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Leseprobe S. 1-20

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Aline Valangin<br />

Dorf an der Grenze<br />

Roman<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


Uhr ohne Zeiger<br />

Das Dorf ist das höchstgelegene des Tales. Von seinem<br />

Kirchturm aus ist die Straße zu überblicken, wie sie sich<br />

nach Osten über die Bargada zum See hinunterwindet und<br />

nach Westen sanft fallend in einer halben Stunde die Grenze<br />

erreicht, dort, wo der Fluss, nachdem er den freundlichen<br />

«Grund» auf italienischer Seite verlässt, eine kurze<br />

Strecke die beiden Länder trennt, um dann in die Schlucht<br />

zu stürzen, die ihn für den Rest seines Laufes nicht mehr<br />

freigibt.<br />

Dem Dorf schlägt keine Stunde. Seit Jahren geht die<br />

Kirchenuhr nicht mehr. Ihre Zeiger sind abgebrochen.<br />

Nutzlos liegt der Kranz der Ziffern um die leere Scheibe.<br />

Die Zeit steht hier still.<br />

Immer ist Frühling. Die Männer ziehen zum Tal hinaus,<br />

um in Städten als Arbeiter Verdienst zu finden. Für die<br />

Frauen beginnt der schwere Werktag draußen auf den<br />

Matten und Feldern mit Misttragen, Umgraben, Säen und<br />

Pflanzen. Immer dasselbe. Kaum, dass die Kartoffeln in<br />

einen anderen Acker gelegt werden als voriges Jahr oder<br />

ein Stück Grasland mehr umgestochen wird. Und nie bietet<br />

Palmiro in seinem Laden Samensorten an, die nicht<br />

schon seine Mutter gehalten hätte: Bohnen, Salat und für<br />

die Anspruchsvollen gelbe Rübchen. Es lohnt sich nicht,<br />

Geld für den Garten auszugeben. Kommt kein später Frost,<br />

der alle zarten Keime zerstört, so kann man sicher sein,<br />

der Sommer bringt Dürre oder böse Gewitter mit Hagelschlag.<br />

5


Immer ist Sommer. Die Luft über dem Gestein zittert<br />

in der Mittagshitze. Der Himmel wölbt sich gläsern und<br />

hart. Die Sonne ist ein brennender Ball. Was Arme hat,<br />

steht am Hang und schneidet Gras. Die Arbeit fängt im<br />

Morgengrauen an, und wenn der Mond aufsteigt, klingt<br />

noch das Dengeln der Sicheln durch die milde Nacht.<br />

Doch immer ist Herbst. Die Frauen freuen sich, wenn<br />

die Kartoffeln geraten. Oft sind sie klein wie Klicker. Das<br />

fallende Laub wird gesammelt und in den Stall getragen.<br />

Die einzige Kuh soll nicht frieren. Sie wurde auf der Alp<br />

nicht fetter. Nun wirft sie bald das Kalb. Dann gibt’s wieder<br />

süße Milch und Butter.<br />

Und immer ist Winter. Die Matten sind braun, vom stillen,<br />

geduldigen Braun der Erwartung. Die Frauen ordnen<br />

ihr Haus und flicken die Kleider der Kinder. Auf Weihnachten<br />

kehren ihre Männer ins Dorf zurück. Sie bringen<br />

Geld und Geschenke, sie bringen auch Unruhe und Verdruss.<br />

In der Wirtschaft Zur Post geht’s dann hoch her. Alda, die<br />

Wirtin, hat alle Hände voll zu tun, um die vielen Männer<br />

zu bedienen. Jung ist sie nicht mehr, aber sie sieht noch<br />

gut aus und sperrt sich auch nicht gegen einen Spaß, den<br />

sich dieser oder jener mit ihr erlaubt. Sie weiß, was der<br />

Beruf verlangt. Es ist die einzige Zeit des Jahres, da sie<br />

gute Einnahmen hat. Sie will genützt sein. Oft findet Alda<br />

zwar, es wäre genug. Wenn die Männer beim Kartenspiel<br />

auf den Tisch klopfen, dass die Gläser klirren und tanzen,<br />

wenn sie sich ob der Politik in die Haare geraten oder wegen<br />

eines Mädchens Streit bis zum Messer anfangen, wird<br />

ihr himmelangst. Ja, lebte ihr guter Mann Giovanni noch,<br />

6


aber der ist lange schon tot. Und auf ihren Sohn Renzo<br />

kann sie sich nicht verlassen. Er lärmt und krakeelt mehr<br />

