Vorschau FOCUS MONEY 12/2023
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E-PAPER LESEN:
moneyeditorial<br />
EDITORIAL<br />
Schulden und Schabernack<br />
aus Brüssel<br />
GEORG MECK<br />
Chefredakteur<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong><br />
von der EU-Bürokratie sind wir manchen übergriffigen Unsinn gewohnt, die<br />
systematische, sich seit Jahren ziehende Demontage des Euro-Stabilitätspakts<br />
setzt dem Ganzen die Krone auf. Wir erinnern uns: Der Vertrag von Maastricht<br />
war das Versprechen an die Deutschen, der Euro werde so stark wie die<br />
Deutsche Mark, damit sie auf ihre geliebte Währung verzichten, ohne vorher<br />
darüber abstimmen zu dürfen. Wer in den Euro-Club wollte, so die hehre Idee,<br />
hatte sich an die Maastricht-Vorgaben zu halten; auch die Staaten, denen ein<br />
laxer Umgang mit den Staatsfinanzen nachgesagt wurde. Dazu setzte man<br />
klare, einheitliche Standards samt klaren Strafen im Fall des Verstoßes:<br />
maximal drei Prozent Haushaltsdefizit, 60 Prozent Schuldenobergrenze.<br />
Inzwischen sind längst die Historiker damit beschäftigt nachzuzeichnen,<br />
wann zum ersten Mal im Geiste und wann im Wort gegen den Pakt verstoßen<br />
wurde.<br />
Diese traurige Geschichte mündet nun endgültig in einer Farce. Die EU-<br />
Kommission verkündet selbstherrlich das Ende der bisherigen Regeln, ohne<br />
dass von den Mitgliedsstaaten eine Reform des Maastricht-Pakts beschlossen<br />
worden wäre. Wären sie in Brüssel ehrlich, würden sie zugeben: „Finanzielle<br />
Seriosität – uns doch egal. Nach uns die Sintflut.“ Zu dem Eingeständnis<br />
fehlt den EU-Technokraten freilich die Traute. Also verstecken sie sich hinter<br />
wohlklingend-wolkigen Vokabeln. Digitale Transformation und Klimaschutz<br />
werden bemüht als Vorwand für liederliches Wirtschaften, um den Maastricht-Pakt<br />
endgültig zu Grabe zu tragen. Die Mitglieder des Euro-Clubs müssen<br />
sich künftig nicht mehr auf gemeinsame Standards verpflichten. Jedes<br />
Land erhält willkürliche, der jeweiligen „Leistungsfähigkeit“ entsprechende<br />
Vorgaben und macht dann halt mal mehr und mal noch mehr Schulden. Eine<br />
Begründung dafür ist noch jeder Regierung eingefallen, wenn es dem eigenen<br />
Machterhalt dient, zumal die Rechnung an andere geht. Die Gemeinschaft<br />
leidet (und zahlt im Zweifel) mit, aber hey: So läuft Europa.<br />
Noch sind die irrwitzigen Ideen der EU-Kommission nicht in Paragrafen<br />
gegossen, noch könnte die Bundesregierung also versuchen,<br />
den Schabernack zu stoppen. Beliebtheitspreise in Brüssel sind<br />
dafür nicht zu gewinnen, das ist aber auch nicht ihr Auftrag.<br />
Im Amtseid haben die Minister geschworen, Schaden vom<br />
deutschen Volk abzuwenden. Jetzt bietet sich die Gelegenheit<br />
dafür.<br />
Herzlich Ihr<br />
In eigener Sache:<br />
Lesen Sie <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> pünktlich<br />
als digitale Variante<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Die Tarifverhandlungen für rund 160 000 Beschäftigte der Deutschen<br />
Post sind im Februar gescheitert. Der Tarifstreit eskaliert: In<br />
der Urabstimmung, die bis 8. März lief, entschieden sich die Beschäftigten<br />
mit großer Mehrheit für einen unbefristeten Streik. Der Streik wird<br />
aller Voraussicht nach erhebliche Auswirkungen auf den Brief- und Paketversand<br />
haben und damit auch auf den Versand unseres Magazins.<br />
