13.03.2023 Aufrufe

Vorschau FOCUS MONEY 12/2023

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />

focus-shop.de<br />

JETZT<br />

E-PAPER LESEN:


moneyeditorial<br />

EDITORIAL<br />

Schulden und Schabernack<br />

aus Brüssel<br />

GEORG MECK<br />

Chefredakteur<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong><br />

von der EU-Bürokratie sind wir manchen übergriffigen Unsinn gewohnt, die<br />

systematische, sich seit Jahren ziehende Demontage des Euro-Stabilitätspakts<br />

setzt dem Ganzen die Krone auf. Wir erinnern uns: Der Vertrag von Maastricht<br />

war das Versprechen an die Deutschen, der Euro werde so stark wie die<br />

Deutsche Mark, damit sie auf ihre geliebte Währung verzichten, ohne vorher<br />

darüber abstimmen zu dürfen. Wer in den Euro-Club wollte, so die hehre Idee,<br />

hatte sich an die Maastricht-Vorgaben zu halten; auch die Staaten, denen ein<br />

laxer Umgang mit den Staatsfinanzen nachgesagt wurde. Dazu setzte man<br />

klare, einheitliche Standards samt klaren Strafen im Fall des Verstoßes:<br />

maximal drei Prozent Haushaltsdefizit, 60 Prozent Schuldenobergrenze.<br />

Inzwischen sind längst die Historiker damit beschäftigt nachzuzeichnen,<br />

wann zum ersten Mal im Geiste und wann im Wort gegen den Pakt verstoßen<br />

wurde.<br />

Diese traurige Geschichte mündet nun endgültig in einer Farce. Die EU-<br />

Kommission verkündet selbstherrlich das Ende der bisherigen Regeln, ohne<br />

dass von den Mitgliedsstaaten eine Reform des Maastricht-Pakts beschlossen<br />

worden wäre. Wären sie in Brüssel ehrlich, würden sie zugeben: „Finanzielle<br />

Seriosität – uns doch egal. Nach uns die Sintflut.“ Zu dem Eingeständnis<br />

fehlt den EU-Technokraten freilich die Traute. Also verstecken sie sich hinter<br />

wohlklingend-wolkigen Vokabeln. Digitale Transformation und Klimaschutz<br />

werden bemüht als Vorwand für liederliches Wirtschaften, um den Maastricht-Pakt<br />

endgültig zu Grabe zu tragen. Die Mitglieder des Euro-Clubs müssen<br />

sich künftig nicht mehr auf gemeinsame Standards verpflichten. Jedes<br />

Land erhält willkürliche, der jeweiligen „Leistungsfähigkeit“ entsprechende<br />

Vorgaben und macht dann halt mal mehr und mal noch mehr Schulden. Eine<br />

Begründung dafür ist noch jeder Regierung eingefallen, wenn es dem eigenen<br />

Machterhalt dient, zumal die Rechnung an andere geht. Die Gemeinschaft<br />

leidet (und zahlt im Zweifel) mit, aber hey: So läuft Europa.<br />

Noch sind die irrwitzigen Ideen der EU-Kommission nicht in Paragrafen<br />

gegossen, noch könnte die Bundesregierung also versuchen,<br />

den Schabernack zu stoppen. Beliebtheitspreise in Brüssel sind<br />

dafür nicht zu gewinnen, das ist aber auch nicht ihr Auftrag.<br />

Im Amtseid haben die Minister geschworen, Schaden vom<br />

deutschen Volk abzuwenden. Jetzt bietet sich die Gelegenheit<br />

dafür.<br />

Herzlich Ihr<br />

In eigener Sache:<br />

Lesen Sie <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> pünktlich<br />

als digitale Variante<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

Die Tarifverhandlungen für rund 160 000 Beschäftigte der Deutschen<br />

Post sind im Februar gescheitert. Der Tarifstreit eskaliert: In<br />

der Urabstimmung, die bis 8. März lief, entschieden sich die Beschäftigten<br />

mit großer Mehrheit für einen unbefristeten Streik. Der Streik wird<br />

aller Voraussicht nach erhebliche Auswirkungen auf den Brief- und Paketversand<br />

haben und damit auch auf den Versand unseres Magazins.<br />

So treibt uns die Sorge um, dass einzelne Ausgaben von <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong><br />

aufgrund eines ausgedehnten Streiks nicht oder nicht rechtzeitig zugestellt<br />

werden könnten. Dies ist für Sie als Leser wie für uns eine nicht zufriedenstellende<br />

