices 8<br />
Keine Deindustrialisierung durch Energiepreisschock<br />
Energiepreise rund 40 Prozent höher als vor der Krise 9<br />
Analyse der <strong>aktuell</strong>en Lage<br />
Wie agiere ich als Einkäufer auf dem Stahlmarkt 10<br />
Neuer Kompetenzpartner: Metalshub<br />
Im Fokus: Spezialmetalle und Ferrolegierungen 12<br />
MANAGEMENT<br />
Olaf Komitsch, EnBW<br />
Die Energiewende meistern 14<br />
Kartelle im Fokus, Teil 1<br />
Die Oligarchen der Industrie 18<br />
Whistleblowing in Unternehmen<br />
Gesetz will Hinweisgeber schützen 22<br />
Nachhaltige <strong>Beschaffung</strong>, Teil 1<br />
Ambitionierte ESG-Ziele brauchen<br />
eine offene Fehlerkultur 24<br />
Teammoral auch in schwierigen Zeiten<br />
Raus aus dem Loch – aus Fehlern lernen 27<br />
Thomas Holzner, Siemens<br />
„Für ein digitales Ökosystem<br />
braucht es einen agilen Einkauf“ 28<br />
Von KI, Krisenbewältigung und Küchen<br />
Supply-Chain-Planung mit KI:<br />
Wahrheiten und Irrtümer 30<br />
Multi-Tenant versus Multi-Instance<br />
Sicherheit bei Einkaufslösungen 33<br />
Prof. Dr. Michael Schröder, DHBW CAS<br />
„Die globalen Lieferketten<br />
müssen neu justiert werden“ 36<br />
Automobile Wertschöpfungskette<br />
Marktplatz für den automobilen Datentransfer 38<br />
C-TEILE-MANAGEMENT<br />
TITEL<br />
Wie Reyher seine Lieferfähigkeit sichert<br />
Krisensicher beschaffen 40<br />
Plattform Logtopus<br />
„Störungen in der Supply Chain früh erkennen“ 44<br />
FERTIGUNGSTECHNIK<br />
Intec, Z und Grindtec<br />
Messeverbund ist bereit für den Neustart 48<br />
Lohnfertiger schnell vergleichen<br />
Beim Einkauf bleibt die Entscheidungshoheit 50<br />
Werkzeugbeschaffung<br />
Automobilzulieferer setzt<br />
auf digitales Toolmanagement 53<br />
ZULIEFERUNG<br />
Ralf Bühler, Conrad Electronic<br />
„Als <strong>Beschaffung</strong>splattform bieten wir mehr<br />
als nur Produkte“ 54<br />
Entwicklung auf den Rohstoffmärkten<br />
Lithiumpreis soll sinken 57<br />
Finanzierungsmodell für den Materialeinkauf<br />
Sicherer Nachschub ohne Liquiditätsprobleme 58<br />
4 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: EnBW<br />
Olaf Komitsch managt die <strong>Beschaffung</strong> für die<br />
EnBW Energie Baden-Württemberg AG.<br />
» Seite 14<br />
9. Internationale<br />
Fachmesse der<br />
Verbindungs- und<br />
Befestigungsbranche<br />
BME<br />
Aktuelle Forschungsergebnisse<br />
Logistikstudie: Digitalisierung in Supply Chains<br />
kommt voran 60<br />
BME-International<br />
Neuer Online-Service 60<br />
KARRIERE<br />
Behavioral Economics, Teil 1<br />
Blicken Sie hinter die Maske 62<br />
Der Weg in eine nachhaltige Zukunft<br />
Verantwortungsvoll beschaffen 64<br />
Buchvorstellungen 65<br />
RUBRIKEN<br />
Editorial 3<br />
Inserentenverzeichnis, Vorschau, Impressum 66<br />
Meinung<br />
Truckermangel: Unseren Lieferketten<br />
droht der Infarkt 67<br />
Der globale Treffpunkt<br />
der Verbindungs- und<br />
Befestigungsbranche<br />
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» MAGAZIN<br />
Kollaboration in der Wertschöpfungskette<br />
Großes Potenzial, viele Hemmnisse<br />
Zusammenarbeit und Datenaustausch innerhalb der Lieferkette sind entscheidende Faktoren,<br />
um die Effizienz von <strong>Beschaffung</strong>sprozessen zu steigern. Diese Ansicht vertreten zwei Drittel<br />
von 150 Befragten für das Hermes-Barometer „Kollaboration in der Supply Chain“. Bei der<br />
Umsetzung stehen sie jedoch technologischen und personellen Hemmnissen gegenüber.<br />
Der überwiegende Teil der befragten<br />
Unternehmen hat das Potenzial unternehmensübergreifender<br />
Kollaboration<br />
und operationaler Vernetzung innerhalb<br />
der Lieferkette erkannt. 65 Prozent vertreten<br />
die Ansicht, dass Effizienzsteigerungen<br />
in der Supply Chain zukünftig nur<br />
durch Kooperationen und den Datenaustausch<br />
mit Kunden und Lieferanten möglich<br />
sein werden. In Unternehmen mit 250<br />
bis 1000 Beschäftigten teilen sogar 100<br />
Prozent der Befragten diese Einschätzung.<br />
Rund sieben von zehn der Unternehmen<br />
(68 %) geben an, in ihren <strong>Beschaffung</strong>sprozessen<br />
bereits auf intensive<br />
Kooperation mit Geschäftskunden und<br />
Lieferanten zu setzen. Jedoch räumt über<br />
Faktoren für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in den Lieferketten.<br />
die Hälfte (55 %) der Unternehmen ein,<br />
das Potenzial kollaborativer Prozesse sei<br />
zwar bekannt, werde aber noch nicht voll<br />
ausgeschöpft.<br />
Zusammenarbeit<br />
Als Vorteile der kollaborativen Zusammenarbeit<br />
bewerten Unternehmen besonders<br />
jene Faktoren, die mit einer guten<br />
Vernetzung der Akteure über Unternehmensgrenzen<br />
hinweg assoziiert sind. So<br />
sprechen etwa neun von zehn Supply-<br />
Chain-Verantwortlichen (88 %) dem persönlichen<br />
Kontakt und Austausch zwischen<br />
den verschiedenen Partnern eine<br />
sehr große Bedeutung zu. Effiziente<br />
Steuerungstools wie IT-Plattformen für<br />
Bild: Hermes<br />
die effiziente Zusammenarbeit innerhalb<br />
der Lieferkette bewerten über alle Unternehmensgrößen<br />
hinweg 67 Prozent als<br />
erfolgsentscheidend. Die Wirkung kollaborativer<br />
Zusammenarbeit auf die Sichtbarkeit<br />
innerhalb der Lieferkette halten<br />
die meisten Entscheider ebenfalls für besonders<br />
relevant: Dreiviertel der Befragten<br />
schätzen eine erhöhte Transparenz<br />
durch die gemeinsame Sicht auf die Lieferkette<br />
als erfolgsentscheidend ein.<br />
Ressourcen und Aufwände<br />
Der positiven Einschätzung stehen bei der<br />
Umsetzung zahlreiche technische und<br />
organisatorische Hemmnisse gegenüber.<br />
Mehr als die Hälfte der Befragten (57 %)<br />
schätzen den Zeit- und Kostenaufwand<br />
bei der Implementierung notwendiger<br />
Technologien als hinderlich ein. Insgesamt<br />
bewerten die Verantwortlichen fehlende<br />
personelle Ressourcen als größte<br />
Blockade bei der Realisierung erfolgreicher<br />
Kollaboration (65 %). Als weitere<br />
Hemmnisse werden Sicherheitsbedenken<br />
beim Teilen von Daten in der Supply<br />
Chain (61 %) sowie eine fehlende Vernetzung<br />
mit Lieferanten und Handelspartnern<br />
(59 %) genannt.<br />
Hohe Wirksamkeit für Kooperation messen<br />
die Befragten digitalen Technologien<br />
bei, welche dem vereinfachten Austausch<br />
von Informationen und Daten dienen. So<br />
sagen 91 Prozent der Befragten bei Unternehmen<br />
mit 250 bis 1000 Beschäftigten,<br />
digitale Plattformen wären bedeutend<br />
für das Monitoring interner und externer<br />
Supply-Chain-Daten. Mit 92 Prozent<br />
erreicht der Einsatz von Cloud Computing<br />
und Plattformlösungen einen<br />
nahezu identischen Wert, die Bedeutung<br />
von ERP-Systemen wird von 83 Prozent<br />
ebenfalls hoch eingeschätzt. (ys)<br />
6 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 7<br />
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» MAGAZIN<br />
Einkaufsmanagerindex EMI im Januar 2023<br />
Ausblick erstmals wieder positiv<br />
Der saisonbereinigte S&P Global/BME<br />
Einkaufsmanagerindex notierte im Januar<br />
bei 47,3 Punkten und damit minimal über<br />
dem Wert vom Vormonat (47,1). Trotz des<br />
dritten Anstiegs in Folge blieb der Hauptindex<br />
weiter unter der Wachstumsschwelle<br />
von 50 Punkten.<br />
Nach wie vor ist es vor allem der Teilindex<br />
Auftragseingang, der den EMI ausbremst.<br />
So verzeichneten die Unternehmen laut<br />
<strong>aktuell</strong>en Daten abermals ein deutliches<br />
Minus bei den Neuaufträgen. Die hohen<br />
Lagerbestände der Kunden, steigende<br />
Preise sowie die Zurückhaltung bei<br />
Neuinvestitionen waren alles Faktoren,<br />
die mit zum Abschwung beitrugen. Das<br />
Produktionsniveau ging im ersten Monat<br />
des Jahres ebenfalls zurück. Allerdings<br />
blieb die Schrumpfungsrate gegenüber<br />
Dezember unverändert und damit relativ<br />
moderat. Unterdessen hat sich die Situation<br />
in den Lieferketten weiter entspannt,<br />
wie die dritte Verkürzung der Vorlaufzeiten<br />
in Folge signalisiert. Auch bei den<br />
Einkaufspreisen hielt der positive Trend<br />
im Januar an. Hier gab die Inflationsrate<br />
auf den tiefsten Wert seit 27 Monaten<br />
nach. Bei der Einschätzung ihrer zukünftigen<br />
Wachstumschancen zeigten sich die<br />
Bild: S&P Global/BME<br />
Hersteller zum ersten Mal seit Februar<br />
2022 wieder optimistisch. Verglichen mit<br />
der Situation unmittelbar vor der Invasion<br />
Russlands in die Ukraine, fällt die Zuversicht<br />
noch gedämpft aus. (ys)<br />
Sinkende Marktpreise für Energieträger<br />
Abermals weniger Preiserhöhungen<br />
Kiel Trade Indicator im Januar<br />
Globaler Handel startet stabil<br />
Weniger Unternehmen planen<br />
in den nächsten drei Monaten,<br />
ihre Preise zu erhöhen. Das<br />
geht aus einer Umfrage des<br />
Ifo-Instituts hervor. Die Preiserwartungen<br />
sanken für die<br />
Gesamtwirtschaft im Januar<br />
auf 35,4 Punkte, nach 40,1 im<br />
Dezember (Wert saisonbereinigt<br />
korrigiert).<br />
Vor allem das Verarbeitende<br />
Gewerbe, aber auch die<br />
Dienstleister, das Baugewerbe<br />
und der Handel planen demnach<br />
seltener, ihre Preise zu<br />
erhöhen. „Dies bestätigt einmal<br />
mehr, dass wir den Scheitelpunkt<br />
der Inflationswelle<br />
hinter uns gelassen haben“,<br />
sagt der Ifo-Konjunkturchef<br />
Timo Wollmershäuser. „Aller-<br />
dings wird die Inflationsrate in<br />
den kommenden Monaten<br />
weiterhin hoch bleiben und<br />
sich der Anstieg der Verbraucherpreise<br />
nur allmählich abflachen.“<br />
Im Verarbeitenden Gewerbe<br />
sind die Preiserwartungen im<br />
ersten Monat des Jahres 2023<br />
in nahezu allen Bereichen zurückgegangen.<br />
Insbesondere<br />
die energieintensiven Industrien<br />
profitieren von sinkenden<br />
Marktpreisen für Erdgas,<br />
Rohöl und Strom.<br />
Im Papiergewerbe wollen<br />
mittlerweile sogar die Mehrheit<br />
der befragten Unternehmen<br />
ihre Preise senken, so das<br />
Institut. (ys)<br />
Laut Kiel Trade Indicator kann<br />
der Welthandel im Januar<br />
2023 seine positive Tendenz<br />
fortsetzen und liegt gegenüber<br />
dem Dezember 2022 mit<br />
einem Prozent im Plus (preisund<br />
saisonbereinigt). „Dazu<br />
trägt insbesondere bei, dass<br />
die Exporte in China nach dem<br />
Ende der Null-Covid-Politik<br />
zulegen“, sagt Timo Hoffmann,<br />
Projektverantwortlicher für<br />
den Kiel Trade Indicator.<br />
Der europäische Außenhandel<br />
startet verhalten, hier zeigen<br />
die Exporte (+0,5 %; Importe:<br />
-0,2 %) im Vergleich zum Vormonat<br />
eine moderate Zunahme<br />
an, für Deutschland einen<br />
Rückgang (-1,8 %; Importe:<br />
+1,4 %). „Dies könnte auf eine<br />
verhaltene Nachfrage nach<br />
deutschen Produkten zurückzuführen<br />
sein, aber auch auf<br />
anhaltende Probleme der<br />
deutschen Industrie, die Produktion<br />
zu steigern“, so Hoffmann.<br />
Für Russland deuten die<br />
Daten darauf hin, dass sich der<br />
Rückgang bei den Importen<br />
(-1,9 %) fortgesetzt hat, während<br />
sich die Exporte (+2,2 %)<br />
anscheinend etwas beleben.<br />
Bei der USA gehen die Exporte<br />
mit -0,9 % zurück. Die Staus<br />
vor wichtigen Containerhäfen<br />
nehmen ab. Die Ausnahme bildet<br />
China. Grund dürfte die<br />
mit dem Ende der Null-Covid-<br />
Politik stark ansteigende Handelsaktivität<br />
(Exporte: +2,8 %)<br />
sein. (ys)<br />
8 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Studie: Keine Deindustrialisierung durch Energiepreisschock<br />
Energiepreise rund 40 Prozent höher als vor der Krise<br />
Der Kreditversicherer Allianz Trade geht in<br />
einer Studie davon aus, dass die Energiepreise<br />
2023 weiter nach oben schnellen<br />
dürften. Im vergangenen Jahr war der Anstieg<br />
bei den Energiepreisen für Unternehmen<br />
demnach noch überschaubar. Grund<br />
dafür waren die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen<br />
sowie die laufenden<br />
Langzeitkontrakte, die nur teilweise an<br />
kurzfristige Marktpreisentwicklungen gebunden<br />
sind. Mit der anstehenden Verlängerung<br />
dieser Verträge dürfte der Industrie<br />
ein deutlicher Preisanstieg ins Haus<br />
stehen. „Energiepreise liegen für deutsche<br />
Unternehmen 2023 voraussichtlich rund<br />
40 Prozent höher als vor dem Ukraine-<br />
Krieg“, sagt Milo Bogaerts, CEO von Allianz<br />
Trade in Deutschland, Österreich und<br />
der Schweiz. „Aber die deutschen Unternehmen<br />
– insbesondere der Mittelstand –<br />
sind krisenfest und solide finanziert. Zu-<br />
dem federt der<br />
staatliche Gaspreisdeckel<br />
die<br />
Preisentwicklung<br />
deutlich ab.“ Im<br />
Vergleich zu den<br />
Verbraucherpreisen<br />
oder der zur<br />
erwartenden Entwicklung<br />
in anderen<br />
europäischen<br />
Ländern ist der Anstieg in Deutschland<br />
vergleichsweise moderat. „Für Italien und<br />
Spanien gehen wir davon aus, dass die<br />
Preise 2023 mit plus 90 Prozent im Vergleich<br />
zu 2021 mehr als doppelt so stark<br />
in die Höhe schnellen“, sagt Bogaerts.<br />
„Das Schlimmste ist noch nicht vorbei für<br />
die europäische Industrie. Die große Angst<br />
vor einer Deindustrialisierung durch den<br />
Energiepreisschock ist allerdings unbegründet.<br />
Der Energieverbrauch macht nur<br />
einen kleinen Teil der Produktionskosten<br />
im verarbeitenden Gewerbe aus (etwa<br />
1 bis 1,5 Prozent). Lohnkosten und Wechselkurse<br />
haben auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />
einen viel größeren<br />
Einfluss .“ Dennoch: Seit 2021 haben sich<br />
die Erdgaspreise in den USA um das Zweifache<br />
und in Europa um das Sechsfache<br />
erhöht, so Allianz Trade. (ys)<br />
Bild: Thorsten Schier/stock.adobe.com<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 9
» MAGAZIN<br />
Analyse der <strong>aktuell</strong>en Lage<br />
Wie agiere ich als Einkäufer auf<br />
dem Stahlmarkt<br />
Was passiert, wenn uns die vor einigen Wochen heraufbeschworene Krise doch nicht so<br />
hart trifft? Was passiert, wenn die Schwierigkeiten in den Lieferketten nach und nach<br />
weniger werden und Unternehmen nicht mehr darin hindern Aufträge ab zu arbeiten?<br />
Diese und ähnliche sind Fragen, die sich Stahleinkäufer und Stahlkompakt in letzter Zeit<br />
häufiger stellen. Zur Beantwortung sollen folgenden Einschätzungen helfen.<br />
* kurzfristig bedeutet<br />
hier etwa 1-2 Monate.<br />
Zu beachten ist ferner,<br />
dass die Indikatoren<br />
lediglich allgemeine<br />
Trends darstellen. So<br />
kann sich bspw. die<br />
Situation im Außenhandel<br />
für spezielle<br />
Stahlsorten und<br />
-formate komplett<br />
gegenläufig verhalten.<br />
Die Einstufung gibt<br />
insofern die allgemeine<br />
Entwicklung wieder.<br />
Zunächst ein Überblick ausgewählter Einflussfaktoren<br />
für den Stahlmarkt, auf die der Beitrag<br />
näher eingehen wird:<br />
Unser Kompetenzpartner<br />
Hier finden Sie mehr zum Thema Stahl und<br />
Stahlbeschaffung, insbesondere auch zu den<br />
<strong>aktuell</strong>en Stahlpreisentwicklungen.<br />
www.stahl-kompakt.de<br />
Rohstahlerzeugung<br />
Aktuelle Daten liegen bis einschließlich November<br />
2022 vor (Stand 15.01.2023). Die Rohstahlerzeugung<br />
in Deutschland ist im November 2022 im Vergleich<br />
zum Vorjahr um 18 Prozent auf rund 2,8 Mio. Tonnen<br />
gesunken. Das ist der niedrigste Wert seit Juli 2020.<br />
Im Zeitraum von Januar bis November betrugt der<br />
Rückgang der Rohstahlproduktion rund 8 Prozent.<br />
Quelle: Stahlkompakt<br />
Die Erzeugung im Jahr 2022 liegt damit – wie schon<br />
in den Jahren 2019 und 2020 – erneut unter der<br />
40-Millionen-Tonnen-Grenze. Damit setzt sich der<br />
Abwärtstrend weiter fort.<br />
Auf europäischer Ebene (EU 27 ohne Deutschland) ist<br />
die Lage ähnlich. Gerade in den zuletzt veröffentlichten<br />
Werten von Eurofer zeigt sich mit durchschnittlich<br />
unter 8 Mio. Tonnen ein Output, wie wir ihn lange<br />
nicht gesehen haben. Liest man entsprechende<br />
Meldungen, deuten diese häufig eher auf eine weitere<br />
Reduzierung oder ein Verharren auf diesem Niveau<br />
hin. Da Stahlproduktionen nicht „mal eben“ wieder<br />
hochzufahren sind, werden die Werke sich vermutlich<br />
nicht kurzfristig von ggf. erkennbaren Nachfrageanstiegen<br />
beeinflussen lassen, sondern erst reagieren,<br />
wenn eine gewisse Nachhaltigkeit erkennbar ist,<br />
und dann den Output erhöhen. Stahlkompakt vermutet<br />
daher für die nächsten Wochen weiterhin ein<br />
recht niedriges Produktionsniveau.<br />
Außenhandel<br />
Die Importe befinden sich weiter auf hohem Niveau,<br />
während die Exporte weiterhin sehr gering ausfallen.<br />
Damit wurde im Jahr 2022 entsprechend der<br />
Eurofer-Veröffentlichungen der bereits recht hohe<br />
Jahresüberschuss von 2021 überschritten. Der Außenhandel<br />
unterstützt also eine ordentliche Versorgungslage<br />
am Stahlmarkt. Da sie diese Situation der<br />
hohen Importüberschüsse bereits seit Monaten erleben,<br />
erwarten die Experten von Stahlkompakt aufgrund<br />
dieser Situation kurzfristig keine starken Preiseinflüsse<br />
im Gesamtmarkt. Dies gilt allerdings nicht<br />
gleichermaßen für alle Stahlsorten. Die Importabhängig<br />
kann sich jeweils stark unterscheiden.<br />
Automotive<br />
Das Produktionsniveau lag im Dezember zum achten<br />
Mal in Folge über dem des jeweiligen Vorjahresmonats.<br />
Mit 253.700 Pkw fertigten die deutschen Her-<br />
10 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
steller gut zwei Prozent mehr Pkw als im Dezember<br />
des Vorjahres. Im Gesamtjahr 2022 wurden 3,4 Mio.<br />
Fahrzeuge in Deutschland produziert, knapp 11 Prozent<br />
mehr als 2021. Trotz des durchgängigen Wachstums<br />
der vergangenen Monate befindet sich das Produktionsvolumen<br />
weiterhin auf vergleichsweise<br />
niedrigem Niveau: die Produktionszahlen aus dem<br />
Vor-Corona-Jahr 2019 wurden 2022 laut VDA deutlich<br />
um gut 26 Prozent unterschritten. Nichtsdestotrotz<br />
ist ein Aufwärtstrend der Produktion erkennbar.<br />
In den nächsten Wochen rechnet der Kompetenzpartner<br />
von <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> auch in Folge der<br />
sich verbessernden Lage am Halbleiter-/ Elektronikmarkt<br />
weiter mit anziehenden Produktionszahlen<br />
und somit steigender Stahlnachfrage.<br />
Maschinenbau<br />
In den Schlussmonaten des Jahres 2022 haben sich<br />
die vielfältigen konjunkturellen Dämpfer auch in den<br />
Auftragsbüchern des Maschinen- und Anlagenbaus<br />
niedergeschlagen. Nach einem zweistelligen Orderminus<br />
im Oktober blieben die Bestellungen auch im<br />
November um real 14 Prozent unter ihrem Vorjahreswert.<br />
Im weniger schwankungsanfälligen Drei-Monats-Zeitraum<br />
September bis November 2022 gingen<br />
die Bestellungen um insgesamt 9 Prozent im Vergleich<br />
zum Vorjahr zurück, so der VDMA. Der Rückgang<br />
wirkt sich allerdings im Moment noch nicht negativ<br />
auf die Produktion bzw. die Stahlbedarfe aus.<br />
Der Maschinenbau verfügt weiterhin über einen sehr<br />
hohen Auftragsbestand, da in der Vergangenheit unter<br />
anderem aufgrund der Lieferkettenprobleme<br />
nicht alle Aufträge bearbeitet werden konnten. Da<br />
sich die Situation der Lieferketten langsam wieder<br />
verbessert, sieht Stahlkompakt aus dem Bereich Maschinenbau<br />
kurzfristig eher eine gleichbleibende bis<br />
leicht steigende Nachfrage. Bei den Metallwaren und<br />
dem verarbeitenden Gewerbe ist die Situation ähnlich<br />
wie im Maschinenbau. Die Auftragseingänge<br />
sind rückläufig, aber der Umsatz steigt. Die Experten<br />
gehen auch hier kurzfristig von einer eher gleichbleibenden<br />
bis leicht ansteigenden Stahlnachfrage aus.<br />
Fazit<br />
Um auf die eingangs gestellten Fragen zurück zu<br />
kommen: Stahleinkäufer sollten <strong>aktuell</strong> sehr genau<br />
hinschauen und sich im Klaren darüber sein, woher<br />
der Stahl kommt und in welchen Bereichen er eingesetzt<br />
wird. Daraus kann sich ergeben, dass man wieder<br />
auf eine Verknappung zusteuert und sich vielleicht<br />
noch ein paar Tonnen mehr sichert. Etwas Material<br />
zusätzlich auf Lager zu haben oder vielleicht<br />
ein paar Euro zu viel bezahlt haben, ist im Ergebnis<br />
wohl weniger kritisch als nicht lieferfähig zu sein.<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 11<br />
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» MAGAZIN<br />
Neuer Kompetenzpartner: Metalshub<br />
Im Fokus: Spezialmetalle und<br />
Ferrolegierungen<br />
Ein Blick in die Glaskugel hilft nicht weiter. Rohstoffeinkäufer brauchen neben starken<br />
Nerven vor allem verlässliche Informationen. Aus diesem Grund kooperiert<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> seit Beginn des Jahres mit Metalshub. Leser erhalten Analysen und<br />
exklusive Informationen in Sachen Preise, Markt-News und Trends.<br />
Der Vorteil für die Leser dieser neuen<br />
Serie: Die Preis indizes beruhen ausschließlich<br />
auf realen Transaktionen und<br />
Geld-/Briefkursen, die über die digitale<br />
Plattform Metalshub abgeschlossen wurden.<br />
Alle Datenpunkte werden automatisiert<br />
gesammelt. Die Datenauswertung<br />
und -auswahl basieren auf Algorithmen.<br />
Rund 1400 Unternehmen weltweit haben<br />
bisher über 5000 Transaktionen im Wert<br />
von über 2,5 Mrd. Euro über Metalshub<br />
getätigt.<br />
Genug der lange Vorrede, beginnen wir<br />
mit den Auswirkungen des „Krisen-Cocktails“<br />
auf die Metallpreise. Die diffizile<br />
Gemengelage aus Corona-Auswirkungen,<br />
Zinslage und Russland-Sanktionen hat die<br />
Rohstoffpreise 2022 in die Höhe getrieben.<br />
Die Metallbranche war mit einem<br />
Metalshub<br />
starken Anstieg der Zinsen konfrontiert.<br />
Banken finanzieren seit Sommer 2022<br />
kein russisches Material mehr. Folgen:<br />
steigendes Kreditrisiko und weniger Coverage<br />
durch Kreditversicherer. Die Engpässe<br />
bei Materialien, bei den Russland<br />
wichtiger Produzent ist (Roheisen, Nickel,<br />
Aufkohlungsmittel, Wolfram, Vanadium),<br />
haben teilweise zu einer hektischen Suche<br />
nach neuen Lieferanten geführt. Hinzu<br />
kommt: Die historische Preisexplosion<br />
beim Nickelpreis brachte im Herbst 2022<br />
den Markt für Edelstahlschrotte teilweise<br />
zum Erliegen. Abschläge auf den LME-Nickelpreis<br />
für Class-II-Produkte (Ferronickel,<br />
Nickel Matte, NPI, Nickel Sulphat,<br />
Edelstahlschrotte) waren hoch wie nie<br />
zuvor. Lassen Sie uns zuerst einen genauen<br />
Blick auf die jüngsten Entwicklungen<br />
Unabhängiger Pionier der digitalen Transformation in der<br />
Metall industrie; digitale Lieferketten lösung für den globalen<br />
Handel von metallischen Rohstoffen (Rohstoffbeschaffung,<br />
Rohstoffvermarktung etc.) Zudem bietet Metalshub die<br />
ersten Preisindizes für nicht börsengehandelte Rohstoffe an,<br />
die ausschließlich auf Transaktionen basieren. Erweitertes<br />
Portfolio: 2022 wurde ein Nickel-Brikett-Prämienindex<br />
gelauncht. Bei gehandelten Basismetallen wie Aluminium,<br />
Kupfer und Zink kooperiert Metalshub seit 2021 mit der f -<br />
ührenden Börse für Industriemetalle, der London Metal<br />
Exchange (LME, London). Beide Partner bieten der Industrie<br />
zudem eine Lösung zur Verfolgung des CO 2<br />
-Fußabdrucks<br />
von Metallprodukten über die gesamte Lieferkette an.<br />
www.metals-hub.com<br />
bei Nickel werfen. Hier kam es durch den<br />
Krieg in der Ukraine zu großen Preisschwankungen<br />
am Markt.<br />
Nickel<br />
• Norilsk Nickel, einer der weltgrößten<br />
Nickelproduzenten, baut das für die<br />
Edelstahl und Batterieindustrie strategisch<br />
wichtige Metall ausschließlich in<br />
Minen in Russland ab.<br />
• Durch einen „Short Squeeze“ an der<br />
Londoner Metallbörse LME am<br />
8. März 2022 stieg der Preis kurzfristig<br />
über 100.000 USD/t. Anschließend<br />
musste der Handel an der Börse für<br />
mehrere Tage ausgesetzt werden.<br />
• Der Preis für Nickel-Metall (Briketts,<br />
Kathoden , Pellets und Rounds) – sog.<br />
Class I Nickel – hat sich abgekoppelt<br />
vom Preis von Class-II-Nickelprodukten.<br />
• Die Prämien auf den LME-Preis für<br />
Nickel- Briketts erreichten am<br />
8. April 2022 einen historischen<br />
Höchststand von 3800 USD/t.<br />
• Mittlerweile hat sich die Nickel-Markt -<br />
lage beruhigt; die LME-Preise sind aber<br />
weiterhin auf hohem Niveau. Im Januar<br />
2023 bewegten sich die LME-Preise<br />
zwischen 28.000 und 31.000 USD/t; die<br />
Prämien für Nickel gingen im Januar<br />
2023 auf ein Niveau von 800 USD/t<br />
zurück.<br />
Der finnische Eisenbahnbetreiber VR stellte<br />
Anfang Januar 2023 die Zugverbindung<br />
für die Lieferung von Rohstoffen zur Nickelproduktion<br />
von Norilsk Nickel zu seiner<br />
Harjavalta-Raffinerie in Finnland ein.<br />
Zudem hat das chinesische Unternehmen<br />
Tsingshan angekündigt, mit Nickelerzen<br />
aus Indonesien verstärkt in die Produktion<br />
12 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Preisentwicklung für<br />
„Nickel Premium<br />
Briquettes “ (nach<br />
Metalshub- Preisindex)<br />
Bild: Metalshub<br />
von Class I Nickel einzusteigen. Insgesamt<br />
rechnen Marktexperten mit einem Angebotsüberschuss<br />
im Jahr 2023, was Druck<br />
auf den Preis ausüben könnte, vor allem<br />
im Bereich der Class II Nickelprodukte.<br />
Ferromolybdän<br />
• Seit August 2022 haben sich die Preise<br />
für Ferromolybdän, ein Legierungselemente<br />
insbesondere für Stähle, die in<br />
der Öl- und Gasindustrie verwendet<br />
werden, mehr als verdoppelt.<br />
• Im Dezember 2022 hat die Preisrallye<br />
sogar an Fahrt aufgenommen: Die<br />
Preise stiegen zwischen Anfang<br />
Dezember 2022 und Mitte Januar 2023<br />
von 50 USD auf 75 USD/kg.<br />
• China ist hier der Haupttreiber; seit<br />
Dezember 2022 sind die Covid-Zahlen<br />
in China stark gestiegen. China ist einer<br />
der größten Molybdänproduzenten<br />
und es kommt zu Störungen in den<br />
Lieferketten.<br />
• Verstärkend kommen politische Unruhen<br />
in Peru hinzu; mehrere Kupfer und<br />
Molybdänminen haben im Januar 2023<br />
wegen politisch motivierten Demonstrationen<br />
die Produktion eingestellt.<br />
Ferrosilizium<br />
• Die Produktion von Ferrosilizium durch<br />
das Einschmelzen von Quarzsand ist<br />
sehr energieintensiv. Die wichtigsten<br />
Kostentreiber sind daher die Preise für<br />
Strom und Koks.<br />
• Im April 2022 wurden Höchststände<br />
von 4000 €/t verzeichnet; seitdem entspannt<br />
sich auch bei diesem Rohstoff<br />
die Marktlage ... auch, weil Importe aus<br />
Regionen mit niedrigeren Energiekosten<br />
nach Europa fließen.<br />
• Im Januar 2023 ist das Preisniveau auf<br />
1800 Euro/t zurückgegangen.<br />
• Da sich die Lage an den europäischen<br />
Strommärkten derzeit zu entspannen<br />
scheint, rechnen Marktexperten mit<br />
stabilen Preisen im Jahresverlauf.<br />
• Es existieren bereits seit vielen Jahren<br />
EU-Antidumpingzölle gegen Ferrosilizium<br />
aus Russland, sodass Russland keine<br />
relevante Quelle für die Versorgung<br />
ist.<br />
Ferrovanadium<br />
• Nach dem Ausbruch des Ukraine Krieges<br />
herrschte große Verunsicherung im<br />
Markt aufgrund der Sanktionen gegen<br />
russische Individuen und Unternehmen.<br />
• Evraz, einer der größten Vanadiumproduzenten,<br />
hat seinen Sitz und Teile seiner<br />
Produktion in Russland.<br />
• Der Vanadium-Preis schoss von 30 €/kg<br />
am Jahresanfang auf über 56 Euro/kg<br />
im April 2022 hoch.<br />
• Die Lage hat sich inzwischen auch hier<br />
stabilisiert; Evraz exportiert weiterhin<br />
Vanadium pentoxid in die EU, was in<br />
diesen Ländern zu FeV verarbeitet wird.<br />
• Im Januar 2023 lag der FeV-Preis bei<br />
34 Euro/kg.<br />
Bild: SteenoWac/peopleimages.com/stock.adobe.com<br />
Da leuchten die Augen jedes Motorradfans. Um<br />