So treibt uns die Sorge um, dass einzelne Ausgaben von <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong><br />
aufgrund eines ausgedehnten Streiks nicht oder nicht rechtzeitig zugestellt<br />
werden könnten. Dies ist für Sie als Leser wie für uns eine nicht zufriedenstellende<br />
Situation. Die Lösung ist die Internet-Seite<br />
https://zeitschriften.burda.com/infoservice/<br />
Im Fall einer Nichtzustellung möchten wir Sie so schnellstmöglich und<br />
rechtssicher per E-Mail informieren können und Ihnen mitteilen, wie Sie bequem<br />
auf eine digitale Version des betroffenen Heftes zugreifen. Denn eins ist uns<br />
wichtig: Ihre Zufriedenheit und Ihr Lesegenuss mit <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong>.<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />
Foto: F. Röth 3
moneyinhalt<br />
15. MÄRZ <strong>2023</strong> www.money.de<br />
<strong>12</strong><br />
Da passt was nicht<br />
Die Zinsen steigen, die Aktienkurse<br />
auch – nur eine von vielen Ungereimtheiten<br />
auf den Märkten. Was Anleger<br />
wissen müssen<br />
moneykompakt<br />
6 Wirecard: EY muss die Akten<br />
herausrücken, ein Hoffnungsschimmer<br />
für Anleger<br />
7 Mikas Markt-Monitor:<br />
Wachsende Probleme bei<br />
US-Banken<br />
7 Hit & Shit: Conti & Vonovia<br />
8 Zinsradar<br />
8 Investment-Ampel: Überblick<br />
über die Asset-Klassen<br />
9 Das kaufe ich jetzt:<br />
Prysmian<br />
42<br />
Mehr als ein<br />
alter Knochen<br />
Das Motorola International<br />
3200 war 1992 das erste<br />
digitale GSM-Handy.<br />
Warum der Mobiltelefon-<br />
Pionier Aktionäre noch<br />
immer erfreut<br />
9 Chart der Woche: Handel mit<br />
Saudi-Arabien<br />
9 Adidas: Toxische Überbleibsel der<br />
Kanye-West-Kooperation<br />
10 Deutsche Immobilien: Gefahr für<br />
die Weltwirtschaft?<br />
10 Wette der Woche: McEwen Mining<br />
11 Kryptowährungen: Die Auswirkungen<br />
von Bitcoin-Verlusten auf<br />
Dollar und Aktienmarkt<br />
98 Andis Börsenbarometer: Die Gefahr<br />
der neuen Intraday-Optionen<br />
moneytitel<br />
<strong>12</strong> Zinserhöhungen: Wenn Märkte,<br />
Geldpolitik und die wirtschaftliche<br />
Entwicklung nicht zusammenpassen,<br />
sollten Anleger aufhorchen<br />
16 Burggraben-Aktien: Diese Titel<br />
bieten Schutz und Rendite in<br />
jedem Umfeld<br />
20 Smallcaps: Kleine Firmen profitieren<br />
von steigenden Zinsen<br />
22 Anleihen: Die besten Fonds und<br />
ETFs für das Comeback der<br />
Zinspapiere<br />
25 Derivate: Strukturierte Anleihen<br />
statt Festgeld<br />
28 Immobilien: Die Bauzinsen<br />
sollten langsam zurückgehen<br />
30 Interview: Mirjam Mohr, Privatkunden-Vorständin<br />
bei Interhyp,<br />
zu den Perspektiven am Immobilienmarkt<br />
32 „The Economist“: Der US-Häusermarkt<br />
ist ein Frühindikator für die<br />
Folgen steigender Zinsen<br />
moneymarkets<br />
34 Asset-Manager: Nach einem<br />
goldenen Jahrzehnt zeigt sich,<br />
welche großen Vermögensverwalter<br />
krisenfest sind<br />
36 Interview: Nils Bolmstrand von<br />
Nordea Asset Management über<br />
die Vorteile nordischer Länder<br />
38 Forensik: Das Einsatzspektrum<br />
von Genanalysen wird erheblich<br />
größer. Das schafft neue Märkte<br />
42 Motorola: Auch zum 40. Geburtstag<br />
des Handys lohnt ein Blick auf<br />
den Mobiltelefon-Pionier<br />
46 Versorger: Welche Stromerzeuger<br />
bei regenerativer Energie die<br />
Nase vorn haben<br />