Situation. Die Lösung ist die Internet-Seite<br />

https://zeitschriften.burda.com/infoservice/<br />

Im Fall einer Nichtzustellung möchten wir Sie so schnellstmöglich und<br />

rechtssicher per E-Mail informieren können und Ihnen mitteilen, wie Sie bequem<br />

auf eine digitale Version des betroffenen Heftes zugreifen. Denn eins ist uns<br />

wichtig: Ihre Zufriedenheit und Ihr Lesegenuss mit <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong>.<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Foto: F. Röth 3


moneyinhalt<br />

15. MÄRZ <strong>2023</strong> www.money.de<br />

<strong>12</strong><br />

Da passt was nicht<br />

Die Zinsen steigen, die Aktienkurse<br />

auch – nur eine von vielen Ungereimtheiten<br />

auf den Märkten. Was Anleger<br />

wissen müssen<br />

moneykompakt<br />

6 Wirecard: EY muss die Akten<br />

herausrücken, ein Hoffnungsschimmer<br />

für Anleger<br />

7 Mikas Markt-Monitor:<br />

Wachsende Probleme bei<br />

US-Banken<br />

7 Hit & Shit: Conti & Vonovia<br />

8 Zinsradar<br />

8 Investment-Ampel: Überblick<br />

über die Asset-Klassen<br />

9 Das kaufe ich jetzt:<br />

Prysmian<br />

42<br />

Mehr als ein<br />

alter Knochen<br />

Das Motorola International<br />

3200 war 1992 das erste<br />

digitale GSM-Handy.<br />

Warum der Mobiltelefon-<br />

Pionier Aktionäre noch<br />

immer erfreut<br />

9 Chart der Woche: Handel mit<br />

Saudi-Arabien<br />

9 Adidas: Toxische Überbleibsel der<br />

Kanye-West-Kooperation<br />

10 Deutsche Immobilien: Gefahr für<br />

die Weltwirtschaft?<br />

10 Wette der Woche: McEwen Mining<br />

11 Kryptowährungen: Die Auswirkungen<br />

von Bitcoin-Verlusten auf<br />

Dollar und Aktienmarkt<br />

98 Andis Börsenbarometer: Die Gefahr<br />

der neuen Intraday-Optionen<br />

moneytitel<br />

<strong>12</strong> Zinserhöhungen: Wenn Märkte,<br />

Geldpolitik und die wirtschaftliche<br />

Entwicklung nicht zusammenpassen,<br />

sollten Anleger aufhorchen<br />

16 Burggraben-Aktien: Diese Titel<br />

bieten Schutz und Rendite in<br />

jedem Umfeld<br />

20 Smallcaps: Kleine Firmen profitieren<br />

von steigenden Zinsen<br />

22 Anleihen: Die besten Fonds und<br />

ETFs für das Comeback der<br />

Zinspapiere<br />

25 Derivate: Strukturierte Anleihen<br />

statt Festgeld<br />

28 Immobilien: Die Bauzinsen<br />

sollten langsam zurückgehen<br />

30 Interview: Mirjam Mohr, Privatkunden-Vorständin<br />

bei Interhyp,<br />

zu den Perspektiven am Immobilienmarkt<br />

32 „The Economist“: Der US-Häusermarkt<br />

ist ein Frühindikator für die<br />

Folgen steigender Zinsen<br />

moneymarkets<br />

34 Asset-Manager: Nach einem<br />

goldenen Jahrzehnt zeigt sich,<br />

welche großen Vermögensverwalter<br />

krisenfest sind<br />

36 Interview: Nils Bolmstrand von<br />

Nordea Asset Management über<br />

die Vorteile nordischer Länder<br />

38 Forensik: Das Einsatzspektrum<br />

von Genanalysen wird erheblich<br />

größer. Das schafft neue Märkte<br />

42 Motorola: Auch zum 40. Geburtstag<br />

des Handys lohnt ein Blick auf<br />

den Mobiltelefon-Pionier<br />

46 Versorger: Welche Stromerzeuger<br />

bei regenerativer Energie die<br />

Nase vorn haben<br />

49 Klartext: von Sarna Röser<br />

50 Kaffee: Immer mehr Chinesen<br />

fahren auf den Muntermacher ab<br />

58 Chartsignal: Spaniens Ibex-35<br />

58 Börsenwissen: Warum Volatilität<br />

nicht nur Risiko bedeutet<br />

4 Titelfoto: iStock<br />

Inhalt: Illustrationen: Adobe Stock, iStockFotos: Adobe Stock, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>