den Auspuff so glänzen zu bekommen, muss er<br />
vor dem Verchromen gut poliert und vernickelt<br />
werden.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 13
» MANAGEMENT<br />
Olaf Komitsch, CPO der EnBW AG<br />
Die Energiewende meistern<br />
Olaf Komitsch managt die <strong>Beschaffung</strong> für die EnBW Energie Baden-Württemberg AG.<br />
Mit der Energiewende hat sich das Geschäftsmodell des Energieversorgers stark<br />
verändert . Zudem hat der Infrastrukturausbau das Einkaufsvolumen vervielfacht.<br />
Was das für den Einkauf bedeutet, erzählt CPO Komitsch im Interview.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>: Herr Komitsch,<br />
Sie leiten seit 2018 den Einkauf für den<br />
Energieversorger EnBW. Inwiefern hat<br />
sich die <strong>Beschaffung</strong> seitdem verändert?<br />
Olaf Komitsch: In zwei wesentlichen<br />
Punkten: Zum einen hat die EnBW ihre<br />
Strategie als Energieversorger völlig neu<br />
ausgerichtet und einen Wandel zur „grünen“<br />
Energie vollzogen. Das hat unsere<br />
Lieferantenbasis komplett verändert. Zum<br />
anderen hat sich durch den Infrastrukturausbau<br />
unser Einkaufsvolumen auf <strong>aktuell</strong>e<br />
sechs Milliarden Euro jährlich vervielfacht.<br />
Parallel haben wir unsere Organisation<br />
an die neuen Anforderungen angepasst<br />
mit dem Ergebnis,<br />
dass mittlerweile ein Drittel<br />
unserer Einkäuferinnen und<br />
Einkäufer veränderte Aufgaben<br />
haben. Kommerziell<br />
muss man einem Einkäufer<br />
prinzipiell nicht viel beibringen.<br />
Es geht für mich heute, zumal als<br />
Quereinsteiger aus Finance und Vertrieb,<br />
eher um die Themen Risikomanagement<br />
und Digitalisierung. Deshalb haben wir<br />
ein konsequentes Transformationsprogramm<br />
für die nächsten zwei Jahre aufgesetzt.<br />
Hier verändern wir insbesondere<br />
Ways of Working, investieren konsequent<br />
in Digitalisierung sowie Automatisierung<br />
und integrieren unsere Lieferanten in unsere<br />
Wertschöpfung.<br />
»Über Verträge allein lassen sich<br />
nicht alle unerwarteten Eventualitäten<br />
einer Lieferkette abdecken.«<br />
Sie kaufen heute keine schlüsselfertigen<br />
Großkraftwerke mehr, sondern Solarpanel,<br />
Windräder, Ladesäulen.<br />
Komitsch: In der Tat kaufen wir sehr<br />
viele neue Materialien und Komponenten<br />
und das hat einen großen Einfluss auf unsere<br />
Arbeit. Wir haben neben der reinen<br />
Warengruppenlogik nun verstärkt komplexe<br />
Produkte und kleinteilige Projekte<br />
im Einkauf zu managen. Unsere Lieferantenbasis<br />
hat sich internationalisiert, in<br />
dieser Dimension ist dies neu für die<br />
EnBW.<br />
Was bedeutet das für den Einkauf?<br />
Komitsch: Die Herausforderung liegt<br />
darin, mit der Vielfalt umzugehen und die<br />
Olaf Komitsch<br />
Olaf Komitsch ist seit über 20 Jahren für die EnBW tätig in den<br />
Bereichen Vertrieb, Performance Management, Controlling und Risikomanagement.<br />
Seit 2018 leitet er den Zentraleinkauf des Energieversorgers.<br />
Weitere berufliche Stationen des Diplom-Ingenieurs für<br />
Energietechnik war die EDF Energy in London und ein Praktikum<br />
im Silicon Valley. Olaf Komitsch ist systemischer Coach und hat eine<br />
Ausbildung im Digital Leadership.<br />
Komplexität zu reduzieren. Im Projekteinkauf<br />
setzen wir auf die Kompetenz der<br />
einzelnen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />
und auf die Selbstverantwortung.<br />
Über die Projektkennzahlen hinaus wenden<br />
wir keine einkaufspezifische KPI an<br />
und garantieren so eine einheitliche Ausrichtung<br />
auf den Gesamterfolg der Projekte.<br />
Hier braucht der Einkäufer über seine<br />
einkäuferischen Fähigkeiten hinaus einen<br />
Sinn für Unternehmertum. Unser<br />
Commodity-Einkauf, der eine große Breite<br />
an Materialien und Dienstleistungen<br />
beinhaltet, muss in schnellen, effizienten<br />
Prozessen bestmögliche Einsparungen generieren.<br />
Komponenten wie<br />
Trafos, Wechselrichter und<br />
Instandhaltungsleistungen<br />
kaufen wir zentral, da geht<br />
es um Economies of Scale<br />
und Standardisierung mit<br />
der Frage, was lässt sich<br />
ohne Qualitätsverlust vereinheitlichen?<br />
Hinzu kommt die Interaktion mit unseren<br />
Bedarfsträgern und Lieferanten. Im Fokus<br />
steht das digitale Arbeiten und die durchgängige<br />
Automatisierung von Massenprozessen.<br />
Digitales Arbeiten macht nur<br />
Spaß, wenn sich Systeme intuitiv nutzen<br />
lassen. Dazu setzen wir auf Katalogsysteme<br />
und verbessern Prozesse und Systeme<br />
mit User Experience (UX).<br />
Das alles verändert die Organisation des<br />
Einkaufs und die Arbeitsweise entlang der<br />
Wertschöpfung. Das ist nicht trivial, lässt<br />
sich über eine KPI kaum abbilden, ist aber<br />
entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg.<br />
Es geht nicht mehr allein um Verhandlungskompetenz.<br />
Wir brauchen Verhandlerinnen<br />
und Changemanager im<br />
Einkauf.<br />
14 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: EnBW<br />
Olaf Komitsch, EnBW:<br />
„Für mich entsteht<br />
erfolgreiche Digitalisierung<br />
aus dem digitalen<br />
Denken und<br />
nicht aus der Einführung<br />
von Tools.“<br />
Inwiefern spüren Sie den Material -<br />
mangel?<br />
Komitsch: Es ist anspruchsvoll, gleichzeitig<br />
hilft der Mangel die Standardisierung<br />
zu treiben, weil er einen<br />
Veränderungswillen erzeugt.<br />
Differenzieren wird<br />
zur Option, wenn der Top-<br />
Lieferant nicht mehr die<br />
vollen Mengen liefern kann.<br />
Wir fragen uns gemeinsam<br />
mit den Netzgesellschaften: Was ist das<br />
technisch Notwendige, wo entsteht ein<br />
Mehrwert und auf welche Spezifikationen<br />
können wir verzichten? Aufgrund der disruptiven<br />
Lieferketten sind wir gezwungen<br />
sehr vieles zu hinterfragen.<br />
Wie herausfordernd ist der <strong>aktuell</strong>en<br />
Lieferantenmarkt?<br />
Komitsch: Die EnBW hat trotz schwieriger<br />
gesamtwirtschaftlicher Lage hohe<br />
ambitionierte Ziele im Ausbau der Infrastruktur,<br />
z. B. bei Breitband, smarte Netze<br />
und natürlich erneuerbare Energien. Wir<br />
agieren in einem absoluten Wachstumsfeld.<br />
Politik und Gesellschaft erwarten<br />
von uns eine schnelle Energiewende.<br />
Fachkräftemangel, disruptive Lieferketten<br />
fordern Lieferanten wie auch uns. Wir sehen<br />
die Sorgen unserer Lieferanten, und<br />
machen uns bereit , viel stärker gemeinsame<br />
Lösungen zu finden. Geopolitische<br />
Krisen und Pandemien benötigen trotz allem<br />
viel Aufmerksamkeit und Kreativität.<br />
»Es gibt in den Lieferketten unendlich<br />
viele Daten bei gleichzeitiger<br />
Unterinformation aller Beteiligten.«<br />
Entsprechend hoch ist die Verantwortung,<br />
die der Einkauf für diese Aufgabe hat. Unser<br />
Augenmerk muss daher auch auf den<br />
Mitarbeitenden liegen. Wir müssen sie resilienter<br />
machen, um ihnen eine gesunde<br />
Selbststeuerung zu ermöglichen.<br />
In der Finanzkrise 2008 haben Konzerne<br />
ihre mittelständischen Lieferanten finanziell<br />
unterstützt. Gehen Sie mit Blick<br />
auf Material oder Fachkräfte ähnlich<br />
vor, um Ihre Lieferkette zu stabilisieren?<br />
Komitsch: In den Netzbereichen gibt es<br />
tatsächlich eine Taskforce, in der wir situativ<br />
entscheiden, inwiefern wir z. B.<br />
Lieferanten beim Materialtransport, mit<br />
Fahrzeugen, Transportmitarbeitern unterstützen<br />
können. Wir überprüfen die Baustellenlogistik<br />
und schauen, wo wir unsere<br />
Eigenleistung hochfahren. Das ist ein<br />
sehr operativer Prozess und entlastet Lieferanten.<br />
Außerdem sind wir ein verlässlicher<br />
Auftraggeber mit einer hohen Zahlungsmoral<br />
und Vorreiter für „grüne“ Infrastruktur.<br />
Aber wir sind<br />
auch in Förderungsmärkten<br />
unterwegs, in denen plötzlich<br />
neue Technologien und<br />
Infrastrukturen gefördert<br />
werden mit einer entsprechenden<br />
Auswirkung auf<br />
die Nachfrage. Und in diesem Umfeld, da<br />
helfen dann vor allem gute Lieferantenbeziehungen.<br />
Die Lieferanten warten selbst auf Materialien.<br />
Wie tief ist Ihr Einblick in die<br />
Lieferkette?<br />
Komitsch: Um es in einem Satz zusammenzufassen:<br />
Es gibt in den Lieferketten<br />
unendlich viele Daten bei gleichzeitiger<br />
Unterinformation aller Beteiligten. Die<br />
klare Sicht auf alle Stufen der Lieferkette,<br />
aus der Datenmenge die relevanten Informationen<br />
zu erhalten, ist eine echte Sisyphusaufgabe.<br />
Wir gehen diesen Weg in<br />
kleinen Schritten. Digitalisierung ist das<br />
eine, aber man braucht auch Menschen,<br />
die vor diesem Elefanten keinen Respekt<br />
haben und ihn beherzt in Scheiben<br />
schneiden.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 15
» MANAGEMENT<br />
Neue Tools helfen nicht immer. Was ist<br />
für die Digitalisierung des Einkaufs<br />
wichtig?<br />
Komitsch: Sehr oft werden die falschen<br />
Fragen gestellt. Die Frage „Sag mir bitte,<br />
wie die Liefersicherheit auf dem Transportweg<br />
von Asien ist“, ist nicht die richtige.<br />
Ich muss mir zunächst meine<br />
Schwachstellen anschauen. Oftmals ergeben<br />
sich aus digitalen Abläufen außerdem<br />
völlig andere Lösungen als beabsichtigt.<br />
Ein Beispiel: Wir wollten die präqualifizierten<br />
Lieferanten rund um unsere regional<br />
verteilten Baustellen gezielter adressieren,<br />
um in der Ausschreibung schneller<br />
zu werden. Hierfür haben wir eine digitale<br />
Lösung entwickelt. Jetzt haben wir über<br />
diesen Prozess aber vor allem erreicht,<br />
dass wir sehr viel mehr Angebote erhalten<br />
und bessere Preise erzielen. Der eigentliche<br />
Hebel saß für uns also an einer anderen<br />
Stelle.<br />
Wie erkenne ich solche Potenziale, bevor<br />
die Data Analysten aktiv werden?<br />
Komitsch: Um das zu erkennen, braucht<br />
man sehr viele Freiheitsgrade in der Führung<br />
und für die Teams, die solche Lösungen<br />
entwickeln. Das Erfahrungswissen,<br />
das wir uns im Management über Jahre<br />
erarbeitet haben, hilft bei der Beantwortung<br />
digitaler Fragestellen oft nicht weiter.<br />
Es steht uns sogar im Weg. Das muss<br />
man erkennen und akzeptieren. Selbstentwickelte<br />
Lösungen haben in der Praxis,<br />
bei unseren Mitarbeitern, eine deutlich<br />
bessere Akzeptanz, als wenn die Tools von<br />
außen kommen, weil die Teams an der<br />
Gestaltung teilgenommen haben. Für<br />
mich entsteht erfolgreiche Digitalisierung<br />
aus dem digitalen Denken und nicht aus<br />
der Einführung von Tools.<br />
Wind, Solar, E-Mobilität: Die Schwerpunkte der Energieversorgung haben sich mit der Energiewende<br />
verlagert. Das hat für die <strong>Beschaffung</strong> weitreichende Konsequenzen.<br />
Bilder: EnBW AG<br />
Das müssen Sie näher erklären …<br />
Komitsch: Ein Beispiel: die Rechnungsfreigabe<br />
soll um eine automatische Lieferantenbewertung<br />
erweitert werden. Dazu<br />
bedarf es, aus der Perspektive des Bedarfsträgers<br />
zu denken und zu handeln.<br />
Die klassische Führungskraft hingegen<br />
denkt in Systemen, Abteilungen und an<br />
die mögliche Komplikation der Verknüpfung,<br />
weil wir wissen, wie lange solche<br />
System veränderungen gedauert haben.<br />
16 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Wir sind uns häufig nicht bewusst, wie<br />
viele Daten verfügbar sind, wie einfach<br />
Daten zu Informationen zusammengeführt<br />
werden können und wie leicht wir<br />
Infos – auch vom Lieferanten oder zum<br />
Lieferanten – fließen lassen können. Daher<br />
gebe ich meinen Analysten klare Problemstellungen<br />
und dann viel Freiheit,<br />
damit nicht meine klassische Denke als<br />
Führungskraft die beste Lösung verstellt.<br />
Wer Systemkomponenten kauft, braucht<br />
eine gute Abstimmung nach innen. Wie<br />
klappt der Austausch mit Ihren Geschäftsbereichen?<br />
Komitsch: Ich würde mir wünschen,<br />
dass wir in Wertschöpfungsketten und<br />
nicht mehr in Funktionen denken: Lieferant,<br />
Einkauf, Geschäftsbereich.<br />
Die Lieferanten sind ein<br />
großer Teil unserer Wertschöpfung.<br />
Die Zeit der Datensilos<br />
und Kopfmonopole ist<br />
vorbei. Wir müssen integriert<br />
denken, welche Fähigkeiten,<br />
wir wo benötigen. Was bietet<br />
der Nachbarbereich und der Lieferantenmarkt<br />
an dieser Stelle? Unsere Arbeit<br />
fängt ganz vorne bei der Spezifikation an,<br />
in der Zusammenarbeit mit den Geschäftsbereichen,<br />
ausgehend vom Bedarf<br />
der Kunden. Der Lieferant muss viel früher<br />
in die Produktentwicklung eingebunden<br />
werden. Das ist in gewisser Weise Neuland<br />
für uns. Wir tun das daher in kleinen<br />
Schritten, als EnBW investieren wir zum<br />
Beispiel auch in Start-ups.<br />
Was folgt daraus für die Zusammenarbeit?<br />
Komitsch: Wenn ich diese integrierte<br />
Sicht habe, muss ich überlegen, was ich<br />
tun kann, damit keiner in der Kette zum<br />
Bottleneck wird. Deshalb sitzen wir immer<br />
häufiger in interdisziplinären Teams<br />
an einem Tisch. Und wenn ich auf die Risiken<br />
in der Wertschöpfungskette schaue<br />
und wie ich diese vernünftig absichern<br />
kann, muss ich ehrlicherweise auch über<br />
die Margenverteilung anders nachdenken.<br />
Über immer höhere Versicherungsprämien<br />
lässt sich aus meiner Sicht nicht alles lösen.<br />
Wir müssen uns mit unseren Partnern<br />
darauf verständigen, wie wir miteinander<br />
umgehen, wenn es unerwartet nicht läuft.<br />
Das halte ich für ganz entscheidend, weil<br />
wir uns sonst mit Versicherungsprämien<br />
überbieten. Über Verträge allein lassen<br />
sich nicht alle unerwarteten Eventualitäten<br />
einer Lieferkette abdecken. Wir brauchen<br />
eine neue Form von Agreement für<br />
eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.<br />
»Für mich entsteht erfolgreiche<br />
Digitalisierung aus dem digitalen<br />
Denken und nicht aus der<br />
Einführung von Tools.«<br />
Welche Anforderungen stellen Sie in<br />
Bezug auf Nachhaltigkeit an Ihre Lieferanten?<br />
Komitsch: Der Fokus auf soziale und gesellschaftliche<br />
Verantwortung ist natürlich<br />
wie bei allen Firmen wichtig für die ganzheitliche<br />
Nachhaltigkeit. Aufgrund unseres<br />
Produktes von Stromerzeugung und Gasvertrieb<br />
machen die CO 2 -Emissionen unserer<br />
vorgelagerten Wertschöpfung den geringsten<br />
Teil an unseren Gesamtemissionen<br />
aus. Andererseits sind unsere Lieferanten<br />
an unserem regenerativ erzeugten<br />
Strom stark interessiert, um selbst „grüner“<br />
zu werden. Wir können im Einkauf somit<br />
aus Überzeugung handeln und mit gegenseitiger<br />
Aufmerksamkeit unserer Lieferanten<br />
rechnen. Uns kommt es auf jedes<br />
Gramm CO 2 -Reduktion an. Dies in einer<br />
nach wie vor kommerziell gesteuerten<br />
Welt zu vermitteln, ist jedoch ein Spagat.<br />
Wie wollen Sie vorgehen?<br />
Komitsch: Unter anderem haben wir ein<br />
Produkt entwickelt, über das wir aus<br />
öffent lich zugänglichen Quellen den<br />
CO 2 -Fußabdruck auf den detaillierten Warengruppenschlüssel<br />
eClass heruntergebrochen<br />
haben. Somit arbeiten wir zwar<br />
nicht auf Lieferantenebene, aber wir haben<br />
den Branchendurchschnitt aller Produktkategorien,<br />
haben eine Augenhöhe,<br />
einen Startpunkt, von dem aus wir mit den<br />
Lieferanten arbeiten. Hierfür brauchen wir<br />
im Einkauf kein riesiges Team, das aufwändige<br />
Nachhaltigkeitsberechnungen<br />
anstellt, wir machen das für die EnBW mit<br />
zwei Leuten. Die Daten kommen aus EU-<br />
Quellen. Wir arbeiten also mit der gleichen<br />
Datenbasis, auf der wahrscheinlich die EU-<br />
Gesetzgebung fußt. Und dann<br />
kann der Lieferant punkten und<br />
sagen, ok, ich habe hier aber<br />
eine Zertifizierung, die besagt,<br />
wir liegen deutlich drunter. Das<br />
akzeptieren wir im ersten<br />
Schritt und nähern uns nachhaltiger<br />
CO 2 -Einsparungen.<br />
Das hört sich nach einem pragmatischen<br />
Ansatz an…<br />
Komitsch: Ja und er wurde unter die<br />
besten Drei gewählt. Ende Oktober haben<br />
wir hierfür auf dem Sustainability Kongress<br />
in Berlin – neben der Deutschen<br />
Bahn und Miele – eine Ehrung in der<br />
Kategorie „Einkauf“ erhalten.<br />
Für <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> stellte<br />
Annette Mühlberger die Fragen.<br />
EnBW Energie Baden-Württemberg AG<br />
Die EnBW mit Sitz in Karlsruhe ist gemessen am Umsatz nach<br />
Uniper und E.ON der drittgrößte Energieversorger Deutschlands<br />
und versorgt rund 5,5 Millionen Kundinnen und<br />
Kunden. Dabei konzentriert sich die EnBW auf erneuerbare<br />
Energien, Elektromobilität, Strom- und Telekommunikationsnetze<br />
sowie smarte , nachhaltige Energielösungen. 2021 lag<br />
der Umsatz bei 32,1 Milliarden Euro. Mehr als 26.000<br />
Menschen arbeiten für das Energieunternehmen<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 17
» MANAGEMENT<br />
Kartelle im Fokus, Teil 1: Was, wie viel und wer?<br />
Die Oligarchen der Industrie<br />
Kartelle schaden der Wirtschaft, indem sie den Wettbewerb durch Absprachen<br />
schwächen. Deshalb sind Kartelle de jure verboten, de facto aber weit<br />
verbreitet . Die Bandbreite reicht von Abgassystemen, Erdöl über Leberwurst<br />
und Software bis hin zu Zucker.<br />
Aktuell auch mit der<br />
Kontrolle der Gaspreisbremse<br />
beschäftigt:<br />
das Bundeskartellamt<br />
in Bonn.<br />
Bild: nmann77/stock.adobe.com<br />
Michael Grupp<br />
Journalist, Stuttgart<br />
Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen<br />
GWB definiert im Absatz 2 ein Kartell als „eine<br />
Absprache oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen<br />
zwei oder mehr Wettbewerbern zwecks Abstimmung<br />
ihres Wettbewerbsverhaltens auf dem<br />
Markt oder Beeinflussung der relevanten Wettbewerbsparameter.“<br />
Dabei geht es nicht nur um Konditionen<br />
(Preiskartelle), sondern beispielsweise auch<br />
um die Aufteilung von Märkten (Gebietskartelle), um<br />
Ausschreibungen (Submissionskartelle)<br />
oder um konsolidierte Maßnahmen gegen<br />
Wettbewerber.<br />
Auch Fusionen unterliegen einer Kontrolle<br />
durch das Bundeskartellamt und<br />
dürfen erst nach einer Prüfung vollzogen<br />
werden. Das Bundeskartellamt bewertet<br />
dabei die Auswirkungen auf<br />
den Wettbewerb. Überwiegen die<br />
wettbewerblichen Nachteile, kann eine<br />
Fusion verboten oder nur unter bestimmten<br />
Bedingungen freigegeben<br />
werden. So hat das Bundeskartellamt 2022 rund 800<br />
Kooperationsprojekte geprüft. Eines wurde verboten<br />
(in der Wasserwirtschaft), zwei weitere (die teilweise<br />
Übernahme von OMV-Tankstellen durch Esso sowie<br />
der Zusammenschluss von Rheinenergie und E.ON)<br />
unter Auflagen genehmigt. Insgesamt war 2022 ein<br />
ruhiges Jahr für die Wettbewerbshüter: Unter dem<br />
Strich wurden „nur“ rund 24 Mio. Euro Bußgeld gegen<br />
20 Unternehmen und sieben Manager verhängt.<br />
In Spitzenjahren kann diese Summe locker die Milliardengrenze<br />
überschreiten.<br />
Schweigen ist Gold<br />
Seit Juni 2022 arbeitet das Bundeskartellamt mit<br />
dem sogenannten Wettbewerbsregister, in dem Kartellverstöße<br />
dokumentiert und archiviert werden.<br />
Diese Datenbank informiert öffentliche Auftraggeber<br />
über eventuelle Wirtschaftsdelikte potenzieller<br />
Marktpartner, die bei negativer Auskunft von öffentlichen<br />
Vergabeverfahren ausgeschlossen werden<br />
können. Das kann die Existenzfähigkeit eines Unter-<br />
18 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
nehmens bedrohen. Betroffene Firmen können eine<br />
Löschung beantragen – allerdings erst, nachdem sie<br />
Vorkehrungen zur Vermeidung zukünftiger Rechtsverstöße<br />
getroffen haben.<br />
Einsame Kartelle<br />
In manchen Kartell-Fällen bedarf es noch nicht einmal<br />
externer Absprachen: Dann nämlich, wenn ein<br />
Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erreicht<br />
hat – also keinem wesentlichen Wettbewerb<br />
mehr ausgesetzt ist. Nutzt das Unternehmen diese<br />
Position „marktmissbräuchlich“, liegt ebenfalls ein<br />
kartellrechtlicher Verstoß vor. Maßstab ist dabei, wie<br />
sich der Markt bei wirksamem Wettbewerb mit hoher<br />
Wahrscheinlichkeit entwickeln würde (§ 19 GWB).<br />
Hier sehen sich vor allem die Big Five in der Kritik und<br />
oft genug auch vor Gericht: Alphabet (Google), Amazon,<br />
Apple, Meta Platforms (ehem. Facebook) und Microsoft.<br />
Die Strafen können beträchtlich ausfallen: So<br />
hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) im<br />
September 2022 eine Geldbuße in Höhe von 4,1 Mrd.<br />
Euro gegen Google verhängt. Die Begründung: Google<br />
habe seine beherrschende Marktstellung dazu ausgenutzt,<br />
Betreibern von Mobilfunknetzen rechtswidrige<br />
Beschränkungen aufzuerlegen. Auch Apple steht regelmäßig<br />
vor dem Kadi: zum Beispiel wegen illegaler<br />
Preisabsprachen im Großhandel (Strafmaß 370 Mio.<br />
Euro) oder wegen unerlaubter personalisierter Werbung<br />
(bspw. in Frankreich und in den Niederlanden).<br />
Es geht um die Wurst<br />
Insgesamt drohen hohe Strafen: Bis zu zehn Prozent<br />
des Konzernumsatzes kann das Bundeskartellamt<br />
bzw. die EU-Kommission verhängen. So hat das<br />
Libor- Kartell die beteiligten Großbanken 1,7 Milliarden<br />
gekostet, das Autoglas-Kartell die entsprechenden<br />
Zulieferer über eine Milliarde. Legendär ist das<br />
Wurstkartell, in dessen Rahmen sich 21 deutsche<br />
Wursthersteller zusammengeschlossen haben, um<br />
gemeinsam höhere Preisforderungen gegenüber dem<br />
Lebensmitteleinzelhandel durchzusetzen. Infolgedessen<br />
wurden rund 340 Mio. Euro an Bußgeldern verhängt,<br />
unter anderem gegen die Böklunder Fleischwarenfabrik,<br />
die Zur-Mühlen-Gruppe und die Tönnies-Gruppe.<br />
Ein Großteil der Bußgelder wurde aller-<br />
Das Wurstkartell hielt<br />
von 1982 bis mindestens<br />
2011 die Fleischpreise<br />
zum Schaden<br />
der Verbraucher künstlich<br />
hoch.<br />
Bild: Krakenimages.com/stock.adobe.com<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 19
» MANAGEMENT<br />
Mehr zum Thema Kartellrecht<br />
Ohne Kartell-<br />
Hintergrund wäre der<br />
Abgasskandal wohl<br />
wesentlich früher<br />
aufgedeckt worden.<br />
Der „Leitfaden für Kartellrecht BDI“ vom<br />
Bundesverband der Deutschen Industrie<br />
e. V. erklärt Grundzüge, Risiken und<br />
Compliance mit vielen Praxisbeispielen.<br />
dings nicht bezahlt, weil die Konzerne die betroffenen<br />
Tochterunternehmen einfach aus dem Handelsregister<br />
löschten. Diese sogenannte „Wurstlücke“ im<br />
Kartellrecht hat das Bundeswirtschaftsministerium<br />
inzwischen juristisch geschlossen.<br />
Kartelle können teuer werden<br />
2020 hat die EU-Kommission rund drei Milliarden<br />
Euro Strafgelder gegen mehrere Lkw-Hersteller verhängt.<br />
Beteiligt waren Daimler, Scania, DAF, Renault/<br />
Volvo, Iveco und MAN. Die Unternehmen haben ihre<br />
Preise für mittelschwere und schwere Lastwagen abgesprochen<br />
und auch ihre Zeitpläne in puncto Umwelttechnologien<br />
abgestimmt. Mit gut einer Milliarde<br />
Euro fiel die Geldbuße für den Daimler-Konzern<br />
am höchsten aus. Straffrei ging dagegen die Münchner<br />
VW-Tochter MAN aus – von ihr stammte der entscheidende<br />
Tipp für die Kartellbehörden. Im Rahmen<br />
des Dieselskandals kam dann Daimler besser weg.<br />
Jahrelang haben sich VW, Audi, Porsche, BMW und<br />
Daimler über Strategien, Lieferanten und speziell<br />
auch über Abgasreinigungskonzepte abgesprochen.<br />
Das kostete Volkswagen unter dem Strich 500 Mio.<br />
Euro, BMW musste 375 Mio. Euro auf den Tisch des<br />
Gerichtes legen. Diesmal agierte Daimler als Kronzeuge,<br />
legte die geheimen Gesprächsrunden offen<br />
und ging deshalb straffrei aus.<br />
Der Kronzeuge hat gut lachen<br />
Jedes zweite Kartell wird durch solche Kronzeugen<br />
aufgedeckt – der Rest durch Anzeigen und/oder Recherchen<br />
des Bundeskartellamtes bzw. der internationalen<br />
Kartellbehörden. Die bestehende Kronzeugenregelung<br />
will das Bundeskartellamt (BKartA) derzeit<br />
ausweiten. „Wer als Erster auspackt, dem sollten<br />
wir nicht nur die staatliche Strafe ganz oder weitgehend<br />
erlassen. Wir sollten dieses Unternehmen auch<br />
von Schadenersatzforderungen freistellen“, so Andreas<br />
Mundt, Präsident der Wettbewerbsbehörde im<br />
Interview mit der Rheinischen Post.<br />
Bei Kaffee und Butterbrezel<br />
Nicht jedes Kartell ist verboten. So dürfen sich kleinere<br />
Unternehmen gemäß § 3 GWB zusammenschließen,<br />
um gemeinsam ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />
zu steigern. Das sogenannte „Mittelstandskartell“<br />
soll Unter nehmen das Erreichen einer kritischen Größe<br />
ermöglichen, um gegen Großunternehmen bestehen<br />
zu können. Darunter fällt auch der gemeinsame<br />
Einkauf von Waren. Darüber hinaus erlaubt der<br />
Gesetz geber Krisenkartelle, um schwerwiegende<br />
wirtschaftliche Folgen für die einzelnen Unternehmen<br />
auszuschließen sowie Rationalisierungs-Kartelle,<br />
bei dem die Teilnehmer Produktionsschritte untereinander<br />
aufteilen. Kennzeichen für erlaubte Kartelle<br />
sind Transparenz, die Festlegung und Bekanntgabe<br />
einheitlicher Normen sowie die Teilnahme aus-<br />
Bild: bluedesign/stock.adobe.com<br />
20 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
schließlich kleinerer und mittlerer Unternehmen. Ein<br />
Kartell ist leicht zu verbergen. Ohne schriftliche Unterlagen<br />
oder gar Verträge werden meist sogenannte<br />
Frühstückskartelle gebildet: Absprachen ohne Dokumentation.<br />
Der Name geht auf die am 1. April 1899<br />
gegründete „Vereinigung Deutscher Elektrizitätsfirmen“<br />
zurück. Die Teilnehmer trafen sich regelmäßig<br />
und zwanglos zum gemeinsamen Frühstück, um „angemessene<br />
Preise herbeizuführen und aufrechtzuerhalten“.<br />
Was angemessen war, lag dabei allein im Ermessen<br />
der Frühstücks-Direktoren.<br />
Je größer, desto<br />
kritischer<br />
der sich durch ein Kartell geschädigt sieht – also<br />
nicht nur Wettbewerber, sondern auch Zulieferer und<br />
Kunden. Diese haben bei einer rechtskräftigen Verurteilung<br />
gute Chancen, über eine Schadensersatzklage<br />
einen Teil des durch das Kartell verursachten Schadens<br />
zurückzubekommen. Für eine Anzeige reicht eine<br />
telefonische oder schriftliche Meldung beim Bundeskartellamt<br />
und die Sache kommt ins Rollen. Hinweise<br />
können auch anonym abgegeben werden. Und<br />
nicht zuletzt: Über das Kronzeugenprogramm kommen<br />
Mitglieder jederzeit straffrei aus einem Kartell<br />
heraus.<br />
Ist ein zwangloses Treffen<br />
auf dem Messestand zwischen<br />
Kaffee und Keksen<br />
kartellrechtlich relevant oder<br />
nicht? Das lässt sich nicht<br />
pauschal beantworten. Ob<br />
das Gespräch ein verbotenes<br />
Kartell, eine zulässige Kooperation<br />
oder nur einen<br />
Meinungsaustausch abbildet,<br />
hängt beispielsweise<br />
vom Marktanteil der beteiligten<br />
Unternehmen ab. Was<br />
zwischen KMUs völlig unproblematisch<br />
ist, kann bei Konzernchefs<br />
kritisch werden.<br />
Ab einem Marktanteil von<br />
30 Prozent schauen die Kartellbehörden<br />
genauer hin.<br />
Zudem kommt es natürlich<br />
auch auf die Themen an: Gemäß<br />
Kartellrecht sind Informationen<br />
über Einkaufs-,<br />
Verkaufs- und Wiederverkaufspreise<br />
einschließlich<br />
Listenpreise, Preisbestandteile,<br />
Preiskalkulation sowie<br />
Fakten über <strong>aktuell</strong>e Aufträge<br />
und Ausschreibungen immer<br />
tabu. Darüber hinaus<br />
muss das Gespräch marktrelevant<br />
sein – das heißt, es<br />
muss eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung<br />
bezwecken<br />
oder bewirken.<br />
Wo kein Kläger, da kein Richter:<br />
Letztlich muss natürlich<br />
auch ein Marktteilnehmer<br />
das Kartell aufdecken bzw.<br />
