31.03.2023 Aufrufe

Joachim Schaper | Volker Leppin (Hrsg.): Reformation und frühbürgerliche Revolution (Leseprobe)

»Reformation« oder »frühbürgerliche Revolution«? Welches Erklärungsmodell entspricht jenen Ereignissen und strukturellen Veränderungen, die wir traditionell in der sogenannten Disziplin der »Reformationsgeschichte« behandeln? Die Forschungsgeschichte zum Thema sah im deutschen Sprachraum in den 60er, 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine zum Teil heftige Diskussion dieser Frage, die im Wesentlichen gemäß den Grenzziehungen des Kalten Krieges geführt wurde. Mit dem Ende desselben kam auch das Ende dieser Diskussion – vorschnell und ohne einen wirklichen argumentativen Abschluss. Den Autoren und der Autorin dieses Bandes geht es darum, das Ineinander des religiösen Lebens, der intellektuellen Entwicklungen und der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche des späten fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts und seine spätere Wahrnehmung neu zu beleuchten.

»Reformation« oder »frühbürgerliche Revolution«? Welches Erklärungsmodell entspricht jenen Ereignissen und strukturellen Veränderungen, die wir traditionell in der sogenannten Disziplin der »Reformationsgeschichte« behandeln? Die Forschungsgeschichte zum Thema sah im deutschen Sprachraum in den 60er, 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine zum Teil heftige Diskussion dieser Frage, die im Wesentlichen gemäß den Grenzziehungen des Kalten Krieges geführt wurde. Mit dem Ende desselben kam auch das Ende dieser Diskussion – vorschnell und ohne einen wirklichen argumentativen Abschluss. Den Autoren und der Autorin dieses Bandes geht es darum, das Ineinander des religiösen Lebens, der intellektuellen Entwicklungen und der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche des späten fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts und seine spätere Wahrnehmung neu zu beleuchten.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!

Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong> | <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Reformation</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong><br />

Neue Studien


Vorwort<br />

»<strong>Reformation</strong>« oder »<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«? Welches Erklärungsmodell<br />

entspricht jenen Ereignissen <strong>und</strong> strukturellen Veränderungen, die wir traditionell<br />

in der sogenannten Disziplin der »<strong>Reformation</strong>sgeschichte« zusammenfassen?<br />

Die Forschungsgeschichte zum Thema sah im deutschen Sprachraum in<br />

den 60er, 70er <strong>und</strong> 80er Jahren des vorigen Jahrh<strong>und</strong>erts eine zum Teil heftige<br />

Diskussion dieser Frage, die im Wesentlichen gemäß den Grenzziehungen des<br />

Kalten Krieges geführt wurde. Mit dem Ende desselben kam auch das Ende dieser<br />

Diskussion --- vorschnell, ohne einen wirklichen argumentativen Abschluss.<br />

Mit dem Fortfall des politisch-ideologischen Rahmens für die Theorie von der<br />

Frühbürgerlichen <strong>Revolution</strong> schienen auch deren Argumente <strong>und</strong> mögliche<br />

particulae veri ad acta gelegt.<br />

So schien es uns geraten, dieses Problem im Rahmen eines Geisteswissenschaftlichen<br />

Kollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes wieder aufzunehmen,<br />

um es sine ira et studio zu betrachten <strong>und</strong> neue Gesichtspunkte <strong>und</strong><br />

Differenzierungen in die Diskussion einzubringen. Der ursprüngliche Gedanke,<br />

der zu diesem Kolleg führte (Geisteswissenschaftliches Kolleg V: »<strong>Reformation</strong><br />

oder <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>? Kirchen-, sozial- <strong>und</strong> kulturgeschichtliche Perspektiven«,<br />

2013 bis 2015), geht auf ein Gespräch zwischen Thomas Ludwig<br />

(Studienstiftung) <strong>und</strong> <strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong> (Universität Aberdeen) zurück, in dem es<br />

darum ging, wie eine produktive <strong>und</strong> ungewöhnliche Auseinandersetzung mit<br />

der Wittenberger <strong>Reformation</strong> (<strong>und</strong> anderen europäischen <strong>Reformation</strong>en) im<br />

Vorlauf zum <strong>Reformation</strong>sjubiläum 2017 aussehen könnte. Es gelang, neben<br />

<strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> zwei weitere <strong>Reformation</strong>shistoriker zu gewinnen, die beide in<br />

der DDR, aber auf verschiedenen Seiten der Debatte, an profilierter Stelle zur<br />

Diskussion beigetragen hatten: Günter Vogler <strong>und</strong> Siegfried Bräuer. Die Diskussionen<br />

im Kolleg, in wechselnden Konstellationen während der vier jeweils einwöchigen<br />

Seminare, waren lebendig, erhellend <strong>und</strong> weiterführend, sowohl im<br />

Blick auf die Aufarbeitung der Debatten in der Zeit des Kalten Krieges als auch<br />

hinsichtlich neuer Ansätze zur Gewinnung größerer Klarheit, wenn es darum<br />

geht, das Ineinander des religiösem Lebens, der intellektuellen Entwicklungen


6<br />

Vorwort<br />

<strong>und</strong> der wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Umbrüche des späten fünfzehnten <strong>und</strong><br />

des sechzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts besser zu verstehen zu lernen.<br />

Da wir nun diesen Band der Öffentlichkeit vorlegen, danken wir unseren<br />

Kollegen <strong>und</strong> den Studierenden, die das Kolleg <strong>und</strong> die Zusammenarbeit bei der<br />

Erstellung des Bandes zu einer solch erfreulichen Erfahrung gemacht haben, <strong>und</strong><br />

Frau Janina Frey sowie Herrn Paul Bauer (beide Tübingen) für die Einrichtung<br />

des Bandes zum Druck sowie der Studienstiftung des deutschen Volkes für einen<br />

namhaften Druckkostenzuschuss. Wir widmen diesen Band dem Andenken<br />

Siegfried Bräuers.<br />

Aberdeen <strong>und</strong> Tübingen, im Juni 2021<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong> <strong>und</strong> <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>


Inhalt<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong><br />

Statt einer Einleitung: <strong>Reformation</strong>, <strong>frühbürgerliche</strong><br />

<strong>Revolution</strong> <strong>und</strong> die Frage nach Basis <strong>und</strong> Überbau ........................... 9<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« ............................... 23<br />

Sebastian Schmidmeier<br />

Verdammt, verkannt, vergessen ..................................................... 167<br />

Alida C. Euler<br />

Die Frage nach dem Zins ................................................................. 193<br />

Tobias Dienst<br />

Das <strong>Reformation</strong>sjubiläum 1967 in der DDR <strong>und</strong> die Rezeption<br />

des Konzepts »<strong>frühbürgerliche</strong>r <strong>Revolution</strong>« in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik ................................................................................ 235<br />

Günter Vogler<br />

Eine <strong>Revolution</strong> am Beginn des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts? ....................... 263<br />

Autorenverzeichnis .......................................................................... 289


<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong><br />

Statt einer Einleitung: <strong>Reformation</strong>,<br />

<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>und</strong> die<br />

Frage nach Basis <strong>und</strong> Überbau<br />

Ich möchte einige Überlegungen zum Thema unseres Bandes vortragen, einige<br />

Einsichten <strong>und</strong> Thesen, die sich für mich aus der gemeinsamen Lektüre <strong>und</strong> den<br />

Diskussionen ergeben haben. Unser Projekt war es ja, uns darüber Gedanken zu<br />

machen, ob jenes Ereignis --- beziehungsweise jene Verkettung von Ereignissen ---<br />

die wir »<strong>Reformation</strong>« zu nennen pflegen, vielleicht angemessener als <strong>frühbürgerliche</strong><br />

<strong>Revolution</strong> --- oder als einer von mehreren Aspekten einer <strong>frühbürgerliche</strong>n<br />

<strong>Revolution</strong> --- zu verstehen wäre. Das bot sich zum 500jährigen <strong>Reformation</strong>sjubiläum,<br />

<strong>und</strong> bietet sich im Rückblick darauf, durchaus an. Jahrelang liefen<br />

die Vorbereitungen für die Feiern im Jahre 2017, in dem deutschlandweit --- <strong>und</strong><br />

darüber hinaus --- der <strong>Reformation</strong> gedacht wurde. Die Evangelische Kirche in<br />

Deutschland richtete sogar das Amt der »Botschafterin des Rates der EKD für das<br />

<strong>Reformation</strong>sjubiläum 2017« ein, das --- wie hätte es anders sein können? --- Frau<br />

Käßmann innehatte.<br />

Die Gefahr bei diesem »<strong>Reformation</strong>sjubiläum 2017« war, dass aus den <strong>Reformation</strong>sfeierlichkeiten<br />

unter der Hand eine gigantische Lutherfeier werden<br />

würde. Es ist signifikant, dass das <strong>Reformation</strong>sjubiläum auf 1517, <strong>und</strong> damit<br />

auf Luthers vermeintlichen oder tatsächlichen Thesen-Anschlag an der Wittenberger<br />

Schlosskirche, zentriert wurde. So wurde von vornherein Luthers Bedeutung<br />

stark betont, vielleicht überbetont. Und natürlich konnte die Fokussierung<br />

auf 1517, <strong>und</strong> damit auf den Thesenanschlag, die Konsequenz haben, die Wittenberger<br />

<strong>Reformation</strong> auf Kosten ihrer Zürcher Schwester <strong>und</strong> ihrer anderen<br />

europäischen Schwestern hervorzuheben --- <strong>und</strong> wenn man die europäischen <strong>und</strong><br />

weltweiten Dimensionen jener anderen <strong>Reformation</strong>en bedenkt, die in dieser<br />

Hinsicht der Wittenberger nicht nachstehen, muss man wohl sagen: ungebührlich<br />

hervorzuheben.<br />

1. Frühkapitalismus <strong>und</strong> <strong>Reformation</strong><br />

Aber wie dem auch sei: Eine größere Gefahr beim <strong>Reformation</strong>sjubiläum 2017<br />

war, dass man sich im Feiern von großen Persönlichkeiten <strong>und</strong> Ereignissen ver-


10<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong><br />

lieren <strong>und</strong> dabei die Tiefenströmungen übersehen würde, deren Ausdruck die<br />

<strong>Reformation</strong> --- oder besser: die europäischen <strong>Reformation</strong>en --- war bzw. waren.<br />

Und bei der Frage nach diesen Tiefenströmungen denkt man natürlich an die<br />

ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Entwicklungen des Spätmittelalters <strong>und</strong> der frühen<br />

Neuzeit, die mit dem Schlagwort »Frühkapitalismus« bezeichnet sind.<br />

À propos Frühkapitalismus: Wer schon das eine oder andere Mal im Urlaub<br />

an einem italienischen Bankautomaten Geld abgehoben hat, hat das mit recht<br />

hoher Wahrscheinlichkeit auch an einem Gerät der Bank Monte dei Paschi di<br />

Siena getan. Das Logo der Bank zeigt auch ihr Gründungsdatum, <strong>und</strong> das lautet<br />

1472. Seit 549 Jahren ist diese --- die älteste noch existierende --- Bank der Welt<br />

im Geschäft <strong>und</strong> bewahrt (einigermaßen) Kontinuität in einem ansonsten sehr<br />

volatilen Wirtschaftssystem. Oder wer schon einmal in Augsburg war, kennt die<br />

Fuggerei, eine Sozialbausiedlung --- die älteste noch existierende der Welt --- die<br />

von der reichsten Familie von Frühkapitalisten in der Reichsstadt zur Unterbringung<br />

der »unverschuldet in Not Geratenen« gegründet wurde --- errichtet seit<br />

dem Jahre 1516 <strong>und</strong> finanziert nicht zuletzt aus den Profiten, die Jakob Fugger,<br />

genannt »der Reiche«, <strong>und</strong> seine Nachfahren im Silberbergbau <strong>und</strong> im Venedig-<br />

Handel erwirtschafteten. An diesen Institutionen wird bis heute sinnfällig, was<br />

sich in Europa im Spätmittelalter zu verändern begann --- dass ein neuer Anfang<br />

gesetzt wurde, der Europa <strong>und</strong> die Welt von Gr<strong>und</strong> auf transformieren sollte.<br />

Wie schon aus den eben genannten Beispielen hervorgeht, drängt es sich also<br />

durchaus auf, die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen<br />

frühkapitalistischer Wirtschaftsform <strong>und</strong> dem sozialen <strong>und</strong> kulturellen, <strong>und</strong><br />

damit auch dem religiösen, Leben zu stellen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> versteht<br />

sich die Leitfrage unseres Bandes, die in seinem Titel bereits impliziert ist: <strong>Reformation</strong><br />

oder <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>? Und die Formulierung erweckt<br />

gleichzeitig auch die Erinnerung an eine These, die besonders von der Geschichtswissenschaft<br />

der DDR vertreten wurde <strong>und</strong> im markanten Gegensatz zur<br />

b<strong>und</strong>esrepublikanischen Forschung stand, <strong>und</strong> zwar sowohl zu jener, die in den<br />

kirchengeschichtlichen Abteilungen der theologischen Fakultäten stattfand, als<br />

auch zu jener in den historischen Fakultäten.<br />

Ich will jetzt gar nicht näher auf die Geschichte dieses Disputes, der hauptsächlich,<br />

aber nicht ausschließlich ein Disput zwischen westdeutschen <strong>und</strong> ostdeutschen<br />

Forschern war, eingehen, sondern verweise dazu auf G. Voglers <strong>und</strong><br />

T. Diensts Aufsätze in diesem Band. Nur ein paar Worte zwecks Zusammenfassung<br />

der These von der <strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong> seien mir gestattet. Im<br />

Anschluss an die sowjetische Forschung der Nachkriegszeit stellten sich einige<br />

Frühneuzeit-Historiker in der DDR die Frage nach dem Zusammenhang zwischen<br />

Frühkapitalismus, deutschem Bauernkrieg <strong>und</strong> protestantischer <strong>Reformation</strong>.<br />

Dabei bildete sich im Anschluss an Arbeiten Moisej M. Smirins, Leo Koflers<br />

<strong>und</strong> Alfred Meusels die These von einer »<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong>« heraus,<br />

wobei <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg als verschiedene, miteinander vielfältig<br />

verflochtene Ausprägungen bzw. Etappen derselben <strong>Revolution</strong> verstanden wurden.<br />

Diese <strong>Revolution</strong> wurde als ein Schlüsselereignis der europäischen Ge-


Einleitung 11<br />

schichte aufgefasst; so »erlangten«, in den Worten Günter Voglers, eines Hauptvertreters<br />

der marxistischen Seite der Debatte, »mit der Charakterisierung als<br />

›bürgerliche Bewegung‹ oder ›bürgerliche <strong>Revolution</strong>‹ <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg<br />

einen Platz im Transformationsprozess von der feudalen zur bürgerlichen<br />

Gesellschaft, <strong>und</strong> die deutschen Ereignisse wurden in einen europäischen Rahmen<br />

eingefügt, einen <strong>Revolution</strong>szyklus, in dem sich Entwicklungs- <strong>und</strong> Reifestadien<br />

der bürgerlichen Emanzipation widerspiegelten.« 1<br />

Der Nukleus einer solchen Sicht der Dinge geht letztlich auf Friedrich Engels<br />

zurück, der es in seiner Schrift »Der deutsche Bauernkrieg«, zuerst veröffentlicht<br />

im Jahre 1850, unternommen hatte, <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg aus den frühkapitalistischen<br />

Umwälzungen im spätmittelalterlichen <strong>und</strong> frühneuzeitlichen<br />

deutschen Reich heraus zu erklären. Engels Buch wiederum beruht auf den Forschungen<br />

eines Vertreters des linken Flügels des Historismus, nämlich Wilhelm<br />

Zimmermanns. Zimmermann hatte bereits in den Jahren 1841---1843 unter dem<br />

Titel »Allgemeine Geschichte des grossen Bauernkrieges« eine monumentale Studie<br />

in drei Bänden veröffentlicht. Dieses Werk benutzte Engels gleichsam als Rohmaterial<br />

für seine von Marxens historisch-materialistischer Methodologie geprägte<br />

Interpretation der Ereignisse. Dazu später noch mehr.<br />

Alfred Meusel war einer der ersten, der den Terminus »<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«<br />

benutzte, <strong>und</strong> zwar in seinem Buch »Thomas Müntzer <strong>und</strong> seine Zeit«,<br />

veröffentlicht im Jahre 1952, wo es heißt: »Tatsächlich besteht zwischen der<br />

<strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> dem Bauernkrieg der denkbar engste Zusammenhang --- nicht<br />

etwa in dem Sinne, dass die <strong>Reformation</strong> die ›Ursache‹ des Bauernkrieges ist,<br />

sondern in dem, dass die beiden Ereignisse zwei Etappen innerhalb ein <strong>und</strong><br />

derselben Bewegung bilden. In den Jahren 1517 bis 1525 erlebt das deutsche<br />

Volk seine <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>. Sie zeigt in ihrem Ablauf die denkbar<br />

größte Ähnlichkeit mit den beiden anderen <strong>Revolution</strong>en ›von unten‹, der Märzrevolution<br />

des Jahres 1848 <strong>und</strong> der Novemberrevolution des Jahres 1918.« 2<br />

In<br />

den Worten Günter Voglers kann man noch hinzufügen: »das Konzept ›deutsche<br />

<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>‹ basiert auf der These, dass <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg<br />

nicht als voneinander unabhängige Phänomene, sondern nur aufgr<strong>und</strong><br />

ihres inneren Zusammenhangs <strong>und</strong> ihrer Wechselbeziehungen <strong>Revolution</strong>squalität<br />

zugesprochen werden könne«. 3 Dass ein solcher Zusammenhang <strong>und</strong> solche<br />

1<br />

Günter Vogler, Das Konzept »deutsche <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«. Genese --- Aspekte ---<br />

kritische Bilanz, in: ders., Signaturen einer Epoche. Beiträge zur Geschichte der frühen<br />

Neuzeit, hg. von Marion Dammaschke, Berlin 2012, 59---88, 89.<br />

2<br />

Alfred Meusel, Thomas Münzer <strong>und</strong> seine Zeit, Berlin 1952, 41.<br />

3<br />

Vogler, Das Konzept »deutsche <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«, 98. Vgl. Günter Voglers<br />

Auseinandersetzung mit der <strong>Revolution</strong>sthematik im vorliegenden Band.