56<br />

„Uns droht ein heftiger<br />

Generationenkonflikt“<br />

Unser<br />

zuverlässiges<br />

Team steht<br />

Ihnen immer<br />

zur Seite.<br />

BERND RAFFELHÜSCHEN,<br />

PROFESSOR FÜR FINANZWISSENSCHAFTEN<br />

59 Musterdepots: Die besten<br />

Börsenmonate stehen bevor<br />

60 Russische Wertpapiere: Wenig<br />

Hoffnung für Anleger<br />

moneydigital<br />

53 Highlights: <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> talks<br />

über den Schweizer Aktienmarkt;<br />

Nervosität an den Märkten bei<br />

Mission Money; Herausforderungen<br />

für Lottomillionäre bei den<br />

Kleingeldhelden<br />

54 Aktienanalyse: Merck<br />

56 Mission-Interview: Finanzwissenschaftler<br />

Bernd Raffelhüschen<br />

über die Zukunft des Sozialstaats<br />

dswanlegerschutz<br />

62 Venture-Capital: Die Anfänge<br />

der Start-up-Finanzierung in<br />

Europa vor 50 Jahren<br />

moneyservice<br />

64 Marktplatz: Zigarre des Monats,<br />

Klangkörper der Extraklasse und<br />

Urlaub in Osaka<br />

66 Girokonten: Welche Banken die<br />

besten Konditionen bieten<br />

74 Aufsteiger des Jahres: Diese<br />

204 Unternehmen kommen bei<br />

den Deutschen besonders gut an<br />

moneyanalyse<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

81 Fonds<br />

82 Deutsche Aktien<br />

90 Internationale Aktien<br />

96 ETFs<br />

97 Zertifikate<br />

moneyrubriken<br />

3 Editorial<br />

80 Leserbriefe – Impressum<br />

98 Termine<br />

66<br />

Der große Girokonten-Test<br />

Kostenlose Kontoführung, Kreditkarten zum<br />

Nulltarif und bis zu zwei Prozent Zinsen obendrauf:<br />

Welche Anbieter in Deutschland die<br />

besten Konditionen bieten<br />

Composing: <strong>FOCUS</strong>-<strong>MONEY</strong><br />

Holen Sie sich erstklassige<br />

Analysen und Tipps zur<br />

Optimierung Ihrer Strategie<br />

vom IG Experten-Team.<br />

Mehr Infos auf<br />

www.ig.com<br />

Traden birgt hohe Risiken<br />

Trading aus<br />

Leidenschaft


moneytitel<br />

TITEL<br />

DA PASST<br />

WAS<br />

NICHT<br />

von<br />

Anleger gegen Notenbanken,<br />

Aktien gegen Anleihen, Zinserhöhungen<br />

und steigende<br />

Kerninflation, robuste<br />

Konjunktur und inverse Zinsstruktur<br />

– da passt was nicht!<br />

MIKA HOFFMANN<br />

<strong>12</strong> Foto: iStock<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>


Christine Lagarde wird am Donnerstag die Leitzinsen<br />

erhöhen. Um 50 Basispunkte. Das hat<br />

sie angekündigt. Alles andere wäre eine<br />

Riesenüberraschung. Und sie wird gebetsmühlenartig<br />

wiederholen, so lange auf die<br />

Zinsbremse zu treten, bis die Inflation unter<br />

Kontrolle ist. Und die Aktienmärkte? Sie scheren sich keinen<br />

Deut darum. Nicht im Geringsten. Der Deutsche Aktien index<br />

beispielsweise steigt seit Oktober fast ununterbrochen. Das<br />

Kursbarometer steuert auf die Marke von 16 000 Punkten<br />

zu – keine fünf Prozent fehlen noch bis zum Allzeithoch.<br />

„Die Einflussfaktoren für die Wertpapierbörsen bleiben<br />

höchst widersprüchlich – klare Prognosen sind kaum möglich“,<br />

sagt der renommierte Vermögensverwalter Jens Ehrhardt.<br />

Was tun? Die Antwort gibt Ihnen <strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> auf<br />