anzeigen. Klagen kann jeder,<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 21<br />
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Neuer Rechtsrahmen für Whistleblowing in Unternehmen<br />
Gesetz will Hinweisgeber schützen<br />
Zukünftig unterfallen Personen, die Missstände und Rechtsverstöße<br />
innerhalb eines Unternehmens melden wollen, dem Schutz des<br />
Gesetzgebers. Die Compliance-Anforderungen steigen dadurch<br />
erneut, auch im <strong>Beschaffung</strong>swesen.<br />
Der bekannteste Whistleblower der<br />
Welt ist wohl Edward Snowden.<br />
2013 spielte er den Medien Erkenntnisse<br />
aus seiner Tätigkeit als Systemadministrator<br />
für den US-Geheimdienst zu, die<br />
dessen weltweite rechtswidrige Überwachungspraxis<br />
offenlegten. In den USA ergingen<br />
daraufhin Strafanzeige und Haftbefehl,<br />
weshalb Snowden flüchtete und<br />
heute in Moskau lebt.<br />
Zehn Jahre später hat ein Whistleblower<br />
bessere Karten, zumindest hierzulande.<br />
Denn voraussichtlich noch im ersten<br />
Halbjahr 2023 wird das Gesetz für einen<br />
besseren Schutz hinweisgebender Personen,<br />
kurz Hinweisgeberschutzgesetz, in<br />
Kraft treten.<br />
Interne Meldestelle<br />
erforderlich<br />
Zentrales Element der neuen Regelung ist<br />
eine unternehmensinterne Meldestelle,<br />
die Hinweise auf Verstöße gegen geltendes<br />
Recht im beruflichen Umfeld entgegennimmt.<br />
In allen Unternehmen mit<br />
mehr als 249 Beschäftigten muss eine<br />
solche Stelle gleich nach Inkrafttreten des<br />
Gesetzes geschaffen werden, bei einer<br />
Serie Einkaufsrecht<br />
RA Anja Falkenstein stellt<br />
<strong>aktuell</strong>e und einkaufs -<br />
relevante Rechtsthemen vor.<br />
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5hmjZ<br />
Mitarbeitendenzahl ab 50 bis 249 ist Zeit<br />
bis Dezember 2023.<br />
Die Form ist frei wählbar. Ob Beschwerde-<br />
Briefkasten, Telefon-Hotline, interne<br />
E-Mail-Adresse – wichtig ist nur, dass alle<br />
Kanäle Vertraulichkeit, Datenschutz und<br />
den raschen Zugang der Meldungen<br />
sicher stellen. Zugriff auf die Hinweise<br />
dürfen nur diejenigen Personen haben, die<br />
auch mit der Bearbeitung betraut und darin<br />
geschult sind; nicht etwa zusätzlich<br />
»Delikte im Bereich<br />
Wirtschaftskriminalität<br />
sind in Deutschland<br />
nicht selten, etwa jedes<br />
dritte Unternehmen ist<br />
betroffen.«<br />
die IT-Abteilung oder das Sekretariat.<br />
„Man muss von Anfang an dafür Sorge<br />
tragen, dass mit den Hinweisen sorgfältig<br />
und vertrauensvoll umgegangen wird“,<br />
sagt Kira Uebachs-Lohn, Partnerin bei der<br />
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst &<br />
Young GmbH und Expertin für Compliance-Fragen.<br />
„Idealerweise ist die beauftragte<br />
Stelle nicht nur fachlich befähigt,<br />
den Hinweisen nachzugehen und diese zu<br />
plausibilisieren, sondern auch gewillt, den<br />
Hinweisgeber ernst zu nehmen und mit<br />
ihm ins Gespräch zu kommen.“ Gerade<br />
dieser Austausch könne zu wertvollen Erkenntnissen<br />
führen.<br />
Die Meldung kann auch durch eine externe<br />
Stelle entgegengenommen werden, etwa<br />
eine Ombudsperson oder ein Dienstleister,<br />
der ein IT-gestütztes Hinweisgebersystem<br />
installiert; derartige softwarebasierte<br />
Angebote gibt es jetzt zuhauf. Aber<br />
Achtung, es bleibt die ureigene Aufgabe<br />
des Arbeitgebers, den Hinweisen nachzugehen,<br />
Nachforschungen anzustellen, Behörden<br />
zu informieren, Folgemaßnahmen<br />
zu ergreifen, Fehlerquellen abzustellen.<br />
Dies kann nicht outgesourct werden.<br />
Nicht Fluch,<br />
sondern Chance<br />
Das Hinweisgeberschutzgesetz nicht als<br />
Belastung, sondern als Chance begreifen,<br />
das empfiehlt Beraterin Uebachs-Lohn.<br />
„Denn es ist im Interesse jedes Unternehmens,<br />
wenn offengelegt wird, wo Missstände,<br />
Schwachstellen, Einfallstore für<br />
schädliches oder strafbares Handeln existieren“,<br />
sagt sie. „Die beste Quelle dafür<br />
sind die eigenen Leute, die ganz nah an<br />
den Prozessen sind und den entsprechenden<br />
Einblick haben.“ Um die neue Rechtspflicht<br />
für sich nutzbar zu machen, bietet<br />
sich eine Kombination von mehreren,<br />
möglichst niedrigschwelligen Meldekanälen<br />
an, die Hinweisgebern angeboten<br />
werden können.<br />
Parallel wird eine zentrale externe Stelle<br />
beim Bundesamt der Justiz eingerichtet,<br />
sodass Hinweisgeber selbst wählen können,<br />
an wen sie sich wenden. Schon die<br />
Möglichkeit, dass die Meldungen direkt<br />
bei einer Bundesbehörde landen könnten,<br />
sollte dazu führen, dass alle adressierten<br />
Unternehmen ihrer Pflicht nachkommen<br />
und eigene Meldekanäle schaffen. Tun sie<br />
es dennoch nicht, droht ein Bußgeld. „Es<br />
ist allemal besser, intern von Missständen<br />
zu erfahren als von außen. Denn wenn<br />
erst einmal die Presse berichtet oder die<br />
Staatsanwaltschaft ermittelt, rächt es<br />
sich, wenn man sich nicht frühzeitig gekümmert<br />
hat oder Hinweisen nicht nachgegangen<br />
ist“, gibt Compliance-Expertin<br />
Uebachs-Lohn zu bedenken.<br />
22 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
»Die beste Quelle sind die eigenen<br />
Leute, die ganz nah an den<br />
Prozessen sind und den<br />
entsprechenden Einblick haben.«<br />
Kira Uebachs-Lohn, Ernst &Young<br />
Bild: Ernst & Young<br />
Ohnehin verlangt auch das gerade in<br />
Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz<br />
das Einrichten eines Meldekanals.<br />
Da viele Anforderungen nach<br />
dem Hinweisgeberschutzgesetz ähnlich<br />
sind, empfiehlt es sich laut Uebachs-<br />
Lohn, beides zu koppeln und „zwei Fliegen<br />
mit einer Klappe zu schlagen“. Wichtig sei<br />
eine gute Kommunikation der Maßnahmen,<br />
um den Mitarbeitenden zu vermitteln,<br />
dass sie gebraucht werden beim<br />
Aufdecken von Missständen, dass sie gehört<br />
werden mit ihren Hinweisen und Anliegen<br />
und dass man sie vor negativen<br />
Folgen schützt.<br />
Gefährdungen<br />
im Einkauf<br />
Hinweisgeber sind laut Gesetz Personen,<br />
die Informationen über Verstöße melden<br />
oder offenlegen. Erfasst sind also nicht<br />
nur die Beschäftigten selbst (inklusive<br />
Leiharbeiter, Praktikanten, Bewerber),<br />
sondern auch Dienstleister, externe Auftragnehmer<br />
und – wichtig für die <strong>Beschaffung</strong>sseite<br />
– Lieferanten, die aufgrund<br />
ihrer Geschäftsbeziehungen entsprechende<br />
Informationen erlangen.<br />
Delikte im Bereich Wirtschaftskriminalität<br />
sind in Deutschland nicht selten, etwa<br />
jedes dritte Unternehmen ist betroffen.<br />
Für den Einkauf mit seinen weltweiten<br />
Lieferbeziehungen ergeben sich regelmäßig<br />
besondere Gefährdungen. Korruption,<br />
also Bestechung oder Bestechlichkeit,<br />
kann hier eine Rolle spielen, ebenso Betrug,<br />
Untreue, Unterschlagung, Urkundenfälschung,<br />
Manipulation von Ausschreibungen,<br />
illegale Preisabsprachen,<br />
womöglich Geldwäsche. Erfuhr ein redlicher<br />
Einkäufer bislang von solchen Unregelmäßigkeiten,<br />
war er in einem gewissen<br />
Dilemma: anzeigen und den Job riskieren<br />
oder schweigen.<br />
Der Schutz des<br />
Whistleblowers<br />
Kira Uebachs-Lohn,<br />
Partnerin bei der<br />
Wirtschaftsprüfungs -<br />
gesellschaft Ernst &<br />
Young GmbH<br />
und Expertin für<br />
Compliance-Fragen.<br />
Nun wird ein Hinweisgeber durch das Gesetz<br />
geschützt. Alle Arten von Repressalien<br />
gegen seine Person sind verboten, etwa<br />
Nötigung, Einschüchterung, Rufschädigung,<br />
Mobbing. Arbeitsrechtliche Maßnahmen<br />
wie Kündigung, Suspendierung,<br />
negative Beurteilung, nachteilige Versetzung<br />
oder Nichtverlängerung eines befristeten<br />
Arbeitsvertrags infolge des Hinweises<br />
sind ausgeschlossen. Zugunsten<br />
des Hinweisgebers gibt es eine prozessuale<br />
Beweislastumkehr sowie die Möglichkeit,<br />
Schadensersatz zu erlangen, wenn<br />
das Repressalienverbot verletzt wird.<br />
Dies gilt natürlich nur für zutreffende<br />
Hinweise. Vor absichtlich unwahren Beschuldigungen<br />
ist das Unternehmen wiederum<br />
durch einen eigenen Schadensersatzanspruch<br />
gegen den Whistleblower<br />
geschützt. Doch was ist mit Denunzianten,<br />
die nur unliebsame Kollegen anschwärzen<br />
wollen, oder gar mit Wettbewerbern,<br />
die die Kanäle nutzen, um Ge-<br />
rüchte zu streuen? Expertin Uebachs-<br />
Lohn kann sich vorstellen, „dass über die<br />
Meldekanäle anfänglich einige Nebelkerzen<br />
gezündet werden, die sich bei genauerem<br />
Hinschauen aber schnell auflösen<br />
– weil keine weiteren Details genannt<br />
werden, es keine Nachweise, Unterlagen<br />
oder Zeugen gibt, die das Behauptete<br />
stützen könnten.“ Das Verfahren kann<br />
dann laut Gesetz „aus Mangel an Beweisen“<br />
abgeschlossen werden.<br />
Compliance nimmt<br />
an Bedeutung zu<br />
Die Gesetzgebung verlangt immer mehr<br />
Transparenz, verantwortungsvolles Unternehmerhandeln<br />
und die Wahrung globaler<br />
Rechtsprinzipien in unternehmerischer<br />
Eigenregie. „Wer bisher noch keine Compliance-Maßnahmen<br />
ergriffen hat, sollte<br />
spätestens anlässlich der beiden neuen<br />
Gesetze damit anfangen“, so der Tipp von<br />
Kira Uebachs-Lohn. Lieferkettensorgfalt<br />
und Hinweisgeberschutz könne man als<br />
erste Bausteine eines gesamtheitlichen<br />
Compliance-Management-Systems nutzen.<br />
„Zukunftsfähig ist, wer in seinem Betrieb<br />
das kulturelle Umdenken schafft,<br />
dass Compliance keine zusätzliche Hürde,<br />
sondern eine wichtige Institution und<br />
Chance ist.“<br />
Anja Falkenstein,<br />
Rechtsanwältin,<br />
Karlsruhe<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 23
Bild: Atruvia<br />
Der Leitstand des IT-Dienstleisters<br />
Atruvia in Karlsruhe. Green IT ist hier<br />
ein großes Thema. Doch die nachhaltige<br />
<strong>Beschaffung</strong>sstrategie der IT-Sparte<br />
der Genossenschaftlichen Finanzgruppe<br />
umfasst weit mehr.<br />
Serie Nachhaltige <strong>Beschaffung</strong>, Teil 1: Atruvia AG<br />
Ambitionierte ESG-Ziele brauchen<br />
eine offene Fehlerkultur<br />
Tabea Münch verantwortet im Einkauf des IT-Dienstleister Atruvia das<br />
Nachhaltigkeitsmanagement . Neben den regulatorischen Anforderungen und<br />
Green-IT geht es der Sozialwissenschaftlerin um ein Umdenken im Einkauf<br />
und die Hebelwirkung, die die <strong>Beschaffung</strong> für nachhaltiges Wirtschaften hat.<br />
Atruvia ist Teil der Genossenschaftlichen Finanzgruppe.<br />
Über die Rechenzentren des IT-Dienstleisters<br />
laufen die Bewegungen von 86 Millionen<br />
Bankkonten und die Steuerung von 32.000 Geldautomaten.<br />
Seit 2022 ist Tabea Münch bei Atruvia für<br />
das Nachhaltigkeitsmanagement im Einkauf verantwortlich.<br />
Ihre Kernaufgabe zunächst: die Implementierung<br />
des Lieferkettengesetzes in die <strong>Beschaffung</strong>sprozesse.<br />
Doch nicht nur das: „Wir wollen mit<br />
unseren Bestrebungen nicht nur compliant, sondern<br />
grundlegend nachhaltiger werden“, betont die Nachhaltigkeitsexpertin.<br />
Münch weiß, wie groß der Hebel<br />
des Einkaufs ist: „Die Lieferketten haben einen signifikanten<br />
Einfluss auf die sozialen und ökologischen<br />
Auswirkungen unternehmerischen Tuns“, erklärt sie<br />
und damit gleichzeitig ihre Motivation sich als<br />
Politik - und Sozialwissenschaftlerin für eine sozialund<br />
klimafreundliche <strong>Beschaffung</strong> zu engagieren.<br />
Hebel des Einkaufs bewusst machen<br />
Den Kolleginnen und Kollegen im Einkauf diese Bedeutung<br />
klar zu machen, sieht sie, neben der Umsetzung<br />
der Nachhaltigkeitsstrategie in der <strong>Beschaffung</strong>,<br />
als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. „Nicht<br />
24 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
MANAGEMENT «<br />
der sogenannten Wesentlichkeitsanalyse werden die<br />
Waren gruppen entlang der Unternehmensachse<br />
(wie wichtig ist die Warengruppe für das Unternehmen)<br />
und der Nachhaltigkeitsachse (wie groß sind<br />
die ökologisch-sozialen Auswirkungen) analysiert.<br />
Für Atruvia als Digitalisierungspartner blieb die IT<br />
sowohl unternehmensseitig als auch mit Blick auf<br />
die nachhaltige Wirkung die entscheidende Warengruppe.<br />
Startpunkt Wesentlichkeitsanalyse<br />
Dabei geht es nicht nur um den grünen Strom, mit<br />
dem die Rechenzentren in Zukunft ausschließlich betrieben<br />
werden sollen oder um energieeffiziente<br />
Hardware, sondern auch um Zukunftsthemen wie<br />
Green Coding, das verarbeitungsarme Programmieren<br />
von Software. „Auch hier sind wir bereits mit Anbietern<br />
im Gespräch“, beschreibt Tabea Münch die<br />
Richtung, in die sich die ressourcenschonende IT entwickelt.<br />
Auch Beratungsleistungen (weniger Flugstunden),<br />
Facilitymanagement (grüner Strom, faire<br />
Bezahlung und Arbeitszeiten) oder Hotelübernachtungen<br />
stehen auf dem Prüfstand. „Man kann nicht,<br />
nur weil eine Leistung in Deutschland gesourct wird,<br />
allen Einkäuferinnen und Einkäufern ist bewusst,<br />
welchen Einfluss sie in ihrer Funktion auf die Transformation<br />
der Wirtschaft haben. Privat kaufen sie<br />
vielleicht Bioprodukte und tun dort so ihren Teil, aber<br />
die Macht, die sie beruflich besitzen, ist deutlich größer“,<br />
betont sie. Ähnlich sei es in den Fachbereichen.<br />
Auch dort sei nicht überall klar, wie <strong>Beschaffung</strong>sentscheidungen<br />
auf nachhaltige Ziele einzahlten.<br />
„Für viele im Unternehmen ist Einkauf etwas sehr<br />
Abstraktes“, beobachtet sie.<br />
Ausgangspunkt für die nachhaltige <strong>Beschaffung</strong>sstrategie<br />
sind bei Atruvia die Unternehmensleitlinien<br />
und die Unternehmensstrategie. „Der Anfang war zunächst<br />
ganz klassisch top-down, sodass unsere Strategien<br />
und Maßnahmen zusammenpassen und aufeinander<br />
einzahlen können“, beschreibt Tabea Münch<br />
den Prozess. „Eine Vergabeentscheidung muss<br />
schließlich genauso auf unsere große Unternehmensstrategie<br />
einzahlen, wie auf unsere granulare<br />
nachhaltige Warengruppenstrategie, da kommt unsere<br />
Agilität in der Zusammenarbeit ins Spiel“, erklärt<br />
sie den Zusammenhang.<br />
Hinzu kam eine Analyse, über die sich der Einkauf<br />
den wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen<br />
Fußabdruck der Materialgruppen angeschaut hat.<br />
„So entstand das Herzstück unserer Nachhaltigkeitsstrategie<br />
für den Einkauf“, erzählt Münch. Bei<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 25
» MANAGEMENT<br />
Die Politik- und<br />
Sozial wissenschaftlerin<br />
Tabea Münch ist<br />
Nachhaltigkeitsexpertin<br />
bei der Atruvia AG.<br />
Bild: Atruvia<br />
einfach einen Hakten dahinter setzen“, bemerkt die<br />
Nachhaltigkeitsmanagerin nicht nur mit Blick auf<br />
das Lieferkettengesetz.<br />
Einkauf braucht Leitplanken<br />
Damit das nicht passiert, müssen die Vorgaben und<br />
Ziele in die <strong>Beschaffung</strong>sprozesse integriert werden.<br />
„Unsere Einkäufer und<br />
Einkäuferinnen sind sehr<br />
engagiert, trotzdem oder<br />
gerade deswegen brauchen<br />
sie Leitplanken und<br />
Kennzahlen, an denen<br />
sie sich orientieren können,<br />
sonst bleib das Thema<br />
abstrakt und schwer<br />
umsetzbar“, beschreibt<br />
Münch die Herausforderung,<br />
wenn es darum geht, Nachhaltigkeit in der<br />
Supply Chain nicht nur „irgendwie“ zu verbessern,<br />
sondern systematisch zu einem festen Qualitätskriterium<br />
für Ausschreibungen zu machen.<br />
»Wir wollen mit unseren<br />
Bestrebungen nicht<br />
nur compliant, sondern<br />
grundlegend<br />
nachhaltiger werden.«<br />
Tabea Münch, Atruvia AG<br />
Scorecards zur Lieferantenbasis<br />
Eine Herausforderung für Atruvia – wie für viele andere<br />
auch – ist die noch dürftige Datenlage, etwa<br />
beim CO 2 -Abdruck in der Lieferkette, um die Fortschritte<br />
über Kennzahlen zu messen. Für das Nachhaltigkeitsranking<br />
der Lieferantenbasis arbeitet man<br />
mit Ecovadis zusammen, dessen Scorecards in SAP<br />
Ariba eingespielt werden. Doch, meint Tabea Münch,<br />
am Ende entscheide der Mensch: „Die Daten und die<br />
Transparenz nutzen wenig, wenn sie der Einkauf<br />
nicht in die richtigen Maßnahmen umsetzt und diese<br />
konsequent nachhält. Tools sind weiße Billardkugeln,<br />
man braucht sie, um Dinge anzustoßen, ins Rollen zu<br />
bringen, aber man muss sie richtig zu nutzen wissen,<br />
alleine haben sie nur wenig Wert“, mahnt sie und<br />
sieht gleichzeitig eine große Chance darin, dass das<br />
Lieferkettengesetz mit seinen Vorgaben (etwa für ein<br />
systematisches Risikomanagement der Lieferketten)<br />
zum Katalysator für nachhaltige <strong>Beschaffung</strong> wird.<br />
Knowhow der Partner nutzen<br />
Die Nachhaltigkeitsmanagerin nutzt außerdem das<br />
Wissen der Lieferanten. Schließlich arbeiten <strong>aktuell</strong><br />
viele, zumal die großen Player, an den gleichen Zielen.<br />
„Nachhaltigkeit ist oder sollte im Kern noch kein<br />
Konkurrenzthema sein, deshalb lässt sich hier im<br />
Moment sehr offen diskutieren und die Erfahrungen<br />
austauschen“, empfiehlt sie anderen ähnlich vorzugehen.<br />
„Nachhaltigkeit ist systemisch und braucht den Blick<br />
von vielen Seiten“, meint sie. Und es brauche einen<br />
Blick auf das, was möglich ist. „Ich treffe sehr viele<br />
engagierte Menschen, mit denen man das Thema gut<br />
voranbringen kann“, lautet ihre Erfahrung. Allerdings<br />
gelte auch oder gerade in der Nachhaltigkeitsdebatte:<br />
Es ist nicht alles grün, was den Anschein erweckt.<br />
„Man muss lernen, den Lieferanten unangenehme<br />
Fragen zu stellen“, erklärt sie und betont: „Atruvia<br />
will die Art Kundin sein, die ihren Einfluss mit Blick<br />
auf Nachhaltigkeit geltend macht und tiefer geht als<br />
Nachhaltigkeitsberichte blicken lassen.“<br />
Ziele operationalisieren<br />
Die Ziele stehen fest, dazu gehören u.a. wiederaufbereitete<br />
Geräte zu nutzen (die eigenen Geräte werden<br />
bereits zu großen Teilen der gemeinnützigen Afb zur<br />
Verfügung gestellt), auf eine komplett erneuerbare<br />
Stromversorgung hinzuarbeiten, um so die Rechenzentren<br />
grün zu versorgen, die Umstellung des Fuhrparks<br />
sowie Sozialstandards im Facilitymanagement.<br />
„Um solche Maßnahmen für alle Warengruppen zu<br />
definieren und umzusetzen, müssen wir entscheiden,<br />
mit wem wir regelmäßig über welche Themen<br />
sprechen und bis wann wir welche Verbesserungen<br />
erzielen wollen“, beschreibt die Nachhaltigkeitsmanagerin<br />
die nächsten Schritte. Immerhin geht es um<br />
rund 2500 Lieferanten. Auf dem Weg sei eine offene<br />
Fehlerkultur wichtig: „Wenn der Mensch nicht scheitern<br />
darf, setzt er sich keine ambitionierten Ziele<br />
mehr“, meint die Sozialwissenschaftlerin.<br />
Annette Mühlberger, Journalistin<br />
26 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Teammoral auch in schwierigen Zeiten steigern<br />
Raus aus dem Loch – aus Fehlern in<br />
der Vergangenheit lernen<br />
Zunehmender Druck und eine Fülle von Problemen in der Lieferkette – diese<br />
Belastung fordert ihren Tribut. In Krisen sind richtungsweisende Führungskräfte<br />
besonders gefragt. Wenn sich Teams in schwierigen Zeiten nicht auf ihre Führungskraft<br />
verlassen können, werden diese Probleme noch steigen. Was können Teamleiter<br />
und Führungskräfte tun, um ihren Teams auch in schwierigen Zeiten beizustehen ?<br />
<strong>Beschaffung</strong>steams stehen unter zunehmendem<br />
Druck, eine Fülle von<br />
Problemen in der Lieferkette zu bewältigen<br />
– von der Inflation bis hin zu Engpässen.<br />
Diese Belastung fordert ihren Tribut und<br />
resultiert nicht selten in Unzufriedenheit.<br />
Jüngste Untersuchungen haben ergeben,<br />
dass die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit<br />
der Unternehmensführung von 71 Prozent<br />
im Jahr 2019 auf 63 Prozent im Jahr 2022<br />
gesunken ist. In Krisen sind richtungsweisende<br />
Führungskräfte besonders gefragt.<br />
Strategisch durch die Krise<br />
führen<br />
Um die Teammoral auch in schwierigen<br />
Zeiten zu steigern, müssen sich Teamleiter<br />
auf ihre grundlegende Aufgabe zurückbesinnen<br />
– der strategischen Führung des<br />
Teams. Denn viel zu oft spielen Teamleiter<br />
die falsche Rolle in ihrem Unternehmen. In<br />
einigen Fällen sind sie einer der „Feuerwehrmänner“,<br />
der sich darauf konzentriert,<br />
Unternehmensprozesse stabil zu halten und<br />
permanent operative Probleme zu lösen. In<br />
anderen Fällen sind sie der „Vollstrecker“,<br />
der auf der Managementebene Ziele, Richtlinien<br />
und Initiativen klärt. In wieder anderen<br />
Fällen spielen sie die Rolle des „Beraters“,<br />
der wichtige Aufgaben an andere delegiert,<br />
während er sich auf Geschäftsbeziehungen<br />
und Konfliktmanagement fokussiert.<br />
Diese Rolle kann sehr wertvoll sein.<br />
Voraussetzung ist, dass sie mit der eigentlichen<br />
Aufgabe einer Führungskraft in Einklang<br />
gebracht wird: Die Aufgabe als strategische<br />
Stimme der Vernunft zu agieren.<br />
Als strategische Leitperson richtet der<br />
Teamleiter sein Team auf die Kundenbe-<br />
dürfnisse aus und legt Prioritäten fest. Die<br />
Rolle des Vollstreckers, Feuerwehrmanns<br />
oder Beraters sollten niemals die höchste<br />
Priorität haben. Durch die Fokussierung<br />
auf die Kundenbedürfnisse stellt die strategische<br />
Führungskraft die Verbindung<br />
zwischen der obersten Führungsebene,<br />
den Mitarbeitern und den Kundenbedürfnissen<br />
her, um die wichtigsten Werttreiber<br />
für das Unternehmen zu definieren<br />
und sich darauf zu konzentrieren.<br />
Es ist kein Geheimnis, dass die <strong>Beschaffung</strong>sbranche<br />
seit Jahrzehnten in ihren Gewohnheiten<br />
festgefahren ist. Wir halten an<br />
etablierten Vorgehensweisen fest, weil sie<br />
immer funktioniert haben. In den vergangenen<br />
drei Jahren haben wir gelernt, dass<br />
diese alten Wege in Zukunft nicht mehr<br />
funktionieren werden. <strong>Beschaffung</strong>steams<br />
mussten immer wieder aufs Neue Brände<br />
löschen. Die bisherigen <strong>Beschaffung</strong>smethoden<br />
sind ausgebrannt und erschöpft.<br />
Um diesen Branchen-Burn out zu vermeiden,<br />
gilt es sich diese Situation zunächst<br />
bewusst zu machen sowie im nächsten<br />
Schritt neue Herangehensweisen zu finden<br />
und die Rolle des Teams neu zu definieren.<br />
Silos innerhalb der Organisation aufzubrechen,<br />
kann den Druck auf die einzelnen<br />
Teams für Technik, <strong>Beschaffung</strong> und Lieferketten<br />
verringern. Kostenreduzierungen<br />
sind ein Thema, mit dem sich alle Abteilungen<br />
in irgendeiner Weise beschäftigen.<br />
Wenn die Entscheidungsfindung teamübergreifend<br />
stattfindet, können sich<br />
ganz neue Möglichkeiten ergeben.<br />
Jedem Brand liegt ein tieferes Problem<br />
zugrunde. In der heutigen Welt gibt es<br />
zahlreiche Faktoren, auf die wir keinen<br />
Einfluss haben. Es ist leicht, Schließungen,<br />
Engpässe oder zahlreiche andere externen<br />
Gegebenheiten als Ursache für das<br />
Problem auszumachen. Teamleiter sollten<br />
einen Schritt zurückgehen und sich ansehen,<br />
wo genau sich die Druckpunkte in<br />
ihren eigenen Teams befinden. Welche internen<br />
Fehler in der Vergangenheit haben<br />
später zu Problemen geführt?<br />
Herangehensweisen immer<br />
wieder überdenken<br />
Oft liegt das Problem in einem Mangel an<br />
Transparenz und externen Informationen<br />
begründet. Entscheidungen, die auf begrenzten<br />
Daten basieren, sind riskant,<br />
doch genau so arbeiten derzeit zahlreiche<br />
Teams auf der ganzen Welt inmitten von<br />
anhaltenden Bränden. Teamleiter und Führungskräfte<br />
müssen ihnen die notwendigen<br />
Informationen, Ressourcen und Mittel<br />
geben, damit sie jetzt und in Zukunft bessere<br />
Entscheidungen treffen können – und<br />
aus dem Feuerwehrmodus herauskommen.<br />
Bild: Supplyframe<br />
Sascha Bütterling<br />
Senior Director SaaS,<br />
DACH bei Supplyframe<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 27
» MANAGEMENT<br />
Thomas Holzner, Digital Procurement Transformator, Siemens<br />
„Für ein digitales Ökosystem<br />
braucht es einen agilen Einkauf“<br />
Die Siemens AG ist ein Mischkonzern mit den Schwerpunkten Automatisierung und<br />
Digitalisierung in der Industrie, Infrastruktur für Gebäude, dezentrale Energiesysteme,<br />
Mobilitätslösungen für den Schienen- und Straßenverkehr sowie Medizintechnik. Mit<br />
Thomas Holzner, Digital Procurement Transformator bei Siemens, sprach <strong>Beschaffung</strong><br />
<strong>aktuell</strong> über Agilität im Einkauf, Engpässe in der Lieferkette und die Erfolgsgeheimnisse<br />
von Bottom-up-Projekten im Supply Chain Management.<br />
Thomas Holzner gründete 2017 mit vier Kolleginnen und Kollegen das DigiNetwork.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>: Herr Holzner,<br />
Sie beschäftigen sich seit langem bei<br />
Siemens mit dem Thema Digitalisierung<br />
und haben vor ein paar Jahren das SCM<br />
DigiNetwork gegründet. Was ist das für<br />
ein Format und was ist die Idee dahinter?<br />
Thomas Holzner: Die Digitalisierung<br />
ist für Siemens ein immens wichtiges<br />
Thema. Und eine Voraussetzung für eine<br />
erfolgreiche Digitalisierung ist es, auch<br />
wirklich alle Mitarbeiter einzubinden und<br />
Bild: Siemens<br />
auf die digitale Transformationsreise mitzunehmen.<br />
Wir haben vor ein paar Jahren<br />
festgestellt, dass wir mit der bestehenden<br />
Kommunikation nicht alle Mitarbeiter erreichen.<br />
Die Frage war also: Wie bekommen<br />
wir beispielsweise eine größere Offenheit<br />
hinsichtlich der Nutzung von<br />
Software und der Akzeptanz von Neuerungen?<br />
Dafür braucht es eine Änderung<br />
des Mindsets, damit die Menschen sagen,<br />
das ist cool, also nutze ich das auch. Ich<br />
glaube, es ist ganz normal, wenn Mitarbeiter,<br />
die von einer Plattform, die sie bereits<br />
kennen und nutzen, zu einer anderen<br />
wechseln sollen, erstmal skeptisch sind.<br />
Wir haben dann ein Team zusammengestellt<br />
mit Kollegen aus jeder Division inklusive<br />
IT und Human Ressources, das zunächst<br />
die Erwartungen an das Projekt<br />
definiert hat. Alles auf freiwilliger Basis<br />
und ohne Beteiligung des Managements,<br />
denn das Ganze sollte Bottom-up funktionieren.<br />
Bei diesen Treffen sind wir<br />
schließlich zu dem Ergebnis gekommen,<br />
dass wir eine Digitalisierungsstrategie für<br />
das Supply Chain Management im Unternehmen<br />
brauchen.<br />
Bei der Entwicklung dieser Strategie haben<br />
wir auch das Management-Team mit<br />
eingebunden. Zunächst haben wir die<br />
Software-Landschaft von Siemens SCM<br />
abgebildet. Damals waren es zehn Divisionen,<br />
jede mit eigenen Software-Lösungen,<br />
was im Rahmen einer einheitlichen<br />
Strategie nicht wirklich Sinn macht.<br />
Bei der Frage, wie wir damit ohne Anordnung<br />
von oben umgehen sollten, wurde<br />
das eigentliche Digi-Netzwerk gegründet,<br />
als Place to go für Digitalisierung im Unternehmen.<br />
Hier geht es einerseits darum,<br />
die Nutzung der vorhandenen Software<br />
zu steigern, aber auch um die Implementierung<br />
neuer Ideen. Dafür haben<br />
wir ein Format entwickelt, den so genannten<br />
Kickstarter, bei dem jeder aus<br />
dem Supply Chain Management eine Idee<br />
einreichen kann. Diese Idee muss etwas<br />
mit SCM zu tun haben, der Value Case<br />
28 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
muss auf eine Seite passen und so formuliert<br />
sein, dass direkt im Anschluss an die<br />
Präsentation darüber abgestimmt werden<br />
kann. Bei mehr als 50 Prozent Zustimmung<br />
wird das Projekt unterstützt, sowohl<br />
