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Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt (Leseprobe)

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AUSSERDEM BEI PANINI ERHÄLTLICH<br />

K. J. PARKER: DIE BELAGERUNG<br />

Band 1: SECHZEHN WEGE, EINE BEFESTIGTE<br />

STADT ZU VERTEIDIGEN<br />

ISBN 978-3-8332-4105-5<br />

Band 2: WIE MAN EIN IMPERIUM REGIERT UND<br />

DAMIT DURCHKOMMT<br />

ISBN 978-3-8332-4183-3<br />

Band 3: EIN PRAKTISCHER RATGEBER<br />

ZUR EROBERUNG DER WELT<br />

ISBN 978-3-8332-4335-6<br />

Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter:<br />

paninishop.de/phantastik/


Ins Deutsche übertragen<br />

von Michaela Link


Bibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über hiip://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Copyright © 2023 by One Reluctant Lemming Company Ltd.<br />

All rights reserved.<br />

Cover design by Lauren Panepinto. Cover image by Shutterstock<br />

Cover © 2023 Hachette Book Group, Inc.<br />

Titel <strong>der</strong> englischen Originalausgabe: »A Practical Guide to Conquering the World«<br />

by K. J. Parker, published in Great Britain in November 2021 by Orbit<br />

an imprint of Little, Brown Book Group, London, UK.<br />

Deutsche Ausgabe 2023 Panini Verlags GmbH,<br />

Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Geschäftsführer: Hermann Paul<br />

Head of Editorial: Jo Löffler<br />

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)<br />

Presse & PR: Steffen Volkmer<br />

Übersetzung: Michaela Link<br />

Lektorat: Peter Thannisch<br />

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart<br />

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln<br />

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck<br />

Gedruckt in Deutschland<br />

YDPARKE003<br />

1. Auflage, März 2023,<br />

ISBN 978-3-8332-4335-6<br />

Auch als E-Book erhältlich:<br />

ISBN 978-3-7367-9811-3<br />

Findet uns im Netz:<br />

www.paninicomics.de<br />

PaniniComicsDE


Constantiae constanter


1. Kapitel<br />

Ich heiße Felix. Das bedeutet vom Glück begünstigt. So viel zum<br />

Thema Ironie.<br />

Dies ist die wahre Geschichte <strong>der</strong> beabsichtigten und unbeabsichtigten<br />

Auswirkungen meines Lebens; <strong>der</strong> schlimmen<br />

Dinge, die ich absichtlich getan habe, und <strong>der</strong> guten Dinge, die<br />

sich meinen Absichten zum Trotz ergeben haben.<br />

Bedauerlicherweise bin ich die Hauptfigur dieser Geschichte.<br />

Ich kann verstehen, warum alle hören wollen, was ich Euch<br />

erzählen werde – das Erstaunlichste, was zu unseren Lebzeiten,<br />

möglicherweise überhaupt jemals passiert ist, die größte<br />

Geschichte, die je erzählt wurde –, aber meine Meinung dazu?<br />

Ich sehe es an<strong>der</strong>s. Ich habe festgestellt, dass an<strong>der</strong>e Menschen<br />

mich zuerst ganz gern haben und mich danach noch für eine<br />

kurze Zeit ertragen können. Aber, wie es in <strong>der</strong> Medizin heißt:<br />

Die Dosis macht das Gift. Lei<strong>der</strong> gibt es diese Geschichte nicht<br />

ohne mich. Wenn Ihr das eine wollt, müsst Ihr das an<strong>der</strong>e mit in<br />

Kauf nehmen. Tut mir leid.<br />

Ich träumte von … nun, gewissen Dingen, als mich jemand<br />

wachrüttelte.<br />

Gerade aus dem Schlaf gerissen, war ich nicht eben in Hochform.<br />

Ich erblickte drei Soldaten in Rüstung und Uniform. Oh<br />

7


Gott, dachte ich, sie sind gekommen, um mich zu verhaften wegen<br />

des Verbrechens, das ich verübt habe. Dann fiel mir ein, dass das<br />

schon lange her war und ich dieses Vergehen weit entfernt unter<br />

einer an<strong>der</strong>en Gerichtsbarkeit begangen hatte.<br />

»Seid Ihr <strong>der</strong> Übersetzer?«<br />

Der Feldwebel sprach ein primitives Robur, vermutlich für<br />

den Fall, dass er den falschen Mann erwischt hatte.<br />

»Ja, <strong>der</strong> bin ich«, antwortete ich auf Echmen.<br />

»Es tut mir leid, Euch zu stören, Herr«, log er, »aber Ihr werdet<br />

gebraucht.«<br />

Irgendjemand hatte die Lampe angezündet. Ich schaute über<br />

den Kopf des Feldwebels hinweg aus dem Fenster. »Es ist mitten<br />

in <strong>der</strong> Nacht«, wandte ich ein. »Kann das nicht warten?«<br />

»Nein, Herr.«<br />

Die Echmen haben die diplomatische Immunität erfunden,<br />

daher mutmaßte ich, dass sie mich nicht töten würden, wenn<br />

ich mich weigerte. Aber sie würden auch nicht weggehen. »Na<br />

schön«, sagte ich. »Gebt mir nur ein paar Minuten, um mich<br />

anzuziehen, ja?«<br />

»Tut mir leid, Herr. Unser Befehl lautet, Euch sofort mitzunehmen.«<br />

Mir sank das Herz. »Gut, in Ordnung, aber würdet Ihr bitte<br />

draußen warten?«<br />

»Tut mir leid, Herr.«<br />

Er war wohl besser damit vertraut, Leute zu verhaften, als<br />

Diplomaten irgendwohin zu eskortieren. Ich sagte mir, dass es<br />

keine Rolle spiele, also schlug ich die Decke <strong>zur</strong>ück und stieg<br />

aus dem Bett. Ich dachte, er hätte mir den Rücken gekehrt, als<br />

ich mich in meine Hose zwängte, aber ein Keuchen verriet mir,<br />

dass dem nicht so war. Ich zog mein Hemd an und drehte mich<br />

zu ihm um.<br />

»Was, zum Teufel, ist mit Euch passiert?«, fragte er.<br />

»Ich wäre dann bereit, wenn Ihr es auch seid«, sagte ich.<br />

8


Die Echmen sind ein bemerkenswertes Volk, und eines <strong>der</strong> Gebiete,<br />

auf denen sie Herausragendes leisten, ist die Baukunst.<br />

Alles, was sie bauen, wird so groß, so kompliziert und so kunstvoll,<br />

wie sie es nur hinbekommen können, und <strong>der</strong> kaiserliche<br />

Palast ist wahrlich <strong>der</strong> höchste Ausdruck echmenischer Ästhetik.<br />

Es heißt, sie würden bauen, um die Götter zu beeindrucken;<br />

von den Portalen des Sonnenaufgangs aus betrachtet, von<br />

hun<strong>der</strong>t Meilen über unseren Köpfen her, ist <strong>der</strong> Palast daher<br />

eine überwältigende Kombination aus Geometrie und Kunst.<br />

Vom Erdboden aus gesehen ist er ein Kaninchenbau. Ich weiß<br />

mit Sicherheit, dass meine Dachkammer im unteren Westflügel<br />

von den Amtsräumen des diplomatischen Dienstes, wo ich<br />

den Großteil meiner Arbeit verrichtete, nur hun<strong>der</strong>t Meter Luftlinie<br />

entfernt liegt, gemessen mit göttlichen Maßstäben, doch<br />

tatsächlich sind es gute eintausendeinhun<strong>der</strong>tvierzig Schritt,<br />

die man <strong>zur</strong>ücklegen muss; treppauf, durch Korridore, treppab,<br />

durch weitere Korridore, Galerien und Säulengänge, auf dem<br />

gesamten Weg ununterbrochen begleitet von einer nicht abreißenden<br />

Folge <strong>der</strong> verwirrendsten und liebreizendsten Beispiele<br />

nicht gegenständlicher Kunst. Von meinem Quartier zu den Zellen<br />

unter <strong>der</strong> Justizabteilung ist <strong>der</strong> Weg auf dem Papier recht<br />

kurz, aber zu Fuß ungefähr doppelt so lang. Was meinem neuen<br />

Freund, dem Feldwebel, jede Menge Zeit gab, sich mit mir zu<br />

unterhalten, auch wenn ich das eigentlich gar nicht wollte.<br />

»Seid Ihr ein …?«, fragte er. »Ihr wisst schon.«<br />

Ja, ich wusste es schon. Aber ich missverstand ihn absichtlich.<br />

»<strong>Ein</strong> Übersetzer«, sagte ich. »Ja. Zu wem werde ich gebracht?«<br />