49 Klartext: von Sarna Röser<br />
50 Kaffee: Immer mehr Chinesen<br />
fahren auf den Muntermacher ab<br />
58 Chartsignal: Spaniens Ibex-35<br />
58 Börsenwissen: Warum Volatilität<br />
nicht nur Risiko bedeutet<br />
4 Titelfoto: iStock<br />
Inhalt: Illustrationen: Adobe Stock, iStockFotos: Adobe Stock, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>
56<br />
„Uns droht ein heftiger<br />
Generationenkonflikt“<br />
Unser<br />
zuverlässiges<br />
Team steht<br />
Ihnen immer<br />
zur Seite.<br />
BERND RAFFELHÜSCHEN,<br />
PROFESSOR FÜR FINANZWISSENSCHAFTEN<br />
59 Musterdepots: Die besten<br />
Börsenmonate stehen bevor<br />
60 Russische Wertpapiere: Wenig<br />
Hoffnung für Anleger<br />
moneydigital<br />
53 Highlights: <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> talks<br />
über den Schweizer Aktienmarkt;<br />
Nervosität an den Märkten bei<br />
Mission Money; Herausforderungen<br />
für Lottomillionäre bei den<br />
Kleingeldhelden<br />
54 Aktienanalyse: Merck<br />
56 Mission-Interview: Finanzwissenschaftler<br />
Bernd Raffelhüschen<br />
über die Zukunft des Sozialstaats<br />
dswanlegerschutz<br />
62 Venture-Capital: Die Anfänge<br />
der Start-up-Finanzierung in<br />
Europa vor 50 Jahren<br />
moneyservice<br />
64 Marktplatz: Zigarre des Monats,<br />
Klangkörper der Extraklasse und<br />
Urlaub in Osaka<br />
66 Girokonten: Welche Banken die<br />
besten Konditionen bieten<br />
74 Aufsteiger des Jahres: Diese<br />
204 Unternehmen kommen bei<br />
den Deutschen besonders gut an<br />
moneyanalyse<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />
81 Fonds<br />
82 Deutsche Aktien<br />
90 Internationale Aktien<br />
96 ETFs<br />
97 Zertifikate<br />
moneyrubriken<br />
3 Editorial<br />
80 Leserbriefe – Impressum<br />
98 Termine<br />
66<br />
Der große Girokonten-Test<br />
Kostenlose Kontoführung, Kreditkarten zum<br />
Nulltarif und bis zu zwei Prozent Zinsen obendrauf:<br />
Welche Anbieter in Deutschland die<br />
besten Konditionen bieten<br />
Composing: <strong>FOCUS</strong>-<strong>MONEY</strong><br />
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Traden birgt hohe Risiken<br />
Trading aus<br />
Leidenschaft
moneytitel<br />
TITEL<br />
DA PASST<br />
WAS<br />
NICHT<br />
von<br />
Anleger gegen Notenbanken,<br />
Aktien gegen Anleihen, Zinserhöhungen<br />
und steigende<br />
Kerninflation, robuste<br />
Konjunktur und inverse Zinsstruktur<br />
– da passt was nicht!<br />
MIKA HOFFMANN<br />
<strong>12</strong> Foto: iStock<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>
Christine Lagarde wird am Donnerstag die Leitzinsen<br />
erhöhen. Um 50 Basispunkte. Das hat<br />
sie angekündigt. Alles andere wäre eine<br />
Riesenüberraschung. Und sie wird gebetsmühlenartig<br />
wiederholen, so lange auf die<br />
Zinsbremse zu treten, bis die Inflation unter<br />
Kontrolle ist. Und die Aktienmärkte? Sie scheren sich keinen<br />
Deut darum. Nicht im Geringsten. Der Deutsche Aktien index<br />
beispielsweise steigt seit Oktober fast ununterbrochen. Das<br />
Kursbarometer steuert auf die Marke von 16 000 Punkten<br />
zu – keine fünf Prozent fehlen noch bis zum Allzeithoch.<br />
„Die Einflussfaktoren für die Wertpapierbörsen bleiben<br />
höchst widersprüchlich – klare Prognosen sind kaum möglich“,<br />
sagt der renommierte Vermögensverwalter Jens Ehrhardt.<br />
Was tun? Die Antwort gibt Ihnen <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> auf<br />