finanziell als auch mit Projektmanagement<br />
und IT-Integration. Es muss<br />
dann innerhalb von drei Monaten implementiert<br />
und danach derselben Runde<br />
wieder vorgestellt werden.<br />
Top-Management<br />
unterstützt Digitalstrategie<br />
Im Laufe der Zeit sind immer mehr Kollegen<br />
dazugekommen, weil wir durch erfolgreiche<br />
Projekte wie Digital Leader, ein<br />
Workshop für Führungskräfte, oder Supply<br />
Chain Control Tower konzernweit bekannt<br />
geworden sind. Wir gehen im Rahmen<br />
der so genannten Digital-Safari auch<br />
an andere Standorte und stellen dort verschiedene<br />
Software-Tools vor. Darüber hinaus<br />
gibt es einen Webcast, das Digi-Sofa,<br />
bei dem jeder, der dabei ist, in einem<br />
Chat live Fragen stellen kann. Während<br />
der Corona-Pandemie war dieser Webcast<br />
rein virtuell, inzwischen sind wir wieder<br />
auf einem echten Sofa im Studio und machen<br />
auch sehr erfolgreiche Podcasts.<br />
Ein Grund für den Erfolg war sicher auch,<br />
dass das Topmanagement diese Digitalisierungsstrategie<br />
immer unterstützt hat<br />
und dass sie cross-funktional angelegt ist.<br />
Beim Digi-Netzwerk sind nicht nur Commodity-Manager<br />
dabei, sondern auch<br />
Kollegen von HR und IT, Cost & Value-Ingenieure<br />
und Kollegen aus den Regionen.<br />
Auch Internationalität ist wichtig. Wir<br />
haben das Format sehr erfolgreich in den<br />
USA, China und Indien implementiert.<br />
Welchen Stellenwert haben neue Technologien<br />
wie Blockchain oder KI?<br />
Holzner: Meiner Meinung nach wird es<br />
Firmen, die sich nicht mit künstlicher Intelligenz<br />
auseinandersetzen, auf lange<br />
Sicht nicht mehr geben. Bei Siemens nutzen<br />
wir KI bereits im Einkauf. Wir sind relativ<br />
gut durch die Pandemie gekommen,<br />
vor allem was die Materialverfügbarkeit<br />
betrifft, und das liegt sicher auch daran,<br />
dass wir ein sehr gutes KI-gestütztes Risk<br />
Management haben – bei uns ging die<br />
erste Warnmeldung im Januar 2020 ein.<br />
Außerdem nutzen wir sie für die Analyse<br />
von Zahlungsmustern von Lieferantendaten.<br />
Der Einkauf verfügt ja über eine<br />
enorme Menge an Daten, und das Potential,<br />
das KI hier zur Analyse bietet, ist bei<br />
weitem noch nicht ausgeschöpft.<br />
Blockchain sehe ich persönlich als eine<br />
der Technologien der Zukunft, allerdings<br />
eher im Logistikbereich als im strategischen<br />
Einkauf. In einem Showcase haben<br />
wir zum Beispiel nur die Hashtags abgespeichert,<br />
um den Datensatz klein zu halten.<br />
Jeder Mitarbeiter kann dann auf seinen<br />
Geräten den dazugehörigen Datenpool<br />
abspeichern. Der Vorteil ist, dass man<br />
dabei für die Nutzung keine besonders<br />
große Rechnerleistung mehr benötigt, was<br />
ja ein Grund dafür ist, dass so viele Unternehmen<br />
vor der Nutzung der Blockchain-<br />
Technologie noch zurückschrecken. So etwas<br />
kann allerdings vermutlich erst in ein<br />
paar Jahren kommerziell genutzt werden,<br />
da es sehr komplex ist.<br />
Ist der Einkauf generell gut aufgestellt,<br />
was zukünftige Herausforderungen betrifft?<br />
Holzner: Das kann man sicher nicht pauschal<br />
sagen aber mein Eindruck ist: Unternehmen,<br />
die einen guten CPO haben, haben<br />
inzwischen auch eine gute digitale<br />
Roadmap. Wenn ein CPO dagegen permanent<br />
das Gestrige verteidigt, mit den Lieferanten<br />
verhandeln will und Druck ausübt,<br />
um auch noch den letzten Cent einzusparen,<br />
anstatt auf eine Partnerschaft<br />
mit seinen Lieferanten zu setzen, wird es<br />
nicht mehr lange funktionieren. Was wir<br />
brauchen, ist ein digitales Ökosystem, und<br />
dafür muss der Einkauf agil sein. In der IT<br />
ist das schon Standard, auch die Produktentwicklung<br />
ist bei vielen Unternehmen<br />
auch bei Siemens, schon agil ausgestaltet.<br />
Im Einkauf ist da noch viel Luft nach oben.<br />
Deshalb glaube ich, dass nach der Digitalisierungswelle<br />
jetzt die Agilitätswelle<br />
kommt, und genau daran wird sich zeigen,<br />
ob im Einkauf jemand ist, der agil denkt<br />
und handelt oder eher noch oldschool ist.<br />
Ich denke aber, dass der Einkauf bereit dafür<br />
ist, schon weil er eine sehr große externe<br />
Schnittstelle mit den Lieferanten<br />
hat und dadurch per se schon offen und<br />
kommunikativ unterwegs sein muss.<br />
Kann Agilität Unternehmen dabei<br />
helfen , Krisen besser zu bewältigen?<br />
Holzner: Natürlich. Unser Projekt Digital<br />
Leader, der Workshop für Führungskräfte,<br />
ist in erster Linie ein agiler Workshop.<br />
Und Agilität hilft auf alle Fälle, Krisen gut<br />
zu meistern. Das wird in Zukunft auch immer<br />
wichtiger werden. Das Thema Digitalisierung<br />
ist ja inzwischen nicht mehr Kür,<br />
sondern Pflicht. Ein moderner Einkauf<br />
muss einfach digital arbeiten, weil wir so<br />
viele Informationen und Daten haben,<br />
dass man die auf die klassische Art und<br />
Weise gar nicht mehr bearbeiten und<br />
nutzen kann. Und für digitales Arbeiten<br />
muss das Setup agil sein.<br />
Große Bandbreite von<br />
Engpassmaterialien<br />
Wo sehen Sie für sich und für Ihre Einkaufsorganisation<br />
die größten Herausforderungen<br />
in den nächsten Jahren?<br />
Holzner: Für unser Unternehmen und<br />
für den Einkauf generell ist auf jeden Fall<br />
das Thema Materialverfügbarkeit eine der<br />
größten Herausforderungen. Elektrochips<br />
sind beispielsweise ein großer Engpass.<br />
Bedingt durch den Krieg in der Ukraine<br />
fehlt auch Stahl, vor allem Spezialstahl.<br />
Plastik ist im Elektronikbereich seit über<br />
zwei Jahren ein Engpassmaterial. Und<br />
diese Bandbreite an Engpässen von Chips<br />
über Stahl, Plastik oder auch Holz zusammen<br />
mit dem Mangel an Spezialisten, der<br />
ja noch dazukommt, ist eine der größten<br />
Herausforderungen für den Einkauf, auch<br />
aufgrund des Zeitraums. Unsere Kollegen<br />
vor allem in den Elektronikwerken machen<br />
ja kaum etwas anderes als Material<br />
zu jagen, und das seit dem Frühjahr 2020.<br />
Engpässe kommen ja immer mal wieder<br />
vor, aber in dieser Breite und Intensität<br />
haben wir das noch nicht gehabt. Hinzu<br />
kommt die disruptive Entwicklung bei der<br />
konsequenten Nutzung der neuen digitalen<br />
Tools, über die wir schon gesprochen<br />
haben, auch das ist für mich eine enorme<br />
Herausforderung.<br />
Für <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> stellte<br />
die Fragen Ulrike Dautzenberg,<br />
Journalistin, Wiesbaden.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 29
» MANAGEMENT<br />
Von KI, Krisenbewältigung und Küchen<br />
Supply-Chain-Planung mit KI:<br />
Wahrheiten und Irrtümer<br />
Wir müssen uns wohl an die Vorstellung eines „No Normal“ gewöhnen. Deswegen<br />
hoffen viele Manager auf den Einsatz von KI in der Supply-Chain-Planung als Geheimwaffe,<br />
um Krisensituationen zu meistern. Wir zeigen, was KI kann und wo ihre<br />
Grenzen sind, und was man unbedingt bei der Einführung beachten muss.<br />
»Wenn wir über Automatisierungssysteme<br />
sprechen, die<br />
entwickelt wurden, um<br />
menschliche Fähig -<br />
keiten zu ersetzen,<br />
sprechen wir in der<br />
Regel von einer Form<br />
der KI.«<br />
Die Unternehmenberatung Gartner beschreibt<br />
„No Normal“ als „ein Umfeld der Ungewissheit<br />
und Mehrdeutigkeit, das kontinuierliche Flexibilität,<br />
Innovation und Investitionen (oder Reinvestitionen) in<br />
Daten- und Analysestrategien erfordert“. Der Einsatz<br />
von KI in der Supply-Chain-Planung soll dafür die Geheimwaffe<br />
sein, um Krisensituationen zu meistern.<br />
Nun ist es zwar richtig, dass die Nutzung von KI in<br />
der Supply-Chain-Planung eine gute Entscheidung<br />
ist, aber sie ist bei weitem keine schnelle Lösung und<br />
sie erfordert einiges an Vorarbeit. Es ist an der Zeit,<br />
die Rolle der KI in der Supply-Chain-Planung zu entmystifizieren<br />
und ihre wahren Stärken, aber auch ihre<br />
Grenzen aufzuzeigen.<br />
KI ist nicht dasselbe wie ML<br />
Die beiden Konzepte Künstliche Intelligenz (KI) und<br />
Machine Learning (ML) sind zwar miteinander verbunden,<br />
werden aber oft verwechselt. KI ist ein übergeordnetes<br />
Konzept, das intelligente, vorprogrammierte<br />
Software beschreibt,<br />
die das menschliche Denken<br />
und Verhalten simuliert. Wenn<br />
wir über Automatisierungssysteme<br />
sprechen, die entwickelt<br />
wurden, um menschliche<br />
Fähig keiten zu ersetzen, sprechen<br />
wir in der Regel von<br />
einer Form der KI. ML ist ein<br />
Teilbereich der KI, der es einer<br />
Maschine ermöglicht, automatisch<br />
aus früheren Daten zu<br />
lernen, sodass sie genauere Ergebnisse<br />
erzielen kann.<br />
Nicht alle KI-Systeme arbeiten<br />
nach den gleichen Prinzipien.<br />
Einige sind intransparente Systeme, die so konzipiert<br />
sind, dass sie eine bestimmte Funktion ohne menschliches<br />
Eingreifen ausführen – etwa die neuen „fahrerlosen<br />
Pods“, die an Flughäfen und anderen kontrollierten<br />
Orten getestet werden. Flexiblere KI-Systeme<br />
legen einige oder alle ihrer Algorithmen offen<br />
und können auch menschliche Eingriffe zulassen. Etwa<br />
das selbstfahrende Auto, das in Fußgängerzonen,<br />
engen Straßen und anderen komplexen Situationen<br />
dem menschlichen Fahrer das Steuer überlässt.<br />
KI-gesteuerte Supply-Chain-Planungssysteme verwenden<br />
Algorithmen, die so programmiert wurden,<br />
dass sie diesen Prozess optimieren, um ein bestimmtes<br />
Ziel zu erreichen, etwa die Optimierung von Lagerbeständen<br />
im Hinblick auf ein angestrebtes Serviceniveau.<br />
Ähnlich wie beim selbstfahrenden Auto<br />
können die Planer das System auch außer Kraft setzen,<br />
um Ausnahmen wie die Schließung von Geschäften<br />
während einer Pandemie zu behandeln.<br />
KI-gesteuerte Planungssysteme erstellen sogenannte<br />
probabilistische Prognosen. Anstatt eine einzige Zahl<br />
geben probabilistische Prognosen eine Bandbreite<br />
möglicher Ergebnisse als Output an. Von dort aus<br />
können die Planer mit ihrem eigenen Wissen eingreifen<br />
oder ML nutzen, um die Prognosen weiter zu verfeinern.<br />
In der Supply-Chain-Planung wird ML häufig eingesetzt,<br />
um die Nachfrageprognosen zu verbessern, die<br />
KI-gesteuerte Systeme erstellt haben. ML hat sich als<br />
besonders hilfreich erwiesen, um saisonale Muster,<br />
die Planung von Werbeaktionen, die Einführung neuer<br />
Produkte und andere Prozesse, die sich wiederholen,<br />
zu erkennen und die mit der Zeit an Intelligenz<br />
gewinnen.<br />
Das Unternehmen Lennox Residential Heating and<br />
Cooling, das über eine hochkomplexe mehrstufige<br />
Lieferkette verfügt, hat etwa ML eingesetzt, um die<br />
stark variierenden saisonalen Nachfragemuster zuverlässig<br />
zu modellieren. Dabei werden Hunderttausende<br />
von SKU-Locations gesichtet, um „Cluster“ mit<br />
ähnlichen saisonalen Profilen zu identifizieren. Diese<br />
verbesserten saisonalen Cluster erhöhen die Prognosegenauigkeit<br />
für Spitzenzeiten erheblich und konnten<br />
so die Servicequalität um 16 Prozent steigern.<br />
30 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: fotomek/stock.adobe.com<br />
Da Maschinen aus vergangenen Erfahrungen lernen,<br />
müssen genügend historische Daten vorliegen, damit<br />
ML die richtigen Entscheidungen treffen kann. Das<br />
bedeutet, dass ML nicht für die Planung unter unregelmäßigen,<br />
außergewöhnlichen<br />
und sich schnell ändernden<br />
Umständen – mit anderen<br />
Worten, für Krisen – geeignet<br />
ist. Hierfür braucht es ein intelligentes<br />
und kontrollierbares<br />
KI-System, das menschliche<br />
oder maschinelle Eingriffe<br />
zulassen kann.<br />
Die Quintessenz: Trotz seiner<br />
großen Bedeutung in der Supply-Chain-Planung<br />
ist ML nicht<br />
der heilige Gral. Unternehmen<br />
können sich nicht einfach zurücklehnen<br />
und die ML mal<br />
laufen lassen. Stattdessen braucht es Zeit und Ressourcen,<br />
um ML-Engines aufzubauen und zu pflegen.<br />
Daten - und Nachfragemodelle<br />
Bevor Unternehmen von der KI-Automatisierung<br />
profitieren können, müssen sie Zeit in den Aufbau eines<br />
robusten Datenmodells für ihr Vertriebsnetz investieren.<br />
Das Datenmodell legt fest, welche Daten<br />
erfasst werden sollen, wo sie gehostet werden und<br />
wie sie mit den verschiedenen Bereichen des Unternehmens<br />
in Beziehung stehen. Ziel ist es, Klarheit<br />
und Konsistenz für alle an der Supply-Chain-Planung<br />
beteiligten Personen und Systeme zu gewährleisten.<br />
»ML ist ein Teilbereich<br />
der KI, der es einer<br />
Maschine ermöglicht,<br />
automatisch aus<br />
früheren Daten zu<br />
lernen , sodass sie<br />
genauere Ergebnisse<br />
erzielen kann.«<br />
Nachdem das Datenmodell erstellt wurde, kann mit<br />
der Modellierung der Nachfrage begonnen werden.<br />
Dabei sollte das Nachfragemodell möglichst viele<br />
verschiedene interne und externe Faktoren berücksichtigen.<br />
Zu den internen<br />
Faktoren gehören geplante<br />
neue Produkteinführungen,<br />
Werbeaktionen und Preissenkungen.<br />
Zu den externen Faktoren<br />
gehören etwa soziale<br />
Medien, Wettervorhersagen<br />
und Informationen über die<br />
Konkurrenz.<br />
Die wichtigste Erkenntnis: Daten-<br />
und Nachfragemodellierung<br />
ist nichts, was eben<br />
schnell mitten in einer Krise<br />
gemacht werden kann. In den<br />
meisten Fällen dauert es etwa<br />
drei Monate, bis es richtig läuft.<br />
Franke ist ein 2-Milliarden-Dollar-Unternehmen für<br />
Küchenprodukte, das in 42 Ländern tätig ist. Das Unternehmen<br />
verwaltet etwa 300.000 Produkte-SKUs<br />
für 140 Verkaufsgebiete in einem fünfstufigen Vertriebsnetz.<br />
Das entspricht 1,7 Millionen SKU/Location-Kombinationen,<br />
für die Franke in zweimonatlichen<br />
Planungszyklen Prognosen erstellt.<br />
Glücklicherweise hatte das Unternehmen bereits vor<br />
der Pandemie seine Daten und Nachfragemodelle erstellt<br />
und sein KI-basiertes Planungssystem in Gang<br />
gesetzt. Global verwalteten nur zwei Personen den<br />
Prozess zentral. Entscheidend ist jedoch, dass ein<br />
Die häufigsten Missverständnisse<br />
beim<br />
Einsatz von künstlicher<br />
Intelligenz und warum<br />
KI in der Supply-<br />
Chain-Planung keine<br />
Geheimwaffe ist, erläutert<br />
Herr Adorno.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 31
» MANAGEMENT<br />
KI-gesteuerte<br />
Planungssysteme für<br />
die Supply Chain verwenden<br />
Algorithmen,<br />
die so programmiert<br />
wurden, dass sie diesen<br />
Prozess optimieren, um<br />
ein bestimmtes Ziel zu<br />
erreichen .<br />
Team von etwa 100 Mitarbeitern an der Bedarfsplanung<br />
und -prognose mitwirkt und ihr Wissen über<br />
die Kunden und die lokale Marktdynamik einbringt,<br />
um die Basislinie anzupassen.<br />
Komplexität in den Griff bekommt<br />
Zu Beginn der Pandemie, als die Planer hauptsächlich<br />
mit Lieferverzögerungen aus China zu kämpfen hatten,<br />
war die Situation noch überschaubar. Das Team<br />
war in der Lage, alle Lieferanten von „gefährdeten“<br />
Materialien zu isolieren und die Erwartungen der<br />
Kunden zu steuern. Als Corona jedoch nach Europa<br />
kam, eskalierte die Situation. In dieser Situation war<br />
der Planungsprozess zu kompliziert. Hinzu kam, dass<br />
viele an der Planung beteiligte Personen freigestellt<br />
oder beurlaubt wurden, andere aber rund um die Uhr<br />
arbeiteten. Es gab keine Strategie für eine Krise dieser<br />
Dimension.<br />
Zum Glück verwendete Franke ein automatisiertes<br />
Planungssystem, das manuelle Eingriffe ermöglichte.<br />
Das bedeutete, dass das Unternehmen seinen Ansatz<br />
ändern konnte. Zu den Schritten, die Franke unternahm,<br />
um die Krise erfolgreich zu bewältigen, zählten<br />
unter anderem:<br />
• Konzentration auf die <strong>Beschaffung</strong> von A-Produkten<br />
mit hoher Priorität zur Vermeidung von Lieferengpässen,<br />
Anforderung von Sofortlieferungen<br />
und Nutzung von Luftfrachtsendungen<br />
• Vorübergehende Umstellung auf einen vereinfachten<br />
wöchentlichen Bedarfsplanungszyklus;<br />
Umschichtung aller Planer von unwesentlichen<br />
Aufgaben auf das Krisenmanagement<br />
• Im neuen wöchentlichen Zyklus bereinigten die<br />
Planer kontinuierlich die probabilistischen Prognosen,<br />
um Verschiebungen von Kundenaufträgen<br />
und Änderungen von Bestellungen zu berücksichtigen;<br />
sie aktualisierten täglich die geplanten<br />
Prognoseabweichungen.<br />
• Schließung des Kalenders an Tagen, an denen<br />
aufgrund von Marktschließungen kein Verkauf<br />
möglich war. Dadurch wurde sichergestellt, dass<br />
diese verkaufsfreien Tage keine Auswirkungen auf<br />
zukünftige Prognosen hatten.<br />
Durch den effektiven Einsatz von KI-Automatisierung<br />
und Personal konnte Franke die Verschlechterung der<br />
Prognosen erstaunlich gut in Grenzen halten. Während<br />
des Höhepunkts der Pandemie verlor das Unternehmen<br />
nur 15 Prozent an Prognosegenauigkeit –<br />
und das in einem Umfeld, in dem die Gesamtabweichung<br />
bei etwa 80 Prozent lag. Es gelang auch, den<br />
Bullwhip-Effekt zu vermeiden, selbst in Märkten wie<br />
Großbritannien, die aufgrund von Marktschließungen<br />
die größten Schwankungen aufwiesen.<br />
Die Leistung der KI-Automatisierung wird in der<br />
Supply- Chain-Planung noch verstärkt, wenn sie mit<br />
dem Wissen und dem Einfallsreichtum menschlicher<br />
Planungsteams kombiniert wird – gerade in einer<br />
Krise wie der Pandemie, kann dieser Ansatz einen<br />
Unterschied machen. Doch der Einsatz solcher Systeme<br />
erfordert Zeit und kann nicht mal eben schnell<br />
erfolgen.<br />
Bild: ToolsGroup<br />
Mauro Adorno<br />
Chief Operating Officer<br />
EMEA & APAC bei<br />
ToolsGroup<br />
Bild: ARMMYPICCA/stock.adobe.com<br />
32 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Einkaufssoftware: Multi-Tenant versus Multi-Instance<br />
Sicherheit bei Einkaufslösungen<br />
Wenn es um die Auswahl einer Lösung für den Einkauf geht, stehen meist Funktionsumfang<br />
und Preis im Vordergrund. Die verwendete IT-Architektur spielt oft<br />
eine untergeordnete Rolle. Dies ist zu kurz gedacht. Jan-Hendrik Sohn von Ivalua<br />
erklärt aus seiner Sicht den Unterschied.<br />
Viele Unternehmen sind stolz, wenn sie sich zu<br />
einer Entscheidung für Software-as-a-Service<br />
durchgerungen haben. Dabei ist SaaS nicht mehr als<br />
ein Überbegriff für alle Softwarelösungen, die extern<br />
betrieben werden. Wie der Anbieter sie jeweils bereitstellt,<br />
kann in der Praxis sehr unterschiedlich aussehen.<br />
Um Aufwand und Kosten zu minimieren, bündelt<br />
er häufig die Kunden mit ähnlichen Anforderungen<br />
nicht nur auf einer zentralen Plattform, sondern<br />
bedient sie auch aus einer einzigen Softwareinstanz<br />
heraus. Das kann gravierende Folgen haben und<br />
selbst große Unternehmen in Bedrängnis bringen.<br />
Im Sommer 2021 musste die Einzelhandelskette<br />
Coop in Schweden insgesamt 800 Läden zeitweilig<br />
schließen: Weder die konventionellen Kassen noch<br />
die Self-Checkout-Systeme funktionierten. Grund<br />
dafür war eine Cyberattacke, die eigentlich nicht<br />
Coop galt: Die verwendete Malware wurde von einem<br />
Softwarepartner eingeschleppt, der seinerseits<br />
ebenfalls nur Kollateral-Schaden eines großangeleg-<br />
Hauptunterschied bei SaaS-<br />
Lösungen ist die verwendete<br />
Architektur. Sie spielt eine<br />
große Rolle, wenn Flexibilität<br />
und Sicherheit wichtig sind.<br />
Bild: Who is Dany/stock.adobe.com<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 33
» MANAGEMENT<br />
ten Angriffs auf den Softwareanbieter Kaseya war.<br />
Dass statt eines einzelnen Unternehmens plötzlich<br />
eine ganze Reihe von Kaseya-Kunden Probleme bekam,<br />
hatte einen einfachen Grund: Der Coop-Partner<br />
nutzte eine Software, die auf einer Multi-Tenant-Architektur<br />
bereitgestellt wurde. Hier laufen<br />
die Anwendungen für unterschiedliche Kunden auf<br />
einer Softwareinstanz, die wiederum auf eine gemeinsame<br />
Datenbank zugreift. Sind die Anwendungen<br />
nicht sauber voneinander getrennt, können sie<br />
sich gegenseitig infizieren oder zu enormen Performance-Einbußen<br />
führen. Das bedeutet im Klartext:<br />
Wird ein Kunde angegriffen, sind meist andere mit<br />
betroffen.<br />
Eine teure Alternative<br />
Eine derartige Architektur erleichtert insgesamt den<br />
unberechtigten Zugriff auf die Daten anderer Unternehmen<br />
– sei es, um sie zu stehlen oder um sie böswillig<br />
zu manipulieren. Organisationen, die in wettbewerbsintensiven<br />
oder sicherheitskritischen Branchen<br />
aktiv sind, bestehen deshalb darauf, dass SaaS-<br />
Anbieter ihnen eine eigene Server-Plattform bereitstellen<br />
– einen „Dedicated Server“.<br />
Damit geht allerdings ein Hauptvorteil des Cloud-<br />
Modells verloren: der Skaleneffekt. Platt gesagt, wird<br />
der Betrieb einer Software umso preisgünstiger, je<br />
Gut zu wissen<br />
Multiple Instances: Mandanten werden einzelne<br />
Anwendungsinstanzen zugeordnet; alle Nutzer<br />
teilen die selbe Hardware, aber die Anwendung<br />
wird auf eigenen virtuellen Servern betrieben<br />
Multi-Tenancy: Alle Nutzer teilen sich dieselbe<br />
Software, Hardware sowie Infrastruktur; die Daten<br />
aller Nutzer sind in selben System. Eine Multi-<br />
Tenancy-Architektur versorgt mit einer einzigen<br />
Softwareinstanz mehrere unterschiedliche Nutzer.<br />
Jeder User hat zwar seine eigenen Zugriffsrechte,<br />
Konfigurationsdetails, Daten und Datenpräsentationen,<br />
greift jedoch auf dieselbe Software, Systemumgebung<br />
und Hardware zu.<br />
*Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen<br />
und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung<br />
für das staatliche Gemeinwesen, bei deren<br />
Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende<br />
Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen<br />
der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische<br />
Folgen eintreten würden.<br />
Quelle: www.ahd.de<br />
mehr Kunden dieselben Funktionen auf einer gemeinsamen<br />
Plattform nutzen. Wer jedoch eine individuelle<br />
Installation benötigt, bekommt sie von den<br />
meisten Anbietern auch bereitgestellt – logischerweise<br />
jedoch gegen einen hohen Aufpreis.<br />
Multi-Instance statt Multi-Tenant<br />
Für Unternehmen, die nicht gerade Medikamente gegen<br />
Morbus Alzheimer entwickeln oder den strengen<br />
KRITIS*-Bestimmungen genügen müssen, ist ein solcher<br />
Aufwand sicherlich „Overkill“. Aber es gibt einen<br />
vernünftigen Kompromiss: Die Software von derselben<br />
Plattform zu beziehen wie die Mitbewerber ist<br />
wenig problematisch – solange jeder Kunde eine<br />
ausführbare Kopie der Anwendung (eine eigene „Instanz“)<br />
erhält, die nur er selbst nutzen kann.<br />
In einer sogenannten Multi-Instance-Architektur*<br />
ist jede Instanz genau einem Kunden zugeordnet,<br />
und dessen Stamm- und Bewegungsdaten werden in<br />
einer separaten SQL-Datenbank abgelegt. Der Vorteil:<br />
Die Instanzen sind klar abgegrenzt, die Daten<br />
sicher verschlüsselt. So lassen sich Vermischungen<br />
und unberechtigte Zugriffe weitgehend ausschließen.<br />
Dieses Konzept ist im Marktsegment <strong>Beschaffung</strong>s-Software<br />
allerdings noch nicht richtig angekommen<br />
und Stand heute eher die Ausnahme als die<br />
Regel.<br />
Wenn der Standard gesprengt wird<br />
Das ist schade und auch erstaunlich, denn neben dem<br />
Sicherheitsaspekt spricht noch ein anderes Kriterium<br />
für Multi-Instance-Lösungen: Sie erlauben individuellere<br />
und flexiblere Implementierungen, die den tatsächlichen<br />
Bedürfnissen der Kunden entsprechen.<br />
In einem Multi-Tenant-System bestimmt der Anbieter,<br />
was seine Kunden brauchen. Doch jedes Unternehmen<br />
hat nun einmal seine eigenen Prozesse –<br />
ganz besonders im Einkauf. Benötigt es eine Funktion,<br />
die im Standard nicht enthalten ist, bekommt es<br />
häufig zu hören: „Das brauchen Sie nicht, das können<br />
Sie auch mit der Funktion xy abdecken.“<br />
Es sei denn, der Anbieter hat dieselbe Anforderung<br />
bereits mehrfach erhalten. In diesem Fall erwägt er<br />
vielleicht, sie irgendwann einmal umzusetzen, weil er<br />
sie an unterschiedliche Kunden weiterverkaufen<br />
kann. Er wird sich aber meist hüten, einen konkreten<br />
Termin zu versprechen, denn er muss zunächst herausfinden,<br />
wie sich die Änderung oder Ergänzung<br />
auf die innere Struktur des Software-Services auswirkt.<br />
Diese Situation ähnelt der eines Installateurs,<br />
der auf Kundenwunsch ein Waschbecken versetzen<br />
oder ein zweites anbringen soll und erst einmal die<br />
Rohrleitungen unter dem Wandputz prüfen und anpassen<br />
muss.<br />
34 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Unterschied zwischen<br />
einer Multi-Instanceund<br />
einer Multi-<br />
Tenant-Architektur.<br />
Quelle: Scaleway Blog<br />
Was aus Sicht des Kundenunternehmens ganz einfach<br />
aussieht – und es auch sein sollte, beispielsweise<br />
ein alternativer Workflow für Genehmigungen –<br />
erfordert innerhalb einer Multi-Tenant-Umgebung<br />
intensive strategische und taktische Überlegungen.<br />
Manchmal kommt der Anbieter an den Punkt, wo er<br />
zu zweifeln beginnt, ob der dafür notwendige Aufwand<br />
sich am Ende überhaupt auszahlt.<br />
In einer Multi-Instance-Architektur lässt sich die Anwendung<br />
von Anfang an deutlich individueller konfigurieren.<br />
Der Kunde kann auch mit einer Standardkonfiguration<br />
beginnen, die nach und nach ausgebaut<br />
wird. Basiert die Software auf Low-Code- oder<br />
No-Code-Technologie, können verantwortliche Administratoren<br />
sie über eine grafische Oberfläche<br />
leicht eigenständig anpassen – ganz ohne aufwändige<br />
Programmierung. In Zeiten knapper Budgets<br />
schmeckt diese Souveränität auch dem internen IT-<br />
Team besser als die regelmäßige Beauftragung externer<br />
Dienstleister.<br />
Einkaufstipp: Penetrationstest bitte<br />
Mit den Einzelheiten ihrer Softwarearchitektur halten<br />
die Anbieter gern hinter dem Berg. Viele kennen<br />
zwar die Vorteile einer Multi-Instance-Lösung, können<br />
oder wollen sie aber aus unterschiedlichen<br />
Gründen nicht anbieten. Entscheidungsträger, die es<br />
genau wissen wollen, sollten exakt danach fragen<br />
und den künftigen Softwarelieferanten um einen Penetrationstest<br />
bitten. Der besteht unter anderem darin,<br />
eine riesige Menge an Anfragen, etwa 10.000 in<br />
der Minute, an den jeweiligen Server zu schicken und<br />
ihn mit Spezialsoftware umfassend auf Sicherheitslücken<br />
zu prüfen.<br />
Betreibt der Softwarelieferant eine Multi-Instance-<br />
Lösung, wird er sich darauf einlassen. In einem Multi-Tenant-System<br />
würde dieser Penetrationstest den<br />
Softwaredurchsatz aller angeschlossenen Kunden in<br />
die Knie zwingen.<br />
Entscheider, die besonders großen Wert auf ein<br />
hohes Sicherheits-Level legen, können neben der<br />
Prüfung der NIST 800–53-, ISO/IEC 27001– und<br />
SOC 2-Zertifizierungen den SaaS-Anbieter zusätzlich<br />
fragen, ob er auch die US-Bundesbehörden beliefern<br />
dürfte. Will der das zu Recht bejahen, muss er auf<br />
dem so genannten FedRAMP-Marktplatz gelistet<br />
sein. Dies lässt sich leicht mit einer Kurzrecherche<br />
auf marketplace.fedramp.gov prüfen.<br />
Individueller und flexibler<br />
Die dortige Listung ist an harte Kriterien geknüpft:<br />
Das Federal Risk and Authorization Management<br />
Programm, wie FedRAMP ausgeschrieben heißt, ist<br />
ein standardisierter Ansatz für die Sicherheitsbewertung,<br />
Autorisierung und Überwachung von Cloud-<br />
Produkten und Services, die an US-Behörden geliefert<br />
werden. Das Programm soll vier Qualitätsmerkmale<br />