»Tut mir leid, Herr, Geheimsache.«<br />

»Ich frage ja nur«, fuhr ich fort, »denn wenn es um eine<br />

Sprache geht, die ich nicht spreche, verschwenden wir alle unsere<br />

Zeit.«<br />

»Dejauzi, Herr.«<br />

9


Na schön, Dejauzi beherrsche ich. Soweit bekannt, besteht<br />

gut ein Drittel <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> aus Dejauzi sprechenden Völkern, aber<br />

da sie friedlich sind, nichts besitzen, was irgendjemand haben<br />

will, und zu gerissen und zu bösartig, um sie als Arbeitskräfte<br />

zu nutzen, sind sie für die drei mächtigsten Staaten nur<br />

von geringem Interesse. Tatsächlich trifft keine dieser drei Behauptungen<br />

zu, aber das ist das, was alle glauben. Ich habe während<br />

meiner Rekonvaleszenz Dejauzi gelernt, denn es lag dort<br />

zufällig eine Grammatik dieser Sprache herum. Es ist eine <strong>der</strong><br />

einfachsten Sprachen auf <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> und kennt praktisch keine<br />

unregelmäßigen Verben.<br />

Nehmt bitte <strong>zur</strong> Kenntnis, dass ich das Wort Kerker nicht benutzt<br />

habe. Das wäre total irreführend. Die Zellen <strong>der</strong> Echmen,<br />

in denen ich noch nie zuvor gewesen war, entpuppten sich als<br />

typisch für sie: elegante, symmetrische, exquisit proportionierte<br />

Räume, die zufällig <strong>zur</strong> Aufbewahrung von Verbrechern genutzt<br />

werden. Den einzigen Unterschied zwischen <strong>der</strong> Zelle, in<br />

die man mich führte, und meinen eigenen Räumlichkeiten stellte<br />

wohl die Stahltür dar und die Tatsache, dass nur die Decke<br />

verziert war, und zwar mit einem verblüffend hübschen Mosaik.<br />

In <strong>der</strong> Zelle stand ein echmenischer Beamter mit einem Dokument<br />

in <strong>der</strong> Hand, und auf einer Art steinerner Bank saß eine<br />

Halbwüchsige in echmenischer Hoftracht, aber mit <strong>der</strong> unverkennbaren<br />

Frisur und Schminke <strong>der</strong> Dejauzida. Der Beamte<br />

musterte meinen Feldwebel mit einem Stirnrunzeln. »Ihr habt<br />

Euch Zeit gelassen«, bemerkte er.<br />

»Tut mir leid, Herr.« Er entschuldigte sich ziemlich oft, dieser<br />

Feldwebel, obwohl ich nicht glaube, dass es ihm ernst damit<br />

war.<br />

»Ist er das?«<br />

»Herr.«<br />

Der Beamte nickte, und <strong>der</strong> Feldwebel trat <strong>zur</strong>ück und stellte<br />

sich vor die Tür.<br />

10


»Tut mir leid, dass ich Euch aus dem Bett habe holen lassen«,<br />

sagte <strong>der</strong> Beamte, »aber unser Mann ist krank. Ihr sprecht<br />

Dejauzi.«<br />

»Ja«, bestätigte ich.<br />

»Guter Mann. Also, lest Ihr diesen Text auf Dejauzi vor, dann<br />

könnt Ihr gehen.«<br />

Er reichte mir das Dokument. Es war in diesem grässlichen<br />

juristischen Echmen geschrieben, auf dem sie für offiziellen<br />

Kram bestehen, auch wenn die Schriftzeichen im alltäglichen<br />

Gebrauch veraltet sind; tatsächlich muss man zusätzliche achttausend<br />

Schriftzeichen kennen, um solchen Dokumenten einen<br />

Sinn ab<strong>zur</strong>ingen. Glücklicherweise kenne ich sie.<br />

Ich sah das Mädchen an, das mich seinerseits jedoch nicht<br />

anschaute. Dann las ich ihr das Dokument vor, bei dem es sich<br />

um ihr Todesurteil handelte. Als ich fertig war, schaute sie auf<br />

und musterte mich finster.<br />

»Fragt sie, ob sie Euch verstanden hat«, verlangte <strong>der</strong> Beamte.<br />

»Habt Ihr das verstanden?«, fragte ich sie.<br />

»Verpisst Euch.«<br />

»Sie hat es verstanden.«<br />

Der Beamte nickte. »Fragt sie, ob sie von ihrem Recht Gebrauch<br />

machen will, <strong>Ein</strong>spruch einzulegen.«<br />

Also tat ich das.<br />

»Ihr könnt mich mal kreuzweise«, antwortete sie.<br />

»Im Moment nicht«, übersetzte ich.<br />

»Und sagt ihm, er kann mich ebenfalls mal«, fügte sie<br />

hinzu.<br />

»Aber sie behält sich das Recht vor, zu einem späteren Zeitpunkt<br />

<strong>Ein</strong>spruch einzulegen.«<br />

Der Beamte grunzte. »Dann sollte sie sich besser beeilen. Im<br />

Morgengrauen rollt ihr Kopf.«<br />

Ich drehte mich wie<strong>der</strong> zu ihr um. »Das Arschloch sagt, Ihr<br />

würdet …«<br />

11


»Ja, ich weiß. Ich habe ihn gehört.«<br />

»Ihr sprecht Echmen?«<br />

»Besser als Ihr, Blauhaut.«<br />

»Soll ich Euch einen Rechtsbeistand besorgen?«<br />

»Besorgt’s Euch selbst.«<br />

»Ah«, sagte ich, »ich wünschte, das wäre möglich. Es tut<br />

mir leid. Ich hoffe …« Ich versuchte, mich an das wenige zu erinnern,<br />

was ich über die Religion <strong>der</strong> Dejauzida wusste. »Möge<br />

<strong>der</strong> Urgroße über Euch wachen«, sagte ich.<br />

»Der Urgroße kann mich mal. Ich bin eine Hus.«<br />

Ich verneigte mich höflich, dann wandte ich mich wie<strong>der</strong><br />

an den Beamten. »Kann ich draußen ein Wort mit Euch sprechen?«<br />

Er wirkte überrascht, nickte jedoch. Der Feldwebel trat beiseite,<br />

um uns vorbeizulassen.<br />

»Was hat sie getan?«, fragte ich.<br />

»Gar nichts. Sie ist eine Geisel.«<br />

Ah. <strong>Ein</strong>e Geisel <strong>zur</strong> Gewährleistung guten Benehmens.<br />

Die Tochter irgendeines Anführers, bei den Echmen <strong>zur</strong>ückgelassen<br />

als Garantie für die <strong>Ein</strong>haltung eines Bündnisvertrages.<br />

Wenn <strong>der</strong> Vertrag gebrochen wird, wird die Geisel getötet.<br />

»Also haben die Hus den Vertrag …«<br />

»Die Dejauzida.«<br />

»Sie ist keine Dejauzi, sie ist eine Hus.«<br />

Er starrte mich an. »Seid Ihr Euch sicher?«<br />

»Das sagt sie jedenfalls. Außerdem hat sie eine blaue Lebenslocke<br />

in ihrem Haar, und die Lebenslocke <strong>der</strong> Dejauzida ist<br />

grün, und die Tätowierungen in ihrem Gesicht zeigen den doppelten<br />

Pfau, ein Symbol <strong>der</strong> Hus.«<br />

»Ihr seid Euch dessen sicher?«<br />

»Ja«, bestätigte ich. »Kein Dejauzi würde den doppelten Pfau<br />

tragen. Er ist tabu.«<br />

»Oh Himmelherrgott noch mal. Ihr seid Euch sicher?«<br />

12


»Ich habe ein Buch, das Ihr Euch ausborgen könnt, dort<br />

könnt Ihr es nachschlagen.«<br />

Er sagte mir nicht, was ich mit meinem Buch anstellen könne.<br />

Das brauchte er nicht. »Ihr kommt mit mir«, entschied er.<br />

»Wir müssen diese Sache klären.«<br />

»Moment mal«, wandte ich ein. »Ich bin kein Experte für<br />

Nomadenstämme, und ich glaube nicht, dass mein Botschafter<br />

möchte, dass ich mich in die Außenpolitik <strong>der</strong> Echmen einmische.«<br />