12<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong><br />

Wechselbeziehungen existierten <strong>und</strong> es sich tatsächlich um eine <strong>Revolution</strong><br />

handelte, war <strong>und</strong> ist unter marxistischen Historikern so gut wie unumstritten. 4<br />

Warum das Thema aber zwischen westdeutschen <strong>und</strong> ostdeutschen Historikern<br />

zur Zeit des Kalten Krieges so umstritten war, kann man sich vorstellen. In<br />

anderen Weltgegenden konnte man ruhiger darüber reden. Heute aber ist die<br />

These von der »<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong>« nicht mehr umstritten; es wird<br />

einfach nicht mehr um sie gestritten. Man hält die Sache für erledigt, das Problem<br />

für gelöst, oder man hat einfach das Interesse daran verloren. So schrieb<br />

Sascha Möbius, seines Zeichens in den Jahren 2006---2011 Leiter der Gedenkstätte<br />

Moritzplatz Magdeburg, in seinem Aufsatz Ȇberlegungen zur Theorie der<br />

›<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong>‹« im Jahre 2010 folgendes: »Die in der DDR vertretene<br />

Deutung von <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg als ›<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>‹<br />

ist heute aus dem Wissenschaftsbetrieb weitgehend verschw<strong>und</strong>en. Hatte es<br />

Mitte der 1970er Jahre noch eine rege Auseinandersetzung mit der Theorie seitens<br />

b<strong>und</strong>esrepublikanischer Historiker gegeben, so ist sie heute --- wenn überhaupt<br />

--- Gegenstand historiographiegeschichtlicher Arbeiten.« 5 Doch sagt Möbius<br />

immerhin auch, am Ende seines Aufsatzes: »Daher wäre für die zukünftige Behandlung<br />

des Bauernkrieges zu wünschen, dass trotz des nachlassenden Interesses<br />

an <strong>Revolution</strong>en <strong>und</strong> Aufständen in der heutigen b<strong>und</strong>esrepublikanischen<br />

Geschichtslandschaft die Forschung wieder intensiviert wird <strong>und</strong> dass die DDR-<br />

Historiographie hier wieder verstärkt in die Debatte einbezogen wird. Zugleich<br />

sollte der propagandistische <strong>und</strong> eine Diktatur legitimierende Charakter des<br />

Theorems der ›<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong>‹ Gegenstand weiterer Untersuchungen<br />

werden.« 6<br />

Ein Wort nur zu Möbius’ Bemerkung über den »die Diktatur legitimierende[n]<br />

Charakter des Theorems«: Für den Wahrheitswert der Theorie dürfte es<br />

wohl irrelevant sein, ob sie auch propagandistischen <strong>und</strong> systemstützenden<br />

Charakter hatte. Dieser Wahrheitswert muss vielmehr unter Absehung von der<br />

durchaus auch stattfindenden propagandistischen Benutzung der Theorie untersucht<br />

werden. In einem aber ist Möbius zuzustimmen: Die These von der <strong>frühbürgerliche</strong>n<br />

<strong>Revolution</strong> verdient es, in den historischen <strong>und</strong> theologischen Debatten<br />

unserer Zeit neu bedacht zu werden. Aber wie?<br />

4<br />

Eine Ausnahme war Olga G. Tschaikowskaja; vgl. dies., Über den Charakter der <strong>Reformation</strong><br />

<strong>und</strong> des Bauernkrieges in Deutschland, in: Sowjetwissenschaft --- Gesellschaftswissenschaftliche<br />

Beiträge 6 (1957), 721---738.<br />

5<br />

Sascha Möbius, Überlegungen zur Theorie der »<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong>«, in: Jan<br />

Scheunemann (<strong>Hrsg</strong>.), <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg: Erinnerungskultur <strong>und</strong> Geschichtspolitik<br />

im geteilten Deutschland (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-<br />

Anhalt 11), Leipzig 2010, 49---62, 49. Zur Erinnerungskultur in der DDR vgl. Tobias<br />

Diensts Beitrag zum vorliegenden Band.<br />

6<br />

Möbius, Überlegungen, 62.


Einleitung 13<br />

2. Die These von der »<strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Reformation</strong>«<br />

<strong>und</strong> das Theorem von Basis <strong>und</strong> Überbau<br />

Schon in den Begriffen selbst --- »<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>« <strong>und</strong> »<strong>Reformation</strong>«<br />

--- kommt der Gegensatz zwischen materialistischer <strong>und</strong> nicht-materialistischer<br />

Geschichtsauffassung zum Ausdruck. Andrea Komlosy schreibt in ihrer Studie<br />

»Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrh<strong>und</strong>ert« treffend: »Einen<br />

weiteren Schub in Richtung der Anerkennung einer Arbeitsethik brachte die<br />

mit Urbanisierung <strong>und</strong> Frühkapitalismus einhergehende Kommerzialisierung<br />

der Gesellschaft. Ob die <strong>Reformation</strong> dabei als Triebkraft wirkte oder als Ausdruck<br />

sozioökonomischer Umbrüche anzusehen ist, scheidet idealistische <strong>und</strong><br />

materialistische Herangehensweisen an den historischen Wandel«. 7 Ob man von<br />

idealistischer Herangehensweise sprechen sollte oder nicht, das sei dahingestellt.<br />

Ich ziehe jedenfalls das Wortungetüm »nicht-materialistisch« vor. Von »idealistischer«<br />

Philosophie kann man sinnvoll reden; von einer »idealistischen« Geschichtsauffassung<br />

vielleicht dann doch nicht mehr. Jedenfalls wird sich wohl<br />

kein zeitgenössischer Historiker gern unter dieser Rubrik ablegen lassen. Und<br />

»bürgerliche Geschichtsauffassung« ist auch ein wenig belastet; also benutze ich<br />

der Einfachheit halber den Kontrast materialistisch/nicht-materialistisch.<br />

Was damit gemeint ist, möchte ich kurz darstellen. In ihrer Diskussion der<br />

Geschichte des Historismus arbeiten Friedrich Jaeger <strong>und</strong> Jörn Rüsen die Kritik<br />

des historischen Materialismus Marxscher Prägung an der historistischen Geschichtswissenschaft<br />

des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts, die ja in vielerlei Hinsicht<br />

bis heute fortwirkt, heraus. Als Ausgangspunkt wählen sie die berühmte Passage<br />

in der »Deutschen Ideologie«, wo es heißt:<br />

[…] es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden,<br />

sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten<br />

Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von<br />

den wirklich tätigen Menschen ausgegangen <strong>und</strong> aus ihrem wirklichen Lebensprozess<br />

auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe <strong>und</strong> Echos dieses Lebensprozesses<br />

dargestellt. […] Die Moral, Religion, Metaphysik <strong>und</strong> sonstige Ideologie <strong>und</strong><br />

die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen behalten hiermit nicht länger den<br />

Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung,<br />

sondern die ihre materielle Produktion <strong>und</strong> ihren materiellen Verkehr entwickelnden<br />

Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken <strong>und</strong> die<br />

7<br />

Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

Wien 2014, 14.


14<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong><br />

Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das<br />

Leben bestimmt das Bewusstsein. 8<br />

Jaeger <strong>und</strong> Rüsen kommentieren das mit den Worten, hier äußere sich ein Wissenschaftsanspruch,<br />

»der qualitativ über das historistische Wissenschaftsverständnis<br />

hinausgeht: Geschichte wird als zweite Natur des Menschen im produktiven<br />

Umgang mit der ersten (der Natur als Objekt von Arbeit) erkennbar«. 9<br />

Was könnte nun für einen solchen historisch-materialistischen Ansatz sprechen?<br />

Ausgangspunkt für die These von der <strong>frühbürgerliche</strong>n <strong>Revolution</strong> war die<br />

folgende Beobachtung, zusammengefasst von Günter Vogler:<br />

Historische Untersuchungen, die vor allem dem Bergbau, der Textilproduktion <strong>und</strong><br />

den Handelsbeziehungen galten, verwiesen darauf, dass seit dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

sichtbare, tendenziell in eine kapitalistische Richtung weisende Entwicklungen an<br />

der Wende vom 15. zum 16. Jahrh<strong>und</strong>ert eine auffallende Intensivierung erfuhren, so<br />

dass es nahe lag, die sich zur selben Zeit häufenden gesellschaftlichen Konflikte damit<br />

in Zusammenhang zu bringen. Durch die ökonomischen Prozesse wurden zudem<br />

sozialstrukturelle Wandlungen ausgelöst, die sich in verstärkten sozialen Differenzierungen<br />

niederschlugen. Davon berührt wurden alle Schichten der Gesellschaft, so<br />

weit sie in das Netz der sich ausweitenden Warenbeziehungen einbezogen waren. 10<br />

Hier liegt das Gr<strong>und</strong>problem der Auseinandersetzung mit <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> Bauernkrieg:<br />

Wie hingen die wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Entwicklungen mit den<br />

»gesellschaftliche[n] Konflikte[n]« <strong>und</strong> den »sozialstrukturelle[n] Wandlunge[n]«<br />

zusammen? Und eine andere Frage, nicht identisch mit der soeben genannten,<br />

aber doch mit ihr zusammenhängend, <strong>und</strong> in der Terminologie von Marx’ <strong>und</strong><br />

Engels’ »Deutscher Ideologie« gestellt: Wie hängen Lebensprozesse <strong>und</strong> Bewusstseinsformen<br />

zusammen? Dieses Problem stand letztlich im Zentrum der Debatte<br />

zwischen b<strong>und</strong>esdeutschen <strong>und</strong> DDR-Historikern, scheint mir aber selten einmal<br />

klar benannt <strong>und</strong> systematisch diskutiert worden zu sein: das Problem der Bedeutung<br />

des Theorems von Basis <strong>und</strong> Überbau. Dass es von den Historikern ---<br />

<strong>und</strong> zwar, wie gesagt, auf beiden Seiten! --- kaum mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit<br />

bedacht wurde, liegt vielleicht auch daran, dass es sich um ein<br />

methodologisches Problem handelt, welches eher im Blickfeld der Philosophen<br />

<strong>und</strong> der Wissenschaftshistoriker liegt als in dem der Historiker.<br />

Hier möchte ich etwas weiter ausholen. Im Hintergr<strong>und</strong> der Debatte um die<br />

»<strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«, zumindest im Hintergr<strong>und</strong> der meisten b<strong>und</strong>esrepublikanischen<br />

Beiträge zu jener Debatte, standen zwei Giganten der Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> ihre Beiträge zum Zusammenhang von Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

8<br />

MEW 3, 26---27, zitiert in: Friedrich Jaeger <strong>und</strong> Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus.<br />

Eine Einführung, München 1992, 167.<br />

9<br />

Jaeger <strong>und</strong> Rüsen, Geschichte des Historismus, 168.<br />

10<br />

Vogler, Das Konzept »deutsche <strong>frühbürgerliche</strong> <strong>Revolution</strong>«, 95.


Reinhard Ferdinand Nießner<br />

Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von<br />

Karl Marx« *<br />

Die Modifikation des Basis-Überbau-Theorems durch Ernst<br />

Troeltsch. Beibeobachtungen anhand von Troeltschs<br />

<strong>Reformation</strong>sauffassung<br />

Ein Gespenst geht um in Troeltschs Werk --- das Gespenst des Marxismus.<br />

Diesen Eindruck mag bekommen, wer um die intensive Auseinandersetzung mit<br />

<strong>und</strong> Nutzbarmachung von Marxscher Geschichtstheorie im Werk des Theologen,<br />

zugleich aber auch um die marginale Bedeutung weiß, die diesem Themenkomplex<br />

in der neueren Forschungsgeschichte zu Ernst Troeltsch (1865-1923) zukommt.<br />

Verstärkt wird diese Wahrnehmung zugleich bei der Analyse zeitgenössischer<br />

Stimmen bezüglich Troeltschs Auseinandersetzung mit materialistischer<br />

Geschichtsschreibung <strong>und</strong> Karl Marx. Angesichts der guten Quellenlage zur<br />

Troeltsch-Nekrologie fordert Friedrich Wilhelm Graf dazu auf, »neue Perspektiven<br />

der Wahrnehmung von Troeltschs Werk experimentell einzunehmen <strong>und</strong><br />

ihre spezifische Erschließungskraft zu erk<strong>und</strong>en.« 1 Hinsichtlich Troeltschs Affi-<br />

* Diese Studie ist eine stark veränderte <strong>und</strong> erweiterte Fassung meiner im Juli 2016<br />

eingereichten Abschlussarbeit (Master of Arts, Historische Wissenschaften) an der Universität<br />

Augsburg bei Stefan Lindl <strong>und</strong> <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>. An dieser Stelle möchte ich es<br />

daher nicht versäumen, einigen Personen meinen aufrichtigen Dank auszusprechen: Der<br />

Arbeitsgruppe <strong>Reformation</strong> oder Frühbürgerliche <strong>Revolution</strong>? des V. Geisteswissenschaftlichen<br />

Kollegs der Studienstiftung des Deutschen Volkes, allen voran den beiden<br />

Leitern der Arbeitsgruppe, <strong>Joachim</strong> <strong>Schaper</strong> (Aberdeen) <strong>und</strong> <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> (Tübingen,<br />

nunmehr New Haven), sodann Julian Lahner (Naturns), Sebastian Schmidmeier<br />

(Deuerling), Tobias Dienst (Heidelberg) <strong>und</strong> nicht zuletzt Stefan Lindl (Augsburg) für die<br />

kritische Lektüre des Textes. Der Augsburger Diss-kussions-R<strong>und</strong>e um Marius Mutz, Lisa<br />

Kolb, Jakob Bauer <strong>und</strong> Lisa Hutter gebührt ebenso großer Dank für produktive Kritik <strong>und</strong><br />

für anregende Diskussionen.<br />

1<br />

Friedrich Wilhelm Graf, Polymorphes Gedächtnis. Zur Einführung in die Troeltsch-<br />

Nekrologie, in: TS 12, 21---172, hier: 24. In dieser Arbeit werden verschiedene Abkürzungen<br />

verwendet, die hier kurz vorgestellt <strong>und</strong> im Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis genau<br />

beschrieben werden: TS = Troeltsch-Studien; KGA = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe;<br />

GS = Ernst Troeltsch Gesammelte Schriften; MEW = Karl Marx Friedrich Engels<br />

Werke. Aufgr<strong>und</strong> des langwierigen Entstehungsprozesses des Sammelbandes konnten<br />

neuere Forschungsergebnisse, wie bspw. die im Sommer 2021 erschienene KGA 9 der<br />

Soziallehren, nicht mehr berücksichtigt werden. Speziell dieser Band zu Troeltschs


24<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

nität zu Marxscher Geschichtstheorie sind viele Nachrufe in der Tat sehr aufschlussreich<br />

<strong>und</strong> zwingen geradezu dazu, eine neue Perspektive auf das umfangreiche<br />

Werk einzunehmen, denn:<br />

Für viele zeitgenössische Beobachter <strong>und</strong> Weggefährten erschien, so die hier<br />

vorgetragene These, ein enger thematischer Zusammenhang zwischen den Arbeiten<br />

des evangelischen Theologen auf der einen <strong>und</strong> dem Werk des erklärten<br />

Gegners der Religion, Karl Marx, auf der anderen Seite, nicht nur plausibel,<br />

sondern sogar äußerst evident.<br />

So äußerte sich beispielsweise Paul Wernle (1872---1939) in seinem Nachruf<br />

auf seinen »persönliche[n] Fre<strong>und</strong>« 2 über die Entstehungshintergründe von dessen<br />

Hauptwerk, den Soziallehren, 3 wie folgt:<br />

Er stand damals in Heidelberg in engster geistiger Arbeitsgemeinschaft mit dem Nationalökonomen<br />

Max Weber, <strong>und</strong> aus der Vergangenheit wirkte der Geist von Karl<br />

Marx auf ihn, der ihm von den Theologen <strong>und</strong> von allen idealistischen Denkern noch<br />

nicht gründlich genug gewürdigt schien. Man darf diese Entwicklung nicht als einen<br />

Abfall vom Idealismus betrachten; irgend eine Konstruktion des Christentums oder<br />

auch nur der <strong>Reformation</strong> aus den ökonomischen Faktoren lehnte er mit aller Schärfe<br />

ab, <strong>und</strong> schuf gerade in seinem ›Protestantismus‹ in der ›Kultur der Gegenwart‹ eine<br />

wahrhaft glänzende geistesgeschichtliche Leistung. Das Eine jedoch wurde ihm immer<br />

deutlicher: vom Geistigen, von der Ideologie aus allein läßt sich die Weltgeschichte<br />

nicht begreifen. 4<br />

Nahezu identische Beschreibungen, zum Teil ebenfalls von theologischen Fachkollegen<br />

verfasst, finden sich in anderen Nachrufen. Wenngleich sie in ihrem<br />

Urteil zuweilen stark divergieren mögen, so wird dennoch deutlich, dass der<br />

Großteil von Troeltschs Kollegen <strong>und</strong> Zeitgenossen durchaus um dessen intensive<br />

wie fruchtbare Auseinandersetzung mit Karl Marx <strong>und</strong> Marxscher Geschichtstheorie<br />

wusste. Der Kirchenhistoriker Heinrich Hoffmann (1874---1951)<br />

hebt hervor, dass Troeltsch »mehr als sonst ein Idealist […] die Verwurzelungen<br />

des Geistigen im soziologischen Unterbau betont <strong>und</strong> einen starken Wahrheitskern<br />

der Marxistischen Lehre anerkannt [hat].« 5 Walther Köhler (1870---1946)<br />

Hauptwerk dürfte weitere Studien zum hier behandelten Thema anregen. Die hier präsentierten<br />