als die andern. So ist sie froh, wenn um Ostern das Mannsvolk<br />

wieder abzieht und sie still, wie sie’s liebt, mit ihrem<br />

Strickstrumpf bei ihren Stammgästen weilen kann. Sie<br />

hat sich ein Gähnen angewöhnt, das nur ihre Nasenflügel<br />

etwas dehnt und ihr die Tränen angenehm in die Augen<br />

treibt. Sie kann dazu lächeln, bedienen, stricken, sinnen<br />

und sogar mit den Männern plaudern, die um den großen<br />

runden Gasttisch sitzen und ihren Wein trinken.<br />

Es sind immer dieselben, in der gleichen Reihenfolge.<br />

Selten, dass einer sich einen anderen Nachbarn sucht. Wie<br />

ein Zifferblatt ohne Zeiger.<br />

Auf der Fensterseite die drei Freunde ihres Sohnes.<br />

Serafino, Alfonso, wegen seines gezierten Wesens «Frauchen»<br />

genannt, und Fiür, was Blume heißt, aber Früchtchen<br />

bedeutet.<br />

Serafino ist ein trockenes, dürres Greislein mit rosigem<br />

Gesicht, stets sauber gekleidet, obwohl er alles selbst besorgen<br />

muss. Er ist ledig geblieben. In seinen fernen Jugendtagen<br />

haben ihm zwei Mädchen gefallen, beide gleich gut.<br />

Er liebte die eine und die andere mit Inbrunst und Leidenschaft.<br />

Und das war das Übel. Die Mädchen warteten, er<br />

möge sich entscheiden. Das ganze Dorf wartete mit ihnen.<br />

Es wurden Wetten abgeschlossen auf die eine oder die<br />

andere. Doch je länger, desto weniger war sich Serafino im<br />

Klaren, welche die Einzige sei. Es war Agnese, wandelte er<br />

mit ihr im Mondschein, es war Cora, saß er neben ihr am<br />

Kaminfeuer. So konnte es auf die Dauer nicht weitergehen.<br />

An einem Heiligen Abend kam es denn auch auf der<br />

Kirchentreppe, als alles Volk zur Christmesse strömte, zu<br />

7


einem Kampf der Schönen, wobei sie sich gegenseitig kräftig<br />

mit den Regenschirmen verwalkten, dann, sich näher<br />

rückend, die Haare herunterrissen und die Gesichter zerkratzten,<br />

alles mit Kreischen und Geschrei und von kräftigen<br />

Schimpfworten begleitet. Serafino stand lahm dabei,<br />

unfähig, einzugreifen. Plötzlich sah er sein späteres<br />

Schicksal, mit der einen wie mit der anderen, vor sich und<br />

es war so wenig verlockend, dass ihm in diesem Augenblick<br />

die Lust zu heiraten für immer verging. Der Herrgott<br />

habe ihm die Sehnsucht nach einer Gefährtin damals und<br />

für immer abgenommen und seinen Sinn vom Diesseits<br />

aufs Jenseits gerichtet. Es sei ihm geschehen in einem einzigen<br />

Blitz, der wie eine dicke Nadel mit Faden durch seine<br />

ganze Person gefahren sei, vom Kopf aus mitten durchs<br />

Herz und bis zur rechten großen Zehe hinunter, von dort<br />

in die linke große Zehe hinüber und durchs Herz zurück<br />

beim Kopf wieder hinaus; seither hänge er in einer Schlinge,<br />

die ihn von oben halte und ziehe. Er weiß so anschaulich<br />

und rühmend von diesem schwebenden Zustand zu<br />

berichten, dass mancher bedauert, ihn nicht zu kennen.<br />

Aber nicht jedem ist die Gnade gegeben. Dass sie auf Serafino<br />

liegt, beweist die damals in ihm erwachte Fähigkeit,<br />

ins Verborgene zu sehen, die sich so oft bewährt, dass seine<br />

Sprüche heute mit dem gehörigen Respekt angehört<br />

werden.<br />

Er lebt sehr bescheiden in seinem Haus Zur Windigen<br />

Ecke, besitzt aber immerhin eine Kuh, die er in der früheren<br />

Küche wohnen lässt. Was von seiner Liebe zu Gott für<br />

irdische Dinge abfallen mag, das lässt er seiner Kuh zukommen.<br />

Sie heißt Ninetta, doch er nennt sie meist Schelmin,<br />

in verschämter Zärtlichkeit auch manchmal Luder.<br />

8


Er verbringt viel Zeit bei ihr im Stall. Es ist dort warm, es<br />

riecht vertraut nach einer Vorahnung vom Paradies, wo ja<br />