sicherstellen: dass die IT-<br />
Systeme und -Dienste eine angemessen<br />
hohe Informationssicherheit<br />
mitbringen, dass sie keine<br />
Doppelaufwände verursachen,<br />
die Kosten für das Risiko-Management<br />
verringern sowie eine<br />
schnelle und kostengünstige <strong>Beschaffung</strong><br />
von Informationssystemen<br />
ermöglichen.<br />
Jan-Hendrik Sohn<br />
Regional Vice President<br />
DACH und CEE<br />
von Ivalua<br />
Bild: Heike Zons<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 35
» MANAGEMENT<br />
Prof. Dr. Michael Schröder, DHBW CAS<br />
„Die globalen Lieferketten müssen<br />
neu justiert werden“<br />
Bewährte <strong>Beschaffung</strong>skonzepte sind in den vergangen Jahren an ihre Grenzen<br />
gekommen . Prof. Dr. Michael Schröder, Wissenschaftlicher Leiter am DHBW CAS im<br />
Masterstudiengang Supply Chain Management, Logistics, Production, erklärt aus<br />
wissenschaftlicher Sicht, welche Ansätze Unternehmen verfolgen können, um die<br />
<strong>aktuell</strong>en Herausforderungen zu meistern.<br />
Wie schätzen Sie die Situation der Lieferketten<br />
ein?<br />
Prof. Dr. Michael Schröder: Wir haben eine historisch<br />
einmalige Ballung schlechter Ereignisse erlebt.<br />
Mehrere Faktoren stellten den globalen Welthandel<br />
vor eine echte Herausforderung. Die globalen Lieferketten<br />
müssen daher neu justiert werden.<br />
Professor Dr. Michael Schröder lehrt seit 2009 an der Dualen Hochschule Baden-<br />
Württemberg (DHBW) Mannheim und ist Wissenschaftlicher Leiter am DHBW CAS. Er<br />
war Mitgründer des Logistiknetzwerkes Baden-Württemberg (LogBW) und war zwölf<br />
Jahre Regionalgruppensprecher Rhein/Neckar der Bundesvereinigung Logistik (BVL).<br />
Bild: DHBW CAS<br />
Welche Justierungen sehen Sie denn von Seiten der<br />
Unternehmen, die umgesetzt werden können, um<br />
diese Herausforderung der gestörten Lieferketten<br />
anzugehen?<br />
Schröder: Die erste Option – gleichzeitig aber das<br />
dickste Brett – besteht in der Standortwahl. Unternehmen<br />
müssen zwar ohnehin permanent Standorte<br />
hinterfragen. Allerdings ist es ein schwieriges Unterfangen,<br />
ein Werk in China abzubauen und es in<br />
Deutschland bzw. Europa aufzubauen. Vereinzelt<br />
wird dies auch schon unternommen, jedoch ist es absolut<br />
unrealistisch, dass eine Produktion kurzfristig<br />
aus beispielsweise China nach Europa, geschweige<br />
denn nach Deutschland heimgeholt werden kann. Allein<br />
die Proteste aus der Gesellschaft hinsichtlich der<br />
Bauvorhaben für Fabriken, aber auch die Komplexität<br />
und Länge der Baufeststellungsverfahren würden<br />
diesem Vorhaben direkt einen Riegel vorschieben.<br />
Als zweite Option können Unternehmen – sogar kurzfristig<br />
– die Transportrouten verändern. Beispielsweise<br />
kann ein Unternehmen, das sich die Waren per<br />
Containerschiff aus Asien nach Rotterdam anliefern<br />
lässt, einen Teil dieser Waren per Flugzeug oder –<br />
denkt man an mögliche Routen der „Neuen Seidenstraße“<br />
per Bahn oder sogar per Lkw transportieren<br />
lassen. Eine weitere Nuance hierbei wäre ein Single<br />
oder Multiple Sourcing im Frachteneinkauf, konkret:<br />
die Hinzunahme einer oder mehrerer weiterer Transporteure,<br />
die alternative Routen fahren. Hierbei sind<br />
jedoch die Transportkosten zu beachten, die dadurch<br />
36 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
potenziell steigen, denn im Einkauf gelten<br />
die klassischen Skaleneffekte: Der Stückpreis<br />
sinkt mit der Menge, die nun aber<br />
aufgesplittet werden würde.<br />
Als dritte Option sollten Unternehmen ihre<br />
grundsätzliche Sourcing-Strategie neu<br />
überdenken und permanent die Systematisierung<br />
von Material und Waren überdenken.<br />
Was sind Engpassteile, was die<br />
Hebelprodukte? Habe ich strategische<br />
Produkte, habe ich unkritische Teile? Falls<br />
ein Material falsch kategorisiert ist, muss<br />
die Einkaufsstrategie eben<br />
anpasst werden, beispielsweise<br />
hierfür das klassische<br />
Multiple Sourcing anwenden.<br />
Das heißt, dass sich Einkäufer<br />
absichern und über mehrere<br />
Lieferanten Waren beziehen,<br />
anstatt die einfache, aber<br />
günstigere Strategie des Single<br />
Sourcing mit nur einem<br />
Lieferanten anzuwenden.<br />
insbesondere, indem wieder wie früher Sicherheitsbestände<br />
aufgebaut werden, die<br />
dafür sorgen, die Volatilität der Nachfrage<br />
aufzufangen. Es wird dazu führen, dass<br />
mehr Läger – und damit Fläche – benötigt<br />
werden, wodurch zwar die Kapitalbindung<br />
wächst, die Industrie jedoch weiter produzieren<br />
und der Handel weiterhin verkaufen<br />
kann.<br />
Also wird es eine Abkehr von Just-intime-<br />
Konzepten geben?<br />
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Schröder: Just-in-time-Konzepte sind<br />
für die Abnehmer eine zurecht bequeme<br />
Lösung, in der Produkte bestandslos angeliefert<br />
wurden, genau dann, wenn sie<br />
benötigt werden. Das hat jahrzehntelang<br />
reibungslos funktioniert, muss nun aber<br />
punktuell hinterfragt werden. Es gibt<br />
auch in diesem Bereich immer wieder<br />
wechselnde Zyklen bei wirtschaftlichen<br />
Trends. Nun treten wir ein in eine neue<br />
Phase, und Bestände werden höchstwahrscheinlich<br />
global wieder steigen.<br />
Dementsprechend hätten<br />
viele Unternehmen diese<br />
<strong>Beschaffung</strong>sprobleme auch<br />
rechtzeitig mit anderen Stra -<br />
tegien eindämmen können?<br />
Schröder: Wenn die Unternehmen<br />
ihren Einkauf immer<br />
wieder hinterfragt hätten,<br />
hätte es sehr wahrscheinlich<br />
in weniger Fällen diese<br />
Schwierigkeiten bei der <strong>Beschaffung</strong><br />
der Waren gegeben.<br />
Wenn ein Unternehmen<br />
beispielsweise in Fernost einen<br />
günstigen Lieferanten<br />
hat, muss es einfach möglich<br />
sein, dass es über diesen nur<br />
noch 80 Prozent anstatt<br />
100 Prozent der Waren bezieht,<br />
und dann wiederum<br />
20 Prozent der Waren von einem<br />
deutschen oder europäischen<br />
Lieferanten annimmt,<br />
der vielleicht teurer, aber dafür<br />
regional, also näher ist.<br />
Ich denke, dass die Lieferkette<br />
neu strukturiert wird, indem<br />
grundsätzlich Bestände<br />
steigen, um sich als Unternehmen<br />
abzusichern, und<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 37
» MANAGEMENT<br />
Automobile Wertschöpfungskette<br />
Marktplatz für den automobilen<br />
Datentransfer<br />
BASF, BMW Group, Henkel, Mercedes-Benz, SAP, Schaeffler, Siemens, T-Systems,<br />
Volkswagen und ZF haben gemeinsam das Joint Venture Cofinity-X gegründet,<br />
um einen offenen Marktplatz für die Bereitstellung von Geschäftsanwendungen<br />
sowie Diensten, die einen sicheren und standardisierten Datentransfer entlang<br />
der automobilen Wertschöpfungskette beschleunigen, zu betreiben.<br />
Mit dem Joint Venture Cofinity-X<br />
wollen die Gründungsfirmen dazu<br />
beitragen, wichtige Fortschritte bei der<br />
Operationalisierung und dem Aufbau von<br />
durchgängigen Datenketten zur Rückverfolgbarkeit<br />
von Materialflüssen über die<br />
Wertschöpfungskette hinweg zu schaffen.<br />
Die zehn Gesellschafter sind zu gleichen<br />
Teilen an dem Joint Venture beteiligt.<br />
„Die Herausforderungen, vor denen<br />
Industrien weltweit stehen, lassen sich<br />
nur mit einem gemeinsamen und ganzheitlichen<br />
Ansatz lösen: Unsere Wertschöpfungsketten<br />
müssen besser nachverfolgbar,<br />
nachhaltiger und widerstandsfähiger<br />
werden. Catena-X und Cofinity-X<br />
können ein Game Changer auf diesem<br />
Weg sein“, erklärt Oliver Zipse, Vorsitzender<br />
des Vorstands der BMW AG sein Engagement<br />
beim Joint Venture.<br />
Die Cofinity-X GmbH mit Sitz in<br />
Köln ist ein Gemeinschaftsunternehmen<br />
von Mercedes-Benz,<br />
BASF, BMW Group, Henkel, SAP,<br />
Schaeffler, Siemens, T-Systems,<br />
Volkswagen und ZF. Die Vision<br />
von Cofinity-X ist es, einen offen<br />
Marktplatz für die Bereitstellung<br />
von eigenen und fremden Geschäftsanwendungen<br />
und<br />
Diensten mit initialem Fokus auf<br />
Cofinity-X<br />
Markus Schäfer,<br />
Vorstandsmitglied der<br />
Mercedes-Benz Group<br />
AG, Chief Technology<br />
Officer, Entwicklung<br />
& Einkauf.<br />
„Wir bei Mercedes-Benz sind überzeugt,<br />
dass Transparenz, Effizienz und Datensouveränität<br />
die entscheidenden Stellhebel<br />
für nachhaltige und datengetriebene<br />
Europa zu betreiben, die einen<br />
sicheren und standardisierten<br />
Datentransfer entlang der automobilen<br />
Wertschöpfungskette<br />
nach den Prinzipien von Gaia-X<br />
und Catena-X ermöglichen. Alle<br />
erforderlichen regulatorischen<br />
Freigaben wurden erteilt und<br />
Cofinity-X wird seine Aktivitäten<br />
dem entsprechend aufnehmen.<br />
www.cofinity-x.com<br />
Wertschöpfungsketten sind“, meint Markus<br />
Schäfer, Vorstandsmitglied der Mercedes-Benz<br />
Group AG, Chief Technology<br />
Officer, Entwicklung & Einkauf. „Mit dem<br />
neuen Joint Venture Cofinity-X verwirklichen<br />
wir die Vision von Catena-X: ein offenes<br />
Ökosystem für den sicheren und<br />
standardisierten Datenaustausch entlang<br />
der gesamten Wertschöpfungskette. Die<br />
ersten Lösungen stehen kurz vor der Fertigstellung<br />
und dank Cofinity-X kann jedes<br />
Unternehmen der Automobilbranche<br />
schon bald von Diensten und Angeboten<br />
profitieren, die die Ergebnisse von Catena-X<br />
nutzen.“<br />
Cedrik Neike, Mitglied des Vorstands der<br />
Siemens AG und CEO Digital Industries<br />
erwartet, dass das Joint Venture hilft<br />
Nachhaltigkeits- und Effizienzziele in der<br />
Automobilbranche schneller und effizienter<br />
zu erreichen: „Das geht nur in einem<br />
starken Team auf Augenhöhe zwischen<br />
Bild: Mercedes-Benz<br />
38 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Catena-X<br />
Catena-X versteht sich als erweiterbares<br />
Ökosystem, an dem sich<br />
Automobilhersteller und -zulieferer,<br />
Händlerverbände sowie Ausrüster,<br />
zu denen Anwendungs-,<br />
Plattform- und Infrastrukturanbieter<br />
gehören, gleichermaßen<br />
beteiligen können. Ziel ist es,<br />
einen einheitlichen Standard für<br />
Daten- und Informationsflüsse in<br />
der gesamten automobilen Wertschöpfungskette<br />
zu schaffen.<br />
Ein Fokus soll insbesondere auf<br />
KMUs liegen, deren aktive Beteiligung<br />
für den Erfolg des Netzwerkes<br />
von zentraler Bedeutung ist.<br />
Zudem sollen bereits bestehende<br />
Strukturen der europäischen<br />
Fahrzeugindustrie in das Netzwerk<br />
eingebunden und weiter<br />
optimiert werden.<br />
Auf diese Weise durchgehend<br />
verbundene Datenketten ermöglichen<br />
es, digitale Zwillinge von<br />
Automobilen zu erschaffen, auf<br />
deren Basis sich innovative<br />
Geschäftsprozesse und Serviceangebote<br />
entwickeln lassen.<br />
VON KOPF<br />
BIS FUSS<br />
GUT<br />
GESCHÜTZT<br />
der Automobilindustrie, den Zulieferern<br />
und Ausrüstern. Siemens stellt Catena-<br />
X-Applikationen bereit, die von allen Teilnehmern<br />
der automobilen Wertschöpfungskettegenutzt<br />
werden können, insbesondere<br />
von kleinen<br />
und mittelständischen<br />
Unternehmen.“<br />
„Die Zusammen -<br />
arbeit unter Automobilherstellern,<br />
Zulieferern und<br />
Partnern ist von<br />
entscheidender<br />
Bedeutung , um<br />
ganz heitliche Endto-End-Lösungen<br />
zu entwickeln und<br />
Transparenz entlang<br />
der Wertschöpfungskette<br />
und über den Lebenszyklus<br />
von Produkten zu verbessern“, erklärt<br />
Dr. Christian Kirsten, Corporate Senior Vice<br />
President Automotive & Metals, Henkel<br />
Adhesive Technologies. „Mit Catena-X<br />
leistet die Automobilindustrie Pionierarbeit,<br />
um Standards für Schlüsselbereiche<br />
wie Kreislaufwirtschaft und CO 2 -Reduktion<br />
zu definieren. Das neue Joint Venture<br />
wird die digitale Transformation der Industrie<br />
weiter vorantreiben – und Henkel<br />
wird einen wichtigen Teil dazu beitragen.“<br />
Auch die Deutsche Telekom AG mit ihrem<br />
»Wir sind überzeugt,<br />
dass Transparenz,<br />
Effizienz und Datensouveränität<br />
die entscheidenden<br />
Stellhebel<br />
für nachhaltige und<br />
datengetriebene Wertschöpfungsketten<br />
sind.«<br />
Markus Schäfer, Mercedes-Benz<br />
Vorstandsvorsitzenden Timotheus Höttges<br />
ist von dem neuen Projekt überzeugt: „Die<br />
Deutsche Telekom war als Technologiepartner<br />
von Anfang bei Catena-X dabei.<br />
Mit der Gründung der ersten<br />
Catena-X-Betriebs -<br />
gesellschaft sind<br />
wir unserem gemeinsamen<br />
Ziel<br />
nun einen großen<br />
Schritt nähergekommen:<br />
ein<br />
cloud-basiertes<br />
Daten-Netzwerk<br />
über Europa zu<br />
spannen. Für eine<br />
digitalisierte, europäische<br />
Automobilindustrie.<br />
Ein<br />
Netzwerk, das auf<br />
Datensouveränität,<br />
DSGVO-Konformität und höchsten Sicherheitsstandards<br />
basiert.“<br />
„Cofinity-X ist Pionier der Industrialisierung<br />
von Catena-X-Standards und Software-Artefakten,<br />
um Kunden einen Einstiegspunkt<br />
in den Catena-X-Datenraum<br />
zu bieten. Ich freue mich darauf, zu sehen,<br />
wie das erste wirklich offene und interoperable<br />
Produkt-und Dienstleistungsportfolio<br />
zum Leben erweckt wird und einen<br />
Mehrwert für alle Mitglieder schafft“,<br />
meint Oliver Ganser, Vorstandsvorsitzender<br />
Catena-X Automotive Network e.V.<br />
RS Best.-Nr.: 123-5743<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 39<br />
de.rs-online.com
TITEL<br />
Bild: Reyher<br />
Wie Reyher seine Lieferfähigkeit sichert<br />
Krisensicher<br />
beschaffen<br />
Die internationalen <strong>Beschaffung</strong>smärkte sind seit rund drei Jahren<br />
von besonderen Herausforderungen geprägt. Extreme Preissteigerungen<br />
und die Unterbrechung zahlreicher Lieferketten verlangen vom Einkauf<br />
resiliente Supply-Chain-Strategien. Das Großhandelsunternehmen F.<br />
Reyher Nchfg. GmbH & Co. KG hat die Krisen erstaunlich gut gemeistert.<br />
Woran liegt das? Was unterscheidet die Firma von anderen?<br />
40 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
»Dank unserer pro -<br />
fessionellen Einkaufs -<br />
organisation ist es uns<br />
gelungen, immer genug<br />
Ware zu haben und<br />
die Folgen der Krise für<br />
unser Unternehmen zu<br />
minimieren.«<br />
Klaus-Dieter Schmidt, Geschäftsführer<br />
Erst wurden die Lieferketten durch die Auswirkungen<br />
der Corona-Pandemie gestört, was zum<br />
einen die Preise massiv in die Höhe trieb und zum<br />
anderen Zulieferengpässe auslöste. Als die Pandemie<br />
sich gerade abzuschwächen begann, griff Russland<br />
die Ukraine an. Der seit einem Jahr andauernde Krieg<br />
hat erneut extreme Preissteigerungen und die Unterbrechung<br />
zahlreicher Lieferketten zur Folge.<br />
Die F. Reyher Nchfg. GmbH & Co. KG war als Handelsunternehmen<br />
für Verbindungselemente und Befestigungstechnik<br />
ebenfalls stark von den Preissteigerungen<br />
auf den <strong>Beschaffung</strong>smärkten betroffen.<br />
Hinzu kamen die akuten Zulieferengpässe im Zusammenhang<br />
mit dem durch die Ever Given verursachten<br />
Stau im Suezkanal sowie den danach fehlenden Kapazitäten<br />
in europäischen Häfen. Diese Situation bekam<br />
Reyher vor allem deswegen zu spüren, weil<br />
Schrauben, Muttern und Scheiben verhältnismäßig<br />
niedrigpreisige Artikel sind. „Aufgrund des geringen<br />
Produktwerts bedeuteten die hohen Frachtkosten für<br />
uns häufig eine Erhöhung der Stückpreise um durchschnittlich<br />
50 Prozent“, erläutert Reyher-Geschäftsführer<br />
Klaus-Dieter Schmidt.<br />
Die Bevorratungsstrategie<br />
Ein Aspekt, der Reyher gut durch die letzten Jahre<br />
brachte, war die Bevorratungsstrategie des Unternehmens.<br />
Diese musste jedoch während der <strong>Beschaffung</strong>skrise<br />
nicht komplett neu ausgerichtet<br />
werden. Sie ist schon lange ein Teil der DNA der Firma.<br />
„Wir sind ein Vollsortimenter. Ein breit gefächertes<br />
Sortiment in ausreichender Stückzahl auf Lager<br />
zu haben, gehört zur Philosophie von Reyher“, erklärt<br />
Klaus-Dieter Schmidt. Durch ein mehrstufiges<br />
Dispositionssystem kann außerdem eine Lieferbereitschaft<br />
von über 99 Prozent erreicht werden. Diese<br />
Vorgehensweise habe zu Zeiten der schwierigen<br />
<strong>Beschaffung</strong> den entscheidenden Unterschied gemacht.<br />
Fachliche und technische Kompetenz<br />
Das dazugehörige Herz des Unternehmens – das vollautomatisierte<br />
Logistikzentrum – nimmt den Großteil<br />
des 40.000 Quadratmeter großen Firmengeländes<br />
in Hamburg ein. Es bietet Platz für 100.000 Paletten<br />
und 180.000 Behälter. Täglich werden durchschnittlich<br />
5000 Kundenaufträge bearbeitet und es<br />
verlassen etwa 340 Tonnen Ware das Gelände. In<br />
Spitzenzeiten bedeutet dies eine Bearbeitung von<br />
mehr als 27.000 Positionen pro Tag.<br />
Klaus-Dieter Schmidt<br />
ist Geschäftsführer bei<br />
Reyher.<br />
F. Reyher Nchfg. GmbH & Co KG<br />
... ist ein Großhandelsunternehmen für Verbindungselemente<br />
und Befestigungstechnik, das<br />
1887 als Handel für Eisenwaren, Schiffsartikel<br />
und Werkzeuge gegründet wurde. Am zentralen<br />
Standort in Hamburg sind über 900 Mitarbeiter<br />
beschäftigt, die jeden Tag 5000 Aufträge bearbeiten.<br />
Neben der schnellen Lieferung zeichnet sich<br />
das Unternehmen durch seine Service-Angebote<br />
aus. 2022 betrug der Umsatz des Unternehmens<br />
rund 480 Mio. Euro.<br />
Bild: Reyher<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 41
TITEL<br />
ses weitreichende Netzwerk Reyher, zu nahezu jedem<br />
Vorgang einen Plan B in der Tasche zu haben.<br />
„Dank unserer professionellen Einkaufsorganisation<br />
ist es uns gelungen, immer genug Ware zu haben<br />
und die Folgen der Krise für unser Unternehmen zu<br />
minimieren“, fasst der Geschäftsführer von Reyher<br />
zusammen.<br />
Sind die Verbindungselemente erst einmal in Hamburg<br />
eingetroffen, ist die Arbeit für Reyher noch lange<br />
nicht abgeschlossen. Der Großhändler ist bekannt<br />
für sein hohes Qualitätsbewusstsein. Dementsprechend<br />
verfügt er über ein eigenes Prüflabor, das die<br />
eingehende Ware auf Herz und Nieren überprüft. In<br />
dem Labor werden von Zugversuchen über Salzsprühnebeltests<br />
bis hin zu Drehmoment- und Vorspannkraft-Versuchen<br />
umfangreiche Tests durchgeführt.<br />
Dadurch war gesichert, dass die Kunden auch<br />
während der <strong>Beschaffung</strong>skrise qualitativ einwandfreie<br />
und mit modernster Technik geprüfte Ware erhalten<br />
haben.<br />
Vielfältige Dienstleistungen<br />
Bild: Reyher<br />
Das moderne<br />
Hochregallager hat<br />
zwei Lagerebenen<br />
übereinander und einen<br />
Durchsatz von<br />
400 Paletten pro Stunde.<br />
Auch der zweite Aspekt, der für Reyher in der jüngsten<br />
Vergangenheit eine große Rolle gespielt hat, ist<br />
keine Neuheit. Das Unternehmen setzt in allen Bereichen<br />
auf die fachliche Kompetenz eines jeden<br />
Mitarbeitenden. „Nur durch eine umfassende Marktkenntnis<br />
ist es möglich, auch in schwierigen Zeiten<br />
eine kurzfristige Disposition zu gewährleisten. Diese<br />
ist unabdingbar für eine erfolgreiche Produktbeschaffung“,<br />
so Schmidt. Außerdem hätten die entsprechenden<br />
Reyher-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter<br />
über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte<br />
enge Beziehungen zu den Lieferanten der Firma aufgebaut.<br />
Dies hätte sich besonders in den letzten drei<br />
Jahren positiv ausgewirkt. Vor allem ermögliche die-<br />
Auf modernste Technologien greift Reyher ebenfalls<br />
zurück, wenn es um die kundenseitige <strong>Beschaffung</strong><br />
geht. Um diese so effizient und wirtschaftlich wie<br />
möglich zu gestalten, bietet das Unternehmen unterschiedliche<br />
Dienstleistungen an.<br />
Zu den E-Business-Lösungen gehört unter anderem<br />
RIO – Reyher Internet Order. Der intuitive und mobile<br />
Webshop erlaubt es, rund um die Uhr auf 90.000 Katalogartikel<br />
zuzugreifen. Dabei werden für Kunden<br />
die <strong>aktuell</strong>en Verfügbarkeiten und Preise der ausgewählten<br />
Artikel angezeigt. Darüber hinaus stehen<br />
elektronische Kataloge, unter anderem für die Nutzung<br />
in E-Procurement-Systemen, zur Verfügung.<br />
Ebenso bietet das Unternehmen EDI-Anbindungen<br />
für den elektronischen Geschäftsdatenaustausch an.<br />
Ein weiterer Baustein sind die flexiblen Kanban-Versorgungssysteme<br />
ROM – Reyher Order Management.<br />
Für eine automatisierte und einfache Nutzung setzt<br />
Reyher dabei auch auf RFID-Technologie. Kombinierbare<br />
Logistik-, Service- und Anwendungsmodule stehen<br />
zur Auswahl.<br />
RKP – Reyher Kitting & Packaging rundet das Dienstleistungsangebot<br />
ab. In enger Abstimmung mit dem<br />
Kunden entwickelt das RKP-Team passende Konfektionierungslösungen.<br />
Beispiele sind die Zusammenstellung<br />
von Sets und Bausätzen oder individuellen<br />
Handelsverpackungen.<br />
Nach wie vor innovativ<br />
Trotz aller Schwierigkeiten auf den <strong>Beschaffung</strong>smärkten<br />
der vergangenen Jahre ist es Reyher noch<br />
immer gelungen, Innovationen voranzutreiben, neue<br />
42 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: Reyher<br />
Der intuitive, und auch<br />
für mobile Endgeräte<br />
optimierte, Webshop<br />
RIO ist ein wichtiger<br />
Baustein der modernen<br />
E-Business-Lösungen<br />
von Reyher.<br />
Bild: Reyher<br />
Die eingesetzte RFID-Technologie in verschiedenen Ausprägungen<br />
macht kontaktloses Bestellen möglich.<br />
Produkte einzuführen und das eigene Sortiment zu<br />
erweitern.<br />
Das Handelsunternehmen hat eine Reihe neuer Produkte<br />
aus nichtrostendem Stahl in das Produktprogramm<br />
aufgenommen: zum Beispiel Artikel aus Duplex-Stählen<br />
der Kategorie D 6–100. Neben modernsten<br />
Produkten setzt Reyher im Bereich Neuheiten<br />
auch auf Nachhaltigkeit. Daher hat die Firma das<br />
komplette Greenline-Sortiment von Fischer in ihr<br />
Produktprogramm eingegliedert. Die Greenline-Serie<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass die Artikel zu mindestens<br />
50 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen<br />
produziert werden.<br />
Bewährt trotzdem flexibel<br />
Eine bemerkenswerte Innovation ist die patentierte<br />
Kegelmutter CONU. Sie bietet gegenüber üblichen<br />
Sechskantmuttern und je nach Anwendung eine<br />
Vielzahl an Vorteilen. So fügt sie sich ohne Überstand<br />
in die dafür vorgesehene Senkung ein. Dies sorgt für<br />
eine plane Oberfläche, einen verringerten Platzbedarf<br />
sowie ein niedrigeres Verletzungsrisiko. Darüber hinaus<br />
verfügt sie über einen Selbstsicherungseffekt,<br />
der das eigenständige Lösen verhindert und das einhändige<br />
Verschrauben der Mutter ermöglicht.<br />
Ebenfalls patentiert ist die Reyher-Kombischraube.<br />
Diese Schraube kombiniert einen nach Norm gestalteten<br />
Sechskantkopf mit einem Innensechsrund und<br />
ist trotzdem voll belastbar. Durch den Einsatz der<br />
Kombischraube kann die Anzahl der verwendeten<br />
Schraubentypen in der industriellen Fertigung maßgeblich<br />
reduziert werden. Dies hat eine einfachere<br />
Lagerhaltung, geringere Kosten und eine Vereinfachung<br />
der Produktion zur Folge.<br />
„Neben der Strategie, der fachlichen sowie technischen<br />
Kompetenz und einer hohen Innovationskraft<br />
hat Reyher sich außerdem über die Jahre, trotz zunehmender<br />
Größe, eine gewisse Flexibilität bewahrt“,<br />
resümiert Klaus-Dieter Schmidt. Dies gäbe seinen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Raum für kundennahe,<br />
individuelle Entscheidungen.<br />
Anna-Maria Jeske, F. Reyher Nchfg. GmbH & Co.KG<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 43
» C-TEILE-MANAGEMENT<br />
Drei Experten von Keller & Kalmbach über die Plattform Logtopus<br />
„Störungen in der Supply Chain früh<br />
erkennen“<br />
Der Name ist Programm. Mit „Logtopus“ hat Keller & Kalmbach eine Plattform zur<br />
Steuerung der Materialversorgung geschaffen, die mit ihren Software-Armen die<br />
gesamte Supply Chain erreicht. Das Programmpaket ist einfach zu bedienen und<br />
verringert die Komplexität für Anwender. Drei Vertreter des Spezialisten für C-Teile-<br />
Management – Hans van der Velden, Thomas Blimmel und Andreas Kahnt – grenzen<br />
die Lösung zu anderen Systemen ab und geben Einblicke in die Entwicklungsarbeit.<br />
Bild: Keller & Kalmbach<br />
Logtopus ist eine All-In-One-Plattform zur Steuerung<br />
und Optimierung der Materialversorgung.<br />
Was sind die übergeordneten Bereiche, die diese<br />
Lösung abdeckt?<br />
Thomas Blimmel: Das primäre Ziel einer All-in-<br />
One-Plattform ist die vollständige Visualisierung aller<br />
Material- und Informationsflüsse im Kontext der<br />
bewirtschafteten Materialen. Logtopus ist ein offenes,<br />
cloudbasiertes System für die umfassende Digitalisierung<br />
von Waren- und Informationsflüssen zur<br />
Optimierung der Supply Chain für Kunden und Lieferanten<br />
in allen Branchen. Unsere Lösung enthält alle<br />
C-Teile-Management-Funktionalitäten von der Bedarfsauslöung<br />
über die Integration von Partnerlieferanten<br />
und die Warensteuerung bis zum Verbrauchs -<br />
ort, sprich die Informationsplattform für angeschlossene<br />
Kunden und Lieferanten. Die an die Plattform<br />
angeschlossenen Unternehmen können über dieselben<br />
Prozesse und Systeme Kunden beliefern oder von<br />
Lieferanten beliefert werden.<br />
Andreas Kahnt, Director Sales Logtopus bei Keller & Kalmbach: „Logtopus kann unabhängig<br />
von der Firmengröße eingesetzt werden, weil die Plattform an die Bedürfnisse des<br />
Unternehmens angepasst werden kann.“<br />
Was war der Anlass für die Entwicklung?<br />
Blimmel: Wir haben erkannt, dass unsere Kunden<br />
ein cloudbasiertes, ERP-unabhängiges System benötigen,<br />
um flexibel logistische Entscheidungen zu<br />
treffen und um Transparenz sowie Kontrolle über<br />
alle Prozesse zu haben. Das ist genauso wichtig wie<br />
ein einheitlicher <strong>Beschaffung</strong>sprozess für alle Produkte.<br />
Die Vorgängerversion von Logtopus – eLogistics<br />
– ist nicht für die eigene Steuerung durch<br />
unsere Kunden konzipiert worden. Das ist bei Logtopus<br />
anders. Hier steht die Benutzerfreundlichkeit<br />
im Fokus und wird auch aus Kundensicht entwickelt.<br />
Die Anwender können ihr Dashboard individuell<br />
einstellen und weltweit verwalten. Logtopus<br />
benötigt keine größeren Erweiterungen im eigenen<br />
ERP System. Es ist eine unabhängige Plattform, die<br />
44 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
durch einfache Schnittstellen eingebunden werden<br />
kann – sozusagen das Upgrade der eLogistics-<br />
Plattform, die stufenweise durch Logtopus abgelöst<br />
wird.<br />
Was steckt hinter dem Namen Logtopus?<br />
Andreas Kahnt: Der Name Logtopus setzt sich<br />
aus „Logistik“ und „Oktopus“ zusammen und lässt<br />
sofort das Bild eines Oktopus im Kopf entstehen, der<br />
mit seinen Armen auch die letzten Winkel erreicht.<br />
Die Eigenschaften des Oktopus finden sich in unserer<br />
Plattform wieder, denn sie ist intelligent, anpassungsfähig,<br />
weitsichtig und fit. Der Vorschlag<br />
stammt von unserem User-Interface-Designer und<br />
kam auf Anhieb gut an.<br />
Mit welchen Problemen hatten ihre Kunden im Bereich<br />
Materialversorgung zuletzt zu kämpfen?<br />
Hans van der Velden: Unsere Kunden bewegen<br />
sich im Industrieumfeld, also in den Bereichen Automotive,<br />
Verkehrstechnik oder Maschinenbau. Und sie<br />
eint die oberste Prämisse, dass Ware geliefert wird,<br />
um etwas fertigen zu können. Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit<br />
und Transparenz in der Supply Chain spielen<br />