Ergebnisse mögen dabei als Einstieg für die weitere Forschung dienen. Der Forschungsstand<br />

wurde zuletzt im Herbst 2020 aktualisiert.<br />

2<br />

Paul Wernle, [Nekro.] Ernst Troeltsch, in: TS 12, 361---369, hier: 361. Der ursprüngliche<br />

Erscheinungsort der Nachrufe wird hier nicht weiter angegeben, findet sich aber in TS 12.<br />

3<br />

Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, 2. Bde. Tübingen<br />

1988 [Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912].<br />

4<br />

Wernle, [Nekro.] Troeltsch, 366. Hervorhebungen im Original.<br />

5<br />

Heinrich Hoffmann, [Nekro.] Ernst Troeltsch zum Gedächtnis, in: TS 12, 443---451, hier:<br />

449; Ders., [Nekro.] Ernst Troeltsch, gest. am 31. Januar 1923, in: TS 12, 299---303, hier:<br />

301. »Mit starkem realistischen Blick durchforschte er die Zusammenhänge zwischen den<br />

Ideen <strong>und</strong> der soziologischen Struktur der Gesellschaft. Er hat Auguste Comte gewürdigt


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 25<br />

spricht davon, dass Marx »Einwirkung auf Troeltsch in der Schätzung der materiellen<br />

Entwicklungsfaktoren deutlich in den ›Soziallehren‹ spürbar ist.« 6 In der<br />

ersten Troeltsch-Biographie von 1941 greift derselbe Autor diese Perspektive<br />

erneut auf, indem er auf »eine verborgene marxistische Ader in seinen ›Soziallehren‹«<br />

7<br />

aufmerksam macht <strong>und</strong> betont, dass Troeltsch »von einem relativen<br />

Rechte des Marxismus, im Sinne einer vorhandenen Verhältnisbeziehung zwischen<br />

Unterbau <strong>und</strong> Überbau, [sprach].« 8 Gleichwohl spiegeln diese Ausschnitte<br />

nicht das gesamte Spektrum an zeitgenössischen Perspektiven auf Troeltschs<br />

<strong>und</strong> stärker als andere einen Wahrheitsgehalt der Marxistischen Lehre anerkannt, so sehr<br />

er ihnen gegenüber den Geist als Kern der Wirklichkeit behauptete.«<br />

6<br />

Walther Köhler, [Nekro.] Ernst Troeltsch, in: TS 12, 257---261, hier: 261; Ders., [Nekro.]<br />

Ernst Troeltsch (2), in: TS 12, 273---277, hier: 276: »Da wurde Karl Marx, dem er bei der<br />

Formung der ›Soziallehren‹ merkbaren Einfluß gegönnt hatte, spannendstes Objekt, wenn<br />

es das Problem der Gewinnung eines geistigen Überbaus aus der materiellen Gr<strong>und</strong>lage<br />

galt.« Es gibt noch weitere Nachrufe, welche Troeltsch eine dezidierte marxistische Geschichtsauffassung<br />

unterstellen, wobei dies manche, so wie Paul Wernle, positiv beurteilen,<br />

andere jedoch, wie Adolf von Harnack, als negativ empfinden. Vgl. Phillip Funk,<br />

[Nekro.] Ernst Tröltsch [sic!], in: TS 12, 322f., hier: 322: »Er neigte auch, wie dieser sein<br />

Fre<strong>und</strong> [Max Weber, RFN], dazu, die wirtschaftlichen <strong>und</strong> soziologischen Faktoren in der<br />

Geschichte zu stark zu betonen <strong>und</strong> ihnen im geistigen Leben einen ungebührlichen Platz<br />

einzuräumen, d.h. einen Einfluß zuzugestehen, der angesichts sämtlicher feststellbarer<br />

Tatsachen […] nicht stichhält.« Christian Herrmann, [Nekro.] Der letzte Geschichtsphilosoph<br />

des europäischen Geisteslebens, in: TS 12, 340---343, hier: 342: »Es [die Soziallehren,<br />

RFN] macht Ernst mit dem Gedanken, daß die religiösen Vorstellungen nur zum kleinsten<br />

Teil aus ihrer eigenen immanenten Logik sich entwickeln, sondern vielmehr in ihrer<br />

Entwicklung bedingt sind durch ihre Verbindung mit der jeweiligen allgemeinen Kulturlage.«<br />

Max Scheler, [Nekro.] Ernst Troeltsch als Soziologe, in: TS 12, 586---598, hier: 590---<br />

593, führt zwar unter Verweis auf den Schluss der Soziallehren aus, dass aus Troeltschs<br />

Perspektive die »marxistische Auffassung der Dinge […] falsch« sei, kritisiert jedoch<br />

gleichzeitig, dass »Troeltsch […] immer noch die ökonomischen Faktoren gewaltig [überschätzt].«<br />

Kurt Kessler, [Nekro.] Ernst Troeltsch als Geschichtsphilosoph, in: TS 12, 641---<br />

645, hier: 643: »Auch von Karl Marx hat Troeltsch gelernt. Bei aller nachdrücklichen<br />

Kritik an der Naturalisierung <strong>und</strong> Ökonomisierung der Hegelschen Dialektik durch Marx,<br />

die Troeltsch rückhaltlos ablehnt, fühlt er doch die starke geschichtsphilosophische Kraft<br />

der Marxistischen Philosophie, <strong>und</strong> auch das starke Stück Wahrheit, das in der Geltendmachung<br />

der soziologischen Bedingtheit des geschichtlichen Prozesses liegt, kennt er<br />

an.« Anonymus, Prof. Ernst Troeltsch gestorben, in: TS 12, 212: »[D]ie ›Soziallehren der<br />

christlichen Kirchen‹ u.a. verwerteten auch manche marxistischen Gedanken <strong>und</strong> tragen<br />

zu ihrer Fortbildung bei. Troeltsch ist übrigens selbst den starken Einwirkungen des<br />

Marxismus auf die ›bürgerliche‹ Wissenschaft mit Sympathie nachgegangen […].«<br />

Hervorhebung im Original. Eine genaue Analyse der Nachrufe <strong>und</strong> ein Abgleich mit der<br />

Sek<strong>und</strong>ärliteratur zeigt, dass einige der hier angeführten Autoren, wie beispielsweise<br />

Kurt Kessler <strong>und</strong> Heinrich Hoffmann, sowohl Troeltschs Christlichkeit als auch seine<br />

Vorliebe für marxistische Geschichtstheorie durchaus nebeneinander zu würdigen wussten,<br />

wobei Graf, Polymorphes Gedächtnis, 30f., lediglich Ersteres betont.<br />

7<br />

Walther Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, 4.<br />

8<br />

A.a.O., 271.


26<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

gr<strong>und</strong>legende Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

wider. So setzte beispielsweise Adolf von Harnack (1851---1930), langjähriger<br />

Weggefährte Troeltschs in seiner Berliner Zeit, 9 anlässlich der Trauerrede nach<br />

dem Tode seines Fre<strong>und</strong>es einen inhaltlich geradezu konträren Akzent.<br />

Troeltschs habe<br />

Ideen als reale Werte darzustellen [versucht, RFN], deren Realität der Wirklichkeit<br />

der ökonomischen Elemente nicht nachsteht, ja sie letztlich beherrscht. In diesem<br />

Sinn rang er mit Marx <strong>und</strong> jedem Denker, der nur das Oekonomische gelten ließ. 10<br />

Auch in dieser Positionierung Troeltschs gegen Marx durch Harnack klingt deutlich<br />

an, dass sich der Theologe intensiv mit dem Werk von Karl Marx auseinandersetzte.<br />

Doch nicht erst in retrospektiven Würdigungen auf Leben <strong>und</strong> Werk<br />

des Kulturphilosophen findet sich die besondere Herausstellung des immanenten<br />

Zusammenhangs von Troeltschs permanenter Frage zum Wechselverhätltnis<br />

von Religion <strong>und</strong> Gesellschaft einerseits <strong>und</strong> dem Werk von Karl Marx andererseits.<br />

Ähnliche Stellungnahmen zur Inanspruchnahme marxistischer Positionen<br />

durch den Theologen lassen sich bereits in Rezensionen zu Troeltschs Hauptwerk<br />

nachweisen. 11<br />

9<br />

In der Forschung ist in der Folge von Friedrich Wilhelm Graf oft die Rede von Troeltschs<br />

Heidelberger <strong>und</strong> Berliner Zeit bzw. von einem Heidelberger <strong>und</strong> einem Berliner<br />

Troeltsch. Diese chronologische wie geographische Einteilung erscheint zunächst pragmatisch<br />

sinnvoll. Eine eindeutige Zweiteilung in eine Heidelberger Werkphase als Theologe<br />

bis 1915 <strong>und</strong> eine Berliner Schaffensphase als Kulturphilosoph von 1915 bis zu seinem<br />

Tode im Jahr 1923 lässt sich jedoch --- so auch Graf --- nur schwer rechtfertigen. Vgl. Friedrich<br />

Wilhelm Graf, Der ›Systematiker‹ der ›Kleinen Göttinger Fakultät‹, in: TS 3, Neue<br />

Folge, 153---213, hier: 212; Ders., Wertkonflikt oder Kultursynthese, in: TS 3, Neue Folge,<br />

353---373, hier: 372; Ders., Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum ›Weber-<br />

Paradigma‹, in: TS 3, Neue Folge, 335---351, hier: 349. Siehe auch Horst Renz (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Ernst Troeltsch zwischen Heidelberg <strong>und</strong> Berlin (TS 2), Gütersloh 2001.<br />

10<br />

Adolf von Harnack, Rede am Sarge Ernst Troeltschs, in: TS 12, 266---271, hier: 269. Zu<br />

Leben <strong>und</strong> Werk von Adolf von Harnack vgl. Kurt Nowak/Otto Gerhard Oexle (<strong>Hrsg</strong>),<br />

Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (Veröffentlichung des<br />

Max-Planck-Instituts für Geschichte, 161), Göttingen 2001; Gunther Wenz, Der Kulturprotestant.<br />

Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker <strong>und</strong> Kontroverstheologe (Münchner<br />

theologische Beiträge 10), München 2001. Speziell zum Verhältnis, zu Überschneidungen<br />

<strong>und</strong> Abgrenzungen zu Troeltsch vgl. <strong>Joachim</strong> Mehlhausen, Ernst Troeltschs<br />

›Soziallehren‹ <strong>und</strong> Adolf von Harnacks ›Lehrbuch der Dogmengeschichte‹. Eine historischsystematische<br />

Skizze, in: TS 6, 193---211.<br />

11<br />

Vgl. Conrad Schmidt, [Rez.] Christentum <strong>und</strong> Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte<br />

25 (1915), 1312---1316, hier: 1313: »Troeltsch, der übrigens die ökonomische Geschichtsauffassung<br />

in den oben umschriebenen Sinn als wichtiges Hilfsmittel der Forschung<br />

anerkennt <strong>und</strong> selbst verwertet, ist es im Prinzip darum zu tun sich über eine der<br />

seltsamsten Erscheinungen der Geschichte Rechenschaft zu geben«. Walther Köhler,<br />

[Rez.] Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen, in: Historische Zeitschrift<br />

114 (1915), 598---605, hier: 604: »Das ganze ist ein großer, wohlgelungener Wurf;


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 27<br />

Auf Basis der zeitgenössischen Bef<strong>und</strong>e soll folgende Hypothese in den Fokus<br />

dieser Studie gerückt werden <strong>und</strong> anhand diverser Schriften des Theologen verifiziert<br />

werden: Ernst Troeltsch rezipierte nicht nur äußerst intensiv Marxsche<br />

Geschichtstheorie, sondern modifizierte das Basis-Überbau-Theorem für die<br />

geschichtswissenschaftliche Forschung <strong>und</strong> setzte diese neue Methode in soziologisch<br />

gewendeter Manier für seine eigenen historisch orientierten religions<strong>und</strong><br />

kulturgeschichtlichen Arbeiten ein.<br />

Unter Rekurs auf die Hypothese, dass Troeltsch in starkem Maße auf »die<br />

Marxistische Unterbau-Ueberbaulehre« 12 zurückgriff, erscheint eine Analyse von<br />

Troeltschs <strong>Reformation</strong>sauffassung bezüglich des Konzepts der »Frühbürgerlichen<br />

<strong>Revolution</strong>« der DDR-Historiographie sowohl aus wissenschafts- als auch<br />

aus werkgeschichtlicher Perspektive lohnend. Aus wissenschaftsgeschichtlicher<br />

Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit nicht bereits Ernst Troeltsch als prominenter<br />

Vertreter der Ersten Kulturwissenschaft die Frage nach den ökonomischen<br />

Ursprüngen der <strong>Reformation</strong> virulent diskutierte, ohne dabei an ein ideologisch<br />

geprägtes Staatsgebilde geb<strong>und</strong>en gewesen zu sein. Und aus werk- <strong>und</strong><br />

geistesgeschichtlicher Sicht ist von Interesse, ob <strong>und</strong> falls ja, in welchem Ausmaß<br />

Troeltschs <strong>Reformation</strong>sdeutung geschichtsmaterialistisch durchsetzt bzw.<br />

von Marx geprägt ist.<br />

Um sich diesem Fragen- <strong>und</strong> Themenkomplex überhaupt annähern zu können,<br />

ist zunächst eine systematische <strong>und</strong> detailreiche Rekonstruktion der Marx-<br />

Rezeption <strong>und</strong> Nutzbarmachung Marxscher Geschichtstheorie im Werk von<br />

Troeltsch vonnöten, da es sich bei dieser Fragestellung um ein Desiderat handelt.<br />

Zwar wurde <strong>und</strong> wird vereinzelt darauf hingewiesen, dass der Religionssoziologe<br />

das Basis-Überbau-Theorem methodisch übernommen hätte, 13<br />

doch wie sich<br />

zugleich mit Vollbewußtsein (vgl. das Schlußkapitel) ein Versuch einer --- bedingten ---<br />

Übertragung marxistischer Betrachtung auf die Kirchengeschichte.« Marxistisch ist bei<br />

Köhler auf das Basis-Überbau-Theorem bezogen <strong>und</strong> zielt keineswegs auf das religionsfeindliche<br />

Element im Werk von Marx ab. Paul Wernle, [Rez.] Vorläufige Anmerkungen<br />

zu den Soziallehren der christlichen Kirchen <strong>und</strong> Gruppen von Ernst Troeltsch, in: Zeitschrift<br />

für Theologie <strong>und</strong> Kirche 22 (1912), 329---368, hier: 367. »In solchen Thesen<br />

kommt der Marxismus von Troeltsch zum Ausdruck.« Ferdinand Tönnies, [Rez.]<br />

Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, in: Theologische Literaturzeitung<br />

39 (1914), 8---12, hier: 12; Hugo Bieber, [Rez.] Eine Soziologie des christlichen<br />

Gedankens, in: Zeitspiegel, Nr. 50, Beiblatt zum Berliner Tagblatt, Nr. 626 vom 09. Dezember<br />

1912.<br />

12<br />

Ernst Troeltsch, Meine Bücher (1922), in: GS IV, 3---18, hier: 11. Das Zitat »die Marxistische<br />

Unterbau-Ueberbaulehre« wird in der Folge nicht mehr belegt, bezieht sich aber,<br />

soweit nichts anderes angegeben, auf die hier zitierte Stelle.<br />

13<br />

Vgl. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben <strong>und</strong> Werk, Göttingen 1991, 259, 372;<br />

Friedrich Wilhelm Graf/Hartmut Ruddies, Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in<br />

praktischer Absicht, in: Josef Speck (<strong>Hrsg</strong>.), Gr<strong>und</strong>probleme der großen Philosophen<br />

(Philosophie der Neuzeit IV), Göttingen 1986, 129---164, hier: 154; Friedrich Wilhelm Graf,<br />

Einleitung, in: KGA 16, Bd. 1, 1---82, hier: 46f.; Arie L. Molendijk, Zwischen Theologie <strong>und</strong><br />

Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte,


28<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

diese Übernahme methodisch <strong>und</strong> historisch-systematisch konkret in seinem<br />

Werk auswirkte, ist noch nicht erforscht. Die hier aufgeworfene Fragestellung<br />

verspricht daher neue Perspektiven auf das umfangreiche Werk des Kulturphilosophen<br />

aufzuwerfen <strong>und</strong> neue Impulse für die Troeltsch-Forschung anzuregen.<br />

Troeltschs Umgang mit Marxscher Geschichtstheorie kommt in neueren Forschungen,<br />

wenn überhaupt, so nur eine äußerst marginale Bedeutung zu. Angesichts<br />

der einschlägigen zeitgenössischen Bef<strong>und</strong>e zur fruchtbaren Rezeption<br />

von Karl Marx <strong>und</strong> des Basis-Überbau-Theorems mag dies umso mehr verw<strong>und</strong>ern.<br />

Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt (1.) Troeltschs indirekte Rezeption<br />

von Karl Marx, Marxismus <strong>und</strong> materialistischer Geschichtsauffassung<br />

bis zur Abfassung der Soziallehren rekonstruiert werden. Daraufhin (2.) werden<br />

spezifische marxistische Züge des Hauptwerks am Beispiel der Auseinandersetzung<br />

mit Karl Kautsky (1854---1838) <strong>und</strong> Georg Simmel (1858---1818) herausgestellt<br />

sowie anhand von diversen Nachträgen für die Buchfassung von 1912<br />

verdeutlicht. Der zentrale methodische Ort <strong>und</strong> Stellenwert des Basis-Überbau-<br />

Theorems wird darauf aufbauend (3.) anhand einiger geschichtstheoretischer<br />

<strong>und</strong> soziologisch inspirierter Aufsätze des Religionssoziologen aus den Jahren<br />

1909 bis 1913 nachgezeichnet. Troeltsch bezieht sich unzweideutig <strong>und</strong> mitunter<br />

auch äußerst positiv auf die »Marxistische Unterbau-Ueberbaulehre« <strong>und</strong><br />

wendet sie als geschichtswissenschaftliche Methode zur Erforschung der Vergangenheit<br />

an. Erst diese umfangreiche Vorarbeit gestattet es (4.) Troeltschs<br />

<strong>Reformation</strong>sauffassung abschließend zum Konzept der »Frühbürgerlichen <strong>Revolution</strong>«<br />

in Beziehung zu setzen <strong>und</strong> einen sinnvollen epistemologischen <strong>und</strong><br />

geistesgeschichtlichen Vergleich anzustellen. Troeltschs <strong>Reformation</strong>sdeutung,<br />

das Konzept der »Frühbürgerlichen <strong>Revolution</strong>« sowie Friedrich Engels (1820---<br />

Mystik (TS 9), Gütersloh 1996, 22; Hartmut Ruddies, La vérité au courant de l’histoire.<br />

Réflexions sur la philosophie de l’histoire de Ernst Troeltsch, in: Pierre Gisel (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Histoire et théologie chez Ernst Troeltsch, Genève 1992, 15---37, hier: 35. Es scheint, dass<br />

nicht-deutschsprachige Beiträge diesem Themenkomplex eine größere Beachtung schenken.<br />

Vgl. Christoph Theobald, Troeltsch et la méthode historico-critique, in: Gisel (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Histoire et théologie, 243---268, hier: 254f.; Alfred Dumais, La pertinence de la sociologie<br />

pour la théorie troeltschienne de l’historie. Le dialogue avec Weber et Simmel, in: Gisel<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Histoire et théologie, 177---194, hier: 180---185, wobei der Autor (184) im Hinblick<br />

auf Troeltsch <strong>und</strong> Weber nicht ganz korrekt von einem vertauschten bzw. umgedrehten<br />

(inversée) Marx spricht. Jean Séguy, Christianisme et société. Introduction à la sociologie<br />

de Ernst Troeltsch, Paris 1980, 64---89, 252---267; Donald E. Miller, Troeltsch’s Critique of<br />

Karl Marx, in: Journal for the Scientific Study of Religion 1 (1961), 117---121, hier: 117:<br />

»Troeltsch’s criticism [of Marxism, RFN] is not simply negative in its force. It is a broadly<br />

constructed, analytic study of Marxism which intends to draw out Marx’s potential<br />

contribution to Western tought and at the same time to set aside the dogmatic and propagandist<br />

elements. Troeltsch’s own conception of sociological and historical development<br />

was profo<strong>und</strong>ly influenced by Marx.« Lori Peason, Beyond Essence. Ernst Troeltsch as<br />

Historian and Theorist of Christianity (Harvard Theological Studies 58), Cambridge 2008,<br />

75---80.