auch Mensch und Tier innig vertraut sich des Lebens freuten.<br />

Und ist etwa nicht unser Heiland in einem Stall zur<br />

Welt gekommen? Wen wundert’s, wenn er, Serafino, gerade<br />

hier, in der warmen Dunkelheit neben seiner Kuh, am<br />

hellsten sieht, wenn ihm hier die besten Einsichten kommen.<br />

Er scheut sich nicht, sie der Kuh mitzuteilen, ist doch<br />

auch ein Tier aus ihrer Sippe bei dem höchsten Ereignis<br />

damals dabei gewesen. Will ein Neugieriger erfahren, was<br />

ihn zu wissen juckt, nimmt er beim Einnachten den Weg<br />

zur «Windigen Ecke» und stellt sich vors Fenster, um so<br />

ein paar Sprüche aufzufangen. Manches Geheimnis hat<br />

auf diese Weise das richtige Ohr gefunden.<br />

Alfonso, Frauchen, ist anderer Art. Er hat als Monsieur<br />

Alphonse viele Jahre in Genfer Hotels als Portier gedient<br />

und lebt jetzt als Rentner im väterlichen Hause. Er spricht<br />

fremde Sprachen recht fix und ist stolz darauf. Niemals<br />

würde er heiraten wollen, beteuert er erschrocken, wenn<br />

jemand ihm eine Frage in dieser Richtung stellt. Er habe<br />

vor Frauen ein Grausen, wie andere vor Spinnen. Am Morgen<br />

kann man ihn in einer Schürze den Haushalt besorgen<br />

sehen. Es gibt Leute, die behaupten, ihn im Weiberrock<br />

getroffen zu haben. Wie dem auch sei, Frauchen ist<br />

geschickt. In seiner Küche, die als Muster an Ordnung<br />

gelten darf, hat er Tisch und Stühle an die Wand gerückt,<br />

sodass ein großer Raum frei bleibt. «Ich liebe Platz», sagt<br />

er, «sieht’s hier nicht aus wie in einer Hotelhalle?» Er öffnet<br />

zuerst die Tür zur Kammer, wo zwei tadellos gemachte<br />

Bettmonumente stehen – Betten der Eltern –, und dann<br />

9


verschämt das Törchen zu einem kleinen Raum, der das<br />

Beste seiner Einrichtung enthält: Dort hat er eigenhändig<br />

eine Toilette mit Wasserspülung eingebaut. Das Möbel<br />

kannte bessere Tage. Sein früherer Besitzer hat es als<br />

oberen Teil eines Gelatiwagens im Städtchen herumgeschoben.<br />

– Zum Zeit ver treib flicht Alfonso Strohborten.<br />

Die Arbeit gefalle ihm, weil sich dazu so gut plaudern lasse.<br />

Er besitzt neben seiner Welterfahrung einen uner schöpflichen<br />

Vorrat seltsamer Geschichten, die er gerne mitteilt.<br />

«Als ich im Splendid arbeitete … als ich im Kontinental<br />

arbeitete … als ich im Palace Portier war … ein feines<br />

Hotel, chic, nur reiche Leute. Aber die Reichen geben<br />

schlechte Trinkgelder. Sie haben keine Ahnung, wie sehr<br />

wir darauf angewiesen sind. In mittleren Hotels ist’s besser.<br />

Einfache Leute wissen eher, wie geplagt ein Portier ist.<br />

Die vielen Pakete verteilen und Briefmarken verkaufen<br />

und Auskunft geben auf die dümmsten Fragen und Schiffchen<br />

bestellen und Taxi zu Ausflügen und Eisenbahnbilletts<br />

besorgen und Schlafwagenkarten und Restaurants<br />

angeben und immer hin und her und her und hin zwischen<br />

den Leuten … eine Hölle. Und davon habe ich meine<br />

Migräne.»<br />

Stimmt, Alfonso leidet an Migräne. An gewissen Tagen<br />

trägt er eine weiße Stirnbinde. Er wankt blass durchs Dorf,<br />

abwesenden Blickes, und gibt wirre Antworten. Manchmal<br />

muss er sich hinlegen. Mitleidige Frauen bringen ihm<br />

etwas Warmes zu trinken. Auch Fiür steigt zu Alfonsos<br />

Wohnung hinauf und schaut in die Kammer, ob er am Leben<br />

sei. Einzutreten ist ihm peinlich, er tut es nur im Notfall,<br />

wenn Frauchen arg stöhnt und sonst niemand da ist,<br />

ihm beizustehen. Er setzt sich aber nie ans Bett. Er tut fast<br />

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so vorsichtig mit Alfonso wie der Pfarrer Don Giuseppe<br />