eine entscheidende Rolle. Corona und der Krieg in<br />
der Ukraine haben hier einiges ins Wanken gebracht.<br />
Die globalen Lieferketten sind angespannt und im<br />
Transportwesen ist es eine große Herausforderungen,<br />
Liefertermine einzuhalten. Daneben ist der Fachkräftemangel<br />
überall spürbar und wir alle sehen steigenden<br />
Preisen ins Auge und müssen Wege finden, mit<br />
der eingeschränkten Materialverfügbarkeit umzugehen.<br />
Für mich kündigt sich ein Paradigmenwechsel<br />
an, denn alle Wirtschaftsakteure müssen Standards<br />
auf einmal neu denken, die jahrelang etabliert<br />
waren . Und plötzlich ist Agilität mehr gefragt als je<br />
zuvor. In jeder Hinsicht.<br />
Mit welchen Anforderungen und Erwartungen treten<br />
die Industrieunternehmen folglich an einen<br />
Partner wie Keller & Kalmbach heran, der nicht nur<br />
C-Teile liefert, sondern auch C-Teile-Management-Lösungen<br />
anbietet?<br />
van der Velden: Unsere Kunden suchen in<br />
erster Linie einen zuverlässigen Partner, der die<br />
Bild: Keller & Kalmbach<br />
Thomas Blimmel,<br />
Deputy Head of<br />
Custome r Logistic<br />
Services bei Keller &<br />
Kalmbach: „Wir haben<br />
den Anspruch, dass<br />
unsere Anwender<br />
auch ohne Schulungen<br />
sofort verstehen,<br />
wie die Lösung<br />
funktioniert .“<br />
Mikro-Schlauchverbinder für<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 45
» C-TEILE-MANAGEMENT<br />
Bild: Keller & Kalmbach<br />
Ist die Plattform auf den Mittelstand zugeschnitten<br />
oder ist sie auch für Konzerne eine Option?<br />
Kahnt: Logtopus kann unabhängig von der Unternehmensgröße<br />
eingesetzt werden, weil die Plattform<br />
an die Bedürfnisse des Unternehmens angepasst<br />
werden kann. Konkret zeigt sich diese Skalierbarkeit<br />
beispielsweise bei der freien Lieferantenauswahl, der<br />
Integration von kundeneigenen Logistiksystemen<br />
und Sensoren sowie der Anbindung von Warenwirtschaftssystemen.<br />
Zudem kann der Anwender zwischen<br />
verschiedenen Leistungspaketen wählen.<br />
Hans van der Velden,<br />
CEO Keller & Kalmbach:<br />
„Die globalen<br />
Lieferketten sind<br />
angespannt und<br />
die Wirtschaftsakteure<br />
müssen Standards auf<br />
einmal neu denken, die<br />
jahrelang etabliert<br />
waren .“<br />
Waren verfügbarkeit sicherstellt. Dabei ist ihnen<br />
Transparenz wichtig, um die <strong>aktuell</strong>e Versorgungssituation<br />
jederzeit einschätzen und damit Störungen<br />
in der Supply Chain frühzeitig erkennen zu<br />
können. Zwar sind die Teile, mit denen wir uns beschäftigen,<br />
von geringen Stückkosten geprägt, sie<br />
haben aber einen großen Impact und können ganze<br />
Produktionen lahmlegen, wenn eine rechtzeitige<br />
Lieferung ausbleibt. Nach der Finanzkrise<br />
2008/2009 ging es in der deutschen Wirtschaft<br />
ziemlich rasant aufwärts. Dabei wurden Unternehmensstrukturen<br />
und Prozesse oft nicht der neuen<br />
Realität angepasst. Durch die Pandemie stieg nun<br />
der Druck, in Richtung Automatisierung zu denken.<br />
Auch der Fachkräftemangel führt dazu, dass<br />
Effizienz mehr denn je zählt. Hier kommen unsere<br />
C-Teile-Management-Lösungen ins Spiel, die wir<br />
individuell auf unsere Kunden abstimmen und mit<br />
intelligenten Tools verbinden. So können wir früh<br />
agieren, wenn sich ein Konflikt abzeichnet und<br />
Plan B oder C einleiten, bevor eine Veränderung<br />
überhaupt spürbar ist.<br />
Wurde die Lösung für spezielle Branchen entwickelt<br />
oder ist sie universell einsetzbar?<br />
Kahnt: Logtopus ist branchenunabhängig einsetzbar.<br />
Die Plattform wurde auf Basis von bestehenden<br />
Anforderungen und gesammelten Erfahrungen aus<br />
den Fokusbranchen entwickelt wie Bahntechnik,<br />
Landmaschinenbau, Sondermaschinenbau oder Automotiv.<br />
Neben dem verarbeitenden Gewerbe kann<br />
Logtopus auch in anderen Branchen eingesetzt werden<br />
wie etwa zur Steuerung des Materialbedarfs in<br />
Krankenhäusern.<br />
Gibt es ein vergleichbares Produkt auf dem Markt?<br />
van der Velden: Wir glauben das nicht. Zur<br />
Steuerung und Optimierung der Materialversorgung<br />
kann man entweder auf reine Softwarelösungen zurückgreifen<br />
oder auf Hardware wie Kanbansysteme,<br />
die mit einem Anbieter verheiratet sind. Bei Logtopus<br />
verbinden wir beide Welten miteinander und geben<br />
unseren Kunden die Möglichkeit, auf eine grenzenlose<br />
Flexibilität zu setzen und offen bei den Entscheidungen<br />
zu sein. Logtopus lässt sich auch mit der<br />
Hardware des Kunden einsetzen. Somit sind die Anwender<br />
in ihren Entscheidungen frei, welche Produkte<br />
sie nutzen oder mit welchen Sensoren sie arbeiten.<br />
Auch firmeneigene Lösungen können weiterhin betrieben<br />
werden. Unterm Strich kombinieren wir also<br />
Dienstleistungen und Hardware mit einer ausgefeilten<br />
Softwarelösung.<br />
Wie schätzen Sie den zeitlichen Entwicklungsvorsprung<br />
vor dem Wettbewerb ein?<br />
Blimmel: Das ist schwer zu sagen, weil es letztlich<br />
davon abhängt, wie sehr sich ein Unternehmen darauf<br />
einlassen will, eine Plattform ins Leben zu rufen,<br />
die dem Kunden viele Möglichkeiten bietet und<br />
gleichzeitig keine Abhängigkeiten, sondern Flexibilität<br />
schafft. Unserer Lösung ist offen für jegliche Auslösesysteme,<br />
Serviceapps oder Lieferanten. Den Entwicklungsvorsprung<br />
sehen wir in der technischen<br />
Umsetzung dieser Offenheit und zwar auf allen Ebenen<br />
und in alle Richtungen.<br />
46 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Welche Rolle spielt die Ergonomie bei komplexen<br />
Softwarelösungen? Wie haben Sie diesen Aspekt<br />
bei der Entwicklung mit einfließen lassen?<br />
Blimmel: Software-Ergonomie spielt für uns eine<br />
wichtige Rolle. Wir gehen nutzerzentriert vor und<br />
prüfen schon vor der eigentlichen Code-Entwicklung<br />
mit unseren Endnutzern, ob unsere Ideen verstanden<br />
und leicht bedient werden können. Uns ist es wichtig,<br />
dass wir zielgruppen- und kontextgerechte Inter -<br />
faces gestalten, die speziell auf unsere Nutzergruppen<br />
ausgerichtet sind. So können wir Komplexität<br />
verringern und die Bedienbarkeit intuitiver gestalten .<br />
Wir haben den Anspruch, dass unsere Nutzer ohne<br />
Schulungen sofort verstehen, wie die Lösung funktioniert.<br />
Auch in der visuellen Gestaltung nehmen<br />
wir Bezug auf den Kontext. Klar lesbare Schriften, ein<br />
aufgeräumtes Layout und gute Kontraste helfen dabei,<br />
den Überblick zu behalten. Auch bei komplexen<br />
Darstellungen. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob<br />
der Anwender gerade vor dem Rechner im Büro sitzt<br />
oder mit dem Tablet im Lager unter wegs ist. In unseren<br />
Dashboards beispielsweise kondensieren wir das<br />
Wesentliche aus einem Pool von komplexen Daten.<br />
Wir zeigen dem Nutzer an, was für ihn gerade wichtig<br />
ist, ohne den Zugang zu komplexeren Datenstrukturen<br />
dabei zu vernachlässigen.<br />
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft. Wie verändert<br />
sich der Markt? Welche Entwicklung sind im<br />
C-Teile-Management und in der Materialversorgung<br />
zu erkennen?<br />
Blimmel: Bedingt durch die Coronapandemie und<br />
die geopolitischen Entwicklungen in der Ukraine und<br />
in Taiwan fokussieren sich Kunden und Lieferanten<br />
im C-Teile-Markt weiterhin auf die nachhaltige Absicherung<br />
ihrer Versorgungsketten. Die genannten Einflussfaktoren<br />
haben den Unternehmen aufgezeigt,<br />
dass die Wettbewerbsfähigkeit zukünftig verstärkt<br />
auf der Robustheit und Effizienz der Versorgungsketten<br />
beruht und weniger auf der Preisgestaltung einzelner<br />
Lieferanten. Deswegen werden insbesondere<br />
die Unternehmensbereiche <strong>Beschaffung</strong> und Logistik<br />
in der kommenden Zeit einen eminenten Beitrag zur<br />
Wertschöpfung beitragen müssen. Ein weiteres<br />
Thema ist das in Deutschland verabschiedete Lieferkettengesetz,<br />
das die ökologische und soziale Nachhaltigkeit<br />
von Lieferketten thematisiert und einfordert.<br />
Wie könnte Logtopus in fünf Jahren aussehen?<br />
Blimmel: In der Softwareentwicklung sind fünf<br />
Jahre ein nicht greifbarer Zeitraum. Unser Ziel ist es,<br />
Logtopus so zu entwickeln, dass wir zufriedene Nutzer<br />
haben. Wenn wir es schaffen, dass unsere Kunden<br />
sich in Zukunft ausschließlich auf Logtopus bewegen,<br />
sobald es um die Materialversorgung für die<br />
Produktion geht, haben wir alles richtig gemacht. Als<br />
progressives Unternehmen wollen wir das erreichen,<br />
indem wir die Kundenbedürfnisse ins Zentrum unseres<br />
Handelns stellen. Konkret bedeutet das, dass wir<br />
unsere User aktiv bei der Entwicklung neuer Features<br />
involvieren, also in einen aktiven Dialog treten und<br />
Feedbacks, Ideen und Wünsche überall einfließen<br />
lassen.<br />
van der Velden: Der Kundendialog spielt eine<br />
ganz wesentliche Rolle, wenn wir den Blick in die<br />
Zukunft richten. Gemeinsam mit dem Fraunhofer IML<br />
in Dortmund haben wir vor einiger Zeit auch ein<br />
Zukunfts bild 2025 entwickelt, das die Anforderungen<br />
unserer Kunden auf verschiedenen Ebenen abbildet.<br />
Wir werden unser Ohr am Markt haben, um<br />
Zukunfts themen weiterhin aktiv aufzugreifen.<br />
Das Interview führte Uwe Schoppen,<br />
Redaktion Industrieanzeiger.<br />
Logtopus ® ist die<br />
All-In-One-Plattform zur<br />
transparenten Steuerung<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 47
» FERTIGUNGSTECHNIK<br />
Intec, Z und Grindtec: Wiedersehen der Metallbearbeitung in Leipzig<br />
Messeverbund ist bereit für<br />
den Neustart<br />
Vom 7. bis 10. März 2023 laden die Industriemessen Intec, Z und Grindtec zum<br />
Treffpunkt für die Fertigungstechnik in der Metallbearbeitung, Zulieferindustrie und<br />
Werkzeugbranche ein. Der Messeverbund bildet die komplette Wertschöpfungskette<br />
der Metallbearbeitung in den Hallen der Leipziger Messe ab.<br />
Nach vier Jahren finden wieder Intec und Z in<br />
den Leipziger Messehallen statt. „Wir freuen<br />
uns sehr, dass nach der pandemiebedingten Pause<br />
unsere Industriemessen wieder durchstarten können.<br />
Darüber hinaus bereichert die Grindtec erstmals den<br />
Messeverbund. Mit ihrem Schwerpunkt auf Werkzeugbearbeitung<br />
und Werkzeugschleifen passt sie<br />
hervorragend zur Intec und Z“, sagt Markus Geisenberger,<br />
Geschäftsführer der Leipziger Messe.<br />
Intec: Alle Fertigungsstufen der<br />
Metallbearbeitung<br />
Unternehmen der Werkzeugmaschinenbranche sowie<br />
Anbieter von Präzisionswerkzeugen wie zum Beispiel<br />
Bimatec Soraluce, Ceratizit, Emuge, Fanuc, Grob-Werke,<br />
Gühring, Hedelius, Hermle, Igus, Mapal, Niles-Simmons,<br />
Okuma, Paul Horn, Profiroll Technologies, SEW,<br />
Schunk, Trumpf und Zoller sind auf der Intec dabei.<br />
Das Messeangebot besteht vor allem aus Werkzeugmaschinen,<br />
Maschinenkomponenten, Werkzeugen<br />
und Spannmitteln sowie Fertigungsautomation und<br />
Robotik. Rund zehn Prozent der Aussteller reisen aus<br />
dem Ausland an, so der Stand im Januar. Die meisten<br />
internationalen Aussteller kommen aus der Schweiz,<br />
Italien und Österreich.<br />
Z: Plattform für Zulieferer und<br />
industrielle Dienstleister<br />
Die Z bietet Zulieferern der unteren und mittleren<br />
Produktionsstufen sowie industriellen Dienstleistern<br />
eine Plattform für ihre Positionierung am Markt. Dabei<br />
liegt der Schwerpunkt der Z bei Zulieferungen für<br />
den Maschinen- und Anlagenbau, für die Automobilund<br />
Fahrzeugindustrie sowie für den Werkzeugbau<br />
und weitere Industriebereiche. Im Rahmen der Ausstellung<br />
können sich die Fachbesucher über neue<br />
Produkte, Werkstoffe und Bearbeitungsverfahren,<br />
universell einsetzbare oder spezielle Teile und Komponenten<br />
sowie Lohnfertigung und Dienstleistungen<br />
für verschiedene Stufen der industriellen Produktion<br />
informieren. Wie bei den vergangenen Auflagen<br />
weist die Zuliefermesse einen hohen Auslandsanteil<br />
auf: Rund 25 Prozent der Aussteller stammen aus<br />
dem Ausland – vor allem aus Polen, Italien und<br />
Tschechien.<br />
Grindtec: Werkzeugbearbeitung<br />
und Werkzeugschleifen<br />
„Im Rahmen der Grindtec in Leipzig präsentieren die<br />
Aussteller neue Lösungen für Werkzeugbearbeitung<br />
und Werkzeugschleifen, dabei wird das Anforderungsprofil<br />
der Präzisionswerkzeugmechaniker branche<br />
abgebildet . Der diesjährige Fokus liegt auf Schleifmaschinen,<br />
Werkzeugbearbeitungssystemen, deren<br />
Automation , sowie Schleifmitteln“, sagt Prof. Dr.<br />
Wilfried Saxler, Geschäftsführer des fachlichen<br />
Trägers der Grindtec, FDPW.<br />
Einen Trend, der die zukünftigen Prozesse in den<br />
Industrie- und Handwerksbetrieben der Branche<br />
prägen wird, beschreibt er folgendermaßen: „Wir<br />
müssen und werden uns intensiv mit adaptiven<br />
Strukturen auseinandersetzen, die das Zusammenwirken<br />
von Mensch und Maschine mit künstlicher<br />
Intelligenz in den Vordergrund stellen. Auf der Grindtec<br />
werden Beispiele vermittelt, wie das komplexe<br />
System aus Anforderung, Messdaten, Maschine und<br />
zu bearbeitendem Werkstück durch neuartige Steuerungs-<br />
und Software-Konzepte reibungslos organisiert<br />
werden kann. Die Besucher können auf Technologien<br />
gespannt sein, die Arbeitsabläufe effizienter,<br />
schneller und weniger fehleranfällig organisieren.“<br />
Als sehr relevant für die Branche erachtet er auch die<br />
Lasertechnik. „Sie wird zunehmend zur Bearbeitung<br />
von harten sowie hochharten Schneidstoffen eingesetzt<br />
und funktioniert ständig besser und präziser.“<br />
Außerdem werden Neuerungen in den Bereichen<br />
Mess- und Spanntechnik sowie Peripheriesysteme zu<br />
sehen sein.<br />
Gerade jetzt ist es für die Aussteller und Besucher<br />
wichtig, dass Industriemessen wie Intec, Z und<br />
48 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Grindtec wieder stattfinden, betont Geisenberger:<br />
„Aussteller und Besucher machen deutlich, dass sie<br />
den Austausch auf unseren internationalen Fachmessen<br />
dringend benötigen. Es geht für die Branche<br />
auch darum, Lieferketten aufrechtzuerhalten und<br />
neu zu justieren, den Kostensteigerungen zu begegnen<br />
und resilienter zu werden. Unser Messetrio ist<br />
die richtige Plattform, um sich über diese Themen<br />
auszutauschen und Projekte voranzutreiben.“<br />
Produktneuheiten und<br />
Weiterentwicklungen<br />
Der Aussteller Index-Werke präsentiert den Intec-<br />
Besuchern das neue Dreh-Fräszentrum Traub<br />
TNX220, das laut Hersteller unter anderem mit einer<br />
erweiterten Drehlänge von 900 mm einen Leistungssprung<br />
vollziehe. Ein stabiler Maschinenaufbau,<br />
dynamische Achsen sowie einfach in der Bedienung<br />
– nach Angaben von Emag sind das die Eckpunkte<br />
der vertikalen Drehmaschine VL 2, die auf der Messe<br />
zu sehen ist. Die Industrie-Partner GmbH bringt Robo<br />
Operator mit nach Leipzig. Dabei handelt es sich um<br />
eine Roboterzelle, die CNC-Werkzeugmaschinen<br />
auto matisiert.<br />
Auch an den Messeständen der Zuliefermesse Z sind<br />
Neuheiten zu sehen. Das Unternehmen all-tight Gewindesicherung<br />
reist mit einer Weltpremiere an: Ihre<br />
Gewindesicherung wird aus Rohstoffen hergestellt,<br />
die sonst in der Chirurgie zur Anwendung kommen.<br />
Das soll Ressourcen ohne Abstriche in der Qualität<br />
schonen, teilt der Aussteller mit. Am Messestand von<br />
Cold Jet können sich die Fachbesucher über das Angebot<br />
an Oberflächenvorbereitungs- und Reinigungslösungen<br />
informieren – dazu zählen die Reinigungssysteme<br />
PCS 60 und i3 Microclean 2.<br />
Auf der Grindtec zeigt unter anderem Bruker Alicona<br />
eine Neuheit: Bauteile können mit dem neuen<br />
3D-Messinstrument Infinite Focus G6 unabhängig<br />
von Größe, Material, Geometrie, Gewicht und Oberflächenbearbeitung<br />
flächenbasiert und hochauf -<br />
lösend gemessen werden. Heinz Berger Maschinenfabrik<br />
stellt die neue Generation der Peripherie-<br />
Schleifmaschine RFS/RT/NT vor. Die Schleifmaschine<br />
erzielt, so der Aussteller, einen Flächen- und/oder<br />
Fasen schliff an Rundmessern, Sägeblättern und<br />
Ronden im Pendel- oder Einstichverfahren. Aufgrund<br />
einer zusätzlichen Schleifachse können Folgeschliffe<br />
in einer Aufspannung abgearbeitet werden. So kann<br />
in einem Arbeitszyklus die Oberfläche des Werkstücks<br />
plan geschliffen und eine Wate an die Schneide<br />
angearbeitet werden, berichtet das Unternehmen.<br />
(ys)<br />
Der Messeverbund<br />
Intec , Z und Grindtec<br />
bildet vom 7. bis 10.<br />
März auf der Leipziger<br />
Messe die komplette<br />
Wertschöpfungskette<br />
der Metallbearbeitung<br />
ab.<br />
Bild: Leipziger Messe/Tom Schulze<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 49
» START UP<br />
Bei Orderspot hinterlegen Hersteller ihre Kalkulationsparameter und das<br />
Start-up errechnet auf deren Basis in Sekunden die Angebote.<br />
Bild: I Viewfinder/stock.adobe.com<br />
Angebote von mehreren Lohnfertigern schnell vergleichen<br />
Beim Einkauf bleibt<br />
die Entscheidungshoheit<br />
Der Online-Marktplatz Orderspot bietet eine Plattform, um individuelle Laserund<br />
Biegeteile schneller bei bestehenden oder neuen Lieferanten anzufragen.<br />
Der Marktplatz will den Prozess der Auftragsvergabe vereinfachen und Anwenderinnen<br />
und Anwendern dennoch freie Wahl bei seiner Entscheidung lassen.<br />
Smartphones, Computer, Büroausstattung oder<br />
auch C-Teile wie Schrauben – die Preise solcher<br />
Produkte sind in Shops und auf Vergleichsportalen<br />
sofort ersichtlich. In der verarbeitenden Industrie<br />
werden vielfach Zeichnungsbauteile benötigt. Dennoch<br />
kann es sich hier nach wie vor aufwendig gestalten,<br />
einen Preis für die oft simplen Fertigungsbauteile<br />
zu bekommen: Lieferantenauswahl, Preisanfrage,<br />
Bestellung, Beantwortung von Rückfragen.<br />
Dieser Problematik ist sich Martin Lenter bewusst:<br />
„In der Industrie kann das immer noch viel Zeit in<br />
Anspruch nehmen. In der Regel dauert das mehrere<br />
Tage, manchmal auch Wochen. Ist man ein sehr<br />
guter Kunde, bekommt man vielleicht auch mal<br />
inner halb von zwei bis drei Stunden ein Angebot.“<br />
Lenter ist Co-Gründer sowie CSO von Orderspot,<br />
einem Online-Marktplatz für Laser- und Biegeteile,<br />
und unter anderem für den Vertrieb verantwortlich.<br />
Er kennt die Herausforderung aus erster Hand. Als<br />
gelernter Handwerker und Ingenieur hat er viele Jahre<br />
Produktionserfahrung gesammelt. Gegründet hat<br />
er das Unternehmen gemeinsam mit Denis<br />
Westermeyer, Co-Gründer und<br />
CEO, in Münster. Als Wirtschaftsinformatiker<br />
hat Westermeyer<br />
langjährige Erfahrung<br />
als<br />
SAP-Consultant<br />
50 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: Orderspot<br />
Anwender laden eine<br />
Datei hoch und ergänzen<br />
die notwendigen<br />
Angaben zu Material,<br />
Werkstoffdicke und<br />
Oberfläche. Anschließend<br />
zeigt Orderspot<br />
passende Angebote an.<br />
und verantwortet heute die Bereiche Finanzen und<br />
Technologie des jungen Unternehmens.<br />
Zuerst haben sich die beiden ein Bild vom Markt verschafft.<br />
Lenter zufolge gibt es einen „Vorreiter“, der<br />
mehrere Werke betreibt und das Angebotsschreiben<br />
digitalisiert hat. Der Kunde kann den Stahl, die Oberfläche<br />
sowie Nachbearbeitungsschritte auswählen<br />
und erhält nach Liefertermin gestaffelte Preise.<br />
Diesen Weg sind auch kleinere Betriebe gegangen.<br />
Entsprechende Anbieter implementieren dafür ihre<br />
Software auf der Website der<br />
Lohnfertiger. Lenter: „Beide<br />
haben das Problem, dass sie<br />
nicht machen, was der Kunde<br />
eigentlich will: Angebote von<br />
mehreren Firmen schnell vergleichen.“<br />
Bei beiden Varianten<br />
müsse der Anwender erst<br />
bei Webseite A alles hochladen,<br />
dann bei Website B usw.<br />
Außerdem gibt es Unternehmen,<br />
welche Konfiguration,<br />
Anfrage, Bestellung und Lieferung<br />
von Metallteilen in einem digitalen Prozess abbildet.<br />
Dieses Modell unterscheidet sich von den<br />
oben genannten dadurch, dass das Unternehmen<br />
selbst kein Hersteller ist und die Aufträge innerhalb<br />
seines Fertigungsnetzwerks vergibt.<br />
Vergleich von Zeichnungsteilen<br />
Orderspot möchte dem Kunden aber nicht nur das<br />
eine , möglicherweise genau passende Angebot<br />
anzeigen , sondern einen Vergleich für Laser- und<br />
Biegeteile bieten. Seit Frühjahr 2021 ist der Online-<br />
Marktplatz live. Lenter: „Der Anwender braucht eine<br />
Plattform, wo er die Bauteilzeichnung hochladen<br />
kann und wie bei Check 24 Anbieter<br />
mit Preis, Entfernung<br />
»Beide Modelle haben<br />
das Problem, dass sie<br />
nicht machen, was der<br />
Kunde eigentlich will:<br />
Angebote von<br />
mehreren Firmen<br />
schnell vergleichen.«<br />
Martin Lenter<br />
und Liefertermin aufgelistet sieht.“ Das läuft wie<br />
folgt ab:<br />
1. Upload der CAD-Datei: Aktuell wird für das<br />
Hochladen der Bauteilzeichnung das DXF- und das<br />
STEP-Format unterstützt.<br />
2. Dateneingabe: Für jedes Bauteil kann das Material<br />
und die Blechstärke bestimmt sowie die Ober -<br />
flächenqualität ausgewählt werden. Zur Auswahl<br />
stehen die Materialien, die mindestens einer der teilnehmenden<br />
Lieferanten anbietet. Außerdem wird die<br />
benötigte Menge eingegeben.<br />
Einige Hersteller haben einen<br />
Mindestbestellwert.<br />
3. Lieferzeitpunkt wählen:<br />
Orderspot berücksichtigt die<br />
Fertigungskapazitäten der<br />
Fertiger und stellt dem Anwender<br />
anschließend die in<br />
Frage kommenden Hersteller<br />
zur Auswahl. Durch die Auswahl<br />
eines späteren Liefertermins<br />
erhöht sich in der Regel<br />
die Anzahl der Optionen.<br />
4. Vergleich und Auswahl: Orderspot ermittelt auf<br />
Basis der Herstellerdaten (z. B. Materialien, Maschinen,<br />
Kapazität, Stundesatz, Laserschneidparamter,<br />
usw.) die Angebotspreise und Lieferzeiten für alle in<br />
Frage kommenden Fertiger. Die Auswahl des geeigneten<br />
Angebots kann der Käufer selbst treffen. Kunden-Lieferanten-Beziehungen<br />
können so beibehalten<br />
werden. Die Ergebnisse lassen sich nach Preis, Lieferdatum<br />
und Entfernung sortieren. Zukünftig soll es<br />
auch möglich sein, nach Bewertungen zu filtern.<br />
5. Bestellung: Sobald der passende Hersteller gefunden<br />
wurde, kann die Bestellung über den Marktplatz<br />
abgeschlossen werden. Der Auftrag kommt direkt<br />
zwischen Käufer und dem gewünschten Lieferanten<br />
zustande. Die Auftragsbestätigung des Herstellers<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 51
» START UP<br />
berechnet. Diese Provision wird vom Hersteller gezahlt.<br />
Der Käufer zahlt nur den angezeigten Betrag.<br />
„Jeder soll an der Leistung verdienen, die er erbringt.<br />
Unsere Leistung ist es, schnell zu kalkulieren“, sagt<br />
Denis Westermeyer. Eine Schnittstelle (API) zur Anbindung<br />
an ERP-Systeme bietet Orderspot derzeit<br />
nicht an. Diese ist aber für die Zukunft geplant.<br />
Bilder: Orderspot<br />
Denis Westermeyer (l.),<br />
Co-Founder und CEO,<br />
und Martin Lenter,<br />
Co-Founder und CSO,<br />
von Orderspot.<br />
erhalten die Käufer unmittelbar im Anschluss. „Durch<br />
die Prüfung von Orderspot hat der Hersteller die<br />
Sicherheit , dass die Dateien zumindest so gut sind,<br />
dass wir danach kalkulieren konnten. Er kann damit<br />
arbeiten und muss nicht erst beim Kunden anrufen“,<br />
erklärt Lenter.<br />
Weiter auf Wachstumskurs<br />
Inzwischen sind mehr als 50 Hersteller Teil des<br />
Marktplatzes und bieten <strong>aktuell</strong> über 500 Materialkombinationen<br />
und 28 Legierungen an. Dass die<br />
angebotenen Materialien variieren liegt daran, dass<br />
jeder Hersteller selbst bestimmt, welches Material er<br />
anbietet. Beim Aufruf der Plattform sind Anfang<br />
Februar verschiedene Edelstähle, Bau-/Schwarzstähle,<br />
Aluminium, Kupfer und Messing gelistet. Lenter:<br />
„1200 Hersteller haben wir deutschlandweit in der<br />
Datenbank. Für uns ist aber jeder Betrieb ein potenzieller<br />
Hersteller, der einen Laser hat. Davon müsste<br />
es bestimmt 2000 bis 2500 geben. Viele machen aber<br />
keine Fremdfertigung oder sagen, dass sie keinen<br />
Marktplatz brauchen.“<br />
Inzwischen ist Orderspot auch auf Messen zu finden.<br />
Relevant für das Start-up sind die Blechexpo in<br />
Stuttgart, die Euroblech in Hannover und die FMB-<br />
Messen. „Das ist ein guter Weg, da man direkt den<br />
Mehrwert erklären kann“, berichtet Lenter. „Es ist<br />
schwierig, etwas zu verkaufen, was es so noch nicht<br />
gibt. Wenn jemand von einer gebogenen Frucht<br />
spricht, stellt sich jeder eine Banane vor. Wir haben<br />
aber keine Bananen. Wir machen etwas anderes. Das<br />
Beste ist, wenn wir sagen, wir sind ein ‚Check 24‘ für<br />
Laserteile. Das kommt am schnellsten an.“ Die Kunden<br />
kommen heute primär aus dem Maschinenbau,<br />
Sonderanlagenbau, Werkzeugbau und Metallbau.<br />
Weder die Kunden noch die Hersteller zahlen bei<br />
Orderspot Anmeldegebühren oder laufende Kosten.<br />
Aber wie finanziert sich das Start-up? Für jede<br />
Bestellung und Bestellposition werden fünf<br />
Euro Provision sowie 0,1 Prozent<br />
vom Auftragswert<br />
Versand der Bauteile<br />
Bei kleinen Mengen berechnet Orderspot immer einen<br />
Postversand für den Hersteller. Lassen sich die<br />
Bauteile in maximal fünf Postpakete verpacken,<br />
werden die Versandkosten direkt ausgewiesen. Die<br />
Versandbedingungen der Hersteller finden sich in<br />
den Auftragsdetails. Die Verpackung ist inklusive. Für<br />
größere Aufträge oder Bauteile soll die Einbindung<br />
eines Logistiknetzwerks folgen. Westermeyer: „Wir<br />
zeigen dem Kunden den Inklusive-Preis an und<br />
buchen , wenn gewünscht, die Spedition direkt bei<br />
Auftragserteilung für den Hersteller. Dieser kann<br />
dann bis zu 24 Stunden vorher die Spedition wieder<br />
abbestellen oder umbestellen, wenn er es zu dem angegebenen<br />
Termine nicht schafft. So ist es geplant.“<br />
Zum Ende des vergangenen Jahres hat Orderspot<br />
Verbesserungen seiner Plattform bekanntgegeben.<br />
Das benötigte Material soll nun noch genauer berechnet<br />
werden, weshalb der Auftrag in vielen Fällen<br />
günstiger wird. Je nachdem, wie die Bauteile auf der<br />
Platte verschachtelt und ausgeschnitten werden,<br />
steigt oder sinkt der Ressourcenverbrauch. Zusätzlich<br />
wurden Splittingaufträge eingeführt. Hierbei wird<br />
geprüft, ob sich ein Auftrag in Teilaufträge splitten<br />
lässt. Das kann zu niedrigeren Preisen führen, indem<br />
der Auftrag ohne Mehraufwand an mehrere Hersteller<br />
vergeben wird. Außerdem können Einkäufer so Angebote<br />
für eine Anfrage erhalten, die von keinem einzelnen<br />
Hersteller vollständig erfüllt werden kann.<br />
Yannick Schwab, <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Der B2B-Marktplatz bietet auch die Kalkulation für Biegeteile<br />
an. Anwender benötigen dazu eine STEP-Datei.<br />
Bild: Aleksandr Matveev/stock.adobe.com<br />
52 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
FERTIGUNGSTECHNIK «<br />
Einführung am Hauptsitz, Roll-out auf alle Standorte<br />
Automobilzulieferer setzt auf<br />
digitales Toolmanagement<br />
Die Gnutti Carlo Group mit Hauptsitz in Italien ist ein global agierender Zulieferer in den<br />
Bereichen Automotive, E-Mobilität und Schwerindustrie mit rund 4000 Mitarbeitern und<br />
14 Standorten. Für die Digitalisierung des Toolmanagements setzt die Unternehmensgruppe<br />
auf die kollaborativen Softwarelösungen der Mapal-Tochter C-Com.<br />
Der Verbrauch von Zerspanungswerkzeugen<br />
stellt einen nennenswerten<br />