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 29<br />

1895) Äußerungen zur <strong>Reformation</strong> werden anhand der einzelnen Bestandteile<br />

des DDR-Forschungskonzepts --- der <strong>Revolution</strong> <strong>und</strong> ihres bürgerlichen wie auch<br />

frühen Charakters --- untersucht, um vergleichend Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Unterschiede<br />

auszuweisen.<br />

1. Indirekte Marx-Rezeption bis zu den Soziallehren<br />

(1897--1907)<br />

Bis zur Abfassung der Soziallehren im Jahr 1907 lassen sich im Werk des Theologen<br />

bereits zwei voneinander getrennte Rezeptionsphasen von Marx, Marxismus<br />

<strong>und</strong> materialistischer Geschichtsauffassung rekonstruieren. Dabei handelt<br />

es sich zunächst um eine indirekte Rezeptionsphase zwischen 1897 <strong>und</strong> 1900.<br />

In dieser Zeit rezipierte Troeltsch die materialistische Geschichtsauffassung<br />

vorwiegend indirekt durch eine Kritik des Marxismus aus theologischer Perspektive.<br />

14 Da in der rezipierten Sek<strong>und</strong>ärliteratur häufig zentrale Originalpassagen<br />

von Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels eingestreut sind, wurde Troeltsch bereits<br />

mit den beiden Begründern der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

vertraut. Gleichzeitig lernte er die Positionen <strong>und</strong> Schriften einiger Epigonen von<br />

14<br />

Im Anschluss an einen entscheidenden Hinweis von Friedrich Wilhelm Graf, Ernst<br />

Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums, in: TS 3, Neue Folge, 241---265, hier: 246,<br />

<strong>und</strong> Graf, Einleitung (KGA 16), 5f., lässt sich diese erste indirekte Rezeptionsphase zwischen<br />

1897 <strong>und</strong> 1900 anhand zahlreicher Rezensionen über die materialistische Geschichtsauffassung<br />

aus theologischer Perspektive gut belegen. Anders als Graf, Kulturgeschichte,<br />

246, vermutet, handelt es sich jedoch nicht um Arbeiten »marxistischer<br />

Historiker«, sondern vornehmlich um eine Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

durch Theologen. Troeltsch rezensierte im Theologischen Jahresbericht folgende<br />

Werke: Max Lorenz, Religion <strong>und</strong> Sozialdemokratie, Berlin 1897; Gustav Hoepel, Religion<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliches Abhängigkeitsgefühl, in: Die christliche Welt 11 (1897), 800---803,<br />

826---829, 844---847; Herrmann Köhler, Geschichtsmaterialismus <strong>und</strong> Religion, hrsg. v.<br />

Vaterlandsverein, Berlin 1897; Ottomar Lorenz, Die materialistische Geschichtsauffassung<br />

zum ersten Male systematisch dargestellt <strong>und</strong> kritisch beleuchtet, Leipzig 1897;<br />

Otto Flügel, Idealismus <strong>und</strong> Materialismus der Geschichte, in: Zeitschrift für Philosophie<br />

<strong>und</strong> Pädagogik 4 (1897), 161---183, 241---261, 321---362, 401---423; Paul Barth, Philosophie<br />

der Geschichte als Soziologie. Erster Teil. Einleitung <strong>und</strong> kritische Übersicht, Leipzig<br />

1987; Otto Flügel, Idealismus <strong>und</strong> Materialismus der Geschichte, in: Zeitschrift für Philosophie<br />

<strong>und</strong> Pädagogik 5 (1898), 1---30, 81---107, 161---195, 241---265. Vgl. dazu: Ernst<br />

Troeltsch, Religionsphilosophie <strong>und</strong> theologische Principienlehre (1897), in: KGA 2, 213---<br />

309, hier: 295; Ernst Troeltsch, Religionsphilosophie <strong>und</strong> principielle Theologie (1898), in:<br />

KGA 2, 367---484, hier: 428ff; Die Arbeit von Paul Barth rezensierte Troeltsch gesondert.<br />

Vgl. dazu: Ernst Troeltsch, [Rez.] Paul Barth: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie,<br />

1. Teil (1897) (1898), in: KGA 2, 349---354. Die erste der beiden Jahreszahlen bei<br />

Rezensionen von Ernst Troeltsch bezieht sich auf das Erscheinungsjahr des rezensierten<br />

Textes, die zweite dagegen auf das Erscheinungsdatum der Rezension selbst.


30<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

Karl Marx kennen; so beispielsweise von Karl Kautsky (1854---1938), Franz Mehring<br />

(1846---1919) <strong>und</strong> Franz Lütgenau (1857---1931). 15 Die im Theologischen Jahresbericht<br />

rezensierte Literatur führte Troeltsch vor Augen, dass materialistische<br />

Geschichtsauffassung <strong>und</strong> Marxismus nicht ausschließlich als Bestandteil einer<br />

Weltanschauung zu betrachten seien. 16 Vielmehr wurde der neuartige Charakter<br />

als historische Methode betont. 17 In diesem Kontext ist die von Troeltsch im Jahr<br />

1898 geäußerte Würdigung der marxistischen Geschichtskonstruktion zu lesen:<br />

Bei aller Willkür der Marxistischen Religionsphilosophie empfängt man hierbei, wie<br />

übrigens auch beim Lamprecht’schen Streite, doch immer den Eindruck, wie stark<br />

die äusseren (sic!) Naturbedingungen <strong>und</strong> die hieraus hervorgehenden ökonomischen<br />

Verhältnisse sammt (sic!) den dadurch bestimmten Massenstimmungen die<br />

Geschichte beeinflusst (sic!) <strong>und</strong> wie dünn die Schichte des ideologischen Ueberbaus<br />

ist. 18<br />

Für die Anfänge der indirekten Marx-Rezeption scheint es daher plausibel, sowohl<br />

die hier nur schemenhaft angeführten Sammelrezensionen im Theologischen<br />

Jahresbericht als auch den von Troeltsch ebenfalls genannten Methodenbzw.<br />

»Lamprecht’schen Streite« innerhalb der historischen Zunft als ausschlaggebend<br />

zu charakterisieren. 19 Eine solche Interpretation hebt die wissenschaftliche<br />

Eigenständigkeit des Theologen hervor <strong>und</strong> bietet zugleich eine plausible<br />

15<br />

Köhler, Geschichtsmaterialismus, 15, 20ff., kritisiert alle drei sozialistischen Theoretiker.<br />

Dass Troeltsch diese Schrift nicht nur rezensierte, ohne sie gelesen zu haben, sondern<br />

sie auch tatsächlich intensiv rezipierte, erschließt sich aus seinem Urteil <strong>und</strong> seiner<br />

Empfehlung: »Das Schriftchen von Köhler, das zugleich praktisch-politische Absichten<br />

verfolgt, ist wegen seiner Sachk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Kürze sehr zu empfehlen.« Vgl. Troeltsch, Religionsphilosophie<br />

(1898), 430; Hoepel, Religion, 801, 803, 827, setzt sich sowohl mit<br />

Kautsky als auch mit Lütgenau auseinander. Ottomar Lorenz, Materialistische Geschichtsauffassung,<br />

39, hebt hervor, dass Mehring mit der Inklusion des Klimas unter die<br />

»Produktionsverhältnisse« »gar nicht Unrecht [hat]«; Max Lorenz, Religion <strong>und</strong> Sozialdemokratie,<br />

28, kritisiert Kautsky; Flügel, Idealismus <strong>und</strong> Materialismus (1898), 161---164,<br />

kritisiert sowohl Mehring als auch Kautsky. Zu Leben <strong>und</strong> Werk Karl Kautskys vgl. den<br />

Beitrag von Sebastian Schmidmeier, Verdammt, verkannt, vergessen. Überlegungen zur<br />

Bedeutung des Bauernkrieges in Karl Kautskys materialistischer Geschichtsschreibung,<br />

in diesem Band, 167---192; Zu Franz Mehring vgl. Monika Kramme, Franz Mehring. Theorie<br />

<strong>und</strong> Alltagsarbeit, Frankfurt am Main 1980; Walter Kumpmann, Franz Mehring als<br />

Vertreter des Historischen Materialismus, Wiesbaden 1966.<br />

16<br />

So Köhler, Geschichtsmaterialismus, 10.<br />

17<br />

So beispielsweise Ottomar Lorenz, Materialistische Geschichtsauffassung, 20, 26.<br />

18<br />

Troeltsch, Religionsphilosophie (1898), 430.<br />

19<br />

Zu Troeltschs Positionierung innerhalb des Methodenstreits vgl. Graf, Kulturgeschichte,<br />

246---254; Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: KGA 4, 1---70, hier: 18f.


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 31<br />

Alternative zu stereotypen Deutungen, welche den Anteil Max Webers (1864---<br />

1920) für die Troeltsche Marx-Rezeption zu hoch veranschlagen. 20<br />

Zudem wird durch Troeltschs Anerkennung der Gr<strong>und</strong>gedanken einer materialistisch<br />

gewendeten Geschichtsschreibung ebenfalls deutlich, dass er bereits<br />

in seiner frühen Werkphase positiv von Marx’ Geschichtstheorie beeinflusst war.<br />

Da ihm allerdings die Einseitigkeit dieser Geschichtsauffassung so bewusst war,<br />

wie sie ihm widerstrebte, nahm er in der Folge deren Gr<strong>und</strong>gedanken auf, dass<br />

zwischen Basis <strong>und</strong> Überbau ein reziprokes Wechselverhältnis herrscht, <strong>und</strong><br />

entwickelte sie auf bemerkenswert eigenständige Art <strong>und</strong> Weise weiter. Von<br />

besonderer Wichtigkeit war dabei die Einsicht, dass sich Themata der Geistesgeschichte<br />

durch einseitig idealistische 21 Zugänge nicht hinreichend erklären las-<br />

20<br />

Diese Interpretation verfolgen einigen Studien, welchen jedoch zugleich das Verdienst<br />

zukommt, auf eine fruchtbare Auseinandersetzung Ernst Troeltschs mit marxistischer<br />

Geschichtstheorie <strong>und</strong> dem Basis-Überbau-Theorem aufmerksam gemacht zu haben. Vgl.<br />

Wilfrid Gerhard, Troeltsch als Soziologe, Diss. Köln 1975; Hans Bosse, Marx --- Weber ---<br />

Troeltsch. Religionssoziologie <strong>und</strong> marxistische Ideologiekritik (Gesellschaft <strong>und</strong> Theologie<br />

2), München 2 1971; Klaus Ahlheim, Religion <strong>und</strong> Gesellschaft bei Max Weber <strong>und</strong><br />

Ernst Troeltsch <strong>und</strong> die Fortwirkung ihrer Auffassung in Religionssoziologie <strong>und</strong> Theologie,<br />

Diss. Clausthal-Zellerfeld 1972; Jean Séguy, Ernst Troeltsch et ses »Soziallehren«, in:<br />

Archives de sociologie des religions 11 (1961), 7---14, hier: 9; Ders., Christianisme et<br />

société, 64---89, 259---262; Dumais, Pertinence de la sociologie; Carlo Antoni, Vom Historismus<br />

zur Soziologie. Dilthey, Troeltsch, Meinecke, Max Weber, Huizinga, Wölfflin,<br />

Stuttgart 1950, 89f.<br />

21<br />

Ernst Troeltsch spricht in den Soziallehren <strong>und</strong> in anderen Studien von einer »rein<br />

dialektisch-ideologischen Auffassung«. Diese Charakterisierung bezieht sich auf eine<br />

einseitig idealistische Ideen- <strong>und</strong> Geistesgeschichte bzw. theologische Dogmengeschichte,<br />

die sozioökonomische sowie sozial- <strong>und</strong> kulturgeschichtliche Faktoren gänzlich ausblendet.<br />

Insofern wird im Folgenden ausschließlich von einer idealistischen Geschichtsauffassung<br />

die Rede sein, um den Kontrast zur materialistischen Geschichtsauffassung deutlicher<br />

zu fassen. Vgl. Troeltsch, Soziallehren, 194, Anm. 87a (Zitat); Ders., Augustin, die<br />

christliche Antike <strong>und</strong> das Mittelalter. Im Anschluß an die Schrift ›De Civitate Dei‹ (Historische<br />

Bibliothek 36), Aalen 1963 [Neudruck der Ausgabe München 1915], 4, Anm 1;<br />

Ders., Meine Bücher, 11; Max Weber, Die protestantische Ethik <strong>und</strong> der ›Geist‹ des Kapitalismus<br />

(1904/05), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen<br />

9<br />

1988, 17---206, hier: 205, spricht dagegen im gleichen Zusammenhang von einer »spiritualistische[n]<br />

kausale[n] Kultur- <strong>und</strong> Geschichtsdeutung«. Folgt man Frieder Otto Wolf,<br />

bezieht sich die Differenz zwischen materialistischer <strong>und</strong> idealistischer Geschichtsschreibung<br />

auf »die kritische Frage […], ob die erklärten Motive <strong>und</strong> Zwecke auch wirklich das<br />

Handeln der Beteiligten getragen <strong>und</strong> vorangetrieben haben bzw. in welchem Maße dabei<br />

individuelle oder auch kulturelle (Selbst-)Täuschung im Spiel gewesen ist. Materialismus<br />

stünde an dieser Stelle für die Tendenz, das Ausmaß derartiger Täuschungen relativ hoch<br />

einzuschätzen --- während Idealismus in dieser Hinsicht bedeuten würde, von einem hohen<br />

Grad der Selbstdurchsichtigkeit <strong>und</strong> gegenseitigen Transparenz der historisch Handelnden<br />

auszugehen.« Vgl. Frieder Otto Wolf, Materialistische Geschichtsschreibung, in:<br />

Anne Kwaschik/Mario Wimmer (<strong>Hrsg</strong>.), Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch<br />

zu Theorie <strong>und</strong> Praxis der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2010, 135---138, hier: 136. Da<br />

diese Charakterisierung auch für Troeltschs Arbeiten hohe Plausibilität beanspruchen


32<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

sen. Insofern erachtete es Troeltsch für erstrebenswert, auf die Kirchengeschichte<br />

die Maßstäbe der kritisch-historischen Methode anzuwenden <strong>und</strong> sie gleichsam<br />

für Fragen der Kulturgeschichte zu öffnen. 22 So ist bereits im Aufsatz Ueber<br />

historische <strong>und</strong> dogmatische Methode in der Theologie aus dem Jahr 1898 die Rede<br />

von der »Wechselwirkung aller Erscheinungen des geistig-geschichtlichen Lebens«.<br />

23<br />

Alle historischen Kräfte stünden in einem »das Gesamtgeschehen umfassenden<br />

korrelativen Fluß <strong>und</strong> Zusammenhang, der uns alles durcheinander<br />

bedingt zeigt, keinen der gegenseitigen Beeinflussung <strong>und</strong> Verflechtung entzogenen<br />

Punkte kennt.« 24 Bleibt der Begriff der »Wechselwirkung« hier auf Phänomene<br />

des »geistig-geschichtlichen Lebens« beschränkt, so kommt der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung im Hinblick auf Ernst Troeltsch das Verdienst zu,<br />

auf die konstitutive Bedeutung sozioökonomischer Faktoren im historischen<br />

Prozess aufmerksam zu machen.<br />

Die zweite Rezeptionsphase, in der ein reflektierter Aneignungsprozess des<br />

Basis-Überbau-Theorems beginnt, lässt sich ab 1904 nachweisen. In Troeltschs<br />

Schriften kommt es vermehrt zu positiven Bezügen zur materialistischen Geschichtsauffassung<br />

als historischer Methode. Als äußerer Rahmen sei auf das<br />

Erscheinen von zwei zentralen Arbeiten Max Webers aus dem Jahr 1904 verwiesen,<br />

in denen sich der Nationalökonom ebenfalls ausgiebig mit der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung <strong>und</strong> Karl Marx auseinandersetzte. Zum einen handelt<br />

es sich dabei um den Aufsatz Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong><br />

sozialpolitischer Erkenntnis in der ersten Ausgabe des von ihm, Werner Sombart<br />

<strong>und</strong> Edgar Jaffé übernommenen <strong>und</strong> herausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft<br />

<strong>und</strong> Sozialpolitik <strong>und</strong> zum anderen um die Studie Die protestantische Ethik<br />

<strong>und</strong> der ›Geist‹ des Kapitalismus. 25<br />

kann, da er einerseits einseitig idealistischen Geschichtskonstruktionen stark misstraute<br />

<strong>und</strong> andererseits die materialistische Geschichtsauffassung als »ausschließlich realistische<br />

Erklärung« schätzte, soll sie im Folgenden als Gr<strong>und</strong>lage für die Begriffe Materialismus<br />

<strong>und</strong> Idealismus dienen. Das Zitat bei Ernst Troeltsch, Der Historismus <strong>und</strong> seine<br />

Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922) (KGA 16),<br />

549.<br />

22<br />

Vgl. Theobald, Méthode historico-critique.<br />

23<br />

Ernst Troeltsch, Ueber historische <strong>und</strong> dogmatische Methode in der Theologie (1898),<br />

in: GS II, 729---753, hier: 733. Hervorhebung im Original.<br />

24<br />

Ebd.<br />

25<br />

Vgl. Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher <strong>und</strong> sozialpolitischer Erkenntnis<br />

(1904), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes<br />

Winckelmann, Tübingen 7 1988, 146---214. Der Artikel erschien erstmals in: Archiv für<br />

Sozialwissenschaft <strong>und</strong> Sozialpolitik 19 (1904), 22---87; Weber, Protestantische Ethik. Die<br />

Studie erschien erstmals in folgenden Bänden in: Archiv für Sozialwissenschaft <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />

20 (1904), 1---54; 21 (1905), 1---110.