den nächsten Seiten – mit einer Analyse der Lage, aussichtsreichen,<br />
soliden Aktien mit einem breiten Burggraben, den<br />
rentabelsten Anleihenfonds, den spannendsten Smallcaps<br />
und langfristig lukrativen Immobilien.<br />
Selbst der US-Notenbank-Chef schwankt. Vieles passt<br />
derzeit nicht zusammen. Da fällt es selbst dem Chef der amerikanischen<br />
Notenbank schwer, eine konsistente Linie zu finden<br />
und auf Kurs zu bleiben. Am 1. Februar sprach Jerome<br />
Powell noch davon, dass „ein disinflationärer Prozess begonnen“<br />
habe. Bei seiner Anhörung im US-Kongress in der vergangenen<br />
Woche klang das nur sechs Wochen später ganz<br />
anders: „Die jüngsten Konjunkturdaten fielen stärker aus als<br />
erwartet – das könnte bedeuten, dass die Leitzinsen auf einen<br />
höheren Stand steigen als bisher erwartet“, sagte der<br />
oberste Zentralbanker der USA. „Wenn die Daten insgesamt<br />
signalisieren, dass die Leitzinsen schneller steigen müssen,<br />
stehen wir bereit und werden das Tempo erhöhen“, merkte<br />
Powell an. Und machte damit die Anleger – zumindest<br />
kurzzeitig – nervös. Powell signalisiert mit seinen Worten,<br />
dass bei der Sitzung des Offenmarktausschusses am 21. und<br />
22. März die Fed Funds Target Rate um 50 Basis punkte<br />
steigen könnte – und nicht nur um 25 wie bisher angekündigt<br />
und erwartet. Bei der sogenannten Terminal<br />
Rate, dem Höchststand der Leitzinsen, könnte es im Lauf<br />
des Jahres bis sechs Prozent nach oben gehen. Bisher war das<br />
undenkbar.<br />
Aktien gegen Anleihen. Die Reaktion der Anleger zeigt<br />
eine Entwicklung, die schon seit einigen Wochen nicht zusammenpasst:<br />
Die Aktienmärkte in den USA tauchten nur<br />
kurz gut ein Prozent ab. Der Dax zuckte kurz nach unten und<br />
ignorierte den mächtigsten Geld-Mann der Welt spätestens<br />
am nächsten Tag. Ganz anders die Reaktion der Anleihenmärkte:<br />
Die Kurse von US-Staatsanleihen fielen kräftig, die<br />
Renditen schossen deutlich in die Höhe: die zweijährige<br />
Staatsanleihe auf mehr als fünf Prozent.<br />
Die Zinsstrukturkurve ist invers wie seit gut 35 Jahren<br />
nicht mehr. Die zweijährigen US-Staatsanleihen bringen<br />
jetzt mehr als einen Prozentpunkt mehr als die zehnjährigen.<br />
Das ist ungewöhnlich. Normalerweise rentieren Anleihen<br />
mit längerer Laufzeit höher als die mit einer kürzeren.<br />
Eine inverse Zinsstrukturkurve ist ein Signal: In der Vergangenheit<br />
prognostizierte sie sehr zuverlässig eine Rezession.<br />
Wird das dieses Mal bei einer Rekorddifferenz anders sein?<br />
Allerdings: Die Inversion dauert jetzt schon einige Monate,<br />
die Rezession lässt aber noch auf sich warten.<br />
Das gilt auch für Deutschland: „Der wirtschaftliche Jahresauftakt<br />
kann sich bislang sehen lassen: Der Ifo-Index<br />
Notenbanken? Sind mir egal!<br />
Ungeachtet der massiven Zinserhöhungen der Zentralbanken,<br />
steigt vor allem der Deutsche Aktienindex<br />
Dax seit Oktober unbeirrt. Jetzt muss sich zeigen, ob<br />
der positive Trend hält.<br />
Dax und S&P-500<br />
indexiert, 1.10.2022 = 0<br />
OKT<br />
Quelle: Bloomberg<br />
2022<br />
<strong>2023</strong><br />
JAN<br />
Dax<br />
S&P-500<br />
MÄR<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
Schnell und heftig<br />
So schnell sind in einem solchen Ausmaß die Leitzinsen<br />
noch nie gestiegen. Jetzt legt die Europäische<br />