Ausgabenblock dar und ist für uns daher<br />
ein strategisch wichtiges Element, um am<br />
Markt wettbewerbsfähig zu sein“, unterstreicht<br />
Paolo Buizza, Senior Process Engineer<br />
der Gnutti Carlo Group, die Bedeutung<br />
des Werkzeugmanagements. „In der<br />
Entwicklung und Verbesserung von industriellen<br />
Prozessen nehmen Werkzeuge sowohl<br />
im Hinblick auf die Kosten als auch<br />
auf die Leistungsfähigkeit der Produktion<br />
eine Schlüsselfunktion ein.“ Eine Aufgabe,<br />
die durch das Wachstum der Firmengruppe<br />
und die unterschiedlichen Organisationsstrukturen<br />
noch verstärkt wurde. Ein<br />
präzises Management der Werkzeugthemen<br />
wurde notwendig. „Jeder Standort<br />
hat ein hervorragendes Level an technologischer<br />
Kompetenz“, unterstreicht Buizza ,<br />
„aber es ist uns noch nicht gelungen,<br />
Best-Practice-Abläufe bei allen Standorten<br />
zu implementieren.“<br />
Drei wesentliche Faktoren haben den<br />
Ausschlag dafür gegeben, eine digitale<br />
Toolmanagementlösung einzuführen:<br />
• Das Nutzen von Synergien durch ein<br />
System, das verschiedene Datenquellen<br />
integriert und auswertet. Die Vereinheitlichung<br />
der Werkzeugverwaltung<br />
soll die Möglichkeiten für Verbesserungen<br />
und Rationalisierungen steigern.<br />
• Die Erhöhung der Ressourceneffizienz<br />
durch ein flexibles und nutzerfreundliches<br />
Managementsystem spielte eine<br />
wichtige Rolle. Die Mitarbeiter sollen<br />
sich auf die Analyse und Einführung<br />
von Verbesserungen konzentrieren, anstatt<br />
sich mit verwaltenden Tätigkeiten<br />
zu beschäftigen.<br />
• Die Einführung eines Systems zur<br />
Daten sammlung mit einer Schnittstelle<br />
schafft Kapazität für das Monitoring<br />
der ‚Cost per Part‘ auf verschiedenen<br />
Ebenen. Ähnliche Bearbeitungen innerhalb<br />
der Gruppe werden vergleichbar,<br />
technologische Verbesserungen durch<br />
das Duplizieren von Prozessen von<br />
Standort zu Standort vereinfacht.<br />
Implementierung in drei<br />
Schritten<br />
Nach der Evaluierungsphase entschied<br />
sich die Gnutti Carlo Group mit der<br />
C-Com GmbH als Partner ein digitales<br />
Toolmanagement einzuführen. Den Ausschlag<br />
gaben die technische Infrastruktur,<br />
der breite Scope und die Flexibilität der<br />
Software, die Integrationsmöglichkeit<br />
Die Gnutti Carlo Group führt das digitale Tool -<br />
management von c-Com für alle Zerspanungswerkzeuge<br />
und andere Komponenten im Fertigungsumfeld ein.<br />
Bild: C-Com<br />
verschiedener Standorte und die wirtschaftliche<br />
Wettbewerbsfähigkeit.<br />
„Wir freuen uns darauf, mit unserem<br />
kombinierten Know-how in Sachen Präzisionswerkzeuge,<br />
IT und OT das Toolmanagement<br />
der Gnutti Carlo Group weltweit<br />
auf ein neues Niveau zu heben“, unterstreicht<br />
Giari Fiorucci, Geschäftsführer<br />
der C-Com GmbH. Im ersten Schritt steht<br />
die Definition der Basisstruktur auf dem<br />
Plan, also die Festlegung der Master Data,<br />
der Klassifikationen, der logistischen Abläufe<br />
etc. Das System wird im zweiten<br />
Schritt am Hauptsitz in Maclodio eingeführt,<br />
getestet und kalibriert. „Zusammen<br />
mit dem dritten Step, dem Roll-out auf<br />
alle übrigen Standorte, kalkulieren wir eine<br />
Projektlaufzeit von etwa drei Jahren“,<br />
umreißt Fiorucci das Gesamtprojekt. (ys)<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 53
» ZULIEFERUNG<br />
Ralf Bühler, CEO, Conrad Electronic SE<br />
„Als <strong>Beschaffung</strong>splattform bieten<br />
wir mehr als nur Produkte“<br />
In diesem Jahr feiert Conrad Electronic sein 100-jähriges Bestehen. In den vergangenen<br />
Jahren hat sich das Familienunternehmen vom klassischen Technikhändler zur<br />
<strong>Beschaffung</strong>s plattform für technischen Bedarf gewandelt. Unter der Leitung von Ralf<br />
Bühler baut Conrad seinen Geschäftskundenbereich und seine digitalen Angebote<br />
dynamisch aus. Welche Weichenstellungen auf dem Weg in die Plattformökonomie<br />
wichtig waren und welche Schritte folgen, verrät Ralf Bühler im Gespräch.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>: Herr Bühler,<br />
welche Rolle spielt der Geschäftskundenbereich<br />
für Conrad?<br />
Ralf Bühler: Das Geschäftsfeld Conrad<br />
Business Supplies wurde 1998 gegründet,<br />
um verstärkt den B2B-Markt anzusprechen.<br />
Schon damals wurde ein eigener<br />
Katalog speziell für diese Kundengruppe<br />
aufgelegt. In den vergangenen Jahren haben<br />
wir unseren Fokus dann vermehrt und<br />
mittlerweile ganz gezielt auf Geschäftskunden<br />
und das digitale Geschäft verlagert.<br />
Unter diesem Zeichen steht auch<br />
unser Wandel zur <strong>Beschaffung</strong>splattform<br />
für technischen Bedarf. Eingeläutet wurde<br />
sie 2017 mit dem Launch unseres<br />
kuratierten Online-Marktplatzes für<br />
Geschäftskunden . Seitdem haben wir<br />
unser Plattformangebot sowohl in puncto<br />
Sortiment als auch in puncto digitale<br />
Services dynamisch ausgebaut, so dass<br />
CEO Ralf Bühler leitet seit 2021 die Geschicke von Conrad Electronic.<br />
Bild: Daniel Tkatsch<br />
54 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: Conrad Electronic<br />
Von Wernberg in die Welt: Im Schnitt verlassen 50.000 Pakete pro Tag das Conrad Logistikzentrum.<br />
ich Stand heute sagen kann: Wir haben<br />
den Großteil unserer Transformation geschafft<br />
und sind auf dem Weg zur führenden<br />
europäischen <strong>Beschaffung</strong>splattform<br />
für technischen Bedarf.<br />
Welche Branchen adressieren Sie?<br />
Bühler: Mit der Conrad Sourcing Platform<br />
decken wir den kompletten Bereich<br />
des technischen Bedarfs ab. Wir<br />
sind breit genug aufgestellt, um<br />
mit über sieben Millionen Produktangeboten<br />
Unternehmen<br />
aller Branchen zu bedienen, die<br />
B- und C-Teile einfach und<br />
schnell aus einer Hand beschaffen<br />
wollen. Unser Angebot ist aber nicht<br />
nur umfangreich, sondern weist auch die<br />
erforderliche Sortimentstiefe auf: Wir<br />
können zum Beispiel flexible Bedarfe<br />
beim Prototyping in Forschung und Entwicklung<br />
decken. Wir sind ein verlässlicher<br />
<strong>Beschaffung</strong>spartner für MRO-Profis.<br />
Und auch hochpreisige Investitionsgüter<br />
wie Industriedrohnen oder Cobots<br />
sind auf unserer Plattform erhältlich.<br />
»Unternehmen jeder Größe haben<br />
die Möglichkeit, sich elektronisch<br />
an unsere Plattform anzubinden.«<br />
Wie gelingt es, verschiedene Kundenanforderungen<br />
bei der <strong>Beschaffung</strong> zu berücksichtigen?<br />
Bühler: Effiziente <strong>Beschaffung</strong> zeichnet<br />
sich durch ein hohes Maß an Digitalisierung<br />
aus. Hier kommen wir mit unseren<br />
E-Procurement-Lösungen ins Spiel. Nach<br />
wie vor kann bei Conrad im Online-Shop<br />
eingekauft werden – mit speziellen Optionen<br />
für Geschäftskunden. Wir bieten<br />
Unternehmen aller Größen aber auch die<br />
Möglichkeit, sich elektronisch an unsere<br />
Plattform anzubinden. Unternehmen, die<br />
über ein ERP-System verfügen, können<br />
über OCI/PunchOut oder E-Katalog auf<br />
unser Sortiment zugreifen und dafür die<br />
Anbindung ihrer Wahl nutzen. Unternehmen<br />
ohne eigenes Warenwirtschaftssystem<br />
stellen wir unsere browserbasierte<br />
Lösung Conrad Smart Procure (CSP) zur<br />
Verfügung, die einfach zu nutzen ist und<br />
auf jedem Endgerät läuft. Dabei profitieren<br />
auch diese beiden Kundengruppen<br />
von der zusätzlichen Artikel- und Konditionenauswahl<br />
aus der breiten Welt des<br />
Conrad Marketplace. Auch dieses erweiterte<br />
Sortiment erwerben sie von Conrad<br />
selbst – also aus einer Hand – so dass keine<br />
zusätzlichen Kreditoren angelegt<br />
werden müssen.<br />
Wie gewährleisten Sie im Zuge<br />
anhaltender Engpässe Ihre<br />
Liefer fähigkeit?<br />
Bühler: Gerade in Zeiten von<br />
Lieferkettenstörungen und Materialengpässen<br />
profitieren wir von unserer<br />
100-jährigen Erfahrung als Händler und<br />
Distributor: Unser Einkauf ist weltweit<br />
bestens vernetzt. Wir können also auf ein<br />
internationales Lieferantennetzwerk zurückgreifen,<br />
um Warenverfügbarkeit bestmöglich<br />
aufrechtzuerhalten und Sicherheitsbestände<br />
zu gewährleisten. Gleichzeitig<br />
bauen wir das Netzwerk unserer<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 55
» ZULIEFERUNG<br />
Bild: TQ-Systems<br />
Mit seinem Cobot-Angebot adressiert Conrad Industriekunden und Handwerksbetriebe.<br />
Partner ständig aus, um eine noch größere<br />
Auswahl an Produkten bereithalten zu<br />
können. Seit geraumer Zeit bieten wir auf<br />
conrad.de außerdem proaktiv Alternativen<br />
an, sollte ein bestimmter Artikel nicht<br />
verfügbar sein. Und es gibt den Conrad-<br />
<strong>Beschaffung</strong>sservice, der sich im Fall der<br />
Fälle stellvertretend für unsere Kunden<br />
weltweit auf Produktsuche begibt.<br />
In welchem Ausmaß spüren Ihre Kunden<br />
die steigenden Kosten der Hersteller?<br />
Bühler: Auch wir können uns der generellen<br />
Marktlage leider nicht entziehen<br />
und sehen uns nach wie vor mit Preiserhöhungen<br />
unserer Zulieferer konfrontiert.<br />
Auslöser sind vornehmlich gestiegene<br />
Rohstoff- und Energiepreise sowie zusätzliche<br />
Aufwände durch Lieferengpässe.<br />
Wir versuchen mit höheren Abnahmemengen<br />
und Lagerbeständen die Verkaufspreiserhöhungen<br />
zeitlich zu schieben<br />
und so moderat wie möglich für<br />
unsere Kunden anzusetzen.<br />
Welche Rolle spielt E-Commerce inzwischen<br />
in der B2B-<strong>Beschaffung</strong>?<br />
Bühler: E-Commerce spielt im B2B-Bereich<br />
eine immer wichtigere Rolle und<br />
Corona hat diese Dynamik noch einmal<br />
zusätzlich gepusht. Über zwei Millionen<br />
Geschäftskunden allein in Deutschland<br />
verlassen sich auf Conrad als <strong>Beschaffung</strong>spartner<br />
und vertrauen auf ein im-<br />
mer größer werdendes Online-Angebot:<br />
Vor der Einführung des Conrad Market -<br />
place im Jahr 2017 haben wir auf conrad.de<br />
ein rund 800.000 Artikel umfassendes<br />
Sortiment angeboten. Heute sind wir bei<br />
über sieben Millionen Produktangeboten<br />
von mehr als 650 Herstellern und Distributoren.<br />
Auch international bewährt sich<br />
unsere Strategie: 2021 haben wir einen<br />
Conrad Marketplace in Österreich gelauncht,<br />
vergangenes Jahr kamen die<br />
Niederlande und Italien dazu. Weitere<br />
Länder werden folgen. Natürlich haben<br />
wir im Zuge der Internationalisierung<br />
auch die Möglichkeiten der Cross-<br />
Border-<strong>Beschaffung</strong> im Blick, um den<br />
reibungslosen Einkauf von Waren über<br />
Landesgrenzen hinweg zu ermöglichen.<br />
Besonders stolz sind wir, dass wir im<br />
E-Procurement-Bereich bereits über<br />
3000 Unternehmen in Deutschland angebunden<br />
haben. In diesem Jahr wollen wir<br />
hier erneut um 20 Prozent wachsen.<br />
Einfach nur Technik verkaufen war<br />
gestern . Was zeichnet eine umfassende<br />
Plattformökonomie aus?<br />
Bühler: Als <strong>Beschaffung</strong>splattform haben<br />
wir deutlich mehr zu bieten als nur<br />
Produkte. Wir verstehen uns als Lösungsanbieter,<br />
dessen Kernangebot sich aus<br />
drei Säulen zusammensetzt: Erstens aus<br />
einem großen Sortiment mit hoher Verfügbarkeit,<br />
zweitens aus kundenzentrier-<br />
ten Lösungen etwa im Bereich E-Procurement,<br />
um Einkaufsprozesse wirtschaftlicher<br />
zu gestalten, und drittens aus fachkompetenter<br />
Beratung sowie persönliche<br />
Betreuung. Unser Filialangebot für<br />
Geschäfts kunden verstehen wir als Verlängerung<br />
dieses Online-Angebots. Zusätzlich<br />
zu unserem Profistore in Hürth<br />
bei Köln eröffnen deshalb in Regensburg<br />
und Mannheim demnächst zwei weitere<br />
B2B-Filialpiloten. Sie sollen die Conrad<br />
Sourcing Platform mit unterstützenden<br />
Vor-Ort-Services ergänzen, indem sie<br />
direkte Bedarfsdeckung vor Ort ermöglichen<br />
und die Gelegenheit bieten, beispielsweise<br />
einen Cobot auszuprobieren.<br />
Welche Rolle spielt das Thema Roboter<br />
für Conrad? Stehen Cobots als „Einsteiger-Roboter“<br />
besonders im Vordergrund?<br />
Bühler: Ja, <strong>aktuell</strong> ist das so. Mit unserem<br />
Cobot-Angebot adressieren wir in<br />
erster Linie unsere Industriekunden, sehen<br />
aber auch Potenzial für Handwerksbetriebe.<br />
Insbesondere bei kleinen und mittelständischen<br />
Unternehmen möchten wir<br />
ein Bewusstsein dafür schaffen, dass<br />
Cobots eine erschwingliche und handhabbare<br />
Möglichkeit zur praxisnahen Automatisierung<br />
bieten und sich einfach und<br />
schnell in bestehende Produktions- oder<br />
Logistikumgebungen integrieren lassen.<br />
Die Vorteile, aber auch mögliche Hindernisse<br />
bei der Integration in den Unternehmensalltag<br />
haben wir in Ratgebern und in<br />
einem Whitepaper zusammengetragen,<br />
das in Zusammenarbeit mit der RWTH<br />
Aachen entstanden ist.<br />
Unser Ziel ist es, interessierte Unternehmen<br />
bei der Auswahl ihres Cobots aktiv zu<br />
unterstützen. Zu diesem Zweck haben wir<br />
auch einen Cobot-Finder entwickelt, um<br />
verschiedene Cobot-Modelle zu vergleichen<br />
und zu bewerten. Ganz neu bieten<br />
wir über unseren Marktplatz außerdem<br />
auch die Dienstleistung „Safety Dialog”<br />
an, also eine digitale oder Vor-Ort-Beratung<br />
zum Thema Roboter-Konzept durch<br />
einen Sachverständigen für Maschinen -<br />
sicherheit.<br />
Das Interview führte Yannick Schwab,<br />
Redakteur <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong><br />
56 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
C-TEILE-MANAGEMENT<br />
Bild: Mediaparts/stock.adobe.com<br />
Die stärksten Preis -<br />
anstiege für 2023<br />
erwarten die Rohstoffanalysten<br />
bei Zinn,<br />
Kobalt und Stahl.<br />
IHR PRODUKTIONS-<br />
PROZESS LÄUFT<br />
Entwicklung auf den Rohstoffmärkten<br />
Lithiumpreis soll sinken<br />
Das Rohstoff-Jahr 2022 war vor allem durch den Krieg in der<br />
Ukraine und die Sanktionen der westlichen Länder gegen<br />
Russland geprägt. Bemerkbar machte sich das insbesondere<br />
bei Energieträgern und Metallen. Das sind Ergebnisse des<br />
Preistrend- und des Preismonitors der Bundesanstalt für<br />
Geowissenschaften und Rohstoffe.<br />
Infolge der Sanktionen wurden Rohstoffe<br />
russischer Herkunft am Weltmarkt<br />
mit erheblichen Abschlägen gehandelt.<br />
So lag der Preis für russisches<br />
Ferrotitan im Juni 2022 etwa 40 Prozent<br />
unterhalb des Weltmarktpreises. Auch die<br />
gestiegenen Energiekosten haben weitreichende<br />
Auswirkungen auf die Rohstoffmärkte.<br />
Insbesondere in Europa haben<br />
infolge der hoher Energiepreise viele<br />
Hütten den Betrieb gedrosselt oder eingestellt.<br />
Der Metallbedarf wurde über Lager -<br />
bestände gedeckt. Diese befinden sich<br />
derzeit auf einem sehr niedrigen Niveau.<br />
Die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) in<br />
der Bundesanstalt für Geowissenschaften<br />
und Rohstoffe (BGR) analysiert und bewertet<br />
die internationalen Rohstoffmärkte.<br />
Einen wichtigen Teil stellt dabei der<br />
Preismonitor dar. Darüber hinaus veröffentlicht<br />
die BGR in Kooperation mit Consensus<br />
Economics alle sechs Monate den<br />
Preistrendmonitor.<br />
Lkw-Streik lässt Preis für<br />
Legierung steigen<br />
Die Preise der im Preismonitor enthaltenen<br />
Rohstoffe sind im Dezember 2022<br />
gegenüber dem Vormonat im Schnitt um<br />
1,7 Prozent gestiegen. Neben Eisenerz<br />
(+19 %) und den Stahlveredlern (+6,3 %)<br />
haben insbesondere die Edelmetalle und die<br />
LME-Basismetalle mit je rund acht Prozent<br />
am deutlichsten zulegt. Die größten Preisrücksetzer<br />
waren bei den Energierohstoffen<br />
(-13,4 %) und der Platingruppe (-2,3 %) zu<br />
beobachten. Die stärksten Anstiege verzeichneten<br />
Ferromolybdän (+27 %), Eisenerz<br />
(+19 %), Molybdän (+15,5 %) und Nickel<br />
(+14 %). Der Anstieg bei Ferromolybdän<br />
wird laut Preismonitor auf die Arbeitsniederlegung<br />
der südkoreanischen Lkw-<br />
Fahrer zurückgeführt. Der Streik habe zu<br />
Lieferunterbrechungen und damit zu<br />
Preissteigerungen geführt. Südkorea ist<br />
für Europa der wichtigste Lieferant von<br />
Ferromolybdän. Bei den Recyclingrohstoffen<br />
bewegten sich die meisten Notierungen<br />
laut der DERA zwischen –2,7 und +4,5<br />
Prozent. Mehrheitlich stiegen die Preisnotierungen<br />
der Recyclingrohstoffe oder bewegten<br />
sich auf dem Vormonatsniveau.<br />
Die von Consensus Economics befragten<br />
Rohstoffanalysten sehen für 2023 vor allem<br />
bei dem Batterierohstoff Lithium die<br />
größten Preisrückgänge, gefolgt von den<br />
Titanmineralkonzentraten Rutil und Ilmenit.<br />
Die stärksten Anstiege werden bei Zinn,<br />
Kobalt und Stahl, die geringsten Preisbewegungen<br />
werden bei Kupfer erwartet. (ys)<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 57
» ZULIEFERUNG<br />
Finanzierungsmodell für den Materialeinkauf<br />
Sicherer Nachschub ohne<br />
Liquiditätsprobleme<br />
Matthias Maier, Geschäftsführer bei der Progressio Feinblechtechnik, hat volle<br />
Auftragsbücher . Um das dafür benötigte Material einzukaufen, nutzt er das<br />
Finanzierungsmodell „Trade Finance“ der Trumpf-Bank. Die streckt ihm die<br />
Materialkosten vor und verschafft ihm so in Zeiten steigender Preise und<br />
unsicherer Marktlage Luft. Ein Erfahrungsbericht.<br />
Partner auf Augenhöhe:<br />
Matthias Maier (l.),<br />
Geschäftsführer der<br />
Progressio Feinblechtechnik<br />
GmbH und<br />
Joachim Dörr,<br />
Geschäftsführer der<br />
Bank und Leiter des<br />
Zentralbereich<br />
Financial Services bei<br />
Trumpf.<br />
Der Lkw rollt auf den Hof und liefert, was Matthias<br />
Maier dringend braucht: Heute sind es 15<br />
Tonnen Edelstahl, die seine Mitarbeiter bei der Progressio<br />
Feinblechtechnik GmbH im baden-württembergischen<br />
Aglasterhausen zu Blechteilen, Blechbaugruppen<br />
und Werkstückträgern verarbeiten. Die unsichere<br />
wirtschaftliche Lage, gestiegene Energiekosten,<br />
schwankende Materialverfügbarkeit und hohe<br />
Aufwendungen für den Einkauf machten auch ihm zu<br />
schaffen, wie er erzählt: „Wir verarbeiten zu einem<br />
sehr großen Teil Edelstahl. Das ist teuer und wir bleiben<br />
erst einmal auf den Ausgaben sitzen. Das Geld<br />
kommt erst dann wieder rein, wenn die fertige Ware<br />
ausgeliefert ist und unser Kunde bezahlt hat. Das<br />
kann schon mal einige Wochen dauern.“<br />
Als ihm Joachim Dörr, Geschäftsführer der Financial<br />
Services GmbH bei Trumpf, mit Trade Finance ein<br />
Bild: Trumpf<br />
neues Finanzierungsmodell speziell für den Materialeinkauf<br />
vorstellt, hört Maier deshalb ganz genau hin.<br />
„Unsere Kunden kämpfen mit massiven Materialpreisschwankungen<br />
und müssen aufgrund der nicht<br />
vorhersehbaren Verfügbarkeit häufig auf Vorrat<br />
kaufen “, erklärt Dörr und fährt fort: „Das macht die<br />
Kosten- und Angebotskalkulation schwierig und<br />
bindet bares Geld, das sie eigentlich dafür brauchen,<br />
Heraus forderungen wie beispielsweise steigende<br />
Energiekosten zu stemmen.“<br />
Hier setzt das neue Finanzierungsmodell Trade<br />
Finance an, wie Maier ergänzt: „Ich bestelle Material<br />
bei meinem Händler und der stellt die Rechnung<br />
direkt an die Trumpf-Bank, die sie sofort bezahlt. Ich<br />
bekomme dann von der Bank eine Rechnung mit<br />
einem Zahlungsziel, das auf das Zahlungsziel meines<br />
Kunden abgestimmt ist. Das heißt, ich bezahle mein<br />
Material erst, wenn mein Kunde seine Rechnung<br />
beglichen hat.“<br />
Hoher Auftragseingang bringt<br />
Herausforderungen mit sich<br />
2015 kauft Matthias Maier das damals insolvente<br />
Unternehmen Progressio, um es mithilfe grundlegender<br />
Umstrukturierungen wieder auf Kurs zu bringen.<br />
„Ganz oben auf meiner To-do-Liste steht die Produkttransformation“,<br />
sagt Maier und erklärt: „Wir<br />
haben uns auf die Fertigung anspruchsvoller Feinblechteile,<br />
die Konzeption und Konstruktion von<br />
Baugruppen sowie auf den Bau komplexer Werkstückträger<br />
für Fertigungslinien spezialisiert.“<br />
Zu den Kunden gehören Unternehmen aus der Medizin-<br />
und Pharmabranche, aber auch aus der Lebensmittelindustrie,<br />
der Logistik und der Automatisierung.<br />
„Diese Kunden zu gewinnen war ein hartes Stück<br />
Arbeit , aber in diesem Sommer hatten wir erstmals einen<br />
Auftragsbestand von über neun Millionen Euro“,<br />
erzählt er stolz. Der hohe Auftragseingang stellt Maier<br />
58 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Das Unternehmen aus Aglasterhausen bietet die gesamte Prozesskette Blech<br />
und beliefert seine Kunden auch mit Baugruppen und Systemkomponenten.<br />
Bild: Trumpf<br />
Im Sommer 2022 verzeichnet der Bleichspezialist erstmals einen<br />
Auftragsbestand von über neun Millionen Euro.<br />
Bild: Trumpf<br />
Bild: Trumpf<br />
aber auch vor finanzielle Herausforderungen, denn für<br />
die Umstrukturierung der Firma waren umfangreiche<br />
Finanzierungshilfen durch seine Hausbank notwendig.<br />
„Da tut sich die Bank schwer, noch weitere Mittel,<br />
etwa für Material, locker zu machen“, erklärt Maier.<br />
Als gelernter Bankkaufmann zeigt er Verständnis:<br />
„Die haben ein branchenübergreifendes Portfolio und<br />
haben natürlich nicht die tiefen Einblicke, die nötig<br />
sind, um ein Unternehmen wie uns in vollem Umfang<br />
zu bewerten. Vor allem in schwierigen Zeiten zählen<br />
häufig nur harte Fakten.“ Andere Erfahrungen hat<br />
Maier mit der Trumpf-Bank gemacht. „Das ist ein<br />
Finanz partner, der die Blechbranche versteht. Als ich<br />
mit Progressio zweieinhalb Jahre nach dem Kauf<br />
endlich erstmals schwarze Zahlen schrieb und meinen<br />
Maschinenpark erneuern wollte, haben sie sich<br />
meine Aufstellungen angesehen, aber auch das, was<br />
ich bis dahin schon erreicht hatte“, erzählt er. „Sie<br />
waren überzeugt davon, dass ich es schaffe, das<br />
Unternehmen auf Erfolgskurs zu halten. Dieser Vertrauensvorschuss<br />
war die Grundlage unserer Geschäftsbeziehung<br />
und ist es noch heute.“<br />
Die Produktion läuft: Das Finanzierungspaket Trade Finance<br />
sorgt bei Progressio für sicheren Materialnachschub, ohne dass<br />
die Liquidität leidet.<br />
Das neue Finanzierungsmodell Trade Finance ist für<br />
den Geschäftsführer ein Beleg dafür, wie nützlich ein<br />
Finanzpartner vom Fach ist. „Es gibt auch in Zukunft<br />
noch viel zu tun, damit es bei Progressio gut läuft“,<br />
erklärt er. „Das hört nicht beim Produktportfolio auf.<br />
Es gilt, Prozesse zu verschlanken und Mitarbeiter zu<br />
schulen. Die Arbeitsvorbereitung präziser zu machen<br />
und natürlich neue Kunden zu gewinnen und bestehende<br />
durch noch bessere Liefertreue nachhaltig zu<br />
binden. Trade Finance nimmt mir eine echte Last von<br />
den Schultern. Ich kann mich mehr um die Firma<br />
kümmern und muss mich nicht mit der Finanzierung<br />
des Materials befassen.“<br />
Vom Test zum festen<br />
Finanzierungsbaustein<br />
Maier hat das Finanzierungspaket Trade Finance als<br />
Testkunde unter die Lupe genommen. Und auch bei<br />
anderen Kunden sei das Interesse groß, sagt Joachim<br />
Dörr: „Viele unserer Kunden sind verunsichert. Die<br />
Marktlage ist instabil. Das Thema Liquidität hat<br />
daher einen hohen Stellenwert. Mit Trade Finance<br />
bieten wir ihnen eine Entlastung.“<br />
Für Matthias Maier wird Trade Finance auch in<br />
Zukunft ein fester Finanzierungsbaustein bleiben.<br />
„Darüber freuen sich meine Finanzierer ebenso wie<br />
mein Stahlhändler. Er bekommt sein Geld sofort und<br />
hat mit einem Partner wie Trumpf kein Risiko“, sagt<br />
er und resümiert: „Mithilfe der Trumpf-Bank haben<br />
wir in den letzten Jahren unseren Maschinenpark<br />
auch um eine Stanz-Laser-Maschine Trumatic 7000<br />
sowie mehrere Biegemaschinen erweitert. Joachim<br />
Dörr und sein Team haben uns immer unterstützt –<br />
auch wenn die Zeiten schwierig waren. Die Stabilität<br />
und Solidität unserer Partnerschaft geben mir ein<br />
gutes Gefühl und Angebote wie Trade Finance zeigen<br />
mir, dass ich mit Menschen zusammenarbeite, die<br />
wissen, was mich umtreibt.“ (ys)<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 59
» BME AKTUELL<br />
Aktuelle Forschungsergebnisse von Hochschule Fulda und BME<br />
Logistikstudie: Digitalisierung in Supply Chains kommt voran<br />
Carsten Knauer, BME-Leiter Sektion Logistik.<br />
Bild: Jochen Günther/BME e.V.<br />
Das Management digitaler und automatisierter<br />
Lieferketten kommt in den Unternehmen<br />
des deutschsprachigen Raums<br />
weiter voran. Es gibt aber immer noch<br />
deutlich Luft nach oben, insbesondere für<br />
kleinere Betriebe. Das sind zentrale Ergebnisse<br />
der BME-Logistikstudie 2022<br />
„Digitalisierung in Supply Chains“.<br />
Die Online-Erhebung wurde gemeinsam<br />
vom Bundesverband Materialwirtschaft,<br />
Einkauf und Logistik e.V. (BME) und der<br />
Hochschule Fulda durchgeführt. An der<br />
Studie beteiligten sich 210 Führungskräfte<br />
aus Einkauf, Logistik und Supply Chain<br />
Management. Sie sind in den Branchen In-<br />
dustrie, Handel und Dienstleistung geschäftlich<br />
aktiv. Ziel der BME-Logistik-Studie<br />
war es, Transparenz in die <strong>aktuell</strong>e und<br />
geplante Umsetzung von Digitalisierungstechnologien<br />
in Supply Chains zu bringen.<br />
„Erfreulich ist, dass mehr als die Hälfte<br />
der befragten Betriebe innovative Digitalisierungstechnologien<br />
wie Clouds und<br />
APIs, Big Data Analytics, Roboter und Automatisierung,<br />
Künstliche Intelligenz sowie<br />
das Internet of Things innerhalb der<br />
nächsten fünf Jahre für sich nutzen wollen.<br />
Bei Clouds und APIs sowie Big Data<br />
Analytics planen dies sogar mehr als Dreiviertel<br />
der Studienteilnehmenden“, betont<br />
BME-Hauptgeschäftsführerin Dr.<br />
Helena Melnikov. Gleichzeitig gebe es<br />
aber auch noch innovative Tools, die für<br />
Supply Chains relevant sein können, aber<br />
deren Potenzial nicht oder nur unzureichend<br />
erkannt wird.<br />
„Mit Blick auf den Einsatz der von BME<br />
und Hochschule Fulda abgefragten Technologien<br />
berichteten uns die meisten Unternehmen<br />
über ihre zumeist positiven<br />
Erfahrungen. Die neuen digitalen Anwendungen<br />
trügen dort vor allem zu Kosteneinsparung,<br />
Zeitgewinn und Qualitätsverbesserung<br />
bei“, sagt Carsten Knauer,<br />
BME-Leiter Sektion Logistik. Interessant<br />
sei in diesem Zusammenhang, dass das<br />
Erkennen der Vorteile eines Einsatzes digitaler<br />
Technologien in Lieferketten der<br />
mit Abstand größte Treiber mit einem Zuwachs<br />
von fast 60 Prozent seit der Erhebung<br />
aus dem Jahr 2019 sei.<br />
In ihren Handlungsempfehlungen zur<br />
jüngsten Logistikstudie raten BME und<br />
Hochschule Fulda den Verantwortlichen<br />
im Supply Chain Management, sich noch<br />
stärker als bisher möglichst umfassend<br />
mit Digitalisierungstechnologien auseinanderzusetzen.<br />
Dies gelte nicht nur für<br />
Führungskräfte; auch in anderen, angrenzenden<br />
Bereichen sei es wichtig zu erkennen,<br />
dass sich Berufsbilder ändern oder<br />
ändern müssen. Der Bezug zu Digitalisierungsthemen<br />
sei deutlich stärker in diesen<br />
Berufsbildern zu verankern.<br />
Weitere Infos: carsten.knauer@bme.de<br />
BME-International<br />
Neuer Online-Service unter www.bmematchmaking.com<br />
Zur Unterstützung seiner weltweiten <strong>Beschaffung</strong>saktivitäten<br />
hat der BME die Internet-Plattform<br />
bmematchmaking.com<br />
ins Leben gerufen. Nach der kostenlosen<br />
Registrierung für den Matchmaking-Service<br />
können Einkäufer seit Dezember<br />
2022 ihre Bedarfe durch Ausfüllen eines<br />
RFI-Fragebogens im Vorfeld von BME-<br />
Matchmaking-Events veröffentlichen.<br />