mit den Frauen, die am Sterben sein müssen, bevor er sich<br />

bei ihnen zeigt. Dies hat allerdings seine guten Gründe.<br />

Don Giuseppes Vorgänger war nicht so geizig mit seiner<br />

Person umgegangen und hatte sich hier und dort gelegentlich<br />

zu einem Schwatz niedergelassen. Die Männer, die in<br />

den Städten arbeiteten, hörten davon und verstanden es<br />

anders. Als sie auf Weihnachten heimkehrten, passten sie<br />

ihm nachts, als er vom Abendsegen ins Pfarrhaus schlüpfen<br />

wollte, ab und bläuten ihn durch. Er musste versetzt<br />

werden. Dies, so sagte Don Giuseppe, solle ihm nicht blühen.<br />

Zugegeben also, er hatte einen Grund für seine große<br />

Zurückhaltung. Steigern sich die Schmerzen Alfonsos ins<br />

Unerträgliche, kann ein Kartenspiel oft helfen. Er lässt<br />

durch Fiür am lichten Tag seine Freunde zusammentrommeln,<br />

er übernehme die Zeche, und sitzt dann mit ihnen<br />

stundenlang, die Binde um den Kopf und stöhnend, am<br />

Tisch, bis gegen fünf Uhr das Kopfweh abnimmt. Erlöst<br />

nickt er allen zu, die ihn beglückwünschen. Das ist ein<br />

Zeichen zu einem Extraschnaps. Für die anderen, nicht für<br />

Frauchen. Er trinkt kaum. Wenn die Rechnung spätabends<br />

hoch ist, so drückt sie den Spender doch nicht. Trotz seines<br />

Leidens ist er es, der gewinnt.<br />

Die Stirnbinde ist nicht nur ein Zeichen, es könnte ein<br />

Spielchen absetzen, sondern ist der sicherste Wetteransager<br />

geworden, sicherer als die hintere Wand der Wirtschaft<br />

Zur Post, die feucht anläuft, wenn’s regnen will,<br />

sicherer als das Glucksen aus dem Keller der Bargada, von<br />

dem die Alten berichten, und sicherer noch als Serafinos<br />

Prophezeiungen. Über den letzten Punkt hat man sich<br />

lange gestritten im Dorf. Die einen waren für Serafino, die<br />

11


anderen für Alfonso. Es kam zu einem Wettbewerb, wer<br />

unerwarteten Regen zuerst ansagen würde. Jeden schönen<br />

Morgen wurden beide um ihre Ansicht befragt. Es war ein<br />

guter, heller Sommer. Gewitter blieben fern, und die kleinen<br />

Regengüsse begannen langsam und sanft, jedes Kind<br />

konnte sie kommen sehen, dazu brauchte es keine Gabe.<br />

Doch an einem besonders strahlenden Vormittag war Frauchen<br />

weinerlich. Er nahm die Stirnbinde aus dem Kasten<br />

und knüpfte sie um. Ja, am Abend regne es. Man eilte zu<br />

Se rafino, was er dazu sage. «Unsinn», sagte er, «es kann gar<br />

nicht regnen.» Bis vier Uhr stand denn auch keine Wolke<br />

am Himmel. Auf einmal jedoch tauchten schwarze Berge<br />

am Horizont auf, sie türmten sich, überzogen das Tal, und<br />

ein Platzregen stürzte herab, wie man ihn lange nicht erlebt<br />

hatte. Alle Gassen wurden zu Bächen, und der große<br />

Wasserfall warf seine Gischt bis auf die Brücke. Wie das<br />

nun möglich sei, fragten die Anhänger Serafinos ihren<br />

Meister. Er tat gekränkt. Da hatte der Himmel ihm einen<br />

Streich gespielt, einen üblen Streich. Seither zeigt Serafino<br />

eine gewisse Verachtung für das Wetter, das sich durch<br />

so grobe Mittel wie Kopfweh und Übelkeit anzukünden<br />

beliebt, und er wendet sich jenen wahrhaft verborgenen<br />

Dingen zu, die nur einem frommen Gemüt erlauben, ihre<br />

Schleier zu lüften.<br />

Auch Fiür, der Jüngste der drei, ist unbeweibt, doch aus<br />

anderen Gründen. Er ist stets in alle Mädchen und Frauen,<br />

die in seiner Nähe sind, so verliebt, dass er nie sagen könnte,<br />

welche er nun ehelichen möchte. Nach verschiedenen<br />

Verlobungen, die alle wegen seiner Untreue in die Brüche<br />

gingen, hat er das Heiratenwollen aufgegeben. Er fühlt<br />

12


sich dabei wohl. Nach einem leichten Unfall hatte er das<br />