Zentralbank am 16. März 50 Basispunkte<br />
obendrauf, die Fed könnte am 23. März folgen.<br />
Leitzinsen USA und Euro-Land<br />
in Prozent<br />
Quelle: Bloomberg<br />
USA<br />
Euro-Land<br />
2021 2022 <strong>2023</strong><br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
–1<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />
13
moneymarkets<br />
IM KRIEG (hier in Kiew) spielen<br />
Genanalysen bei der Identifizierung<br />
von Toten eine Rolle<br />
EIN FINGERABDRUCK reicht<br />
häufig aus, um ein DNA-Profil<br />
anzulegen<br />
FORENSIK<br />
Die Spur der Gene<br />
Kleinste DNA-Rückstände verraten Kriminaltechnikern immer mehr Informationen. Die Erbgutanalyse<br />
wird zum wichtigen Ermittlungswerkzeug und bringt Unternehmen neue Absatzmärkte<br />
von JULIA GROSS<br />
Dreizehn Morde, 51 Vergewaltigungen, <strong>12</strong>0 Einbruchsdelikte<br />
und weit über 30 Jahre keine heiße Spur. Dass<br />
Joseph James DeAngelo Jr. alias der „Golden State Killer“<br />
2018 in Kalifornien verhaftet wurde, war ein Triumph<br />
für die Polizei und das FBI in Sacramento – möglich dank des<br />
technologischen Fortschritts. Die Kriminalisten hatten ein<br />
DNA-Profil aus gesicherten Spuren in eine Ahnenforschungsdatenbank<br />
hochgeladen und waren auf Verwandte des Täters<br />
gestoßen. Mithilfe einer Genealogin entschlüsselten sie<br />
den Stammbaum der Familie und stießen so schließlich auf<br />
DeAngelo, auf den auch andere, im Erbgut verschlüsselte<br />
Merkmale wie das Alter und die italienische Abstammung<br />
zutrafen. Ein DNA-Abgleich bestätigte den Verdacht.<br />
Seitdem sind mehrere Hundert Morde, Sexualverbrechen<br />
und Vermisstenfälle, teils weit zurückliegende Taten, mit<br />
ähnlichen Methoden aufgeklärt worden. Human Identification<br />
(HID), zu Deutsch Personenidentifizierung, gilt aufgrund<br />
der neuen Anwendungen weltweit als Wachstumsmarkt,<br />
dessen Volumen sich bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als<br />
verdoppeln soll. „Wir sehen in der erweiterten forensischen<br />
DNA-Analyse die Zukunft der Strafverfolgung“, sagt Keith<br />
Elliott, Leiter Marketing HID bei Qiagen. Der deutsche Analyse-<br />
und Diagnostikkonzern hat Anfang Januar mit der US-<br />
Firma Verogen einen der Pioniere bei den neuen Forensik-<br />
Anwendungen übernommen.<br />
Schlagkräftiges Werkzeug bei Ermittlungen. Das Einsatzspektrum<br />
für Genanalysen in der Polizeiarbeit erweitert sich<br />
aufgrund der Innovationen beträchtlich. Bisher war der sogenannte<br />
genetische Fingerabdruck ein vergleichsweise passives<br />
Instrument. Ermittler können damit überprüfen, ob ein<br />
Verdächtiger eine bestimmte Spur hinterlassen hat. Oder sie<br />
gleichen die Spur mit DNA-Datenbanken ab, die Profile bekannter<br />
Straftäterinnen und -täter enthalten. Gibt es dabei<br />
keinen Treffer, endet dieser Teil der Untersuchung in einer<br />
38<br />
Fotos: I. Wegmann/Unsplash, Bloomberg<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>
DNA-DOPPELHELIX:<br />
Das Erbgut liefert<br />
erstaunlich treffsichere<br />
Angaben<br />
zu persönlichen<br />
Merkmalen<br />
Sackgasse. Abhängig vom Umfang der jeweiligen Datenbank,<br />
passiert das in etwa 35 bis 70 Prozent aller Fälle.<br />
„Hier stoßen die traditionellen Methoden an ihre Grenzen“,<br />
sagt Keith Elliott. „Die erweiterte forensische DNA-Analyse<br />
dagegen kann Ermittlungen aktiv vorantreiben. Sie liefert<br />