»Darüber hättet Ihr vielleicht nachdenken sollen, bevor Ihr<br />

Euer großes Maul aufgerissen habt«, antwortete er nicht ganz<br />

unberechtigterweise. »Kommt mit, auf uns wartet eine Menge<br />

Arbeit.«<br />

Es wurde eine lange Nacht. <strong>Ein</strong> halbes Dutzend Beamte von<br />

immer größerer Wichtigkeit musste aus dem Bett gerissen werden,<br />

dann musste man ihnen alles erklären, denn sie wie<strong>der</strong>um<br />

mussten Dokumente unterzeichnen und mit Siegeln versehen,<br />

und sie alle wollten wissen, was die Blauhaut mit dem Ganzen<br />

zu tun hatte. Der Stellvertretende Sowieso machte ein trauriges<br />

Gesicht und sagte, es sei eine furchtbare Schande, aber jetzt zu<br />

spät, in <strong>der</strong> Sache noch irgendetwas zu unternehmen. Woraufhin<br />

einer <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Beamten (inzwischen liefen wir hinter<br />

einer kleinen Armee übermüdeter Staatsdiener her, als würden<br />

wir Gänse zum Markt treiben) darauf hinwies, dass sie, wenn<br />

sie eine Geisel ihrer Verbündeten hinrichteten, alle tief in <strong>der</strong><br />

Scheiße steckten, und es stellte sich heraus, dass doch so gerade<br />

noch Zeit genug war, das womöglich abzuwenden. <strong>Ein</strong> Dokument<br />

über die Aussetzung <strong>der</strong> Hinrichtung wurde aufgesetzt<br />

und besiegelt, und sie brauchten jemanden, <strong>der</strong> ihr das Dokument<br />

übersetzte …<br />

»Ihr schon wie<strong>der</strong>«, bemerkte sie.<br />

»Es ist alles in Ordnung. Es lag ein Irrtum vor. Ihr werdet<br />

doch nicht sterben.«<br />

13


Sie warf mir einen Blick zu, den ich niemals vergessen werde.<br />

»Ist das Euer Ernst?«<br />

»Sie dachten, Ihr wäret eine Dejauzi. Ich habe ihnen erklärt,<br />

dass Ihr eine Hus seid. Ihr seid doch eine Hus, o<strong>der</strong>?«<br />

»Sie haben sich geirrt?«<br />

»Richtig, aber jetzt ist alles geklärt. Ihr seid doch eine Hus,<br />

nicht wahr?«<br />

»Natürlich bin ich eine verdammte Hus, was denkt Ihr, was<br />

das hier ist? Pickel? Sie haben mich in diese Zelle geworfen und<br />

mir gesagt, dass sie mich umbringen werden, und das ist alles<br />

ein Irrtum? Oh, zum …«<br />

»Aber jetzt ist alles in Ordnung«, unterbrach ich sie. »Es ist<br />

alles …«<br />

»Nein, das ist es verdammt noch mal nicht. Ich hatte eine<br />

Scheißangst. Ich habe die ganze Nacht hier gesessen und gedacht,<br />

das war’s, ich werde sterben, weil irgendein Idiot …« Tränen<br />

schnitten tiefe Rillen in ihre kreideweiße Schminke.<br />

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber alles ist nun geklärt, und<br />

sie werden Euch gehen lassen. Aber zuerst muss ich Euch das<br />

hier vorlesen, sonst ist die Sache nicht rechtskräftig.«<br />

»Ihr müsst was?«<br />

»Seid still«, bat ich, »und lasst mich Euch dieses Schreiben<br />

vorlesen. Dann könnt Ihr gehen.«<br />

Sie holte tief Luft. »Dann beeilt Euch.«<br />

Also las ich ihr das Dokument vor. »Habt Ihr es verstanden?«,<br />

fragte ich anschließend.<br />

»Natürlich habe ich es verstanden! Wofür haltet Ihr mich,<br />

für einen Dummkopf ?«<br />

»Ich muss Euch sagen hören, dass Ihr es verstanden habt, es<br />

ist eine erfor<strong>der</strong>liche Formalität.«<br />

»Besorgt’s Euch selbst!«<br />

»Das sagt Ihr immer wie<strong>der</strong>«, stellte ich fest. »Vielen Dank<br />

für Eure Geduld. Lebt wohl.«<br />

14


Ich wandte mich zum Gehen.<br />

»Übrigens«, sagte ich zu dem Beamten – dem ersten, <strong>der</strong><br />

diese ganze wun<strong>der</strong>volle Erfahrung mit mir geteilt hatte, »sie<br />

spricht Echmen und versteht jedes Wort, Ihr hättet mich also<br />

überhaupt nicht gebraucht.«<br />

Er wirkte leicht verblüfft. »Davon hat sie nichts gesagt.«<br />

»Habt Ihr sie denn danach gefragt?«, entgegnete ich und<br />

verließ die Zelle.<br />

Überflüssig zu sagen, dass ich mich auf dem Weg <strong>zur</strong>ück zu<br />

meiner Dachkammer hoffnungslos verirrte, meine große Geste<br />

sich also gegen mich kehrte und mir in den Hintern biss, so wie<br />

große Gesten das im Allgemeinen tun. Na wenn schon.<br />

Der Irrtum, <strong>der</strong> den Beamten unterlaufen war, war durchaus<br />

nachvollziehbar. Die Dejauzida und die Hus sehen einan<strong>der</strong><br />

ziemlich ähnlich, sprechen dieselbe Sprache und haben dieselben<br />

Vorfahren. Ansonsten aber sind sie völlig verschieden. Die<br />

Dejauzida huldigen dem Urgroßen, aber die Hus sind Feueranbeter<br />

wie die Echmen (obwohl ich den <strong>Ein</strong>druck habe, dass<br />

es sich dabei jeweils irgendwie um ein an<strong>der</strong>es Feuer handelt).<br />

Sie hassen einan<strong>der</strong> wie die Pest, genau wie auch die an<strong>der</strong>en<br />

etwa zwanzig völlig unterschiedlichen und eigenständigen Völker<br />

es tun, die so aussehen wie die Dejauzida und dieselbe Sprache<br />

sprechen. Was uns gemäß dem monumentalen Band Über<br />

die Wilden, unserem wichtigsten Nachschlagewerk im diplomatischen<br />

Dienst, nur recht sein kann; denn wenn es an<strong>der</strong>s wäre<br />

und sie sich alle wie eine große, glückliche Familie gut vertragen<br />

würden, statt einan<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> geringsten Provokation an<br />

die Kehle zu gehen, wären sie unaufhaltbar und eine echte und<br />

allgegenwärtige Gefahr für die Zivilisation.<br />

Es gibt verdammt viele von ihnen. Niemand weiß so recht,<br />

wie viele es tatsächlich sind, und sie selbst schon gar nicht. Sie<br />

leben in den Ödlän<strong>der</strong>n, die sich entlang <strong>der</strong> nördlichen Grenzen<br />

aller drei großen Reiche erstrecken, ein Gebiet, das so weit-<br />

15


läufig ist, dass auch diesbezüglich niemand weiß, wie weitläufig<br />

es wirklich ist. Sie lesen und schreiben nicht – wohlgemerkt,<br />

sie tun es einfach nicht, dahingestellt, ob sie es können o<strong>der</strong><br />