den nächsten Seiten – mit einer Analyse der Lage, aussichtsreichen,<br />

soliden Aktien mit einem breiten Burggraben, den<br />

rentabelsten Anleihenfonds, den spannendsten Smallcaps<br />

und langfristig lukrativen Immobilien.<br />

Selbst der US-Notenbank-Chef schwankt. Vieles passt<br />

derzeit nicht zusammen. Da fällt es selbst dem Chef der amerikanischen<br />

Notenbank schwer, eine konsistente Linie zu finden<br />

und auf Kurs zu bleiben. Am 1. Februar sprach Jerome<br />

Powell noch davon, dass „ein disinflationärer Prozess begonnen“<br />

habe. Bei seiner Anhörung im US-Kongress in der vergangenen<br />

Woche klang das nur sechs Wochen später ganz<br />

anders: „Die jüngsten Konjunkturdaten fielen stärker aus als<br />

erwartet – das könnte bedeuten, dass die Leitzinsen auf einen<br />

höheren Stand steigen als bisher erwartet“, sagte der<br />

oberste Zentralbanker der USA. „Wenn die Daten insgesamt<br />

signalisieren, dass die Leitzinsen schneller steigen müssen,<br />

stehen wir bereit und werden das Tempo erhöhen“, merkte<br />

Powell an. Und machte damit die Anleger – zumindest<br />

kurzzeitig – nervös. Powell signalisiert mit seinen Worten,<br />

dass bei der Sitzung des Offenmarktausschusses am 21. und<br />

22. März die Fed Funds Target Rate um 50 Basis punkte<br />

steigen könnte – und nicht nur um 25 wie bisher angekündigt<br />

und erwartet. Bei der sogenannten Terminal<br />

Rate, dem Höchststand der Leitzinsen, könnte es im Lauf<br />

des Jahres bis sechs Prozent nach oben gehen. Bisher war das<br />

undenkbar.<br />

Aktien gegen Anleihen. Die Reaktion der Anleger zeigt<br />

eine Entwicklung, die schon seit einigen Wochen nicht zusammenpasst:<br />

Die Aktienmärkte in den USA tauchten nur<br />

kurz gut ein Prozent ab. Der Dax zuckte kurz nach unten und<br />

ignorierte den mächtigsten Geld-Mann der Welt spätestens<br />

am nächsten Tag. Ganz anders die Reaktion der Anleihenmärkte:<br />

Die Kurse von US-Staatsanleihen fielen kräftig, die<br />

Renditen schossen deutlich in die Höhe: die zweijährige<br />

Staatsanleihe auf mehr als fünf Prozent.<br />

Die Zinsstrukturkurve ist invers wie seit gut 35 Jahren<br />

nicht mehr. Die zweijährigen US-Staatsanleihen bringen<br />

jetzt mehr als einen Prozentpunkt mehr als die zehnjährigen.<br />

Das ist ungewöhnlich. Normalerweise rentieren Anleihen<br />

mit längerer Laufzeit höher als die mit einer kürzeren.<br />

Eine inverse Zinsstrukturkurve ist ein Signal: In der Vergangenheit<br />

prognostizierte sie sehr zuverlässig eine Rezession.<br />

Wird das dieses Mal bei einer Rekorddifferenz anders sein?<br />

Allerdings: Die Inversion dauert jetzt schon einige Monate,<br />

die Rezession lässt aber noch auf sich warten.<br />

Das gilt auch für Deutschland: „Der wirtschaftliche Jahresauftakt<br />

kann sich bislang sehen lassen: Der Ifo-Index<br />

Notenbanken? Sind mir egal!<br />

Ungeachtet der massiven Zinserhöhungen der Zentralbanken,<br />

steigt vor allem der Deutsche Aktienindex<br />

Dax seit Oktober unbeirrt. Jetzt muss sich zeigen, ob<br />

der positive Trend hält.<br />

Dax und S&P-500<br />

indexiert, 1.10.2022 = 0<br />

OKT<br />

Quelle: Bloomberg<br />

2022<br />

<strong>2023</strong><br />

JAN<br />

Dax<br />

S&P-500<br />

MÄR<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

Schnell und heftig<br />

So schnell sind in einem solchen Ausmaß die Leitzinsen<br />

noch nie gestiegen. Jetzt legt die Europäische<br />

Zentralbank am 16. März 50 Basispunkte<br />

obendrauf, die Fed könnte am 23. März folgen.<br />

Leitzinsen USA und Euro-Land<br />

in Prozent<br />

Quelle: Bloomberg<br />

USA<br />

Euro-Land<br />

2021 2022 <strong>2023</strong><br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