Prognosen zur Augen-, Haar- und Hautfarbe, zum Alter, zur<br />
biogeografischen Herkunft oder zu Vorfahren. Diese Daten<br />
geben den Behörden Hinweise darauf, wonach sie suchen<br />
sollen, oder sie grenzen den Kreis der Verdächtigen ein.“<br />
Der herkömmliche genetische Fingerabdruck besteht aus<br />
16 bis 25 kurzen Erbgutschnipseln, die keine genetische In-<br />
Starkes Wachstum<br />
Marktforschungsinstitute schätzen die<br />
durchschnittliche jährliche Wachstumsrate<br />
(CAGR) des HID-<br />
Segments auf neun bis<br />
zwölf Prozent. Die Anwendung<br />
der neuen<br />
Technologien nimmt<br />
weltweit zu.<br />
Marktvolumen<br />
des „Human<br />
Identification<br />
Market“<br />
in Mrd. US-Dollar<br />
2029 Prognose<br />
CAGR 11,2%<br />
1,5<br />
2021<br />
3,5<br />
2029<br />
Quelle: Data Bridge Market Research<br />
formation enthalten („Junk-DNA“), aber sehr variabel sind.<br />
Dagegen kann die erweiterte Analyse mit modernen Sequenziermethoden<br />
Merkmale untersuchen, die das Erscheinungsbild<br />
einer Person bestimmen. Dazu kommt ein wesentlich<br />
detaillierteres DNA-Profil: Qiagen etwa analysiert dafür<br />
mehr als 10 000 DNA-Varianten, die den Abgleich mit Genealogiedatenbanken<br />
erlauben.<br />
Verbreitung nimmt zu. Letzteres passiert in den USA bei<br />
schweren Verbrechen immer häufiger. Zentrales Instrument<br />
ist dabei die Datenbank GEDmatch, die im Rahmen der Verogen-Akquisition<br />
in Qiagens Besitz übergegangen ist. Sie<br />
vernetzt rund 1,4 Millionen Hobby-Ahnenforscher weltweit,<br />
die der Nutzung ihrer Profile durch Strafverfolgungsbehörden<br />
zugestimmt haben. Viele Staaten arbeiten noch an einem<br />
rechtlichen Rahmen, in dem Polizei und Justiz agieren<br />
können, um Datenschutzrechte zu berücksichtigen. Gerade<br />
in Schwellenländern wie Indien oder Mexiko wird der Bereich<br />
DNA-Analytik aber aktuell stark ausgebaut.<br />
In Deutschland ist polizeiliche Ahnenforschung nur in<br />
Bayern in Ausnahmefällen erlaubt. Gleiches gilt für die biogeografischen<br />
Herkunftsmerkmale, die entschlüsseln, aus<br />
welcher Region – etwa Europa, Südasien oder Afrika – die<br />
Vorfahren stammen. Deutsche Ermittler können jedoch seit<br />
2020 die Informationen zu Alter, Haut-, Haar und Augenfarbe<br />
nutzen, viele ihrer europäischen Kollegen ebenso.<br />
Die Aussagekraft dieser Daten ist erstaunlich genau: Ob<br />
jemand blaue oder braune Augen hat, lässt sich mit über<br />
90-prozentiger Treffsicherheit ableiten, bei heller versus<br />
dunkler Hautfarbe sogar mit bis zu 98 Prozent. Selbst bei der<br />
Haarfarbe liegt die Erbgutanalyse zu 75 bis 90 Prozent richtig,<br />
wobei blondes Haar im Lebensverlauf nachdunkeln kann<br />
und Färben, graue Haare oder Haarausfall das Ergebnis nicht<br />
ganz so nützlich machen.<br />
Gleichzeitig haben sich die Nachweisgrenzen für verwertbare<br />
Spuren in den vergangenen 25 Jahren immer weiter verschoben.<br />
„Es ist möglich, DNA von einem Stift zu isolieren,<br />
den jemand angefasst hat, oder von Munition“, erklärt Keith<br />
Elliott. Knochen und getrocknetes Blut lassen sich noch nach<br />
Jahrzehnten verwenden. Im Idealfall sind für eine Analyse<br />
weniger als 50 Pikogramm DNA notwendig, das entspricht<br />
etwa der Menge aus acht Zellen. Zum Vergleich: Ein Mensch<br />
verliert täglich rund 50 Millionen Hautzellen.<br />
Neben der Suche nach Verbrechern kommen die neuen<br />