Glück, eine Versicherungsprämie zu ziehen, die ihm erlaubt,<br />

bescheiden, aber von Arbeit so frei wie ein Herr<br />

seine Tage zuzubringen. Der Unfall befreite ihn auch vom<br />

Militärdienst, sodass er als einer der wenigen Männer, die<br />

das Dorf nicht verlassen, eine wichtige Persönlichkeit geworden<br />

ist.<br />

Den Freunden gegenüber, an der anderen Hälfte des runden<br />

Tisches, sitzen die Familienväter Palmiro und Laurin,<br />

an Festtagen von ihren zwei jungen Söhnen eingerahmt.<br />

Palmiro ist ein schwerer, dicker, großer Mann. Er hat etwas<br />

Geld auf der Bank. Der Spezereiladen gegenüber der Wirtschaft<br />

Zur Post gehört ihm und auch ein Auto mit bunten<br />

Polstern auf den Vordersitzen, die er gerne sehen lässt,<br />

wenn er ins Städtchen fährt, um Ware für sein Geschäft zu<br />

holen. Der Wagen ist seine ganze Freude. Er liebt ihn. Etwas<br />

muss der Mensch zum Lieben haben, und seine Frau,<br />

Gelsomina, gibt es ihm Tag für Tag zu spüren, dass sie sich<br />

nicht viel aus seinen Gefühlen macht. Sie ist nicht zufrieden<br />

mit ihm. Er sei weder ein Bauer noch ein gerissener<br />

Geschäftsmann. Auch über ihre Töchter klagt sie, sie schlügen<br />

dem Vater nach und seien zu nichts zu gebrauchen als<br />

zum Schwatzen im Laden. Es sind ihrer zwei, Mirella und<br />

Marina, abgekürzt Mira­Mara, die sich gleichen wie Zwillinge.<br />

Sie lieben es, aneinander gelehnt dazustehen, und<br />

haben eine Technik der Unterhaltung ausgebildet, wobei,<br />

Satz für Satz sich ablösend, die eine oder die andere spricht.<br />

Man nennt sie die Siamesi oder die Grazien, obwohl ja die<br />

dritte im Bunde fehlt, ihr Bruder Gigi. Er ist Palmiros Verdruss,<br />

denn er verwendet seine Intelligenz, um Streiche<br />

13


auszuhecken. Doch an ihm hat Gelsomina den Narren<br />

gefressen, und sie verteidigt ihn, wo’s nötig wird. Alles in<br />

allem ist Palmiros Familie nicht aus dem Dorf wegzudenken,<br />

obwohl die Leute immer noch geltend machen, er sei<br />

ein Zugelaufener. Sein Vater, Ottavio, war aus dem Italienischen<br />

als Schmuggler ins Dorf gekommen und bei<br />

Agne se hängen geblieben. Er heiratete sie – oder heiratete<br />

sie ihn? – und eröffnete eine Butike, in der seine früheren<br />

Kollegen sich mit Zucker, Kaffee und Tabak eindeckten.<br />

Als er starb, führte Agnese mit einer Schwester den Laden<br />

weiter und dazu in ihrer schwarzen Küche eine kleine<br />

Wirtschaft, wo sie sauren Wein ausschenkt. Bei ihr kehren<br />

nun die paar alten Männlein ein, die mit ihr jung gewesen<br />

sind, und gelegentlich Martino, der Betreuer des Elektrizitätswerkes.<br />

In der letzten Zeit sind die beiden Schwestern<br />

etwas verlassen. Es heißt, sie seien Faschistinnen, und<br />

bei solchen lässt man sich ungern sehen. Es ist etwas daran.<br />

Agnese, um ihren Sohn zu ärgern, dem sie den neuen<br />

schmucken Laden nicht verzeiht, hat einst behauptet, ihr<br />

Mann Ottavio sei für Mussolini gewesen. Als Serafino ihr<br />

vorrechnete, dass der Gute schon längst tot war, als Mussolinis<br />

Stern zu steigen begann, wurde sie stutzig, renkte die<br />

Sache aber rasch zurecht: Wenn Ottavio noch leben würde,<br />

so wäre er für Mussolini. Sie verwechselte den Oberherrn<br />

der Italiener mit Garibaldi, dessen schönes Porträt,<br />

aus einer Zeitung ausgeschnitten, im Hintergrund an der<br />

Wand ihrer Küche hängt.<br />

Dass auch Laurin Abend für Abend in der Wirtschaft Zur<br />

Post sitzt, mag verwundern. Er ist Abstinenzler, er, der<br />

früher tüchtig trank. In der Stadt, wo er lange als Gipser<br />

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arbeitete, wurde er zur Abstinenz überredet. Nun, er besaß<br />