nicht. Es gibt alle möglichen Dinge, die wir tun und die sie nicht<br />

tun. Deshalb neigen wir dazu, sie als nur halb menschliche Barbaren<br />

anzusehen. Aber ihnen zufolge tun sie diese Dinge deshalb<br />

nicht, weil sie sie nicht tun wollen, und sie zeigen dann auf<br />

uns und sagen: Seht Euch an, was durch Lesen und Schreiben und<br />

das Leben in Städten aus Euch geworden ist! Damit wollen wir nichts<br />

zu tun haben. Nun, das ist auch ein Standpunkt.<br />

Die konkrete Folge davon ist jedoch: Wenn man etwas über<br />

sie erfahren will, ist man völlig auf die Aussagen von Außenstehenden<br />

angewiesen, von denen die meisten ihre eigenen Absichten<br />

verfolgen. Die Dejauzida statten uns keine Besuche ab,<br />

wenn sie es irgendwie vermeiden können, daher stammen alle<br />

Zeugnisse, die es über sie gibt, von diplomatischen Gesandtschaften<br />

– durchweg erfolglosen Gesandtschaften – und den<br />

wenigen geistesschwachen Händlern, die allen Warnungen<br />

zum Trotz glauben, ihnen etwas verkaufen zu können. Scheitern<br />

führt in <strong>der</strong> Regel nicht dazu, dass man denjenigen gegenüber<br />

wohlgesinnt ist, die einem die Pläne durchkreuzt haben.<br />

Und es ist leicht, seinen Mangel an Erfolg damit zu erklären,<br />

dass die Menschen, die nichts von diesen Plänen wissen wollten,<br />

ignorante Barbaren sind.<br />

Manche Menschen kommen hervorragend fast ohne Schlaf aus.<br />

Ich gehöre nicht dazu. Außerdem ergeht es mir mit dem Schlaf<br />

wie mit dem Geld: Beide sind für mich schwer zu finden. Als<br />

ich endlich in meine Mansarde <strong>zur</strong>ückkehrte (wofür ich nicht<br />

weniger als siebenundachtzig steinerne Stufen einer Wendeltreppe<br />

überwinden musste), wusste ich, dass es sinnlos war,<br />

mich noch mal ins Bett zu legen. Mir blieben nur wenige Stunden,<br />

bevor ich wie<strong>der</strong> zum Dienst antreten musste. (Die Ech-<br />

16


men haben solch wun<strong>der</strong>bare Wasseruhren.) Außerdem hatte<br />

mich diese Nacht mit ihrem endlosen Treppauf und Treppab in<br />

einen verschwitzten und undiplomatenhaft ungepflegten Zustand<br />

versetzt. Also stapfte ich die Treppe <strong>zur</strong> Zisterne hinunter<br />

und wusch mir den Schweiß vom Leib, dann ging ich wie<strong>der</strong><br />

hinauf, um in respektable Kleidung zu schlüpfen und mich anständig<br />

zu kämmen.<br />

Da ich noch ein wenig Zeit hatte, machte ich einen Umweg<br />

über die Schreibstube. Sie ist riesig. Früher einmal war <strong>der</strong><br />

Nordflügel des Palasts ein Kloster, in dem gut tausend Mönche<br />

für die Seelen toter Kaiser gebetet haben. Was jetzt <strong>der</strong> Raum<br />

<strong>der</strong> Schreiber ist, war früher <strong>der</strong> Schlafsaal <strong>der</strong> Mönche, und<br />

trotzdem leiden die Schreiber unter dem Platzmangel. Die Echmen<br />

haben das Schreiben erfunden, und sie haben eine große<br />

Vorliebe für geschriebene Dokumente.<br />

<strong>Ein</strong>er <strong>der</strong> über tausend Schreiber, die dort arbeiteten – nur<br />

ein einziger –, war ein Lystragoner, und wie es kam, dass er für<br />

das kaiserliche Sekretariat arbeitete, muss eine faszinierende<br />

Geschichte sein, nur ist es mir nie gelungen, sie aus ihm herauszukitzeln.<br />

Aber er und ich waren innerhalb <strong>der</strong> rangnie<strong>der</strong>en<br />

Verwaltungsebene in dem ganzen imposanten Komplex<br />

die <strong>Ein</strong>zigen, die Robur sprachen, daher hatten wir es uns angewöhnt,<br />

miteinan<strong>der</strong> zu reden.<br />

Die Arbeitsmoral in <strong>der</strong> Schreibstube ist nicht unerträglich<br />

hoch, daher hat niemand etwas dagegen, wenn Freunde vorbeikommen<br />

und eine Schale Tee trinken. Mein Freund freute sich,<br />

mich zu sehen, da keiner seiner echmenischen Schreiber mit<br />

ihm redete. Ich erzählte ihm von <strong>der</strong> amüsanten Verwechslung,<br />

die eine unschuldige Frau beinahe das Leben gekostet hatte.<br />

Vorsichtshalber fragte ich ihn, ob er vielleicht die Aufzeichnungen<br />

überprüfen und mir bestätigen könne, dass in den Büchern<br />

eine Geisel aus Hus aufgeführt war. Denn wenn nicht, hatte ich<br />

die Sache grandios vermasselt und würde meinem Botschafter<br />

17


das alles erklären müssen, bevor er von den Echmen davon erfuhr.<br />

Mein Freund verzog das Gesicht. »Wie heißt sie denn?«<br />

»Du weißt doch, wie’s damit ist.«<br />

»Nein, weiß ich nicht. Und ich kann die Akte nicht raussuchen,<br />

wenn du den Namen nicht kennst.«<br />

Ich erklärte es ihm: »Die Dejauzida, in diesem Fall<br />

einschließlich <strong>der</strong> Hus, haben alle möglichen merkwürdigen<br />

Tabus, was Namen betrifft. Man darf zum Beispiel nicht den<br />

Namen eines Menschen aussprechen, <strong>der</strong> gestorben ist, son<strong>der</strong>n<br />

muss stattdessen eine kunstvolle Umschreibung benutzen.<br />

Man darf auch niemanden nach seinem Namen fragen und<br />

niemandem den eigenen Namen verraten. Wenn man wirklich<br />

den Namen einer Person in Erfahrung bringen will, muss man<br />

einen seiner Familienangehörigen danach fragen (aber nicht<br />

irgendeinen Angehörigen; es gibt ein strenges Protokoll, das<br />

vom Familienstand und von <strong>der</strong> Stellung des Namensinhabers<br />

innerhalb <strong>der</strong> Familienhierarchie bestimmt wird). <strong>Ein</strong>e Prinzessin<br />

nach ihrem Namen zu fragen, würde eine Beleidigung<br />

darstellen, die sich nur mit Blut rächen ließe. Also habe ich<br />

nicht gefragt.«<br />

»Na schön«, antwortete mein Freund. »Nur, wie gesagt, dadurch<br />

könnte es schwierig werden.«<br />

»Denkst du wirklich, dass es hier im Moment mehr als eine<br />

Geisel <strong>der</strong> Hus gibt?«<br />

Er funkelte mich an. »Die Liste enthält keine Querverweise<br />

auf die einzelnen Nationalitäten«, erklärte er. »Ohne einen Namen<br />

kann ich dir nicht helfen, tut mir leid.«<br />

Ich zuckte mit den Schultern. »Egal«, murmelte ich. »Wenn<br />

ich mich geirrt habe, werde ich es bald genug erfahren, nämlich<br />

dann, wenn sie mich rauswerfen. Natürlich werde ich dann<br />

zu Fuß nach Hause gehen müssen, weil sie mir meinen Beför<strong>der</strong>ungspass<br />