„Über das BME-Partnernetzwerk werden<br />
internationale Produzenten und Dienstleister<br />
in Warengruppen vorqualifiziert,<br />
die auf der Plattform ihre Leistungsprofile<br />
veröffentlichen“, erklärt Olaf Holzgrefe,<br />
Leiter BME-International. Einkäufer können<br />
danach suchen und solche Lieferanten<br />
zum Event einladen, die ihren individuellen<br />
Bedürfnissen entsprechen.<br />
Gleichzeitig erhielten Lieferanten ab sofort<br />
die Möglichkeit, nach potenziellen<br />
Einkäufern zu suchen und solche einladen,<br />
die zu ihren Kompetenzen passen.<br />
„Dieser zweiseitige Prozess ermöglicht es<br />
den Anwendern, fundierte Entscheidungen<br />
zu treffen. Auf Basis der Anzahl und<br />
der Qualität der Matches entscheiden die<br />
Nutzer, zu welchem Event sie sich kostenpflichtig<br />
anmelden wollen. Der BME organisiert<br />
dann den Zeitplan für die<br />
B2B-Meetings vor Ort“, fügt Holzgrefe<br />
hinzu.<br />
Holzgrefe erinnerte daran, dass der BME<br />
seit 2009 in über 4.000 Matchmakings<br />
Einkäufer und Lieferanten zusammengebracht<br />
hat. Mit einer Erfolgsquote von<br />
über 28 Prozent führte fast ein Drittel aller<br />
Gespräche zu einem Ergebnis. Der Fokus<br />
des B2B-Matchmakings liegt auf Produktionsmaterialien<br />
und Dienstleistungen<br />
– in Europa, Asien und Nordafrika.<br />
Weitere Infos: olaf.holzgrefe@bme.de<br />
Impressum: Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (BME)<br />
Frankfurter Straße 27, 65760 Eschborn, Tel. 06196 5828-0, Fax –399,<br />
E-Mail: info@bme.de, Internet: www.bme.de<br />
60 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Industrie<br />
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<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 61
» KARRIERE<br />
Mit Behavioral Economics besser verhandeln, Teil 1<br />
Blicken Sie hinter die Maske<br />
Erfolgreich geführte Verhandlungen sind die Basis für Ihren Geschäftserfolg.<br />
Aber was macht den Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten<br />
Verhandler aus? Behavioral Economics hilft Ihnen dabei Ihren Gegenüber einen<br />
Tick besser zu verstehen, um so erfolgreicher zu verhandeln. In dieser neuen<br />
Serie stellen wir Ihnen Behavioral Economics und häufige Verhaltensmuster vor.<br />
Dr. Marvin M. Müller<br />
Kerkhoff Consulting<br />
Treffen Einkäufer und Vertriebler am Verhandlungstisch<br />
aufeinander, gibt es, auch wenn die<br />
Illusion eines gutes Verhandlungsergebnisses beide<br />
Seiten ihr Gesicht wahren lässt, meist einen Gewinner.<br />
Natürlich sind Ergebnisse einzelner Verhandlungen<br />
von vielen verschiedenen Faktoren abhängig.<br />
Gewinnt jedoch eine Person einen überwiegenden<br />
Teil der Verhandlungen, kann sie durchaus als<br />
besserer Verhandler bezeichnet werden. Diese<br />
Menschen zeichnen vor allem zwei Dinge aus. Zum<br />
einen sind sie in Bezug auf ihr Gegenüber sehr<br />
wachsam, achten auf Versprecher, Gestik und<br />
Mimik, wissen diese zu interpretieren und auszunutzen.<br />
Zum anderen haben sie ein hohes Maß an<br />
Selbstkontrolle, geben nur gewollte Informationen<br />
frei und sind in der Lage eigene Schwächen für die<br />
Dauer der Verhandlung zu unterdrücken. Vor allem<br />
der letzte Punkt stellt für viele Menschen eine<br />
große Herausforderung dar. Die gute Nachricht:<br />
Diese Eigenschaften können erlernt und trainiert<br />
werden. Hilfe bietet dabei die Wissenschaft, genauer<br />
gesagt Behavioral Economics.<br />
Was ist Behavioral Economics?<br />
Behavioral Economics ist ein Teilbereich der Volkswirtschaftslehre,<br />
der sich – nah am Rand der Psychologie<br />
– mit menschlichem Verhalten und dessen Auswirkung<br />
auf ökonomische Situationen beschäftigt.<br />
Bild: Kerkhoff<br />
Fabian Spühler<br />
Kerkhoff Consulting<br />
Bild: Kerkhoff<br />
Im Fokus steht dabei die Abweichung von der klassischen<br />
Annahme, alle Menschen verhielten sich immer<br />
rational.<br />
Wir alle wissen aus unserem Privatleben, dass eine<br />
solche Annahme nur zu oft verletzt wird. Denken Sie<br />
an Probe-Abos, die uns langfristig gegen unseren eigentlichen<br />
Willen binden, an All-You-Can-Eat Restaurants,<br />
in denen wir noch immer zu viel essen, obwohl<br />
wir es schon lange besser wissen sollten, an Produkte<br />
im Supermarkt, die auf Augenhöhe hochwertiger<br />
erscheinen und an die mittlere Portion Popcorn im<br />
Kino, die die große Portion viel besser wirken lässt.<br />
Wie hilft mir Behavioral Economics?<br />
Ökonomen und Psychologen haben bis heute über<br />
hundert Verhaltensmuster identifiziert, die unsere<br />
Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Während<br />
solche Verhaltensmuster im Privatleben recht amüsant<br />
sind, haben sie einen erheblichen wirtschaftlichen<br />
Einfluss auf das unternehmerische Ergebnis.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie würden als Einkäufer bei einer<br />
Neuausschreibung einen Bestandslieferenten<br />
aufgrund der guten bisherigen Zusammenarbeit<br />
überschätzen und ihn gegenüber einem genauso guten,<br />
jedoch deutlich günstigeren Lieferanten bevorzugen.<br />
Oder, dass man das Wechseln eines Bestandslieferanten<br />
grundsätzlich ablehnt, weil die anfängliche<br />
Mehrarbeit durch die Umstellung abschreckt. In<br />
beiden Fällen würden Sie wertvolles Einsparpotenzial<br />
verschwenden.<br />
Das Erkennen der Verhaltensmuster des Gegenübers<br />
und das Unterdrücken der eigenen Verhandlungsmuster<br />
machen den entscheidenden Unterschied<br />
zwischen einem guten und einem sehr guten Verhandler<br />
aus.<br />
Gegen jedes dieser hundert Verhaltensmuster können<br />
Sie sich schützen – und es gleichzeitig gegenüber Ihrem<br />
Verhandlungspartner nutzen. In jeder Verhandlungen<br />
bestehen somit durch Behavioral Economics<br />
bis zu 200 Möglichkeiten das Verhandlungsergebnis<br />
zu verbessern. In dieser Serie erläutern wir häufig<br />
62 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
Bild: tookitook/stock.adobe.com<br />
vorkommende Verhaltensmuster, die Verhandler besonders<br />
schmerzhaft treffen können und ermutigen<br />
dazu, diese in der nächsten Verhandlung stattdessen<br />
selbst zum eigenen Vorteil anzuwenden.<br />
Ankereffekt: Eines der bekanntesten und etabliertesten<br />
Tools eines guten Verhandlers hat seinen Ursprung<br />
in Behavioral Economics: der Ankereffekt. In<br />
nahezu jedem Verhandlungsbuch wird gepredigt,<br />
dass das Platzieren einer extremen Forderung (zum<br />
Beispiel 20 Prozent Preisnachlass) vor Beginn der eigentlichen<br />
Verhandlung das Verhandlungsergebnis<br />
zu den eigenen Gunsten verändert. Wenn der Ankereffekt<br />
jedoch in der Welt der Verhandlungen so etabliert<br />
ist, dass beide Parteien über die Auswirkungen<br />
Bescheid wissen, wieso wird er dann dennoch genutzt?<br />
Die Antwort auf diese Frage untermauert die unglaubliche<br />
Kraft, mit der Verhaltensmuster unsere Wahrnehmung<br />
beeinflussen: Weil er trotzdem wirkt. Selbst<br />
wenn man weiß, dass man es mit einem Anker zu tun<br />
hat, ist es immer noch schwierig auf eine Forderung<br />
nach 20 Prozent Preisnachlass mit einer Forderung<br />
nach 20 Prozent Preiserhöhung zu antworten. Glücklicherweise<br />
gibt es viele weitere Verhaltensmuster, gegen<br />
die man sich leichter wehren kann.<br />
Status-Quo-Bias: Das aus dem Change Management<br />
bekannte Problem „Das war schon immer so,<br />
das ist gut“ tritt nur zu oft auch in Verhandlungen<br />
auf. Die finanziell schmerzhafteste Form ist wohl die<br />
systematische Überschätzung von Bestandslieferanten.<br />
Die größte Verhandlungsmacht eines Einkäufers<br />
kommt über den Wettbewerb. Ob Ausschreibungen<br />
als einfache Variante, oder beliebig komplexe Auktionsdesigns<br />
– die Ergebnisse von Wettbewerbsverhandlungen<br />
stellen die von 1-gegen-1 Verhandlungen<br />
in den Schatten. Das zentrale Element hierbei ist<br />
die Ergebnisoffenheit. Doch genau das ist oftmals ein<br />
Problem. Vor allem Fachabteilungen und der operative<br />
Einkauf, der Angst davor hat Fehler zu machen,<br />
haben eine Tendenz dazu, Bestandslieferanten zu<br />
überschätzen und einen fairen Wettbewerb zu verhindern.<br />
Während die Einschätzung, welcher Lieferant<br />
grundsätzlich der qualitativ beste ist, eine sehr<br />
wertvolle Information darstellt, lohnt sich bei einem<br />
zweistelligen prozentualen Einsparpotenzial vielleicht<br />
ja doch der Blick über den Tellerrand.<br />
Das Erkennen der<br />
Verhaltensmuster des<br />
Gegenübers und das<br />
Unterdrücken der<br />
eigenen Verhandlungsmuster<br />
machen den<br />
entscheidenden Unterschied<br />
zwischen einem<br />
guten und einem sehr<br />
guten Verhandler aus.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 63
» BÜCHER<br />
Der Weg in eine nachhaltige Zukunft<br />
Verantwortungsvoll beschaffen<br />
Über das Thema Nachhaltigkeit und die Umsetzung der ESG-Kriterien wird<br />
schon seit geraumer Zeit mehr gesprochen und geschrieben – getan wird immer<br />
noch zu wenig. Dabei steht Nachhaltigkeit immer mehr im Fokus der<br />
Konsumenten , aber auch von Großinvestoren. Ein Wegweiser könnte hier helfen.<br />
Bild: Springer<br />
Kein Unternehmen kann es sich<br />
heute noch leisten, hierbei ein angekratztes<br />
Image zu haben. Und so gibt<br />
es bei kritischer Betrachtung Compliance-Bekundungen<br />
inklusive Windowdressing<br />
mit viel Schein und weniger<br />
Sein dahinter. Abgesehen von positiven<br />
Ausnahmen steht die unverzichtbare<br />
und auch unbestrittene Nachhaltigkeitstransformation<br />
unserer Unternehmen<br />
im großen Stil noch aus. Dies muss<br />
sich schnellstens ändern, und insbesondere<br />
müssen die Lieferketten unserer<br />
Unternehmen in der Tiefe nachhaltig<br />
werden, meint das Beraterteam aus<br />
Responsible Procurement: Leading the dem Hause H&Z Unternehmensberatung.<br />
Die Autoren werben für einen ver-<br />
Way to a Sustainable Tomorrow. Stefan<br />
Aichbauer, Martina Buchhauser,<br />
Agnes Erben, Sven Steinert, Detlef antwortungsvollen Einkauf. Sie haben<br />
Tietze, Emilia Wiking. Springer, Cham ihre Erkenntnisse aus einer ganzen Reihe<br />
von Beratungsprojekten in einer an-<br />
(Schweiz) 2022, 193 Seiten, 53,49<br />
Euro, ISBN 978–3–030–98639–1<br />
sprechenden, gut aufgebauten Schrift<br />
in englischer Sprache für einen internationalen<br />
Leserkreis zusammengefasst.<br />
Herausgekommen ist kein theoretisches Lehrbuch<br />
sondern ein leserfreundlich aufbereiteter fundierter<br />
Leitfaden für Führungskräfte aus Einkauf und Supply<br />
Chain Management. Die Autoren zeigen darin auf,<br />
wie groß der Einfluss von Einkauf und Supply Chain<br />
Management auf das Gelingen der Nachhaltigkeitstransformation<br />
unserer Unternehmen ist. Es seien die<br />
Einkaufs- und Supply Chain Manager (innen), die das<br />
Ökosystem der vielen Geschäftspartner auf der Input-Seite<br />
orchestrierten und dabei auf Nachhaltigkeit<br />
achten müssten.<br />
Testimonials renommierter CPOs<br />
Mit ihrer Schrift, in der sie an sehr vielen Stellen erfreulicherweise<br />
renommierte CPOs mit überdenkenswerten<br />
Testimonials zu Wort kommen lassen, präsentieren<br />
die H&Z-Autoren eine Agenda und Roadmap<br />
für die Neuausrichtung von Einkauf und Supply<br />
Chain Management im Hinblick auf die Triple Bottom<br />
Line (People, Planet, Profit). Originell und für die Leser<br />
(innen) eine hilfreiche Orientierung ist ein „Scribble“<br />
am Anfang, das die Transformationsreise bildhaft<br />
wiedergibt. Hierauf wird in den einzelnen Kapiteln<br />
des Buches, die die Etappen der Reise skizzieren,<br />
Bezug genommen.<br />
Im ersten Kapitel geht es darum, die Bedeutung der<br />
Facetten von Nachhaltigkeit im modernen Unternehmen.<br />
Nachhaltig zu werden, wird als die Herausforderung<br />
unseres Lebens postuliert. Das zweite Kapitel<br />
stellt den Einkauf und das, was jetzt zu tun ist, in den<br />
Vordergrund. Es wird zu Recht darauf hingewiesen,<br />
dass die neue Herausforderung Einkauf und Supply<br />
Chain Management hervorragende Profilierungschancen<br />
bietet. Im dritten Kapitel wird herausgearbeitet,<br />
wie Unternehmen ihren Purpose und hiervon<br />
ausgehend nachhaltigkeitsspezifische Ziele und Anspruchsniveaus<br />
definieren können.<br />
Honig für die Strategie<br />
In den folgenden Kapiteln vier bis sechs werden die<br />
Dinge dann ganz konkret. Führungskräfte aus Einkauf<br />
und Supply Chain Management können aus der aufmerksamen<br />
Lektüre Honig saugen für ihre Strategien<br />
und auch das tägliche Doing. So wird aufgezeigt, wie<br />
Nachhaltigkeit im Operating Model des Einkaufs verankert<br />
werden kann, wie man Materialgruppenmanagement<br />
und Lieferantenmanagement neu ausrichten<br />
sollte und auch, wie der notwendige Drive in den<br />
Transformationsprozess<br />
gebracht<br />
werden sollte.<br />
Die Lektüre des<br />
Buches ist für LeserInnen<br />
aus der Praxis<br />
anregend und<br />
bietet einen Anreiz<br />
aktiver zu werden.<br />
Eine Prise Beraterjargon<br />
und auch<br />
Redundanzen im<br />
Text müssen in<br />
Kauf genommen<br />
werden.<br />
Prof. Dr. Robert Fieten<br />
wissenschaftlicher<br />
Berater der<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>,<br />
Köln<br />
64 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
BÜCHER «<br />
Bild: Duncker & Humblot<br />
Bild: Herder<br />
Bild: Duncker & Humblot<br />
Risiken managen<br />
Die Logistik, eine Dienstleistungsbranche<br />
wie auch ein betrieblicher Funktionsbereich<br />
und das Risikomanagement, eine<br />
betriebswirtschaftliche Teildisziplin stehen<br />
im Fokus der Wirtschaft und damit<br />
auch der Betriebswirtschaftslehre. Das<br />
Buch bietet einen strukturierten Einstieg<br />
in die Thematik und beschäftigt sich in<br />
den Kapiteln 1 bis 4 mit externen und internen<br />
Risiken, denen Logistikdienstleister<br />
und die Logistikbereiche von Industrie-<br />
und Handelsunternehmen ausgesetzt<br />
sind. Kapitel 5 bis 8 beschäftigen<br />
sich mit dem Risikomanagementprozess,<br />
also der Risikoidentifikation, der Risikoanalyse<br />
und -bewertung und dem Risikocontrolling.<br />
Die Instrumente, die im Risikomanagementprozess<br />
Anwendung finden<br />
sind Gegenstand der Kapitel 9 bis 17.<br />
Dabei geht es um Frühwarn- und Kennzahlensysteme,<br />
solche zur Bestimmung<br />
von Risikoausmaß- und -wahrscheinlichkeit<br />
und zur Analyse von Risikogegebenheiten<br />
und deren Beeinflussung. Organisationsfragen<br />
in Zusammenhang mit dem<br />
Risikomanagement bilden in Kapitel 18<br />
den Abschluss des Buches. Dieses wendet<br />
sich an Studierende, insbesondere in Studiengängen<br />
mit Logistikbezug, aber auch<br />
an Praktiker, die sich mit der betriebswirtschaftlichen<br />
Teildisziplin Risikomanagement<br />
auseinandersetzen wollen.<br />
Risikomanagement – dargestellt an<br />
Beispielen aus der Logistik<br />
Torsten Czenskowsky, Holger Kadgiehn<br />
Duncker & Humblt, Berlin, 2022<br />
Softcover, 296 Seiten, 49,90 €<br />
ISBN: 978–3–89673–775–5<br />
Wirtschaftsgeschichte<br />
Was ist der Motor für die Globalisierung?<br />
Welche Rolle spielen dabei Preisentwicklung,<br />
Warenverknappung und Inflation?<br />
Zur Beantwortung dieser Fragen beschäftigte<br />
sich der Experte für Wirtschaftsgeschichte<br />
Harold James mit dem kollektiven<br />
Verhalten gegenüber Krisen, ist dem<br />
Klappentext zu entnehmen. Mit den Hungersnöten<br />
der 1840er-Jahren, der großen<br />
Depression der 1870er-Jahre, der Hyperinflation<br />
1923, der Weltwirtschaftkrise,<br />
der Ölkrise der 1970er-Jahre, der Finanzkrise<br />
2008/2009 und der Coronakrise<br />
identifiziert der Autor sieben große wirtschaftliche<br />
und im Gefolge politische<br />
Schockmomente. Laut James lässt sich<br />
beobachten, wie Versorgungsengpässe<br />
und steigende Preise politische Systeme<br />
wie Unternehmen zum Besseren verändern<br />
oder hinwegfegen. Daraus ergeben<br />
sich Mechanismen, die all diese Krisen<br />
prägen und in Zukunft zur Überwindung<br />
neuer Rückschläge beitragen können.<br />
So entsteht eine Darstellung der Beziehungen<br />
von modernem Staat und Wirtschaft<br />
und den sich wandelnden Vorstellungen<br />
ihres Miteinanders. Mein Fazit:<br />
Eine Lektüre für echte Fachinteressierte,<br />
wofür auch der 100 Seite lange Anhang<br />
mit Quellennachweisen und Anmerkungen<br />
spricht.<br />
Schockmomente. Eine<br />
Weltgeschichte von Inflation und<br />
Globalisierung 1850 bis heute<br />
Harold James<br />
Verlag Herder, Freiburg, 2022<br />
Gebundene Ausgabe, 544 Seiten, 35,00 €<br />
ISBN: 978–3–451–39325–9<br />
Digitalisierung bei KMU<br />
Die Digitalisierung im Einkauf ist insbesondere<br />
bei kleinen und mittelständischen<br />
Unternehmen immer noch ein<br />
spannendes und herausforderndes Thema.<br />
Auch wenn es eine Digitalisierungsstrategie<br />
gibt, sind hier die Ressourcen nur begrenzt,<br />
das Tagesgeschäft läuft weiter<br />
und man kommt nur in kleinen Schritten<br />
weiter. Der Herausgeber Wilfried Krokowski,<br />
der auf über 45 Jahre Berufserfahrung<br />
in den Bereichen Einkauf, SCM<br />
und Internationale <strong>Beschaffung</strong> greifen<br />
kann, will mit diesem Buch genau diesen<br />
Unternehmen praxisnah Hilfestellung<br />
leisten. Auch wenn dieser Band keinen<br />
Anspruch auf Vollständigkeit hat, deckt er<br />
doch wichtige Aspekte der Digitalisierung<br />
im Einkauf ab: Implementierung in Einkaufsprozesse,<br />
C-Teile-Management, Einsatz<br />
von Portal-Lösungen, Logistiksysteme<br />
bis hin zu 3D-Drucklösungen und ein<br />
Ausblick auf KI im Einkauf. Die Auswahl<br />
zeigt anschaulich, wie vielfältig und<br />
manchmal auch einfach die Umsetzung<br />
erfolgreicher Ideen ist. In allen Bereichen<br />
werden Praxislösungen vorgestellt, wobei<br />
ebenso ausführlich über die notwendigen<br />
Rahmenbedingungen eingegangen wird.<br />
Digitalisierung im Einkauf<br />
Best-Practice-Lösungen und Ansätze für<br />
den Mittelstand<br />
erschienen in der Praxisreihe Einkauf/<br />
Materialwirtschaft, Band 22<br />
Wilfried Krokowski<br />
Duncker & Humblot, Berlin, 2022,<br />
Softcover,151 Seiten, 49,90 €<br />
ISBN: 978–3–89673–784–7<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 65
INSERENTENVERZEICHNIS<br />
IMPRESSUM<br />
Böllhoff GmbH, Bielefeld 68<br />
ConEnergy AG, Essen 9<br />
Bild: Erika8213/stock.adobe.com<br />
Ferdinand Gross GmbH & Co KG, Leinfelden-Echterdingen 37<br />
HAHN+KOLB Werkzeuge GmbH, Ludwigsburg 21<br />
Keller & Kalmbach GmbH, Unterschleißheim 2, 47<br />
Lederer GmbH, Ennepetal 3<br />
Mack Brooks Exhibitions Ltd., GB-St. Albans, Herts 5<br />
Otto Roth GmbH & Co. KG, Stuttgart 57<br />
Albert Pasvahl (GmbH & Co.), Hamburg 25<br />
RCT Reichelt Chemietechnik GmbH + Co., Heidelberg 45<br />
reichelt elektronik GmbH & Co. KG, Sande 7<br />
RS Components GmbH, Frankfurt 39<br />
SoftconCIS GmbH, Oberhaching 19<br />
TFC Niederlassung Bochum, Bochum 11<br />
VORSCHAU<br />
LOGISTIK<br />
Viele weltweit produzierende Unternehmen<br />
denken über ihre Produktionsstandorte<br />
nach. Durch die geografische Lage<br />
profitiert dabei die Türkei . Das Land<br />
mausert sich zu einem attraktiven Logistikstandort.<br />
Wir waren vor Ort und haben<br />
verschiedene Unternehmen besucht.<br />
NACHHALTIGKEIT<br />
Selbst für Konzernverhältnisse ist die<br />
weltweite Einkaufsorganisation von<br />
Bosch groß. 9000 Mitarbeitende gehören<br />
zum globalen Einkauf, dazu 21.000 Kollegen<br />
und Kolleginnen in der Logistik. Der<br />
Zentralabteilung Supply Chain Management<br />
obliegt auch die Umsetzung der<br />
Nachhaltigkeitsstrategie in den Bosch-<br />
Lieferketten.<br />
AUTOMATION<br />
Dr. Kerstin Höfle treibt als VP Portfolio &<br />
Innovation Management mit ihrem Team<br />
die Implementierung neuer Technologien<br />
in das Portfolio von Körber Supply Chain<br />
voran. Im Interview spricht sie über den<br />
Einsatz mobiler Roboter und weitere<br />
Trends in der Intralogistik.<br />
Das Magazin für Einkauf, Material wirtschaft und Logistik<br />
ISSN 0341–4507<br />
Herausgeberin: Katja Kohlhammer<br />
Verlag: Konradin-Verlag Robert Kohlhammer GmbH<br />
Ernst-Mey-Straße 8,<br />
70771 Leinfelden-Echterdingen, Germany<br />
Geschäftsführer: Peter Dilger<br />
Verlagsleiter: Peter Dilger<br />
Chefredakteur:<br />
B. A. Alexander Gölz (ag), Phone +49 711 7594–438<br />
Ernst-Mey-Straße 8, 70771 Leinfelden-Echterdingen, Germany<br />
Redaktion:<br />
Dipl.-Ing. (FH) Sabine Schulz-Rohde (sas),<br />
Phone +49 711 7594–252;<br />
Yannick Schwab (ys), Phone +49 711 7594–537<br />
Korrespondent:<br />
M.A. Nico Schröder (sc), Phone +49 170 6401879<br />
Freie Mitarbeit:<br />
Ass. Jur. Ulrike Dautzenberg, RA Anja Falkenstein,<br />
Dipl. Ing. (FH) Michael Grupp, M.A. Annette Mühlberger,<br />
M.A. Sabine Ursel<br />
Fachliche Beratung: Prof. Dr. Robert Fieten<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Daniela Engel, Phone +49 711 7594–452,<br />
Fax –1452, E-Mail: daniela.engel@konradin.de<br />
Layout: Jennifer Martins, Phone +49 711 7594–262<br />
Gesamtanzeigenleitung:<br />
(Verantwortlich für den Anzeigenteil)<br />
Joachim Linckh, Phone +49 711 7594–565<br />
Auftragsmanagement:<br />
Matthias Rath, Phone +49 711 7594–323<br />
Leserservice: <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>, Phone +49 711 7252–209,<br />
E-Mail: konradinversand@zenit-presse.de<br />
Erscheinungsweise: 9 x jährlich<br />
Bezugspreis jährlich: Inland 166,50 € inkl. MwSt. und<br />
Versandkosten; Ausland 171,90 € inkl. Versandkosten;<br />
Einzelheft Inland: 18,60 € inkl. MwSt. und Versandkosten.<br />
Einzelheft Ausland: 19,20 € inkl. Versandkosten.<br />
Für Schüler, Studenten und Auszubildende gegen Nachweis:<br />
Inland 83,25 € inkl. MwSt. und Versandkosten,<br />
Ausland 88,65 € inkl. Versandkosten.<br />
Bestellungen beim Verlag oder beim Buchhandel. Sofern das<br />
Abon nement nicht für einen bestimmten Zeitraum ausdrücklich<br />
bestellt war, läuft das Abonnement bis auf Widerruf.<br />
Bezugszeit: Das Abonnement kann erstmals vier Wochen<br />
zum Ende des ersten Bezugsjahres gekündigt werden. Nach<br />
Ablauf des ersten Jahres gilt eine Kündigungsfrist von jeweils<br />
vier Wochen zum Quartalsende. Bei Nichterscheinen<br />
aus technischen Gründen oder höherer Gewalt entsteht kein<br />
Anspruch auf Ersatz.<br />
Die Mitglieder des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf<br />
und Logistik e.V. ( BME ) und des ÖPWZ erhalten die Zeitschrift<br />
„<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>“ im Rahmen einer Kooperation.<br />
Auslandsvertretungen: Großbritannien: Jens Smith Partner -<br />
ship, The Court, Long Sutton, Hook, Hamp shire, RG29 1TA,<br />
GB, Phone 01256 862589, Fax 01256 862182, E-Mail:<br />
jsp@trademedia.info; USA, Kanada: D.A. Fox Advertising<br />
Sales, Inc., Detlef Fox, 5 Penn Plaza, 19th Floor, New York, NY<br />
10001, Phone +1 212 89 63 881, Fax +1 212 62 93 988,<br />
E-Mail: detleffox@comcast.net<br />
Druck:<br />
Konradin Druck, Kohlhammerstraße 1–15,<br />
70771 Leinfelden-Echterdingen, Printed in Germany<br />
© 2023 by Konradin-Verlag Robert Kohlhammer GmbH,<br />
Leinfelden-Echterdingen<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> 04/2023 erscheint am 5.4.2023.<br />
Anzeigenschluss ist am 13.<strong>03.2023</strong>.<br />
66 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023
MEINUNG «<br />
Truckermangel: Unseren<br />
Lieferketten droht der Infarkt<br />
Unsere Wirtschaft läuft zurzeit zwar nicht gut aber besser als erwartet. Alles könnte noch besser<br />
sein, wenn es nicht in nahezu allen Wirtschaftsbereichen einen akuten Fachkräftemangel gäbe.<br />
Unsere heimischen Wertschöpfungsketten werden durch den Personalmangel schwer gebeutelt.<br />
Hier sei ein Blick auf das Truck Business geworfen, das bestimmend für unsere Versorgung ist. Der<br />
Lkw-Transport macht 72,5 Prozent unseres Güterverkehrs aus. Die Personalsituation im Truck<br />
Business ist mehr als angespannt.<br />
Aktuell fehlen laut Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung<br />
deutschlandweit nahezu 100.000 Fahrerinnen und Fahrer. Bezogen<br />
auf die 565.000 Trucker, die sozialversicherungspflichtig in unserem<br />
Lande beschäftigt sind, sind das mehr als 15 Prozent. Diesen Mangel halten<br />
die Lieferketten nicht aus.<br />
Der Truckermangel wird immer größer, denn jährlich gehen 20.000 Fahrer<br />
in Rente ohne Nachbesetzung. Die Speditionen, nicht nur in Deutschland,<br />
sondern auch im benachbarten Ausland wie etwa Polen suchen<br />
verzweifelt Lkw-Fahrer. Aus der Ukraine und Weissrussland kommt seit<br />
Ausbruch des Krieges keine Entlastung mehr.<br />
Was also ist zu tun? Der Job als Trucker muss attraktiver werden. Hierzu<br />
bedarf es finanzieller Anreize, die die Logistikunternehmen mittlerweile<br />
bieten. Dies ist absolut richtig, denn laut Statistischem Bundesamt verdienen<br />
Trucker im Schnitt 2623 Euro brutto. Also fast 650 Euro weniger<br />
Prof. Dr. Robert Fieten,<br />
als Beschäftigte mit vergleichbarer Ausbildung und Erfahrung. Dies ist<br />
wissenschaftlicher Berater der<br />
für eine so stressige und verantwortungsvolle Tätigkeit einfach zu wenig<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong>, Köln<br />
Schmerzensgeld!<br />
Aber damit ist es nicht getan. Die Logistikbranche muss auch nach automatisierten<br />
Transport lösungen mit autonom fahrenden Lastwagen<br />
suchen . Doch dies ist trotz verheißungsvoller Pilot projekte (z. B. automatisierter Containertransport<br />
im Hamburger Hafen) noch ein langer Weg.<br />
»Die Logistikbranche muss<br />
auch nach automatisierten<br />
Transport lösungen mit<br />
autonom fahrenden<br />
Lastwagen suchen .«<br />
Frühestens ab 2030 werden autonom fahrende<br />
Lkw auf den Straßen sein. Dann könnten sie auf<br />
Autobahnen und in Häfen zum Einsatz kommen.<br />
Doch in Kleinstädten und Dörfern sind autonome<br />
40-Tonner angesichts der absolut gerechtfertigten<br />
Sicherheitsauflagen nicht angesagt.<br />
Trucker werden daher auch weiterhin gebraucht.<br />
Der Truckermangel bleibt über 2030 hinaus, denn<br />
bis dahin sind weitere 140.000 Fahrer ohne Nachfolge ausgestiegen.<br />
Nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Verkehrspolitik müssen neue Wege beschreiten, um<br />
den drohenden Infarkt der Lieferketten, die sich ja auch in der grünen Transformation befinden, zu<br />
verhindern. VW-Vorstand Gunnar Kilian meint in der Wirtschaftswoche vom 27.1.2023 dazu: „Um<br />
Tätigkeiten auf der Langstrecke nicht nur von Menschen übernehmen zu können, sondern vor<br />
allem auch nachhaltig zu sein, müssen die Zugmaschinen autonom und elektrisch unterwegs sein.<br />
Wir brauchen hierfür ein flächendeckendes Ladenetz, mehr autonome Testfelder auf Autobahnen<br />
und einen Ausbau der Rastplätze. Zudem brauchen wir diesen Platz als Hub, um den automatisierten<br />
Fernverkehr von der Autobahn anschließend auf den manuell gesteuerten Transport in die<br />
Stadt verladen zu können.“<br />
Der Mann hat recht: Geht in die Generaloffensive gegen den Truckermangel und für den infrastrukturellen<br />
Aus- und Aufbau – jetzt!.<br />
<strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023 67
Besuchen Sie uns auf der<br />
Fastener Fair!<br />
Halle 1, Stand 756<br />
Wir schaffen erfolgreiche Verbindungen.<br />
Böllhoff ist weltweit Partner für 360° Verbindungstechnik mit Montage- und<br />
Logistiklösungen. Als familiengeführtes Unternehmen stehen wir seit 1877<br />
für langfristigen Erfolg durch Innovationskraft und Kundennähe. Wir kennen<br />
die spezifischen Anforderungen unserer Kunden aus allen Industrien und<br />
unterstützen sie dabei, erfolgreiche Verbindungen zu schaffen.<br />
www.boellhoff.com/de<br />
68 <strong>Beschaffung</strong> <strong>aktuell</strong> » 03 | 2023