stets einen Zug zum Außergewöhnlichen. In seiner besten<br />

Zeit war er Kommunist gewesen. Gab er seine Ansichten<br />

mit der richtigen Betonung von sich, so machte er Eindruck<br />

und gewann auch Anhänger für seine Theorien. Als<br />

jedoch die große Umwälzung, die er versprach, nicht kam,<br />

als das Leben nur immer schwerer im alten Einerlei auf<br />

allen lastete, da wurden die anderen und er selbst seiner<br />

Reden überdrüssig. Damals begann er zu trinken, und jetzt<br />

bestellt er Limonade statt Wein. «Wie ein Bub», spotten die<br />

Freunde. Aber er weiß, was er damit gewonnen hat. Seine<br />

Frau Silva, die Dorfhebamme, gestand einst Alda von Frau<br />

zu Frau: Erst seit Laurins Besserung habe sie erfahren, was<br />

Glück sei. Es kamen dann zu den schon erwachsenen noch<br />

zwei Kinder zur Welt. Über den Jüngsten, Angelo, kann<br />

Laurin nur freundlich lachen, denn er findet sich in ihm<br />

nicht wieder. Angelo ist ein zarter, mädchenhafter Knabe<br />

und kann’s kaum mit seiner dunklen Schwester Igea aufnehmen.<br />

Die Leidenschaft für spannende Geschichten ist<br />

alles, was Vater und Sohn verbindet. Laurin erzählt mit<br />

Vergnügen «wahre Begebenheiten aus seinem Leben», und<br />

Angelo lauscht mit glänzenden Augen. Er bewundert den<br />

Vater. Er fühlt seinen Mut.<br />

Manchmal schiebt sich Bozzi, der Grenzwächter, zwischen<br />

die Männer. Er stammt nicht vom Ort, wohnt aber<br />

seit Jahren hier mit Frau und Kindern. Er unterhält sich<br />

gern mit dem Lehrer, auch ein Ortsfremder, über neumodische<br />

Ansichten. Man hört sich’s an, was sie sagen, ohne<br />

es sonderlich ernst zu nehmen. Dass der Lehrer gegen alte<br />

Sitten und Gebräuche ins Feld zieht, befremdet. Sollte er<br />

15


im Geheimen ein Gottloser sein? Don Giuseppe setzt sich<br />

jedenfalls nie neben ihn. Beide sind übrigens flüchtige<br />

Gäste in Aldas Wirtsstube, fast so flüchtig wie Martino,<br />

dem der Dienst im Elektrizitätswerk, das, so groß wie ein<br />

Hühnerstall, beim Wasserfall steht, keine Muße lässt. Die<br />

Turbine, ein Occasionskauf, will nicht recht laufen. Martino<br />

behauptet zwar, nicht die Turbine, die Strombezüger<br />

seien schuld am mangelhaften Funktionieren des Werkes,<br />

die Leute steckten unerlaubterweise Gott weiß was<br />

alles an die Lichtleitung an. Er tut sein Bestes, um die<br />

Diebe zu erwischen, doch sie sind geübt im Verheimlichen<br />

ihrer Schliche. Da gehört eben jemand hin, der befehlen<br />

könnte und dürfte und dem zu gehorchen wäre, ein Duce,<br />

wie sie ihn im Italienischen drüben hatten, findet er. Ja, so<br />

kam’s, dass Martino immer klarer zu verstehen gab und<br />

es schließlich rundheraus gestand, er wäre dafür, ein Oberhaupt<br />

aufzustellen, das den Leuten den Meister zeigen<br />

würde. Nun muss es ja verschiedene Meinungen auf Erden<br />

geben, aber man vernahm Martinos Ansicht doch mit<br />

ablehnendem Erstaunen. Niemand stimmte ihm zu außer<br />

der Sindaco, der sich selbst als dieses Oberhaupt vorschlagen<br />

möchte, schon weil er damit ein für alle Mal der Sorge,<br />

ob er auch wiedergewählt werde, enthoben wäre. Der<br />

Sindaco hat den Ehrenplatz am Tisch inne, in der Mitte,<br />