für die Postkutsche entziehen werden, aber es sind<br />

18


ja nur ein paar Tausend Meilen, und diese Sandalen halten noch<br />

eine ganze Menge aus.«<br />

Er verdrehte die Augen. »Ich werde sehen, was ich tun<br />

kann«, versprach er.<br />

»Nur gut, dass du keine richtige Arbeit hast.«<br />

»Der Schlag soll dich treffen, Blauhaut.«<br />

Ich warf einen Blick auf die Wasseruhr. Mein Dienst hatte begonnen.<br />

Ich schenkte meinem Freund mein breitestes Lächeln<br />

und eilte zu unserer Abteilung im fünften Stock des Nordturms<br />

hinauf.<br />

Unser Bereich bestand aus dem Botschafter, seinem hohlköpfigen<br />

Neffen, dem hohlköpfigen Neffen irgendeiner an<strong>der</strong>en<br />

Person und mir. Nur gut, dass wir nie etwas zu tun hatten,<br />

sonst wäre es einfach nicht erledigt worden. Normalerweise<br />

tauchte <strong>der</strong> Botschafter erst mitten am Nachmittag auf, daher<br />

war ich ein wenig bestürzt, ihn am Schreibtisch sitzen zu sehen<br />

(wir hatten nur den einen), eine Pergamentrolle in den Händen.<br />

»Entschuldigt meine Verspätung«, sagte ich und hob an,<br />

ihm von meinem jüngsten Abenteuer zu erzählen.<br />

»Lest das«, unterbrach er mich und reichte mir das Pergament.<br />

Es war auf Sashan geschrieben. Später erzählte mir <strong>der</strong> Botschafter,<br />

sein sashanischer Kollege habe ihm das Pergament zu<br />

lesen gegeben, obwohl es streng genommen geheim sei und so<br />

weiter. Es war die Kopie eines Berichts <strong>der</strong> sashanischen Botschaft<br />

in Aelia – einer <strong>der</strong> Republiken <strong>der</strong> Milchgesichter am<br />

unteren Rand des Mittleren Meeres, zu <strong>der</strong>en <strong>Eroberung</strong> wir<br />

nie gekommen waren. In dem Dokument hieß es, dass eine bisher<br />

nicht identifizierte Armee die Garnison <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> Robur<br />

in einen Wald gelockt und dort ausgelöscht habe, sodass die<br />

Stadt selbst vollkommen schutzlos war. Wenn Ihr das hier lest,<br />

stand in dem Bericht, wird die Stadt gefallen sein. Außerdem hatte<br />

<strong>der</strong> sashanische Botschafter aus absolut verlässlicher Quel-<br />

19


le von einem unbekannten, aber extrem mächtigen Bündnis<br />

gegen die Robur erfahren, das die Provinzen unseres Reiches<br />

in Übersee in einem enormen Tempo eroberte und sich diese<br />

einverleibte. Das erklärte Ziel dieses Bündnisses war, die Robur<br />

bis auf den letzten Mann auszulöschen. Wenn es so weitermache,<br />

stand in dem Bericht, könne es nur eine Frage von Wochen<br />

sein, bis das Reich und damit das Volk <strong>der</strong> Robur nicht mehr<br />

existiere.<br />

Ich las das Datum am oberen Rand. Der Bericht war zwei<br />

Monate alt.<br />

Ich sah den Botschafter an. Sein Gesicht war ausdruckslos.<br />

»Das kann nicht wahr sein«, sagte ich.<br />

Er schaute zu mir auf. »Wann haben wir das letzte Mal etwas<br />

von daheim gehört?«, fragte er.<br />

»Vor ungefähr zwei Monaten. Aber das heißt nichts.«<br />

»Ich bekomme jede Woche eine Depesche«, erklärte er. »Jedenfalls<br />

sollte ich eine bekommen. Ich habe während des vergangenen<br />

Monats jeden Tag nach Hause geschrieben und gefragt,<br />

was, zum Teufel, da los sei.«<br />

»Die Stadt kann nicht fallen«, wandte ich ein.<br />

»Doch, kann sie, wenn niemand da ist, <strong>der</strong> sie verteidigt.«<br />

Ich besah mir den Bericht, konnte aber die Worte nicht erkennen.<br />

Ich hatte irgendetwas im Auge. »Es kann nicht wahr<br />

sein.«<br />

»Das habt Ihr bereits gesagt.«<br />

»Was sollen wir tun?«<br />

Er lachte. »Ich beantrage politisches Asyl. Doch wenn dieser<br />

Bericht wahr ist, glaube ich nicht, dass ich es bekommen werde.<br />

Ich an Eurer Stelle würde mich rarmachen. Geht so weit fort,<br />

wie Ihr nur könnt, und bleibt dort.« Er deutete ruckartig mit<br />

dem Kopf <strong>zur</strong> Tür, die das vor<strong>der</strong>e Amtszimmer mit dem Kabuff<br />

verband, das den Neffen als Arbeitsraum diente. »Die sind<br />

längst fort«, sagte er. »Verratet mir nicht, wo ihr hingeht, hab<br />

20


ich ihnen gesagt. Dann kann ich es auch niemand an<strong>der</strong>em verraten.«<br />

Ich starrte ihn an. »Wer sind diese Leute?«<br />

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht mehr als<br />

Ihr. Selbst die Sashan wissen nichts. Aber sie schenken dem Bericht<br />

Glauben. Das ist die Vorstellung des Verfassers von Fairness:<br />

uns einen Vorsprung zu verschaffen.«<br />

Ich legte das Pergament auf den Schreibtisch. »Wer hasst<br />

uns so sehr?«<br />

Das trug mir ein breites Grinsen ein. »Alle«, antwortete er.<br />

»Verfolgt Ihr denn nicht die aktuellen Nachrichten?«<br />

Ich lief die Treppe hinunter und durch die Flure <strong>zur</strong> Schreibstube.<br />

Mein Freund, <strong>der</strong> Lystragoner, saß an seinem Schreibtisch,<br />

hatte die Füße hochgelegt und las den Spiegel irdischer Leidenschaft.<br />

»Ihr Name«, sagte er und gähnte, »ist ›Sie Stampft Sie Platt‹.<br />

Und ja, sie ist tatsächlich eine Hus. Du schuldest mir was.«<br />

Ich erzählte ihm, was ich soeben erfahren hatte, und er starrte<br />

mich an. »Das ist unmöglich«, meinte er.<br />

»Du hast nichts gehört?«<br />

Er klappte das Buch zu und legte es beiseite. »Nein, aber ich<br />

hätte so o<strong>der</strong> so nichts davon erfahren.«<br />

»Kannst du dich mal umhören?«<br />

»Mit mir redet niemand, das weißt du doch. Aber dennoch«,<br />

fügte er hinzu und sah mich an, »ich werde sehen, was ich tun<br />

kann. Wo finde ich dich?«<br />

Gute Frage. Wie gesagt, die Echmen sind Feuer und Flamme<br />

für ihre diplomatische Immunität. Die Frage war nur: Kann eine<br />

Nation, die nicht länger existiert, Diplomaten haben? »Im Weißen<br />

Garten«, sagte ich. »Dort mag man mich.«<br />

Also ging ich zum Weißen Garten, obwohl ich mich nicht an<br />

meinen gewohnten Tisch setzte, son<strong>der</strong>n mich für eine Ecke ne-<br />

21


en dem Feuer entschied. Dort verbrachte ich die möglicherweise<br />

schlimmste Stunde meines Lebens. Und dann kamen die<br />

Soldaten mich holen.<br />

»Ist nichts Persönliches«, erklärte <strong>der</strong> Feldwebel, als er mir<br />

die Hände hinter dem Rücken fesselte. Nicht <strong>der</strong>selbe Feldwebel,<br />

was wahrscheinlich ganz gut war. »Versucht stillzuhalten,<br />

wir wollen keine gebrochenen Knochen.«<br />

Die Echmen legen ihren Gefangenen hölzerne Kragen um die<br />

Hälse. Diese Kragen haben ungefähr die Größe eines Infanterieschilds<br />

und ein Loch in <strong>der</strong> Mitte – für den Hals –, außerdem<br />

Scharniere und ein Vorhängeschloss. Der Kragen drückt sich<br />

einem direkt ins Schlüsselbein, und wenn man ihn trägt, kann<br />

man seine eigenen Füße nicht sehen. Wun<strong>der</strong>bar praktische Geschichte,<br />

wie alles, was die Echmen herstellen.<br />

Dieser Feldwebel war nicht zum Plau<strong>der</strong>n aufgelegt, wofür<br />

ich dankbar war.<br />

Der echmenische Beamte, dem ich schließlich vorgeführt<br />

wurde, war ein älterer Mann mit einem traurigen Gesicht. Ja,<br />

sagte er, soweit man wisse, entspräche <strong>der</strong> Bericht den Tatsachen.<br />