–1<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

13


moneymarkets<br />

IM KRIEG (hier in Kiew) spielen<br />

Genanalysen bei der Identifizierung<br />

von Toten eine Rolle<br />

EIN FINGERABDRUCK reicht<br />

häufig aus, um ein DNA-Profil<br />

anzulegen<br />

FORENSIK<br />

Die Spur der Gene<br />

Kleinste DNA-Rückstände verraten Kriminaltechnikern immer mehr Informationen. Die Erbgutanalyse<br />

wird zum wichtigen Ermittlungswerkzeug und bringt Unternehmen neue Absatzmärkte<br />

von JULIA GROSS<br />

Dreizehn Morde, 51 Vergewaltigungen, <strong>12</strong>0 Einbruchsdelikte<br />

und weit über 30 Jahre keine heiße Spur. Dass<br />

Joseph James DeAngelo Jr. alias der „Golden State Killer“<br />

2018 in Kalifornien verhaftet wurde, war ein Triumph<br />

für die Polizei und das FBI in Sacramento – möglich dank des<br />

technologischen Fortschritts. Die Kriminalisten hatten ein<br />

DNA-Profil aus gesicherten Spuren in eine Ahnenforschungsdatenbank<br />

hochgeladen und waren auf Verwandte des Täters<br />

gestoßen. Mithilfe einer Genealogin entschlüsselten sie<br />

den Stammbaum der Familie und stießen so schließlich auf<br />

DeAngelo, auf den auch andere, im Erbgut verschlüsselte<br />

Merkmale wie das Alter und die italienische Abstammung<br />

zutrafen. Ein DNA-Abgleich bestätigte den Verdacht.<br />

Seitdem sind mehrere Hundert Morde, Sexualverbrechen<br />

und Vermisstenfälle, teils weit zurückliegende Taten, mit<br />

ähnlichen Methoden aufgeklärt worden. Human Identification<br />

(HID), zu Deutsch Personenidentifizierung, gilt aufgrund<br />

der neuen Anwendungen weltweit als Wachstumsmarkt,<br />

dessen Volumen sich bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als<br />

verdoppeln soll. „Wir sehen in der erweiterten forensischen<br />

DNA-Analyse die Zukunft der Strafverfolgung“, sagt Keith<br />

Elliott, Leiter Marketing HID bei Qiagen. Der deutsche Analyse-<br />

und Diagnostikkonzern hat Anfang Januar mit der US-<br />

Firma Verogen einen der Pioniere bei den neuen Forensik-<br />

Anwendungen übernommen.<br />

Schlagkräftiges Werkzeug bei Ermittlungen. Das Einsatzspektrum<br />

für Genanalysen in der Polizeiarbeit erweitert sich<br />

aufgrund der Innovationen beträchtlich. Bisher war der sogenannte<br />

genetische Fingerabdruck ein vergleichsweise passives<br />

Instrument. Ermittler können damit überprüfen, ob ein<br />

Verdächtiger eine bestimmte Spur hinterlassen hat. Oder sie<br />

gleichen die Spur mit DNA-Datenbanken ab, die Profile bekannter<br />

Straftäterinnen und -täter enthalten. Gibt es dabei<br />

keinen Treffer, endet dieser Teil der Untersuchung in einer<br />

38<br />

Fotos: I. Wegmann/Unsplash, Bloomberg<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>