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 33<br />

Beispielsweise präsentiert Troeltsch in Politische Ethik <strong>und</strong> Christentum »die<br />

sog. materialistische Geschichtstheorie« 26 als eine von zwei Ursachen, warum um<br />

1900 Interpretationen von »Staat <strong>und</strong> Gesellschaft« unter stark realistisch geprägten<br />

Vorzeichen vorherrschend seien. 27<br />

Dabei betont der Theologe zugleich,<br />

dass »nun nicht daran zu denken« sei, »die Wahrheiten preiszugeben,« die man<br />

der materialistischen Geschichtsauffassung verdankt. 28<br />

Wir haben durch sie die elementarsten Lebensbedingungen des Staats verstehen lernen,<br />

<strong>und</strong> wir haben erkannt, wie der wirtschaftliche Untergr<strong>und</strong> unseres Daseins bis<br />

in die feinsten Verzweigungen politischer Ideen <strong>und</strong> Institutionen, ja bis in die Gestaltungen<br />

der geistigen Kultur selbst hineinreicht. 29<br />

Troeltsch hat die Gr<strong>und</strong>annahme der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

also bereits 1904 komplett übernommen. Er weist auf die Interdependenz von<br />

wirtschaftlicher Entwicklung auf der einen <strong>und</strong> einer entsprechenden geistigkulturellen<br />

Gestaltung auf der anderen Seite hin. Um die These der gr<strong>und</strong>legenden<br />

Bedeutung Max Webers Studien als äußeren Rahmen für Troeltschs zweite<br />

Rezeptionsphase der Marxschen Geschichtstheorie ab 1904 zu untermauern, sei<br />

nur eine von mehreren nahezu identischen Äußerung von Troeltschs »Fachmenschenfre<strong>und</strong>«<br />

30 aus dem »Objektivitäts«-Aufsatz angeführt:<br />

Der indirekte Einfluß, der unter dem Drucke ›materieller‹ Interessen stehenden sozialen<br />

Beziehungen, Institutionen <strong>und</strong> Gruppierungen der Menschen, erstreckt sich (oft<br />

unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen<br />

des ästhetischen <strong>und</strong> religiösen Empfindens hinein. 31<br />

26<br />

Ernst Troeltsch, Politische Ethik <strong>und</strong> Christentum (1904), in: KGA 6, Bd. 1, 134---196,<br />

hier: 139. Daraufhin differenziert Troeltsch die »materialistische Geschichtstheorie«,<br />

indem er auf den Unterschied »mit dem eigentlich theoretischen Materialismus« (139f.)<br />

hinweist. Dies ist charakteristisch für Troeltschs Studien <strong>und</strong> seinen differenzierten Umgang<br />

mit der materialistischen Geschichtsauffassung: Er macht deutlich, dass er die materialistische<br />

Geschichtsauffassung primär als historische Methode versteht, nicht aber<br />

als philosophische Strömung des Materialismus oder als politisches Propagandainstrument<br />

der Sozialdemokratie.<br />

27<br />

A.a.O., 139, 137. Die andere Ursache sei »die politische Erziehung durch Bismarck.«<br />

Vgl. a.a.O. 138f.<br />

28<br />

A.a.O., 140.<br />

29<br />

Ebd.<br />

30<br />

Friedrich Wilhelm Graf, Fachmenschenfre<strong>und</strong>schaft. Bemerkungen zu ›Max Weber <strong>und</strong><br />

Ernst Troeltsch‹, in: TS 3, Neue Folge, 269---293, prägte diesen passenden Begriff mit<br />

Hinblick auf das sicherlich fre<strong>und</strong>schaftliche <strong>und</strong> zugleich doch auch stark fachlich geprägte<br />

Verhältnis zwischen Weber <strong>und</strong> Troeltsch.<br />

31<br />

Weber, »Objektivität«, 163.


34<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

Gleichzeitig erklärte Troeltsch zu Beginn des Vortrags, dass sich seine »praktisch-politischen<br />

<strong>und</strong> staatsrechtlichen« Ausführungen stark an Max Weber <strong>und</strong><br />

Georg Jellinek orientieren, sodass diese inhaltlichen Übernahmen durchaus als<br />

von Weber inspiriert gelten können. 32 Dennoch scheint er bestrebt, diese Anerkennung<br />

der materialistischen Geschichtstheorie zu relativieren, da es sich dabei<br />

doch um »Einseitigkeit« <strong>und</strong> damit nicht um »die ganze Wahrheit« handele. 33<br />

Eine konsequent angewandte materialistische Geschichtsdeutung widerspräche<br />

»doch zu sehr allem, was wir an geistigen <strong>und</strong> sittlichen Werten mit dem Gedanken<br />

des Staates verbinden.« 34<br />

Es dürfe demnach nicht nur die Wirkung des<br />

»wirtschaftliche[n] Untergr<strong>und</strong>[es]« für die Herausbildung »der geistigen Kultur«<br />

herausgearbeitet <strong>und</strong> betont werden. Der umgekehrte Sachverhalt müsse ebenso<br />

zur Geltung kommen, nämlich dass zwischen materieller Basis <strong>und</strong> geistigem<br />

Überbau stets reziproke Wechselwirkung herrsche.<br />

Sie [die Ideenmächte, RFN] sind es nur nicht alleine <strong>und</strong> sind es nicht in erster Linie,<br />

die den Staat bauen <strong>und</strong> erhalten. Wohl aber setzen sie auf dem massiven Unterbau<br />

der elementaren Instinkte <strong>und</strong> Bedürfnisse ein <strong>und</strong> errichten sie darüber einen<br />

Oberbau, der in letzter Linie selbst erst die feste Klammer um den Unterbau schlingt,<br />

die ihn davor schützen, von denselben Instinkten zerrissen zu werden, die ihn gebaut<br />

haben. 35<br />

Es ist beachtlich, wie stark hier dezidiert marxistisches Vokabular vorherrscht. 36<br />

Nicht nur verwendet der Theologe die Begriffe von Basis <strong>und</strong> Überbau, sondern<br />

darüber hinaus auch eine zentrale Kategorie der materialistischen Geschichtsauffassung:<br />

die letzte Linie. 37<br />

32<br />

Troeltsch, Politische Ethik, 136. »Es ist dabei eine Pflicht der Aufrichtigkeit, hervorzuheben,<br />

daß sehr Vieles von den hier vorausgesetzten oder erörterten praktisch-politischen<br />

<strong>und</strong> staatsrechtlichen Ansichten sich stark auf meine Kollegen Max Weber <strong>und</strong> Georg<br />

Jellinek zurückführt.«<br />

33<br />

A.a.O., 141.<br />

34<br />

Ebd.<br />

35<br />

A.a.O., 141f. Hervorhebungen RFN. Troeltsch versucht das Kausalverhältnis von Basis<br />

<strong>und</strong> Überbau hier im Sinne einer idealistischen Staatskonstruktion zu wenden. Dadurch<br />

wird deutlich, dass sich Troeltsch zwar gegen eine einseitige geschichtsmaterialistische<br />

Staats- <strong>und</strong> Geschichtskonstruktion richtet, dass aber gleichzeitig seine eigene Konzeption<br />

--- nicht nur semantisch --- stark von Marx’ Überlegungen <strong>und</strong> der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung geleitet <strong>und</strong> bestimmt ist.<br />

36<br />

Vgl. Karsten Fischer, Die protestantische Ethik <strong>und</strong> der ›Geist‹ des Liberalismus. Zum<br />

Problem der Sozial-Moral moderner Gesellschaften bei Ernst Troeltsch, in: TS 1, Neue<br />

Folge, 117---136, hier: 129.<br />

37<br />

Es ist davon auszugehen, dass Troeltsch die für die materialistische Geschichtsauffassung<br />

charakteristische Kategorie »in letzter Linie» bzw. »in letzter Instanz« im Zuge der<br />

indirekten Rezeptionsphase bis 1900 rezipierte <strong>und</strong> sie 1904 bereits als dezidiert geschichtsmaterialistisch<br />

kannte. Zwei der von Troeltsch rezipierten Autoren behandelten<br />

die »letzte Linie« explizit. Vgl. Ottomar Lorenz, Materialistische Geschichtsauffassung, 29;


Ernst Troeltsch <strong>und</strong> der »Geist von Karl Marx« 35<br />

In einer Rezension zu Gottfried Traubs Ethik <strong>und</strong> Kapitalismus aus dem Jahr<br />

1905 findet Troeltsch ebenfalls lobende Worte für »die sogenannte materialistische<br />

oder besser gesagt wirtschaftsgeschichtlich orientierte Geschichtsforschung«<br />

38 . Sie sei ein Augenöffner für das Bewusstsein dafür, dass »die ganze<br />

Ethik des Mittelalters <strong>und</strong> des Protestantismus auf bestimmten politischwirtschaftlichen<br />

Voraussetzungen des allgemeinen Lebens beruht«. 39 Durch die<br />

präzisierende Bestimmung als »wirtschaftsgeschichtlich orientierte Geschichtsforschung«<br />

war es ihm möglich, die Methode für sich <strong>und</strong> die historisch arbeitende<br />

Kirchengeschichtsschreibung in Anspruch zu nehmen <strong>und</strong> sie gleichzeitig<br />

von negativen Konnotationen zu lösen. In der Rezension hebt Troeltsch besonders<br />

die von Traub beschriebene Wechselwirkung zwischen Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Ideenbildung hervor:<br />

Der das unbegrenzte Spiel der wirtschaftlichen Kräfte entfaltende Kapitalismus eines<br />

Adam Smith steht nicht nur chronologisch, sondern auch innerlich sachlich neben<br />

Kants Persönlichkeitsidee. 40<br />

Sowohl semantische Anleihen als auch erkennbare sachliche Übereinkunft mit<br />

der materialistischen Geschichtsauffassung sollten sich in den folgenden Jahren<br />

in den Texten von Troeltsch verdichten <strong>und</strong> sich auf die Fragestellung zur Verhältnisbestimmung<br />

von Basis <strong>und</strong> Überbau in der Genese der modernen Welt<br />

zuspitzen. Troeltschs Positionierung kann zwischen den einseitig materialistischen<br />

<strong>und</strong> idealistischen Geschichtskonstruktionen angesiedelt werden. 41 Weder<br />

wollte er sich einem reduktionistischen Vulgärmarxismus eines Karl Kautsky<br />

anschließen, der im Christentum nichts anderes als ein »ideologisches Spiegelbild<br />

ökonomischer Entwickelungen« 42 erblickte, noch einer versteiften Kirchen<strong>und</strong><br />

Dogmengeschichtsschreibung, welche Religion ausschließlich geistesgeschichtlich<br />

interpretierte. 43 Vielmehr war er bestrebt, beide Positionen miteinan-<br />

Flügel, Idealismus <strong>und</strong> Materialismus (1898), 173, 177---181, 189, 194. Zur Konstruktion,<br />

Funktion <strong>und</strong> Bedeutung der Kategorie »der letzten Linie« in der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

vgl. Sebastian Schmidmeier, Verdammt, 173, in diesem Band.<br />

38<br />

Ernst Troeltsch, [Rez.] Gottfried Traub: Ethik <strong>und</strong> Kapitalismus. Gr<strong>und</strong>züge einer Sozialethik<br />

(1904) (1905), in: KGA 4, 401---410, hier: 402.<br />

39<br />

Ebd.<br />

40<br />

A.a.O., 407.<br />

41<br />

Vgl. Friedemann Voigt, »Die Tragödie des Reiches Gottes«? Ernst Troeltsch als Leser<br />

Georg Simmels (TS 10), Gütersloh 1998, 170. Wobei Voigt die Ablehnung <strong>und</strong> Abgrenzung<br />

zur materialistischen Geschichtsauffassung <strong>und</strong> zum Marxismus deutlicher herausarbeitet<br />

als jene zu idealistischen Konzeptionen.<br />

42<br />

Troeltsch, Soziallehren, 975.<br />

43<br />

In diesem Sinne muss auch Troeltschs Verdienst um die Entdogmatisierung <strong>und</strong> der<br />

damit einhergehenden Erweiterung um kulturgeschichtliche Fragestellungen der bis<br />

dahin vorwiegend dogmengeschichtlich zentrierten (protestantischen) Kirchenge-


36<br />

Reinhard Ferdinand Nießner<br />

der in Einklang zu bringen, in dem er deren dogmatische Verabsolutierung zu<br />

negieren <strong>und</strong> deren fruchtbare Elemente in eklektischer Manier wissenschaftlich<br />

nutzbar zu machen gedachte. Damit war, so Troeltsch retrospektiv im Jahr 1922,<br />

»ein wahreres Bild der historischen Wirklichkeit […] gewonnen, als es die kirchlich-supranaturalistischen<br />

<strong>und</strong> die modern-ideologischen Darstellungen zu geben<br />

vermochten.« 44 Wie der Theologe jedoch das, »was sich [an der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung, RFN] klar <strong>und</strong> berechtigt erweist« 45 in seine eigenen Forschungen<br />

integrierte, stellt bis heute ein Desiderat in der Troeltsch-Forschung<br />

dar. Nachstehende Ausführungen versuchen eine Antwort darauf zu geben.<br />

2. Marxismus <strong>und</strong> materialistische<br />

Geschichtsauffassung in den Soziallehren<br />

Im Schluss der Soziallehren, so der Nationalökonom <strong>und</strong> Philosoph Ferdinand<br />

Tönnies (1855---1936), kommt es zu einer prinzipiellen Erörterung der »Bedeutung<br />

der Marxistischen Methode für die Kirchengeschichte« 46 . Doch die Frage<br />

nach der Bedeutung <strong>und</strong> möglichen Anwendung durchziehe bereits die gesamte<br />

Darstellung der Soziallehren. 47<br />

Tönnies gilt als Kenner der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung <strong>und</strong> der Marxschen Lehre. 48<br />

Sein Hinweis, Troeltschs<br />

Hauptwerk sei gespickt mit vielfältigen Übernahmen, Hinweisen <strong>und</strong> Bezügen<br />

zur materialistischen Geschichtsauffassung bzw. zur »Marxistischen Methode« 49 ,<br />

erscheint deshalb besonders relevant. Doch selbst zeitgenössische theologische<br />

Fachkollegen Troeltschs haben bereits auf die »marxistische Ader« des Theoloschichtsschreibung<br />

verstanden werden. Vgl. Troeltsch, Methode in der Theologie; Graf,<br />

Kulturgeschichte, 257---260; Ahlheim, Religion <strong>und</strong> Gesellschaft, 84.<br />

44<br />

Troeltsch, Meine Bücher, 12.<br />

45<br />

Troeltsch, Soziallehren, 975.<br />

46<br />

Tönnies, [Rez.] Troeltsch: Soziallehren, 12.<br />

47<br />

Vgl. ebd.<br />

48<br />

Vgl. Günter Rudolph, Ferdinand Tönnies <strong>und</strong> die Lehre von Karl Max. Annäherung <strong>und</strong><br />

Vorbehalt, in: Lars Clausen/Carsten Schlüter (<strong>Hrsg</strong>.), H<strong>und</strong>ert Jahre ›Gemeinschaft <strong>und</strong><br />

Gesellschaft‹. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, 301---<br />

320; Stanislaw Kozyr-Kowalski, Ferdinand Tönnies über den historischen Materialismus,<br />

in: Clausen/Schlüter (<strong>Hrsg</strong>.), ›Gemeinschaft <strong>und</strong> Gesellschaft‹, 321---335. In der an<br />

Troeltschs Naturrechts-Vortrag anschließenden Diskussion auf dem Ersten Deutschen<br />

Soziologentag im Herbst 1910 machte Tönnies »keinen Hehl daraus«, dass er der materialistischen<br />

Geschichtsauffassung oder dem, »was vielleicht als der rationelle Kern jener<br />

materialistischen Ansicht bezeichnet werden kann«, äußerst positiv gegenüberstehe. Vgl.<br />

dazu: Ernst Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht <strong>und</strong> das moderne profane Naturrecht<br />

(1911), in: KGA 6, Bd. 1, 723---772, hier: 749.<br />

49<br />

Tönnies, [Rez.] Troeltsch: Soziallehren, 12.