<strong>Ein</strong> echmenischer Beauftragter habe höchstpersönlich<br />

die Ruinen von fünf roburischen Städten an <strong>der</strong> Ostküste des<br />

Freundlichen Meeres gesehen, was so weit westlich lag, wie die<br />

Echmen zu gehen bereit gewesen waren, und seine Quellen würden<br />

den sashanischen Bericht in je<strong>der</strong> <strong>Ein</strong>zelheit bestätigen. Soweit<br />

es die Echmen betraf, existierten die Robur nicht mehr.<br />

»Abgesehen von Euch«, fügte er hinzu.<br />

Ich sah ihn an.<br />

»Euer Botschafter«, fuhr er fort, »hat politisches Asyl beantragt,<br />

das ihm zu gewähren wir uns jedoch außerstande sahen.<br />

Er hat sich das Leben genommen. Eure beiden Gesandtschaftskollegen<br />

aus Robur sind ebenfalls tot. Sie haben den<br />

Fehler begangen, sich auf <strong>der</strong> Straße blicken zu lassen. Ich vermute,<br />

die Neuigkeit dessen, was geschehen ist, hat die breite<br />

22


Öffentlichkeit erreicht, und die Robur …« Er bedachte mich<br />

mit einem bekümmerten Lächeln. »Sie waren bei unserem Volk<br />

noch nie sehr beliebt.«<br />

Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus.<br />

»Ich habe«, sprach er weiter, »ein offizielles Gesuch von<br />

einer <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Botschaften erhalten, in dem darum gebeten<br />

wird, Euch als Übersetzer in ihren Personalstab überführen<br />

zu lassen. Wenn Ihr den Posten akzeptiert, werdet Ihr natürlich<br />

volle diplomatische Privilegien genießen. Ich habe nicht<br />

die blasseste Ahnung, warum sie Euch wollen. Doch ich sollte<br />

Euch darauf hinweisen, dass Ihr ohne Euren diplomatischen<br />

Status als nicht registrierter Auslän<strong>der</strong> eingestuft werdet<br />

und nicht länger unter dem Schutz des Gesetzes steht.« Er<br />

hielt inne und warf mir die Art von Blick zu, die man wirklich<br />

nicht auf sich ziehen will, niemals. »Wollt Ihr die Stelle o<strong>der</strong><br />

nicht?«<br />

»Ich will sie.«<br />

Er nickte dem Feldwebel zu, <strong>der</strong> vortrat, den schrecklichen<br />

Kragen aufschloss und meine Hände losband. »In diesem Fall«,<br />

sagte <strong>der</strong> Beamte, »schlage ich vor, dass Ihr Euch bei Euren<br />

neuen Herren meldet, bevor sie es sich an<strong>der</strong>s überlegen.«<br />

»Selbstverständlich«, beteuerte ich. »Wer …?«<br />

Er sagte es mir.<br />

Verdammt, es wurde immer schlimmer.<br />

»Es gibt bei uns diese ausgesprochen blöde Tradition«, erklärte<br />

sie mir. »Wenn dir jemand das Leben rettet, gehört deine Seele<br />

für neun aufeinan<strong>der</strong>folgende Wie<strong>der</strong>geburten ihm, es sei<br />

denn, man kann ihn seinerseits retten. Ich persönlich halte das<br />

für Schwachsinn, aber man kann nie wissen.«<br />

Zumindest kannte ich ihren Namen, auch wenn es mehr<br />

gekostet hätte, als mein Leben wert war, ihn auszusprechen.<br />

»Danke«, murmelte ich.<br />

23


»Nicht <strong>der</strong> Rede wert. Ich denke, ich werde Euch meinem Onkel<br />

geben«, fuhr sie fort. »Er sammelt Seltenheiten und <strong>Ein</strong>zelstücke.<br />

Im Moment ist, soweit ich das einschätzen kann, ein Robur<br />

so ziemlich das Seltenste und <strong>Ein</strong>zigartigste, was man sich<br />

nur vorstellen kann.«<br />

Um nicht in einer <strong>Welt</strong> ohne Robur leben zu müssen, hatte<br />

mein Botschafter Selbstmord begangen. Er hatte Gift genommen,<br />

wie ich später erfuhr. Nicht irgendein Gift, son<strong>der</strong>n eins<br />

für echte Kenner. Es wird aus einer unglaublich raren und kostbaren<br />

exotischen Blume destilliert, und wenn man stirbt, ist<br />

man in Trance und hat die wun<strong>der</strong>schönsten und herrlichsten<br />

Visionen. Daher hat man das Gefühl, als würde man leibhaftig<br />

in den Himmel aufsteigen, begleitet vom Klang von Harfen und<br />

Trompeten. Mit dem Gehalt eines Übersetzers würde ich jedoch<br />

zehn Jahre brauchen, um genug Geld für eine Menge anzusparen,<br />

mit <strong>der</strong> man auch nur ein Huhn töten könnte.<br />

»Ich dachte, Ihr wollt mich als Übersetzer«, merkte ich an.<br />

Sie nickte. »Wie viele Sprachen sprecht Ihr?«<br />

»Ich beherrsche zwölf fließend«, berichtete ich ihr, »und<br />

kann mich in neun weiteren einigermaßen <strong>zur</strong>echtfinden.«<br />

Ihre Augen weiteten sich. »Um Himmels willen, wie viele<br />

Sprachen gibt es denn?«<br />

»Die offizielle Zahl liegt bei sechsundsiebzig«, antwortete<br />

ich, »aber ich glaube, dass es viel mehr sind.«<br />

»Und Ihr beherrscht einundzwanzig davon. Das ist …«<br />

»Nun, jetzt sind es natürlich nur noch zwanzig. Ich nehme<br />

nicht an, dass Robur noch länger zählt.«<br />

Das war mir irgendwie herausgerutscht und trug mir einen<br />

finsteren Blick ein.<br />

Sie war klein, selbst nach dejauzidischen Maßstäben, und<br />

nicht direkt fett, son<strong>der</strong>n eher vierschrötig und untersetzt, mit<br />

einem kantigen Gesicht und einer flachen, breiten Nase. Zudem<br />

hatte sie kräftige Hände, beinahe wie die eines Mannes, und wie<br />

24


alle Dejauzida jeden Quadratzentimeter entblößter Haut mit<br />

schillerndem, weißem Zeug beschmiert (hauptsächlich Kreidestaub<br />

und Schweineschmalz mit an<strong>der</strong>en Kleinigkeiten darin,<br />

damit es nicht rissig wurde und abblätterte). Das Haar trug sie<br />

zu einem Knoten auf dem Kopf frisiert, und es war in einem fast<br />

an Lavendel erinnernden Purpurblau gefärbt. Die Pfauen reichten<br />

von direkt unter ihren Augen bis hinab zu ihrem Unterkiefer.<br />

Wir nennen diese Bil<strong>der</strong> Tätowierungen, aber in Wirklichkeit<br />

sind es Narben, eingeritzt mit dem Splitter eines scharfen<br />

Feuersteins. Das macht man bei ihnen ungefähr im Alter von<br />

zwölf Jahren. Das Narbengewebe wird mit Schminke in fünf<br />

Farbtönen nachgezeichnet, jeden Morgen aufs Neue. Dazu benutzt<br />

man eine Wasserschale als Spiegel. Das Dejauzi kennt übrigens<br />

vierzehn Synonyme für gut aussehend, aber kein einziges<br />

Wort, das hübsch bedeutet. Sie war zwischen zwölf und fünfzehn.<br />

Entschuldigt, ich bin ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum<br />

geht, das Alter von Frauen zu schätzen.<br />

»Unsere Verhältnisse sind ein wenig beengt«, sagte sie, »daher<br />

werdet Ihr hier schlafen. Das wird Euch nichts ausmachen.«<br />

<strong>Ein</strong>e Feststellung, keine Frage. »Ich weiß, es ist nicht das, woran<br />