DNA-DOPPELHELIX:<br />

Das Erbgut liefert<br />

erstaunlich treffsichere<br />

Angaben<br />

zu persönlichen<br />

Merkmalen<br />

Sackgasse. Abhängig vom Umfang der jeweiligen Datenbank,<br />

passiert das in etwa 35 bis 70 Prozent aller Fälle.<br />

„Hier stoßen die traditionellen Methoden an ihre Grenzen“,<br />

sagt Keith Elliott. „Die erweiterte forensische DNA-Analyse<br />

dagegen kann Ermittlungen aktiv vorantreiben. Sie liefert<br />

Prognosen zur Augen-, Haar- und Hautfarbe, zum Alter, zur<br />

biogeografischen Herkunft oder zu Vorfahren. Diese Daten<br />

geben den Behörden Hinweise darauf, wonach sie suchen<br />

sollen, oder sie grenzen den Kreis der Verdächtigen ein.“<br />

Der herkömmliche genetische Fingerabdruck besteht aus<br />

16 bis 25 kurzen Erbgutschnipseln, die keine genetische In-<br />

Starkes Wachstum<br />

Marktforschungsinstitute schätzen die<br />

durchschnittliche jährliche Wachstumsrate<br />

(CAGR) des HID-<br />

Segments auf neun bis<br />

zwölf Prozent. Die Anwendung<br />

der neuen<br />

Technologien nimmt<br />

weltweit zu.<br />

Marktvolumen<br />

des „Human<br />

Identification<br />

Market“<br />

in Mrd. US-Dollar<br />

2029 Prognose<br />

CAGR 11,2%<br />

1,5<br />

2021<br />

3,5<br />

2029<br />

Quelle: Data Bridge Market Research<br />

formation enthalten („Junk-DNA“), aber sehr variabel sind.<br />

Dagegen kann die erweiterte Analyse mit modernen Sequenziermethoden<br />

Merkmale untersuchen, die das Erscheinungsbild<br />

einer Person bestimmen. Dazu kommt ein wesentlich<br />

detaillierteres DNA-Profil: Qiagen etwa analysiert dafür<br />

mehr als 10 000 DNA-Varianten, die den Abgleich mit Genealogiedatenbanken<br />

erlauben.<br />

Verbreitung nimmt zu. Letzteres passiert in den USA bei<br />

schweren Verbrechen immer häufiger. Zentrales Instrument<br />

ist dabei die Datenbank GEDmatch, die im Rahmen der Verogen-Akquisition<br />

in Qiagens Besitz übergegangen ist. Sie<br />

vernetzt rund 1,4 Millionen Hobby-Ahnenforscher weltweit,<br />

die der Nutzung ihrer Profile durch Strafverfolgungsbehörden<br />

zugestimmt haben. Viele Staaten arbeiten noch an einem<br />

rechtlichen Rahmen, in dem Polizei und Justiz agieren<br />

können, um Datenschutzrechte zu berücksichtigen. Gerade<br />

in Schwellenländern wie Indien oder Mexiko wird der Bereich<br />

DNA-Analytik aber aktuell stark ausgebaut.<br />

In Deutschland ist polizeiliche Ahnenforschung nur in<br />

Bayern in Ausnahmefällen erlaubt. Gleiches gilt für die biogeografischen<br />

Herkunftsmerkmale, die entschlüsseln, aus<br />

welcher Region – etwa Europa, Südasien oder Afrika – die<br />

Vorfahren stammen. Deutsche Ermittler können jedoch seit<br />

2020 die Informationen zu Alter, Haut-, Haar und Augenfarbe<br />

nutzen, viele ihrer europäischen Kollegen ebenso.<br />

Die Aussagekraft dieser Daten ist erstaunlich genau: Ob<br />

jemand blaue oder braune Augen hat, lässt sich mit über<br />

90-prozentiger Treffsicherheit ableiten, bei heller versus<br />

dunkler Hautfarbe sogar mit bis zu 98 Prozent. Selbst bei der<br />

Haarfarbe liegt die Erbgutanalyse zu 75 bis 90 Prozent richtig,<br />

wobei blondes Haar im Lebensverlauf nachdunkeln kann<br />

und Färben, graue Haare oder Haarausfall das Ergebnis nicht<br />

ganz so nützlich machen.<br />

Gleichzeitig haben sich die Nachweisgrenzen für verwertbare<br />

Spuren in den vergangenen 25 Jahren immer weiter verschoben.<br />

„Es ist möglich, DNA von einem Stift zu isolieren,<br />

den jemand angefasst hat, oder von Munition“, erklärt Keith<br />

Elliott. Knochen und getrocknetes Blut lassen sich noch nach<br />

Jahrzehnten verwenden. Im Idealfall sind für eine Analyse<br />

weniger als 50 Pikogramm DNA notwendig, das entspricht<br />