Sebastian Schmidmeier<br />

Verdammt, verkannt, vergessen<br />

Überlegungen zur Bedeutung des Bauernkrieges in Karl<br />

Kautskys materialistischer Geschichtsschreibung<br />

»Kautsky aber, genau wie irgendein durch ewiges Wiederholen der Geschichtslehrbücher<br />

vertrockneter Gymnasialprofessor, wendet sich hartnäckig mit dem Hintern<br />

zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, mit dem Gesicht zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, <strong>und</strong> zum<br />

h<strong>und</strong>ertstenmal, unglaublich langweilig, in einer ganzen Reihe von Paragraphen,<br />

kaut <strong>und</strong> wiederkäut er das alte Zeug vom Verhältnis der bürgerlichen Demokratie<br />

zum Absolutismus <strong>und</strong> Mittelalter! Fürwahr, wie im Schlaf faselt er dummes Zeug.« 1<br />

Mit diesen verbalen Spitzen Wladimir Iljitsch Lenins ist nicht nur der Versuch<br />

verb<strong>und</strong>en, seinen Widersacher Kautsky zu diffamieren, sondern es scheint<br />

bereits das für viele Historiker-Generationen verbindliche Urteil gegenüber dem<br />

als »Renegaten« bezeichneten Karl Kautsky gefällt worden zu sein. Der Anlass<br />

dieses Disputs im Jahre 1918 ist im unterschiedlichen Verständnis der »Diktatur<br />

des Proletariats« 2 , verkürzt formuliert: der Frage der Gewalt im Übergang in eine<br />

1<br />

Wladimir Iljitsch Lenin, Die proletarische <strong>Revolution</strong> <strong>und</strong> der Renegat Kautsky. Wie<br />

Kautsky Marx in einen Duzendliberalen verwandelt, in: Hermann Weber (<strong>Hrsg</strong>.), Lenin.<br />

Ausgewählte Schriften, München 1963, 897---926, hier: 898.<br />

2<br />

Karl Marx fasste den Begriff der »Diktatur des Proletariats« in seiner Schrift ›Zur Kritik<br />

des sozialdemokratischen Parteiprogramms‹, erstveröffentlicht in Karl Kautsky, Die Neue<br />

Zeit IX (1890---1891) 1, Nr. 18: 561---575, hier: 573 wie folgt zusammen: »Zwischen der<br />

kapitalistischen <strong>und</strong> der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären<br />

Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Uebergangsperiode,<br />

deren Staat nicht andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.«<br />

In der Auseinandersetzung zwischen Kautsky <strong>und</strong> Lenin nahm auch Rosa<br />

Luxemburg Stellung: »›Diktatur oder Demokratie‹ heißt die Fragestellung sowohl bei den<br />

Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, <strong>und</strong><br />

zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen<br />

Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur einer<br />

Handvoll Personen […]. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen<br />

sozialistischen Politik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr<br />

nach dem guten Rat Kautskys unter dem Vorwand der ›Unreife des Landes‹ auf die<br />

sozialistische Umwälzung verzichten […] Es soll <strong>und</strong> muß eben sofort sozialistische Maßnahmen<br />

in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen,


168<br />

Sebastian Schmidmeier<br />

klassenlose Gesellschaft, zu finden: Kautsky prangerte die gr<strong>und</strong>legend fehlende<br />

demokratische Ausrichtung der Bolschewisten an, Lenin dagegen warf Kautsky<br />

eine »ungeheuerliche Entstellung des Marxismus« 3<br />

vor. Die Ursachen dieser<br />

Auseinandersetzung wurzeln im gr<strong>und</strong>sätzlichen Streit um die richtige Auslegung<br />

des Marxismus, dem Kampf um die Deutungshoheit der Marxschen Lehre.<br />

Gerade im Bereich der Rezeption <strong>und</strong> der Auslegung prägte kein anderer als der<br />

Marx- <strong>und</strong> Engels-Schüler Karl Kautsky in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg<br />

<strong>und</strong> insbesondere während der II. Internationale die Ausrichtung des Marxismus.<br />

Im Erfurter Programm von 1891 schärfte unter Federführung Karl<br />

Kautskys die deutsche Sozialdemokratie ihr marxistisches Profil. Durch die<br />

Schrift ›Karl Marx’ ökonomische Lehren‹ trug Kautsky maßgeblich zur Popularisierung<br />

des Marxismus in der internationalen Arbeiterbewegung bei. Erst in der<br />

mit Eduard Bernstein geführten Revisionismus-Debatte <strong>und</strong> nicht zuletzt mit der<br />

Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg nahm der Einfluss des<br />

späteren USPD-Politikers rapide ab. 4<br />

Eine bemerkenswerte Einigkeit unter den westdeutschen <strong>und</strong> unter den Historikern<br />

des realexistierenden Sozialismus ist dagegen in der gemeinsamen<br />

weitgehend kritischen bis vehement negativen Haltung gegenüber Leben <strong>und</strong><br />

Werk des Politikers Karl Kautskys zu konstatieren. 5<br />

Stand im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

die historische Bewertung Kautskys häufig im Lichte ideologischer Prämissen,<br />

also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter<br />

tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie.« ---<br />

Rosa Luxemburg, Die russische <strong>Revolution</strong>, in: Ossip K. Flechtheim (<strong>Hrsg</strong>.): Rosa Luxemburg.<br />

Politische Schriften III, Frankfurt 1968, 106---141, hier: 138. Siehe ferner Karl<br />

Spalcke, Die Diktatur des Proletariats bei Kautsky <strong>und</strong> Lenin, Tübingen 1930.<br />

3<br />

Lenin, Renegat Kautsky, 899.<br />

4<br />

Zur Revisionismus-Debatte siehe etwa Helga Grebing, Der Revisionismus von Bernstein<br />

bis zum ›Prager Frühling‹, München 1977, 16---48; Till Schelz-brandenburg, Eduard Bernstein<br />

<strong>und</strong> Karl Kautsky. Entstehung <strong>und</strong> Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus<br />

im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879 bis 1932, Köln 1992, 231---356 <strong>und</strong> zur<br />

Rolle Karl Kautskys in der Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges vgl. Harald<br />

Koth, ›Meine Zeit wird wieder kommen…‹ Das Leben des Karl Kautsky, Berlin 1993, 155---<br />

202 sowie immer noch gr<strong>und</strong>legend Susanne Miller, Burgfrieden <strong>und</strong> Klassenkampf. Die<br />

deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus<br />

<strong>und</strong> der politischen Parteien 53, Düsseldorf 1974.<br />

5<br />

Siehe Hans-Josef Steinberg, Karl Kautsky <strong>und</strong> Eduard Bernstein, in: Hans-Ulrich Wehler<br />

(<strong>Hrsg</strong>.): Deutsche Historiker, Göttingen 1973, 429---440, bes. 429f. Steinberg kommentiert<br />

Kautskys spätes Wirken wie folgt: »Nicht ohne Anteilnahme kann der Historiker diesen<br />

Vorgang mit Blick auf den langen Lebensabend Kautskys verfolgen, der unter veränderten<br />

Umständen das reproduzierte, was einmal den Verhältnissen entsprochen haben<br />

mochte, mit großer Gereiztheit auf das Unverständnis einer vermeintlich auf dem Irrweg<br />

befindlichen Umfeld reagierte <strong>und</strong> nicht begreifen konnte, daß letzten Endes er <strong>und</strong> der<br />

Marxismus der II. Internationale es waren, über welche die Geschichte zur Tagesordnung<br />

übergegangen war.« --- ebd., 430.


Verdammt, verkannt, vergessen 169<br />

ist Karl Kautsky in den gegenwärtigen Forschungsdiskussionen nahezu in Vergessenheit<br />

geraten. 6<br />

Noch weit weniger wurde Karl Kautsky unter der Perspektive des materialistischen<br />

Historikers betrachtet. Zwar ist Kautsky zusammen mit Eduard Bernstein<br />

in dem Sammelband »Deutsche Historiker« ein Aufsatz gewidmet 7 <strong>und</strong> es<br />

erschienen nicht wenige Beiträge zum materialistischen Gesamtkonzept 8 oder zu<br />

geschichtlichen Einzeldarstellungen der Kautskyschen Untersuchung der Antike<br />

9 bzw. der Französischen <strong>Revolution</strong>. 10 Kautskys historisches Werk bleibt jedoch<br />

aus historie-geschichtlicher Sichtweise nahezu unberücksichtigt.<br />

Ebenso wurden über Jahrzehnte hinweg aus marxistisch-leninistischer Perspektive<br />

<strong>und</strong> auch unter den westdeutschen Historikern Zweifel an einer eigenständigen<br />

materialistischen Geschichtsauffassung Kautskys gehegt <strong>und</strong> im<br />

Rahmen des Materialismus-Studiums entweder direkt auf Marx <strong>und</strong> Engels bzw.<br />

in der Adaption auf Franz Mehring, Georg Lukács oder Ernst Bloch verwiesen. 11<br />

Die Beschäftigung mit Karl Kautsky ist jedoch aus mehrfacher Hinsicht unter<br />

wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten interessant: Kautsky war zu Lebzeiten<br />

selbst unter seinen Kritikern als einer der besten Kenner <strong>und</strong> Rezipienten der<br />

Marxschen Lehre geschätzt, 12 der sein Marxismus-Studium während seines Aufenthalts<br />

in London in den Jahren 1881 <strong>und</strong> 1885 unter persönlicher Anleitung<br />

6<br />

Vgl. a.a.O., 429. Siehe hierzu auch das Kapitel ›Karl Kautsky (1854---1938). Lehrer des<br />

Marxismus‹ in Helga Schultz, Europäischer Sozialismus --- immer anders, Berlin 2014,<br />

13---44, bes. 14, 42---44, hier 44: »Es ist merkwürdig, dass ungeachtet aller dieser Verdienste<br />

Lenins Prophezeiung so ganz eingetroffen ist, dass er [Kautsky, Anm. d. Verf.]<br />

nicht nur von der kommunistischen Bewegung geschmäht, sondern auch von der sozialdemokratischen<br />

verstoßen <strong>und</strong> vergessen wurde. In Frankreich gibt es keine Stadt, in der<br />

nicht ein Ort nach dem Sozialistenführer Jean Jaurés hieße. Die Deutschen haben in ihrer<br />

Ruhmeshalle keinen Platz für den nicht weniger bedeutenden Karl Kautsky.«<br />

7<br />

Vgl. den bereits zitierten Beitrag von Steinberg, Kautsky <strong>und</strong> Bernstein, 429---440.<br />

8<br />

Vgl. John H. Kautsky, Karl Kautskys »Materialistische Geschichtsauffassung«, in Jürgen<br />

Rojahn/Till Schelz/Hans-Josef Steinberg (<strong>Hrsg</strong>.): Marxismus <strong>und</strong> Demokratie. Karl<br />

Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Quellen <strong>und</strong> Studien zur<br />

Sozialgeschichte 9, Frankfurt 1991, 319---333; Manfred Hahn, Der Stammbaum. Karl<br />

Kautskys Entwurf der Geschichte des Sozialismus, in: ebd., 361---369.<br />

9<br />

Vgl. Hans Kloft, Karl Kautsky <strong>und</strong> die Antike, in: ebd., 334---349.<br />

10<br />

Vgl. Beatrix Bouvier, Karl Kautsky als Historiker: Kautsky <strong>und</strong> die Französische <strong>Revolution</strong>,<br />

in: ebd., 350---360.<br />

11<br />

Vgl. Steinberg, Kautsky <strong>und</strong> Bernstein, 437f.<br />

12<br />

Vgl. Lenin, Renegat Kautsky, 899: »Man darf nicht vergessen, daß Kautsky Marx nahezu<br />

auswendig kennt, daß er, nach allen seinen Schriften zu urteilen, im Schreibtisch oder<br />

im Kopf eine Reihe hölzener Kästchen besitzt, in denen alles, was Marx geschrieben hat,<br />

aufs genaueste <strong>und</strong> bequemste zum Zitieren geordnet ist.«


170<br />

Sebastian Schmidmeier<br />

von Marx <strong>und</strong> nach dessen Tod besonders von Engels begann <strong>und</strong> als deren<br />

»Schüler« im engen Austausch mit beiden stand. 13<br />

Kautskys Arbeiten markieren insofern ein nicht unbedeutendes Stadium in der<br />

Genese der historisch-materialistischen Historiographie. Neben der Popularisierung<br />

des Marxismus setzte Kautsky nach dem Tode Friedrich Engels im Jahre<br />

1895 dessen Arbeit fort <strong>und</strong> unternahm 1927 den Versuch, erstmals eine Gesamtdarstellung<br />

einer materialistischen Geschichtsschreibung mit seinem Werk<br />

›Materialistische Geschichtsauffassung‹ 14 vorzulegen. Ebenso ist sein zweibändiges<br />

Opus Magnum ›Die Vorläufer des Neueren Sozialismus‹ 15 aus dem Jahr 1895<br />

zu nennen. Kautsky kombiniert in dieser Skizzierung der geschichtlichen Entwicklung<br />

»sozialistischer Bestrebungen <strong>und</strong> Ideen« einen ideengeschichtlichen<br />

Ansatz mit einer materialistischen Strukturanalyse. Er untersucht also Bewegungen<br />

sozialrevolutionären Charakters <strong>und</strong> deren Träger in der Geschichte,<br />

arbeitet deren Motive heraus <strong>und</strong> analysiert dabei Wechselwirkungen mit sozioökonomischen<br />

Faktoren. Diese Darstellungen theologischer Diskurse <strong>und</strong> religiöser<br />

Praktiken samt ihrer gesellschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten stellen<br />

für einen materialistischen Historiker <strong>und</strong> Marxisten ein überraschendes Faktum<br />

dar.<br />

Folgt man der Bibliographie von Werner Blumenberg, so fasst das gesamte literarische<br />

Werk Kautskys ca. 1783 Titel, 16<br />

in welchen dieser u.a. im ›Vorwärts‹<br />

oder in seiner Funktion als Herausgeber <strong>und</strong> Redakteur der »Neuen Zeit« zu<br />

tagespolitischen, aber auch in einer Fülle an Beiträgen zu historischen Themen<br />

Stellung nahm. Die wissenschaftliche Analyse dieses umfangreichen Œuvres ist<br />

bisher weitgehend ausgeblieben. Während Kautskys historische Arbeiten im<br />

13<br />

Siehe hierzu u.a. Benedikt Kautsky (<strong>Hrsg</strong>.), Karl Kautsky. Erinnerungen <strong>und</strong> Erörterungen,<br />

Quellen <strong>und</strong> Untersuchungen zur Geschichte der Deutschen <strong>und</strong> Österreichischen<br />

Arbeiterbewegung 3, ’S Gravenhagen 1960, 475---490 sowie gr<strong>und</strong>sätzlich Benedikt<br />

Kautsky (<strong>Hrsg</strong>.), Engels Briefwechsel mit Karl Kautsky. Zweite, durch die Briefe Karl<br />

Kautskys vervollständigte Ausgabe von ›Aus der Frühzeit des Marxismus‹, Quellen <strong>und</strong><br />

Untersuchungen zur Geschichte der deutschen <strong>und</strong> österreichischen Arbeiterbewegung 1,<br />

Wien 1955.<br />

14<br />

Vgl. Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Der Staat <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

der Menschheit 2, Berlin 1927.<br />

15<br />

Diese Bände sind Teil eines Gemeinschaftsprojekts führender, marxistischer Theoretiker<br />

u.a. Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Paul Lafargue, Franz Mehring oder G.<br />

Plechanow. Von der ursprünglich auf vier Bände angedachten Reihe, sind nur der erste<br />

<strong>und</strong> dritte Band in jeweils zwei Teilen zwischen 1895 bis 1898 erschienen --- siehe Karl<br />

Kautsky, Die Vorläufer des Neueren Sozialismus. Erster Band, 1. Teil. Von Plato bis zu<br />

den Wiedertäufern, Stuttgart 1895 sowie 2. Teil. Von Thomas More bis zum Vorabend der<br />

französischen <strong>Revolution</strong>. [Darin von Karl Kautsky, Thomas More, 437---68], Stuttgart<br />

1895.<br />

16<br />

Vgl. gr<strong>und</strong>sätzlich Werner Blumbenberg, Karl Kautskys literarisches Werk. Eine bibliographische<br />

Übersicht, S’Gravenhagen 1960.