Ihr gewöhnt seid, aber das kann ich nicht än<strong>der</strong>n.«<br />

Es stand kein Stuhl im Raum; Nomaden sitzen auf dem Boden.<br />

Der hier war aus wun<strong>der</strong>baren echmenischen Fliesen in allen<br />

Regenbogenfarben gefertigt, härter als Granit. »Ich komme<br />

schon <strong>zur</strong>echt«, sagte ich.<br />

In jener Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Zum Teil, weil Ihre<br />

Majestät im Zimmer nebenan lag und schnarchte, dass es sich<br />

anhörte, als würde jemand Schweine schlachten, und zum Teil,<br />

weil mir so manches durch den Kopf ging. Der Raum war fensterlos<br />

und wurde nur von einer kleinen Tonlampe notdürftig erhellt,<br />

die aber schon bald erlosch. Da sie nach irgendeiner Art<br />

von Talg gestunken hatte, störte mich das nicht weiter.<br />

25


Ich werde Euch einen Bericht über meinen inneren Aufruhr<br />

und meine Gefühlsqualen ersparen, obwohl ich mich, um Euch<br />

gegenüber ehrlich zu sein, immer noch in <strong>der</strong> Phase befand, in<br />

<strong>der</strong> man noch gar nichts spürt, als habe man gerade einen Tritt<br />

gegen den Kopf erhalten. Ich versuchte, eine Liste all <strong>der</strong> Dinge<br />

zu erstellen, die ich hatte tun wollen, wenn ich aus dem Dienst<br />

ausschied und nach Hause ging, was aber ja nicht mehr passieren<br />

würde. Manches davon wäre gut gewesen, wenn auch nicht<br />

alles. Nun würde ich dieses und jenes nie tun können und diesen<br />

und jenen nie wie<strong>der</strong>sehen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite musste ich<br />

dieses und jenes nie tun und diesen und jenen nie mehr wie<strong>der</strong>sehen.<br />

Ich erinnere mich, vom Boden aufgestanden zu sein und<br />

mich aufrecht hingestellt zu haben, die Schultern nach hinten,<br />

den Kopf gerade, das Kinn nach unten – wie <strong>der</strong> Exerziermeister<br />

es uns beigebracht hatte. Ich sagte mir, dass ich immer noch<br />

<strong>der</strong>selbe war, von nun an aber alles an<strong>der</strong>e vollkommen verän<strong>der</strong>t<br />

sein würde. Es kam mir in den Sinn, dass diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />

– die für alles galten, nur nicht für mich – mir gewiss<br />

Probleme bereiten würden. Es wäre also das Logischste gewesen,<br />

wenn ich mich ebenfalls verän<strong>der</strong>n würde. Wie genau? Un<strong>zur</strong>eichende<br />

Informationen für eine fundierte Entscheidung.<br />

Der Botschafter hatte sich lieber das Leben genommen, als die<br />

Demütigung zu ertragen, jemand an<strong>der</strong>er sein zu müssen, und<br />

ich konnte eine gewisse Berechtigung darin erkennen. An<strong>der</strong>erseits<br />

gleicht <strong>der</strong> Tod nicht dem letzten Schiff, das im Herbst gen<br />

Osten fährt. Wenn man es verpasst, sitzt man mindestens drei<br />

Monate fest, bis das Wetter wie<strong>der</strong> besser wird. Der Tod aber<br />

ist bereit, zu warten. Er ist immer für einen da, wie die eigene<br />

Mutter.<br />

Von Natur aus bin ich ein relativ fröhlicher Mensch. Unbekümmertheit<br />

ist mir angeboren. Ich finde gern in allem das Komische,<br />

wie ein Minenbesitzer, <strong>der</strong> einen ganzen Berg abträgt,<br />

um eine einzige Unze reinen Kupfers zu gewinnen. In Blemya,<br />

26


heißt es, gebe es winzig kleine Vögel, die sich durchs Leben<br />

schlagen, indem sie Fleischfasern aus den klaffenden Mäulern<br />

von Krokodilen picken, und mir scheint, ich bin wahrscheinlich<br />

einer davon. Die Krokodile repräsentieren hierbei das Leben.<br />

Ich bin stets bereit, es mit <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> aufzunehmen – zwar<br />

könnte sie mir jeden Moment den Kopf abreißen, aber das ist<br />

ein Risiko, das man eingehen muss –, um ein klitzekleines Fetzchen<br />

von irgendetwas zu ergattern, das zu haben sich lohnt. Die<br />

Alternative wäre, mich zu einem Ball zusammen<strong>zur</strong>ollen und<br />

nie wie<strong>der</strong> ein Wort zu sprechen. Das hat seinen Reiz, glaubt<br />

mir, aber ich bin noch nicht ganz so weit. Vielleicht morgen.<br />

Und dass das Leben ein Spaß ist, ein absolutes Vergnügen,<br />

steht sowieso fest. Was heißen soll, dass das Leben wie ein Stein<br />

ist, in dem die A<strong>der</strong>n des Humors tief im Innern verlaufen. Ich<br />

rede über die Art von Humor, wenn jemand hinfällt o<strong>der</strong> von<br />

irgendetwas getroffen wird o<strong>der</strong> einen Skorpion in seinem Nudelgericht<br />

findet, also das, was wir alle zum Schreien komisch<br />

finden. Der mit Humor durchzogene Quarz ist das Fundament<br />

unserer Erfahrung, auf dem wir unsere Häuser und Städte<br />

bauen, wohl wissend, dass <strong>der</strong> Boden unter unseren Füßen<br />

von zwerchfellerschütternden Möglichkeiten durchsetzt ist,<br />

mit denen wir an<strong>der</strong>e Menschen belustigen können – wie ein<br />

Schiffsrumpf, <strong>der</strong> von Schiffsbohrwürmern befallen ist. <strong>Ein</strong>e<br />

Komödie für Beobachter, eine Tragödie für die Betroffenen.<br />

Ich selbst betrachte mich als Beobachter. Ich fliege über mein<br />

Leben hinweg wie ein Zugvogel, und ich spiele immer nur um<br />

Bohnen o<strong>der</strong> Spielsteine, nie um echtes Geld. Ich bin ein akkreditierter<br />

Diplomat meines ganz eigenen Landes und erstatte <strong>der</strong><br />

Unendlichkeit Bericht. Meine Botschaft ist ein winziges Fleckchen<br />

Heimat inmitten <strong>der</strong> fremden Nation, in <strong>der</strong> ich zufällig<br />

geboren wurde und mein ganzes Leben verbracht habe.<br />

Zum Teufel damit! Sie können einem nicht wehtun, wenn es<br />

einen nicht juckt, und so ist es bei mir.<br />

27


Schöne Worte, die man meiner Mutter zufolge nicht essen<br />

kann. In <strong>der</strong> einen Waagschale war alles, was ich je gekannt hatte,<br />

verloren gegangen und zerstört worden, und ich war möglicherweise<br />

<strong>der</strong> einzige dunkelhäutige Mensch, <strong>der</strong> noch auf<br />

dem Antlitz <strong>der</strong> Erde übrig war. In <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Waagschale lagen<br />

ein neues Leben, schillernde neue Möglichkeiten, eine Anstellung<br />

(niemand hatte etwas von Bezahlung gesagt, aber treiben<br />

wir es nicht auf die Spitze) und eine mächtige Freundin am<br />

kaiserlichen Hof des Landes, das vermutlich in Zukunft das<br />

meine sein würde. Wenn man sich mit Glück und Unglück treffen<br />

kann, sagt Saloninus in den Balladen, solle man diese beiden<br />

Hochstapler gleichbehandeln. Unglück in die eine Waagschale,<br />

Glück in die an<strong>der</strong>e, und das Stückchen Schnur, an dem die<br />

Waage baumelte, wurde bei mir von den pummeligen Fingern<br />

einer Vierzehnjährigen gehalten, die Pfaue über das ganze Gesicht<br />

tätowiert trug. Das brachte doch sogar die Hühner zum<br />

Lachen.<br />

Ich sage nicht, was ich denke. Ich übersetze, was an<strong>der</strong>e Leute<br />

sagen. Das ist meine Aufgabe. Was ganz gut so ist – manchmal.<br />

28


2. Kapitel<br />

Die Echmen, mögen sie gesegnet sein, sind ein Volk von Frühaufstehern.<br />

Sie beginnen den Tag mit dem fröhlichen Gehämmer<br />

auf Gongs und dem schallenden Gelächter riesiger Glocken,<br />

die die Gläubigen zum Gebet rufen. Zumindest tun sie das<br />

in den Städten. In den ländlichen Gebieten ist es wahrscheinlich<br />

an<strong>der</strong>s: Das Oberhaupt <strong>der</strong> Familie stolpert in pechschwarzer<br />