Sequenzierungs- und Analysetechnologien auch bei der<br />
Identifizierung von vermissten Personen zur Anwendung –<br />
zum Beispiel aktuell im Ukraine-Krieg, aber auch bei der Aufarbeitung<br />
vergangener Ereignisse wie dem Massaker von<br />
Srebrenica oder den Todesfällen in irischen Heimen für ledige<br />
Mütter. Ein weiteres Segment im Human-Identification-<br />
Markt sind Vaterschaftstests. Dafür reichen in der Regel weniger<br />
aufwendige DNA-Profile aus.<br />
Aktiv im Forensik-Segment sind vor allem Unternehmen,<br />
die Materialien, Instrumente und Software für die Analyse<br />
von DNA herstellen. Noch kommen HID-Anwendungen auf<br />
eher kleine Umsatzanteile bei diesen breit aufgestellten Firmen.<br />
Sie bilden aber einen wichtigen Baustein für das zukünftige<br />
Wachstum. Die Aktien der drei interessantesten<br />
Konzerne stellen wir auf der folgenden Seite vor.<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />
Foto: Shutterstock 39
moneymarkets<br />
MOTOROLA<br />
Mehr als<br />
ein alter<br />
Knochen<br />
Das Handy hat Geburtstag und ist jetzt sogar<br />
„rollbar“. Der Haken: Börsianer suchen die Aktie<br />
des Produzenten und finden . . . nichts. Dabei liegt<br />
der Erfolg um die Ecke<br />
von DIRK REICHMANN<br />
Es war ein Quantensprung und der Beginn einer neuen<br />
Ära. 1973 telefonierte der Amerikaner Martin Cooper<br />
zum ersten Mal mit einem Handy. Der Ingenieur von<br />
Motorola gilt als Vater des Mobiltelefons. Wie passend, dass<br />
der Mann im selben Jahr geboren wurde wie sein damaliger<br />
Arbeitgeber. Motorola wurde 1928 gegründet.<br />
Das Mobiltelefon feiert Geburtstag. 1983 begann das neue<br />
Zeitalter – zehn Jahre nach Coopers erstem Anruf kam das<br />
erste kommerzielle Mobiltelefon auf den Markt. Das Motorola<br />
DynaTac 8000x kostete damals 3995 Dollar. Telefonieren<br />
konnte man damit auch, 30 Minuten lang.<br />
Auf die Zukunft setzen. Motorola ist ein Stück Amerika.<br />
Von 1980 bis zur Jahrtausendwende stieg der Aktienkurs<br />
HANDY AUS DEN 1980ER-JAHREN:<br />
Motorola-Kurs stieg um 3000 Prozent<br />
Die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte<br />
Fast eine Generation lang hatte der Aufwärtstrend bei Motorola Bestand.<br />
Anfang des Jahrtausends endete die Erfolgsgeschichte. Anfang<br />
2011 wurden die Motorola-Aktien im Verhältnis 1 : 7 („reverse split“) zu einer<br />
Motorola Motorola-Solutions-Aktie zusammengelegt. Diese Aktie haussiert.<br />
Kurs der Motorola Solutions in US-Dollar, logarithmische Darstellung<br />
21-Monats-Linie<br />
Abwärtstrend<br />
Aufwärtstrend<br />
Erstes „Mobilfunktelefon“<br />
DynaTAC 8000x<br />
kommt auf den Markt<br />
Aufspaltung von Motorola<br />
in Motorola Solutions und<br />
Motorola Mobility<br />
Lenovo kauft<br />
Motorola von<br />
Google<br />
1972 1977 1982 1987 1992 1997 2002 2007 20<strong>12</strong> 2017 2022<br />
WKN/ISIN<br />
A0YHMA/US6200763075<br />
Börsenwert 41,9 Mrd. €<br />
Kurs-Gewinn-Verhältnis <strong>2023</strong>e/24e 23,8/21,6<br />
Dividendenrendite für <strong>2023</strong>e/24e 1,26 %/1,32 %<br />
Kursziel/Stoppkurs 300/220 €<br />
Risiko* Kurspotenzial 20 %<br />
Stand: 6.3.23; Quelle: Bloomberg; *abhängig von der 1-Jahres-Volatilität<br />
e = erwartet<br />
256<br />
<strong>12</strong>8<br />
64<br />
32<br />
16<br />
8<br />
4<br />
2<br />
1<br />
42<br />
Foto: Adobe Stock<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>