Verdammt, verkannt, vergessen 171<br />

wissenschaftlichen Diskurs des 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, auch im sogenannten<br />

»bürgerlichen Lager« 17 zwar kontrovers diskutiert, aber immerhin rezipiert<br />

wurden, scheint dies in der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte nicht<br />

der Fall zu sein.<br />

Der nachfolgende Beitrag unternimmt daher den Versuch, das Materialismus-<br />

Konzept Karl Kautskys in seinen Gr<strong>und</strong>zügen zu skizzieren <strong>und</strong> nach dessen<br />

Eigenwert zu fragen (I). Zudem gilt es innerhalb der Kautskyschen Gesamtdarstellung<br />

sich auf die Zeit der Bauernkriege zu fokussieren <strong>und</strong> mögliche Spezifika<br />

dieser Epoche herauszuarbeiten, da für diesen Zeitraum eine Untersuchung<br />

der Arbeiten Kautskys noch nicht vorliegt, andererseits aber die Zeit der <strong>Reformation</strong><br />

<strong>und</strong> des Bauernkrieges eine wesentliche Zäsur im materialistischen Geschichtskonzept<br />

markiert (II). Und zuletzt ist zu überlegen, welche möglichen<br />

Folgerungen die Ergebnisse aus den vorangegangenen Punkten in einer Diskussion<br />

um eine »Frühbürgerliche <strong>Revolution</strong>«, der Konzeption der DDR-<br />

Geschichtsschreibung, <strong>und</strong> in Anbetracht aktueller Forschungsergebnisse haben<br />

könnten (III).<br />

1. Karl Kautsky <strong>und</strong> seine Konzeption einer<br />

materialistischen Geschichtsschreibung<br />

»Noch weit wichtiger wurden für mich Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung.<br />

[…] Aber ihre Wichtigkeit besteht darin, dass sie kein blosses Geschichtsbild<br />

17<br />

Zu nennen sind hier beispielsweise Max Weber <strong>und</strong> Ernst Troeltsch. Beide rekurrieren<br />

in ihren Studien auf die Arbeiten Kautskys, kritisieren jedoch besonders deren schemenhaften<br />

Züge --- vgl. Max Weber, Die Protestantische Ethik <strong>und</strong> der Geist des Kapitalismus,<br />

in: Ders. (<strong>Hrsg</strong>.), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988 [=ND<br />

Tübingen 1920], 17---205, hier: 160 (Anm. 1) ; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen<br />

Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, Gesammelte Schriften 1, Darmstadt 1965 [=ND Tübingen<br />

1922], 17f. (Anm.10): »Die Darstellung Kautskys [Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellung,<br />

hier: Der urchristliche Kommunismus, Anm. d. Verf.] verkennt freilich gröblich<br />

die selbstständige Bedeutung religiöser Ideen, ist aber abgesehen davon nicht ganz<br />

ohne Wert, indem sie auf sonst unbeachtete Seiten der Sache hinweist.« Max Weber stützt<br />

seine These einer »Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang« (Weber, Protestantische<br />

Ethik, 192) sogar auf einen Beitrag aus der ›Geschichte des Sozialismus‹. Jedoch bezieht<br />

sich Weber hierbei auf die Arbeit Eduard Bernsteins, der die Phänomene »Asketismus«,<br />

»bürgerliche Tugend« <strong>und</strong> »Akkumulation des Kapitals« erstmals, so die Beobachtung<br />

Max Webers, in Verbindung gebracht habe --- vgl. Eduard Bernstein, Kommunistische <strong>und</strong><br />

demokratisch-sozialistische Strömungen während der englischen <strong>Revolution</strong> des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, in: Karl Kautsky (<strong>Hrsg</strong>.), Die Vorläufer des Neueren Sozialismus. Erster<br />

Band, 2. Teil. Von Thomas More bis zum Vorabend der französischen <strong>Revolution</strong>, Stuttgart<br />

1895, 507---718, hier: 681. Zur Basis-Überbau-Thematik im Werk von Max Weber <strong>und</strong><br />

Ernst Troeltsch siehe auch den Beitrag von Reinhard Nießner in diesem Sammelband.


172<br />

Sebastian Schmidmeier<br />

darstellt, sondern auch eine besondere Methode, Geschichte zu erforschen, sowohl<br />

die der Vorzeit wie die der Gegenwart, in der wir mitten drin stehen.« 18<br />

Dieses Credo gibt einen Einblick in die Arbeitsweise Kautskys <strong>und</strong> in sein Verständnis,<br />

als Soziologe vergangene gesellschaftliche Phänomene zu analysieren<br />

<strong>und</strong> auch Erkenntnisse für gegenwärtige Entwicklungsprozesse zu gewinnen.<br />

Kautsky ist in diesem Sinne, ähnlich wie Marx <strong>und</strong> Engels, Theoretiker <strong>und</strong><br />

Praktiker zugleich. 19<br />

Die Methode der historisch-materialistischen Analyse eignete<br />

sich Kautsky maßgeblich unter Friedrich Engels als Lehrer an. 20<br />

Für<br />

Kautsky stellt der Historische Materialismus jedoch nicht nur eine wissenschaftliche<br />

Methode dar, sondern in der Analyse von Basis <strong>und</strong> Überbau sah er eine<br />

der wesentlichen Aussagen im Werk Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels. 21<br />

Was die beiden Begründer des Marxismus nicht mehr ausführen konnten,<br />

nämlich eine materialistische Gesamtdarstellung vorzulegen, versuchte erstmals<br />

Karl Kautsky in seiner zweibändigen Arbeit ›Materialistische Geschichtsauffassung‹.<br />

Meist wurde in diesem Werk nur die als »verfehlt« 22 erachtete Bestrebung<br />

gesehen, eine Symbiose zwischen Marxschen Materialismus mit Kautskys frühen<br />

Affinitäten zu darwinistischen Evolutionstheoremen zu schaffen. 23 Verkannt<br />

blieb jedoch häufig die Komplexität <strong>und</strong> Eigenart, mit der Karl Kautsky die Basis-Überbau<br />

Thematik behandelt:<br />

»[…] um die gesamte Ideologie unserer Zeit zu begreifen, [ist es notwendig] bis in die<br />

entfernte Vorzeit zurückzugehen. Nur dann wird es uns gelingen, alle ihre ökonomischen<br />

Ursprünge bloßzulegen. Aber stets werden wir finden, wenn wir tief genug<br />

graben, daß alle Ideen in ökonomischen Verhältnissen wurzeln. Das ist der Sinn des<br />

Bildes vom Unterbau <strong>und</strong> Überbau. Die Beziehungen zwischen den beiden Faktoren<br />

sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.« 24<br />

Denn Kautsky geht nicht von einer simplen Monokausalität zwischen Basis <strong>und</strong><br />

Überbau aus, was bedeuten würde, »daß Unterbau <strong>und</strong> Überbau zueinander stets<br />

in dem Verhältnis von Ursache <strong>und</strong> Wirkung stünden. Sie beeinflussen einander<br />

in steter Wechselwirkung. Bestimmte juristische, politische, religiöse Anschauungen<br />

werden durch bestimmte ökonomische Verhältnisse bedingt. Aber ebenso<br />

18<br />

Kautsky, Erinnerungen <strong>und</strong> Erörterungen, 481f.<br />

19<br />

Vgl. Kautsky, Geschichte des Sozialismus, IXf.<br />

20<br />

Vgl. Kautsky, Erinnerungen <strong>und</strong> Erörterungen, 484: »In meinen Auseinandersetzungen<br />

mit Marx <strong>und</strong> namentlich mit Engels lernte ich, die Anwendungen der materialistischen<br />

historischen Methode zu verfeinern, vor übereilten <strong>und</strong> oberflächlichen Generalisationen<br />

zu bewahren, sie zu vertiefen.«<br />

21<br />

Vgl. Kautsky, Materialistische Geschichtsauffassung, 83f.<br />

22<br />

Steinberg, Kautsky <strong>und</strong> Bernstein, 437f.<br />

23<br />

Vgl. etwa Koth , Meine Zeit, 21f; Kautsky, Kautskys ›Materialistische Geschichtsauffassung‹,<br />

320f.<br />

24<br />

Kautsky, Materialistische Geschichtsauffassung, 819.


Verdammt, verkannt, vergessen 173<br />

ist das umgekehrt festzustellen. Juristische <strong>und</strong> politische Verhältnisse wirken<br />

auch bestimmend auf das ökonomische Leben.« 25<br />

Innovative Ideen basieren vielmehr auf einem neuen ökonomischen <strong>und</strong><br />

technologischen Fortschritt, dem Unterbau. Der alte Überbau bzw. die bereits<br />

konventionellen Ideen »gehören nicht zu den Ergebnissen, dem Überbau, sondern<br />

zu den Bedingungen, dem Unterbau der neuen Ökonomie ebenso wie der<br />

ihre entsprechenden neuen Bewußtseinsformen. Die Erforschung einer geschichtlichen<br />

Epoche vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung<br />

aus muß daher stets davon ausgehen, daß sie sowohl in der Oekonomie wie<br />

in der Ideologie der betreffenden Zeit das Alte <strong>und</strong> das Neue sondert.« 26<br />

Kautsky hebt in gewisser Weise die Grenzziehung zwischen Basis <strong>und</strong><br />

Überbau auf <strong>und</strong> unterscheidet sich dadurch deutlich von einem konventionellen<br />

marxistisch-leninistischen Geschichtsbild, das in den Ländern des realexistierenden<br />

Sozialismus tradiert wurde. Er wäre aber kein materialistischer Historiker,<br />

wenn er nicht in letzter Konsequenz die Basis über den Überbau triumphieren<br />

ließe. Hierfür prägte Kautsky den Begriff der »letzten Linie« 27 .<br />

Indem aber Kautsky nur in »letzter Linie« den sozioökonomischen Unterbau<br />

als verbindlich erachtet, verlieh er dem starren <strong>und</strong> in der marxistischleninistischen<br />

Geschichtsdoktrin monokausal verstandenen Konzept der Basis-<br />

Überbau-Theorie eine Flexibilität, die es ermöglicht, den Eigenwert ideengeschichtlicher<br />

Ausprägungen zu erkennen <strong>und</strong> herauszuarbeiten.<br />

Kautsky formulierte diese Überlegungen zur materialistischen Geschichtsauffassung<br />

im Jahr 1927. Ansätze seines komplexen geschichtsmaterialistischen<br />

Konzepts, dessen »Elemente in reziproken Wechselwirkungen zueinander stehen<br />

<strong>und</strong> nicht im Verhältnis von Ursache <strong>und</strong> Wirkung« 28 , sind bereits in ›Die<br />

Vorläufer des Neueren Sozialismus‹ erkennbar.<br />

Kautsky skizziert im ersten Teil des ersten Bandes die ideengeschichtliche<br />

Entwicklung sozialistischer Gesellschaftskonzepte <strong>und</strong> Umsturzbestrebungen<br />

von der Antike bis in die Zeit der Täufer. Paul Blackledge, Professor für politische<br />

Theorie an der Leeds Beckett University, attestiert den ›Vorläufern‹ Karl<br />

Kautskys nicht nur die dezidierte Betonung des Eigenwertes der Idee innerhalb<br />

der Geschichte, sondern vernahm in diesem Werk nichts weniger als »a constant<br />

rallying cry of the oppressed throughout history.« 29<br />

25<br />

A.a.O., 817.<br />

26<br />

A.a.O., 832.<br />

27<br />

Vgl. a.a.O., 818.<br />

28<br />

Kautsky, Kautskys ›Materialistische Geschichtsauffassung‹, 323.<br />

29<br />

Paul Blackledge, Karl Kautsky and Marxist Historiography, in: Science & Society 70<br />

(2006) 3, 337---359, hier: 346: »His [Kautskys] key political aim in this book, as in his<br />

earlier work on the radical movements of the <strong>Reformation</strong>, was to show that communism,<br />

of one form or another, was not a utopia dreamed up by 19th-century demagogues that<br />

clashed with human nature, but that is had been a constant rallying cry of the oppressed<br />

throughout history.«


174<br />

Sebastian Schmidmeier<br />

Es scheint Karl Kautsky bewusst gewesen zu sein, dass die Wahl des Titels zur<br />

Kritik anregen könnte, <strong>und</strong> er geht deshalb explizit auf die Notwendigkeit ein,<br />

sich über die Alterität vergangener Epochen <strong>und</strong> der sogenannten »Vorläufer«<br />

eines modernen Sozialismus im Klaren zu sein. 30<br />

Trotzdem zeichnet Kautsky<br />

seine historische Gesamtdarstellung nicht ohne eine deutliche »Sympathie«<br />

gegenüber den »Unterdrückten <strong>und</strong> Unterliegenden« 31 der Geschichte bzw. eine<br />

klare politische Parteinahme. Es ist unverkennbar, dass einige geschichtliche<br />

Darstellungen <strong>und</strong> Folgerungen Karl Kautskys zum Teil einen Charakter von<br />

»holzschnittartigen Bildern« 32 aufweisen. Diese sind durchaus in einer »agitatorischen<br />

<strong>und</strong> propagandistischen Absicht« 33 verfasst. So verfolgt dieses Werk eindeutig<br />

auch politische Zielsetzungen, wie Kautsky selbst offen bekennt: »Der<br />

Zweck dieses Werkes ist kein rein akademischer. Die Erschließung der Vergangenheit<br />

soll der Gegenwart größere Klarheit bringen.« 34<br />

Im Bestreben, eine »Geschichte des Sozialismus« zu verfassen, ist zudem<br />

nichts weniger zu sehen als der Versuch, einer noch relativ jungen Arbeiterbewegung<br />

durch das Mittel der Geschichtsschreibung eine Tradition <strong>und</strong> somit<br />

eine Art primordiale Legitimität zu verleihen. Insofern stellt Kautskys Beitrag<br />

›Die Vorläufer des Sozialismus‹ ein Element marxistischer Geschichtskultur dar,<br />

mit der Zielsetzung, durch eine kulturelle Durchdringung die Bewusstwerdung<br />

einer kollektiven Identität zu fördern.<br />

Während Kautsky die Antike mit der Ideenlehre Platons <strong>und</strong> dem »urchristlichen<br />

Kommunismus« auf wenigen Seiten abhandelt, nimmt das Mittelalter ---<br />

<strong>und</strong> hier besonders das Spätmittelalter --- zusammen mit dem »Zeitalter der <strong>Reformation</strong>«<br />

im ersten Teil seiner Sozialismusgeschichte einen wesentlich breiteren<br />

Umfang ein. Dabei folgt der Analyse der Lohnarbeitsverhältnisse, des Unterbaus,<br />

eine ideengeschichtliche Abhandlung über die christlichen Bewegungen<br />

dieser Zeit. In diesem zeitlichen Abschnitt sieht Kautsky in den Bauernkriegen<br />

ein in ganz Europa zu beobachtendes Phänomen, das er beispielsweise anhand<br />

30<br />

Vgl. hierbei Kautsky, Geschichte des Sozialismus, VIII: »Es kann nicht unsere Aufgabe<br />

sein, hier das Verhältnis der modernen Form des Sozialismus zu den früheren Formen<br />

desselben auseinanderzusetzen. Auch würde es zu weit führen, hier auf die materialistische<br />

Geschichtsauffassung des modernen Sozialismus einzugehen, die eine vollkommen<br />

objektive Geschichtsschreibung ermöglicht. Das hieße dem Inhalt des vorliegenden Werkes<br />

vorgreifen. Es genügt hier, darauf hinzuweisen, daß der moderne Sozialist seinen<br />

Vorgängern völlig unbefangen gegenübersteht. Ihr Sozialismus ist nicht der seinige, die<br />

Verhältnisse, denen sie entsprechen, sind verschieden von denen, die ihn umgeben. Wie<br />

immer also das Urtheil über seine Vorgänger ausfallen mag, es trifft nicht den Sozialismus,<br />

für den er eintritt, er ist an diesem Urtheil nicht direkt, nicht als Kämpfer interessiert.«<br />

31<br />

Ebd.<br />

32<br />

Kloft, Karl Kautsky <strong>und</strong> die Antike, 343.<br />

33<br />

Ebd.<br />

34<br />

Kautsky, Geschichte des Sozialismus, X.


Verdammt, verkannt, vergessen 175<br />

der Lollarden in England, der Taboriten in Böhmen oder der deutschen <strong>Reformation</strong><br />

mit Thomas Müntzer nachzuzeichnen versucht:<br />

»Bauernkriege sind in den letzten Jahrh<strong>und</strong>erten des Mittelalters nichts Seltenes.<br />

Ueberall war Zündstoff genug aufgehäuft, <strong>und</strong> es bedurfte blos eines Funkens, ihn zu<br />

entzünden.« 35<br />

Die Geschichte der <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> des Bauernkrieges in den Arbeiten<br />

Kautskys können in Folge als ein Beispiel für dessen materialistischer Geschichtsauffassung<br />

<strong>und</strong> der Komplexität von Basis <strong>und</strong> Überbau betrachtet werden.<br />

2. Bauernkrieg <strong>und</strong> <strong>Reformation</strong>szeit in Kautskys<br />

materialistischer Geschichtsschreibung<br />

»Das ganze Mittelalter ist eine Zeit von Klassenkämpfen zwischen Gr<strong>und</strong>herren <strong>und</strong><br />

ihren Bauern, <strong>und</strong> diese Kämpfe führten schließlich unter günstigen Umständen oft<br />

wieder zur Befreiung der Bauern, nicht nur von der Hörigkeit, sondern auch, zur Beseitigung<br />

der Gr<strong>und</strong>herrschaft. Und besser noch als den Bauern ging es Handwerkern.<br />

Sie haben schließlich überall die Hörigkeit <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>herrlichkeit abgeschüttelt.«<br />

36<br />

In diesem Duktus der Darstellung von Klassenkämpfen schildert Kautsky zum<br />

Teil sehr schematisch die Lohnarbeitsverhältnisse des Mittelalters <strong>und</strong> der <strong>Reformation</strong>szeit:<br />

die Herausbildung des Handwerks in den Städten, die Entstehung<br />

von Zünften oder Interessenkonflikten zwischen frühen Gesellenverbänden<br />

<strong>und</strong> den Meistern. Als Spezifikum des späten Mittelalters <strong>und</strong> insbesondere<br />

für das Heilige Römische Reich des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde jedoch der Bergbau<br />

betrachtet, da sich dort nach Kautsky am ehesten Formen frühkapitalistischer<br />

Produktionsprozesse manifestierten. 37 In den Blickpunkt werden die Städte <strong>und</strong><br />

der Bergbau als Zentren von Veränderungsprozessen genommen. 38<br />

35<br />

A.a.O., 153.<br />

36<br />

A.a.O., 42.<br />

37<br />

Vgl. A.a.O., 74---95, hier: 92: »Die Bergleute waren die einzigen Arbeiter, die schon frühzeitig<br />

in Massen zusammenarbeiten --- in dieser Bezeichnung wie in mancher anderen den<br />

Arbeitern der modernen Großindustrie vergleichbar. Schon im Mittelalter wurde die Zahl<br />

der Arbeiter in einem großen Bergwerk nach Tausenden berechnet, namentlich in Silberbergwerken,<br />

so am Harz, in Freiberg, in Iglau <strong>und</strong> Kuttenberg, später auch im<br />