den Rücken gegen die Wand, und empfängt neben sich zufällige<br />

Besucher der Tafelrunde, die das Dutzend allabendlich<br />

zum Kranz runden.<br />

Hinter dem Sindaco hängt in Lebensgröße das Bildnis<br />

von Aldas Mann, dem Wegknecht Giovanni Muri, dem sie<br />

in treuem Gedenken nachtrauert. Man fand ihn einst tot<br />

16


in einem Tobel. Er war wohl ausgerutscht, als er die Straße<br />

reinigte. Die Leute munkelten, ein Ärger habe an seiner<br />

Leber gefressen, sodass er nicht mehr aufpassen mochte:<br />

der Ärger um seinen Ältesten Renzo.<br />

Schon als kleiner Bub war er ein Nichtsnutz und ist es<br />

geblieben. Was Arbeit ist, brachte ihm keiner bei. Nicht<br />

einmal im Militärdienst hat er es ausgehalten. Oder müsste<br />

man nicht eher sagen, nicht einmal beim Militär seien<br />

sie mit ihm fertiggeworden? Es war durchgesickert, er<br />

habe, um sich vom Dienst zu befreien, einen Kniff gefunden:<br />

Er benahm sich wie ein Säugling. Er nässte bei Nacht<br />

und auch bei Tag. Er wurde untersucht, bestraft, er kam<br />

ins Spital, ins Loch. Nichts half. Renzo nässte, bis sie<br />

ihn laufen ließen. Nun sitzt er tagaus, tagein in der Wirtsstube<br />

Zur Post, befiehlt, schimpft, tut, als wäre er der<br />

Herr. Und ist es. Alda fürchtet ihn, sosehr der Schwiegersohn<br />

Gottardo ihr auch das Rückgrat stärkt. Sie ist dem<br />

Sohn ausgeliefert. Über diesen Kummer hilft die Freude<br />

an ihrer Tochter hinweg. Stella wohnt mit ihrer Familie<br />

auf eigenem Boden, dicht an der Grenze im «Grund».<br />

Got tardo, als unternehmender Mann, hat dazu den kleinen<br />

Gasthof gepachtet, der seinem Hause gegenüber, am<br />

anderen Ufer des Flüsschens schon auf italienischem Gebiet<br />

steht. Seine Gäste rühmen die Bachforellen, die Pilzge<br />

rich te und den guten Wein. Sie schätzen auch den hübschen<br />

«Grund», in den das Tal sich dort ausweitet und der<br />

Gele genheit bietet zu romantischen Spaziergängen. Ein<br />

Flintenschuss weiter hinten steht die Kaserne der italienischen<br />

Grenzwächter. Gottardos Unternehmen hat Zukunft.<br />

Selbst Alda spürt die günstige Entwicklung, die<br />

die Geschäfte ihres Schwiegersohnes nehmen. Wenn die<br />

17


Sommergäste bis ins Dorf vordringen, bleibt auch in ihrer<br />

Wirtschaft etwas liegen. Sie hat sich entschlossen, der<br />

neuen Zeit zuliebe ihre Tracht zu ändern. Jetzt trägt sie,<br />

genau wie das Servierfräulein im Gasthof Zum Grund,<br />

ein dunkles kurzes Kleid und eine Zierschürze, unter der<br />

sie die Geldtasche verbirgt. Es kann vorkommen, dass ein<br />

Fremder meint, Renzo sei ihr Mann, was sie geschmeichelt<br />

und erschrocken zugleich richtigstellt: Er ist nur ihr<br />

Kreuz.<br />

Was Alda am tiefsten kränkt, ist, dass Renzo auf der Bargada<br />

verkehrt, jenem Hof, der außerhalb des Dorfes zwischen<br />

zwei Tobeln auf grünem Hügel sich breitmacht. Bis<br />

auf Laurin und die Seinen, die in der Nähe wohnen, macht<br />

dort niemand Besuche. Das Haus ist verrufen. Die Ältesten<br />

des Dorfes wollen wissen, es gehe dort um. Im Kellerraum<br />

hinter der Küche gluckse es sonderbar. Gelegentlich erhelle<br />

sich am Abend ein Fenster, wo bei Tag keines zu sehen<br />