Dunkelheit aus dem Bett und lässt eine Kuhglocke schwächlich<br />

scheppern o<strong>der</strong> schlägt auf einen Blechteller. Keine Ahnung.<br />

Aber überall, wo mehr als ein Dutzend Häuser stehen, beginnt<br />

<strong>der</strong> Tag mit dem abscheulichsten Lärm, genug, dass man Zahnweh<br />

davon bekommt.<br />

Ausländischen Diplomaten wird offiziell nicht abverlangt,<br />

am Morgengottesdienst teilzunehmen, genau wie es kein Gesetz<br />

gibt, das einem ausdrücklich das Furzen verbietet, wenn<br />

man bei einem Staatsbankett das Dankgebet spricht. Seit drei<br />

Jahren hatte ich mich jeden weit vor dem Sonnenaufgang beginnenden<br />

Morgen in meine Klei<strong>der</strong> gezwängt und war durch<br />

die Tür hinaus <strong>zur</strong> Kapelle gestolpert. Der Botschafter, er ruhe<br />

in Frieden, hatte immer schon auf unserer Bank gesessen, wenn<br />

ich dort ankam, tadellos gekleidet, mit geradem Rücken und<br />

weit geöffneten Augen im Tiefschlaf. Solch ein Maß an Kultiviertheit<br />

hatte ich selbst niemals erlangen können. Die Neffen<br />

29


hingegen hatten in sich zusammengesackt dagehockt wie zwei<br />

Haufen schmutziger Wäsche, aus <strong>der</strong> man versäumt hatte, den<br />

Inhalt zu entfernen.<br />

Um ein Haar wäre ich auf das zugegangen, was früher »unsere<br />

Bank« gewesen war, dann aber kam mir <strong>der</strong> Gedanke, dass<br />

ich nicht wusste, welche die Bank <strong>der</strong> Hus war. Aber, überlegte<br />

ich, eine Reihe von Menschen mit kreideweißen Gesichtern voller<br />

Pfauentätowierungen würde kaum zu übersehen sein. Und<br />

ich hatte recht.<br />

Es waren insgesamt neun, und sie alle saßen vollkommen<br />

reglos und mit fest geschlossenen Augen da. Später fand ich<br />

heraus, dass sie dies taten, um spirituelle Kontamination zu<br />

vermeiden. Wenn sie die abstoßenden Götzen und die wi<strong>der</strong>wärtigen<br />

Priester in ihren grässlichen Gewän<strong>der</strong>n nicht sahen,<br />

konnten sie auch nicht von ihnen besudelt werden. Ich ließ<br />

mich am Rand <strong>der</strong> Bank neben einem fetten Mann nie<strong>der</strong>. Falls<br />

er mich bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.<br />

Ich mag die Liturgie <strong>der</strong> Echmen tatsächlich ganz gern. Die<br />

Musik ist langsam und beruhigend. Die gesungenen Gebete<br />

sind wirklich ziemlich schön, wenn man innehält, um auf die<br />

Worte zu lauschen, und die theologische Botschaft ist so lasch<br />

und vage, dass man sich kaum beleidigt fühlen kann, selbst<br />

wenn man ein fanatischer Eiferer ist. Man braucht kein Wort zu<br />

sagen, bis auf »So sei es« am Ende <strong>der</strong> Absätze.<br />

Natürlich sind auch die Kunstwerke an den Wänden von betören<strong>der</strong><br />

Schönheit.<br />

Die Morgengebete dauern gut zwei Stunden. Wenn man<br />

nichts Dringendes vorhat – und kein rangnie<strong>der</strong>er diplomatischer<br />

Attaché hat jemals etwas Dringendes vor –, ist es eine<br />

durchaus angenehme Art, sich die Zeit zu vertreiben.<br />

Meine Nachbarn (meine neuen Landsleute, Gott steh mir<br />

bei) schienen es aber nicht im Mindesten zu genießen. Es zeugt<br />

von sehr schlechten Manieren, sich während des Gottesdienstes<br />

30


umzusehen. Eigentlich soll man dasitzen und den Blick entwe<strong>der</strong><br />

fest auf die Altarflamme gerichtet halten o<strong>der</strong> auf das Gesicht<br />

des Priesters, und das vom Moment <strong>der</strong> Ankunft bis zum<br />

Aufbruch. Daher konnte ich nicht sehen, was sie taten, aber sobald<br />

<strong>der</strong> Priester das <strong>Ein</strong>führungsgebet rezitierte, begann <strong>der</strong><br />

fette Mann neben mir zu summen. Ich glaube nicht, dass es eine<br />

Melodie war o<strong>der</strong> auch nur <strong>der</strong> Versuch einer solchen. Es war<br />

einfach ein Laut, mit dem er verhin<strong>der</strong>n wollte, dass er hörte,<br />

was <strong>der</strong> Priester sagte. Wenn im Gottesdienst eine Pause entstand,<br />

hörte <strong>der</strong> fette Mann auf zu summen. Wenn <strong>der</strong> Priester<br />

wie<strong>der</strong> anfing, fing auch er an.<br />

Nicht gut, dachte ich. Die Echmen sind vom Kopf bis zu den<br />

Zehen kultiviert, künstlerisch veranlagt, intellektuell, spirituell<br />

und höflich und einen ganzen Haufen an<strong>der</strong>er guter Dinge. Umgänglich<br />

sind sie allerdings nicht. Ja, diplomatische Immunität,<br />

die haben sie erfunden, und sie halten sich sowohl an den Geist<br />

des Gesetzes wie auch an dessen Worte, wann immer es opportun<br />

ist, aber es gibt Grenzen. <strong>Ein</strong> fetter, kreidegesichtiger Auslän<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> absichtlich das göttliche Wort mit schrägen Bienenimitationen<br />

übertönt, musste diesen Grenzen schon ziemlich nahekommen.<br />

Und ich saß neben ihm. Am liebsten wäre ich aufgestanden<br />

und hätte mir einen an<strong>der</strong>en Platz gesucht, wäre da nicht die<br />

unangenehme Erkenntnis gewesen, dass diese Menschen – diese<br />

Witzfiguren – alles waren, was zwischen mir und meinem Tod<br />

mittels eines Hagels von Steinen und Ziegeln stand.<br />

Ich bin einmal zufällig von einem Stein am Kopf getroffen<br />

worden. Damals war ich die Straße entlanggegangen, und<br />

ein Kutschpferd hatte zufällig mit seinen Hufen einen losen<br />

Pflasterstein durch die Luft katapultiert, mir mitten zwischen<br />

die Augen. Ich erinnere mich bis auf den heutigen Tag an den<br />

Schmerz, eine unerträgliche Qual, tief im Knochen. <strong>Ein</strong> Tod<br />

durch Steinigung würde wahrscheinlich schlimmer sein. Ich<br />

blieb, wo ich war, und versuchte, unsichtbar zu sein.<br />

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