etwa der Menge aus acht Zellen. Zum Vergleich: Ein Mensch<br />

verliert täglich rund 50 Millionen Hautzellen.<br />

Neben der Suche nach Verbrechern kommen die neuen<br />

Sequenzierungs- und Analysetechnologien auch bei der<br />

Identifizierung von vermissten Personen zur Anwendung –<br />

zum Beispiel aktuell im Ukraine-Krieg, aber auch bei der Aufarbeitung<br />

vergangener Ereignisse wie dem Massaker von<br />

Srebrenica oder den Todesfällen in irischen Heimen für ledige<br />

Mütter. Ein weiteres Segment im Human-Identification-<br />

Markt sind Vaterschaftstests. Dafür reichen in der Regel weniger<br />

aufwendige DNA-Profile aus.<br />

Aktiv im Forensik-Segment sind vor allem Unternehmen,<br />

die Materialien, Instrumente und Software für die Analyse<br />

von DNA herstellen. Noch kommen HID-Anwendungen auf<br />

eher kleine Umsatzanteile bei diesen breit aufgestellten Firmen.<br />

Sie bilden aber einen wichtigen Baustein für das zukünftige<br />

Wachstum. Die Aktien der drei interessantesten<br />

Konzerne stellen wir auf der folgenden Seite vor.<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Foto: Shutterstock 39


moneymarkets<br />

MOTOROLA<br />

Mehr als<br />

ein alter<br />

Knochen<br />

Das Handy hat Geburtstag und ist jetzt sogar<br />

„rollbar“. Der Haken: Börsianer suchen die Aktie<br />

des Produzenten und finden . . . nichts. Dabei liegt<br />

der Erfolg um die Ecke<br />

von DIRK REICHMANN<br />

Es war ein Quantensprung und der Beginn einer neuen<br />

Ära. 1973 telefonierte der Amerikaner Martin Cooper<br />

zum ersten Mal mit einem Handy. Der Ingenieur von<br />

Motorola gilt als Vater des Mobiltelefons. Wie passend, dass<br />

der Mann im selben Jahr geboren wurde wie sein damaliger<br />

Arbeitgeber. Motorola wurde 1928 gegründet.<br />

Das Mobiltelefon feiert Geburtstag. 1983 begann das neue<br />

Zeitalter – zehn Jahre nach Coopers erstem Anruf kam das<br />

erste kommerzielle Mobiltelefon auf den Markt. Das Motorola<br />

DynaTac 8000x kostete damals 3995 Dollar. Telefonieren<br />

konnte man damit auch, 30 Minuten lang.<br />

Auf die Zukunft setzen. Motorola ist ein Stück Amerika.<br />

Von 1980 bis zur Jahrtausendwende stieg der Aktienkurs<br />

HANDY AUS DEN 1980ER-JAHREN:<br />

Motorola-Kurs stieg um 3000 Prozent<br />

Die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte<br />

Fast eine Generation lang hatte der Aufwärtstrend bei Motorola Bestand.<br />

Anfang des Jahrtausends endete die Erfolgsgeschichte. Anfang<br />

2011 wurden die Motorola-Aktien im Verhältnis 1 : 7 („reverse split“) zu einer<br />

Motorola Motorola-Solutions-Aktie zusammengelegt. Diese Aktie haussiert.<br />

Kurs der Motorola Solutions in US-Dollar, logarithmische Darstellung<br />

21-Monats-Linie<br />

Abwärtstrend<br />

Aufwärtstrend<br />

Erstes „Mobilfunktelefon“<br />

DynaTAC 8000x<br />

kommt auf den Markt<br />

Aufspaltung von Motorola<br />

in Motorola Solutions und<br />

Motorola Mobility<br />

Lenovo kauft<br />

Motorola von<br />

Google<br />

1972 1977 1982 1987 1992 1997 2002 2007 20<strong>12</strong> 2017 2022<br />

WKN/ISIN<br />

A0YHMA/US6200763075<br />

Börsenwert 41,9 Mrd. €<br />

Kurs-Gewinn-Verhältnis <strong>2023</strong>e/24e 23,8/21,6<br />

Dividendenrendite für <strong>2023</strong>e/24e 1,26 %/1,32 %<br />

Kursziel/Stoppkurs 300/220 €<br />

Risiko* Kurspotenzial 20 %<br />

Stand: 6.3.23; Quelle: Bloomberg; *abhängig von der 1-Jahres-Volatilität<br />

e = erwartet<br />

256<br />

<strong>12</strong>8<br />

64<br />

32<br />

16<br />

8<br />

4<br />

2<br />

1<br />

42<br />

Foto: Adobe Stock<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>MONEY</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!