sei, und in gewissen Mondnächten rasten wilde Pferde, die<br />

Cavalloni, über die Matten. Seit der neue Lehrer im Dorf<br />

ist und gegen den alten Glauben wettert, werden diese<br />

Geschichten von den Jüngeren leicht belächelt. Aber Alda<br />

ist überzeugt, dass die Armini, denen der Hof gehört, von<br />

jeher des Zaubers kundig waren und ihn zu bösem Tun<br />

anwenden. Sie und ihr Mann selig haben es erfahren …<br />

Heute wohnen nur noch drei Frauen auf der Bargada. Sie<br />

haben das entfernter gelegene Land verpachtet. Was ums<br />

Haus herum bequem zu erreichen ist, wird von der alten<br />

Orsanna schlecht und recht bestellt. Einst verstand sie zu<br />

werken wie ein Mann. Heute ist sie alt und krumm. Ihre<br />

Nichte Zoe ist zu zimperlich für die Landarbeit. Sie fürch­<br />

18


tet für ihre glatten Hände und ihre weiße Haut. Sie verdient<br />

ihr Brot auf andere Weise. Man braucht dabei nicht<br />

an das Schlimmste zu denken, wie die Klatschbasen vom<br />

Ort. Vor Jahren erschien ein Fräulein aus der Stadt, die<br />

Frauen im Dorf das Spinnen, die vergessene Fertigkeit, wieder<br />

zu lehren. Sie versprach den Fleißigen und Geschickten<br />

guten Verdienst. Auch Zoe war mit einem Spinnrad im<br />

Gemeindehaus, wo der Kurs stattfand, erschienen. Und<br />

nun geschah das Ärgerliche: Fräulein Braun zeichnete Zoe<br />

aus und behauptete, sie drehe den feinsten Faden. Diese<br />

Beleidigung war nicht anzunehmen. Die anderen, sofort<br />

einig, erklärten, das Spinnen sei eine ihrer unwürdige Arbeit.<br />

Sie verzichteten auf den in Aussicht gestellten Verdienst.<br />

Doch Zoe nahm das Angebot an. Seither spinnt sie.<br />

Sie bringt regelmäßig große Säcke gesponnene Wolle zur<br />

Post und erhält Geld dafür. Der Postmeister verriet, es sei<br />

nicht wenig. Auch tat Fräulein Braun Zoe mehrmals die<br />

Ehre an, sie zu besuchen und sie zu sich einzuladen. Man<br />

sagt, Zoe sei im schwarzseidenen Sonntagskleid ihrer<br />

Großmutter dagesessen und habe den Kundinnen des Geschäfts<br />

gezeigt, wie man das Spinnrad bedient. Seither<br />

hebt sie ihre Nase noch höher als vorher und schaut über<br />

die Leute hinweg, als wären sie Luft. Sie hat guten Grund,<br />

so vornehm zu tun. Man weiß ja, wie sie’s getrieben hat,<br />

damals, als sie blutjung das Kind bekam, dessen Vater nie<br />

ausfindig gemacht werden konnte. Wie mancher Bursche<br />

hat nicht bei sinkender Nacht den Weg zur Fuchsenbrücke<br />

genommen, und von da ist es bis zur Bargada nur ein Katzensprung.<br />

Und nun scheint die Tochter, Claretta, den<br />

gleichen Weg zu gehen wie die Mutter. Kaum fünfzehnjährig,<br />

hält sie es mit Amadeo. Seine Eltern gelten als die<br />

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frömmsten Leute weit und breit, auch als die geizigsten.<br />

Für ihren einzigen Sohn wird ihnen schwerlich ein Mädchen<br />

brav und reich genug sein.<br />

Schon jetzt zetert Amadeos Mutter, da habe sie sich totgerackert<br />

und alles vom Munde abgespart, damit der Sohn<br />

es einst gut habe, und nun wolle er ihr die Schmach antun<br />

und eine von der Bargada ins Haus bringen!

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