Mansfeldischen u.s.w.« Die Bergarbeiter waren für Kautsky zwar Ausgebeutete <strong>und</strong> potentielle<br />

<strong>Revolution</strong>äre, jedoch keine »Vorläufer des Sozialismus« im eigentlichen Sinne,<br />

da die Abgeschiedenheit vieler Bergwerke den Austausch <strong>und</strong> die Ausprägung einer<br />

Organisation verhinderten. Vielmehr seien die Arbeiter in den städtischen Textilindust-


Alida C. Euler<br />

Die Frage nach dem Zins<br />

Überlegungen zur Relevanz von Max Webers These zur<br />

protestantischen Ethik <strong>und</strong> dem Geist des Kapitalismus im<br />

Hinblick auf die Zinsthematik anhand ausgewählter<br />

Positionen zentraler Reformatoren <strong>und</strong> Zeitgenossen<br />

1. Einleitung<br />

Die Frage nach dem Zins ist nicht nur seit 2008 <strong>und</strong> der bis heute nicht vollständig<br />

verstandenen Finanzkrise aktuell <strong>und</strong> wird kontrovers diskutiert. Angefangen<br />

von den biblischen Zeiten, durch das ganze Mittelalter hindurch <strong>und</strong> bis<br />

in die Gegenwart treffen bei dieser Diskussion sehr unterschiedliche Positionen<br />

aufeinander. Unter Zins »wird allg[emein] die Vergütung, die für die Nutzung<br />

eines Vermögensgutes bezahlt wird, verstanden.« 1<br />

Die Möglichkeit, Produktivkredite<br />

--- also Darlehen gegen Zinsen, die nicht für den Konsum, sondern für die<br />

Investition mit erhofften zukünftigen Gewinnen --- aufzunehmen, ist eine wichtige<br />

Säule jeder Art von Kapitalismus. Im Zusammenhang mit der von Max Weber<br />

in seinem Werk »Die protestantische Ethik <strong>und</strong> der Geist des Kapitalismus«<br />

entwickelten These, dass der Protestantismus --- genauer die sich im Protestantismus<br />

calvinistischer Spielart entwickelnde »innerweltliche Askese« 2 --- ein bestimmender<br />

Faktor dafür war, dass sich die heute vorherrschende kapitalistische<br />

Wirtschaftsordnung etablieren konnte, geht es mir in diesem Aufsatz zwar einerseits<br />

um die Darstellung der Positionen in der Frage nach dem Zins an sich,<br />

aber andererseits darüber hinaus auch um die Frage, ob sich Webers These am<br />

Beispiel der Zinsthematik bestätigen lässt. 3<br />

Max Weber thematisiert die Frage<br />

1<br />

Bayer, Art. Zins III. Wirtschaftswissenschaftlich, RGG 48, 1865.<br />

2<br />

Weber, Ethik, 84---206.<br />

3<br />

Michael Novak stellt in seiner Arbeit »Die katholische Ethik <strong>und</strong> der Geist des Kapitalismus«<br />

ebenfalls Webers These auf den Prüfstand <strong>und</strong> kritisiert Weber scharf, indem er<br />

die »kreative Fähigkeit der menschlichen Person« (Novak, Katholische Ethik, 21) als<br />

»Herzstück eines kapitalistischen Systems« (ebd.) bezeichnet <strong>und</strong> diese Kreativität allgemein<br />

in der »katholischen Ethik« --- hier verstanden als »allumfassend« (ebd.), also auch<br />

die »jüdische Tradition« (ebd.) miteinschließend --- <strong>und</strong> nicht speziell in der ›protestantischen<br />

Ethik‹ begründet sieht. Meines Erachtens trägt dieser Ansatz Webers Anliegen<br />

insofern nicht ausreichend Rechenschaft, als zum einen zwar Kreativität der Akteure<br />

sicher zentral für kapitalistische Systeme ist, jedoch nicht zwangsläufig das zentrale


194<br />

Alida C. Euler<br />

nach dem Zins in seiner ›Protestantischen Ethik‹ selbst nicht ausführlich, sondern<br />

hat eher die Gesamterscheinung ›Kapitalismus‹ im Blick, während ich mich<br />

in diesem Aufsatz konkret <strong>und</strong> ausschließlich auf Positionen zur Zinsthematik<br />

als eine --- zwar wichtige, aber explizit nur eine ---- Säule kapitalistischer Wirtschaftsordnungen<br />

beschränke. 4 Es ist daher kein Gesamturteil über die Plausibilität<br />

Webers These als Ganzer angestrebt, sondern anhand prominenter Quellen<br />

dieses konkreten Bereiches soll geprüft werden, ob in diesem Zusammenhang<br />

Webers Aussage plausibel zu machen ist. Um den Rahmen dieses Beitrages nicht<br />

zu überschreiten, beschränke ich mich bei der Analyse zudem zeitlich auf Positionen<br />

der <strong>Reformation</strong>szeit im engeren Sinn --- also auf zentrale Positionen von<br />

Eck bis Calvin ---, während Max Weber in seiner ›Protestantischen Ethik‹ seine<br />

Quellenbasis weiter fasst <strong>und</strong> das siebzehnte <strong>und</strong> achtzehnte Jahrh<strong>und</strong>ert ebenfalls<br />

mit im Blick hat.<br />

Da es in dieser Arbeit nicht vorrangig um die übliche Höhe der Zinssätze,<br />

sondern um die gr<strong>und</strong>sätzliche Frage, ob das Verlangen von Zins als solches<br />

gerechtfertigt ist, geht, wird hier zwischen Wucher (überhöhten Zinsen) <strong>und</strong><br />

Zinsen an sich nicht differenziert. Eine solche Differenzierung wäre überhaupt<br />

fragwürdig, da die biblischen Quellen, die für die nach dem Sola-Scriptura-<br />

Prinzip arbeitenden Reformatoren höchst relevant sind, keine solche vornehmen,<br />

<strong>und</strong> da zur Zeit der Scholastik durchaus auch »jede Gegenleistung <strong>und</strong> jeder<br />

Vorteil über die Rückgabe einer geliehenen Sache hinaus« 5 als Wucher bezeichnet<br />

werden konnte, was weitestgehend auch für die Auseinandersetzung der<br />

Reformatoren mit der Zinsfrage gilt. Im Folgenden werden daher exemplarisch<br />

›Herzstück‹, da die von Weber stark hervorgehobene Bereitschaft zum Konsumverzicht,<br />

die durch das, was Weber als ›innerweltliche Askese‹ bezeichnet, ermöglicht, bzw. verstärkt<br />

wird, mindestens ebenso relevant für die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftssysteme<br />

ist. Weiterhin betont Novak, dass seine vorliegende ›katholische Ethik‹ im Gegensatz<br />

zu Webers protestantischer Ethik »auch eine ermutigende Orientierung für die<br />

Zukunft bietet« (Novak, Katholische Ethik, 23). Meines Erachtens ist eine solche Orientierung<br />

nicht Webers Ziel, da er lediglich zu begründen versucht, wie es zu kapitalistischen<br />

Wirtschaftssystemen kommen konnte, ohne explizite Zukunftsorientierungen daraus zu<br />

schließen. Im Gegenteil: Sein Fazit, dass sich an diesem ›stahlharten Gehäuse‹ nichts<br />

ändern wird, bis auch »der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist« (Weber, Ethik,<br />

203), ist der Versuch einer realistischen Situationseinschätzung <strong>und</strong> explizit keine ethische<br />

Handlungsorientierung. Novak weist allerdings --- zwar pauschal, jedoch durchaus<br />

zurecht (Novak, Katholische Ethik, 28) --- auf die unzureichende Quellenbasis Webers hin,<br />

da Weber bspw. sehr häufig Richard Baxter, einen seelsorglich orientierten calvinistischen<br />

Theologen des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts anführt, der jedoch selbst kein ausgeprägtes Interesse<br />

an der Prädestinationslehre zeigt <strong>und</strong> sich demnach als Beleg für Webers These nur<br />

sehr begrenzt heranziehen lässt.<br />

4<br />

Vgl. für eine --- im Hinblick auf die Zinsfrage knappe --- vergleichende Darstellung von<br />

Luthers <strong>und</strong> Calvins Positionen im Hinblick auf »the representative economic topics ›property‹,<br />

›vocation/profession‹ and ›interest‹« (Pawlas, Calvin, 37) im Kontext von Webers<br />

Ausführungen Pawlas, Calvin, passim.<br />

5<br />

Sprandel, R.: Art. Zins IV. Kirchengeschichtlich, TRE 36, 683.


Die Frage nach dem Zins 195<br />

die Positionen wichtiger Reformatoren (Luther, Zwingli, Calvin, Müntzer) <strong>und</strong><br />

von Johannes Eck --- einem Hauptgegner reformatorischen Gedankenguts --- dargestellt<br />

<strong>und</strong> abschließend im Hinblick auf Webers These kritisch gewürdigt.<br />

2. Die Frage nach dem Zins bei Johannes Eck<br />

Johannes Ecks 6 ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Zins,<br />

genauer gesagt, ob ein Zinssatz von fünf Prozent vertretbar sei, findet sich bereits<br />

vor den anderen im folgenden dargestellten Positionen in einem von Jakob<br />

Fugger 1514 in Auftrag gegebenen 7<br />

Gutachten »Consilium in casu quinque de<br />

centenario«, auch wenn der wirtschaftsethisch in »der Traditionslinie von Gabriel<br />

Biel über Konrad Summenhart« 8<br />

stehende Ingolstädter Professor bereits<br />

zuvor in den ›Oberdeutschen Zinsstreit‹ eingetreten war. 9 Das erfolgreiche Bankhaus<br />

Fugger musste sich vermehrt mit Vorwürfen auseinandersetzen, dass ihr<br />

Kreditgeschäft, dem kanonischen Zinsverbot widerspreche. Zuvor hatte Eck<br />

bereits 1513/14 eine Vorlesung zur Zinsthematik gehalten <strong>und</strong> diese im<br />

»Tractatus usurarum«, als »Nachschrift für die Hörer seiner Vorlesung« 10<br />

zusammengefasst.<br />

Darin hatte er bereits eine ausgesprochen enge Zinsdefinition<br />

vorgestellt, da »die dargeliehene Summe überschreitende[r] Gewinn […] gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

kein Wucher [ist], solange nicht die Intention hinzutritt, einen solchen<br />

6<br />

Neben Eck gibt es mit der Schule von Salamanca einen weiteren ›altgläubigen‹ Zweig,<br />

der die Zinsnahme unter Bedingungen tolerieren kann. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann<br />

ich leider nicht weiter auf diese interessante spätscholastische Schule eingehen. Es sei<br />

jedoch zumindest exemplarisch der im Verhältnis zu Eck etwas jüngere Ludwig Molina<br />

(1535---1600) genannt, der die im fünfzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert im Franziskanerorden entstandene<br />

Praxis, Pfandleihhäuser (montes pietatis) zu betreiben, für legitim hält <strong>und</strong> auch<br />

das Argument der Unfruchtbarkeit des Geldes widerlegt: Nach Molina ist investiertes<br />

Geld nicht unfruchtbar, sondern »ein Instrument, mit dem man dauernd Gewinn machen<br />

kann« (Weber, Geld <strong>und</strong> Zins, 129), während Geld, das nicht verwendet wird, tatsächlich<br />

unfruchtbar ist. Siehe auch im Zusammenhang mit einem Preis für die »Dienstleistung<br />

des Bankiers« im Zusammenhang mit dem Transfer von Wechseln: Weber, Wirtschaftsethik,<br />

181. Hiervon ausgehend ist eine »Rechtfertigung des Zinses« innerhalb der Schule<br />

von Salamanca nach Reinhard ein folgerichtiger Schritt. Reinhard, Gegenreformation,<br />

247.<br />

7<br />

Vgl. Oberman, Werden <strong>und</strong> Wertung, 181.<br />

8<br />

A.a.O, 199.<br />

9<br />

Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, den ›Oberdeutschen Zinsstreit‹ im<br />

Einzelnen darzustellen, sodass hier auch auf die 1512/1513 entstandene Auseinandersetzung<br />

Sebastian Ilsungs mit der Zinsfrage verzichtet wird, die vermutlich einen großen<br />

Einfluss auf Ecks Gedankengänge zu diesem Thema hatte. Da der Fokus dieses Aufsatzes<br />

auf dem Vergleich der jeweiligen Positionen liegt, verweise ich für eine ausführliche<br />

Darstellung ich für eine ausführliche Darstellung des ›Oberdeutschen Zinsstreits‹ auf:<br />

Wurm, Johannes Eck, bes. 66---192.<br />

10<br />

Wurm, Zinsstreit, 85.


196<br />

Alida C. Euler<br />

zu erzielen.« 11 Weiterhin stellt er fest, dass in einer »Gesellschaft im Gegensatz<br />

zum Darlehen ein Gewinn erzielt werden darf« 12 , wobei es unerheblich ist, ob<br />

sich ein Gesellschafter per Arbeitskraft oder Kapital an dieser beteiligt. Zum<br />

Wucher wird der Gewinn einer solchen Gesellschaft nach Eck nur, wenn »jemand<br />

sein Geld in eine Gesellschaft einlegt, sich aber nicht […] an Gewinn <strong>und</strong><br />

Verlust beteiligen will« 13 , sondern lediglich sicheren Gewinn aufgr<strong>und</strong> seines<br />

Kapitals fordert. Mit nur drei Sätzen geht Eck daraufhin kurz auf eine »Gesellschaft<br />

mit Kapitalversicherung« 14<br />

ein: Eine Versicherung von Kapital <strong>und</strong> Gewinn,<br />

die von einem Gesellschafter geleistet wird, bei dem es »wahrscheinlich<br />

gelten« 15<br />

muss, dass ausreichender Gewinn entsteht, ist kein Wucher, sondern<br />

legitim.<br />

Sein ausführliches Zinsgutachten fertigte Eck im Herbst 1514 an. Hierzu<br />

fasst Wurm das Gr<strong>und</strong>anliegen Ecks treffend zusammen: »Da nämlich einerseits<br />

der Handel zur Deckung des menschlichen Bedarfes unerläßlich, Wucher andererseits<br />

durch beide Testamente <strong>und</strong> durch das Kirchenrecht verboten ist, gilt es<br />

[…], die wucherischen Verträge von den nicht wucherischen gewissenhaft zu<br />

scheiden, damit nicht der Gerechte als unfromm oder die gerechten <strong>und</strong> notwendigen<br />

Verträge als Wucher verdammt werden.« 16 Durch dieses für Jakob Fugger<br />

sehr positive Gutachten, das geschickt das kanonische Zinsverbot umgeht, geriet<br />

Eck allerdings in den Verruf, ein »Knecht des Augsburger Kapitals« 17<br />

bzw. ein<br />

»Opportunist« 18<br />

zu sein. Meines Erachtens zeigt das Gutachten selbst jedoch,<br />

dass Eck tatsächlich der Ansicht war, stichhaltige Gründe für die Rechtmäßigkeit<br />

eines Zinssatzes --- Eck spricht allerdings nicht von ›Zins‹, sondern vom Kaufpreis<br />

für erwarteten, aber »unsicheren Gewinn« 19 --- gef<strong>und</strong>en zu haben, die ihn<br />

zu seinem Ergebnis nötigten. Dafür spricht auch, dass er sein Gutachten nicht<br />

nur zur Diskussion stellte, indem er es an verschiedene theologische Fakultäten,<br />

bzw. Universitäten übermittelte 20 , sondern auch dann noch auf eine Disputation<br />

darüber drängte, nachdem sie ihm bereits in Ingolstadt wohl auf Drängen vieler<br />

humanistisch orientierter Kritiker der in Augsburg vorherrschenden Zinspraxis<br />

11<br />

Wurm, Zinsstreit, 87.<br />

12<br />

Ebd.<br />

13<br />

A.a.O, 88.<br />

14<br />

Ebd.<br />

15<br />

Ebd.<br />

16<br />

A.a.O., 96.<br />

17<br />

Iserloh, Art. Eck, Johannes, LThK 3, 642. Ein markanter Kritiker Ecks ist beispielsweise<br />

der Juraprofessor Ulrich Zasius, den Eck selbst in Freiburg als Lehrer erlebte, Rowan,<br />

Ulrich Zasius, 112f.<br />

18<br />

Oberman, Werden <strong>und</strong> Wertung, 176.<br />

19<br />

Wurm, Zinsstreit, 101.<br />

20<br />

Vgl. A.a.O., 97.


Die Frage nach dem Zins 197<br />

vom Kanzler der Universität Ingolstadt, Bischof Gabriel von Eyb, verboten wurde.<br />

21 Seine Herangehensweise an die Zinsfrage verdeutlicht Eck an einem Beispiel:<br />

Wie können Titius als Kapitalgeber <strong>und</strong> Gaius als Kaufmann einen Vertrag<br />

schließen, mit dem Titius sein Kapital zu einem Zinssatz von fünf Prozent bei<br />

Gaius anlegen kann? 22 Dabei betont er wie im »Tractatus usurarum«, dass es auf<br />

die Intention der Beteiligten ankomme, wobei er hier den Gedanken weiter führt<br />

<strong>und</strong> darauf Wert legt, dass natürlich auch der Vertrag als solcher von seiner<br />

Beschaffenheit her gerecht sein muss. 23<br />

Nach einer »Rechtfertigung des Handels«<br />

24<br />

an sich <strong>und</strong> Überlegungen zur Frage nach dem »gerechten Preis« 25 , auf<br />

deren Darstellung im Rahmen der hier angestellten Auseinandersetzungen mit<br />

der Zinsthematik verzichtet werden kann, entwickelt er den bereits bei dem<br />

Juristen Sebastian Ilsung 1512 greifbaren ›Dreifachen Vertrag‹ weiter. 26<br />

Zwar<br />

werden hierbei alle drei Verträge zeitgleich abgeschlossen, aber dennoch handelt<br />

es sich nicht um ein Darlehen gegen Zinsen, sondern um drei einzelne Verträge:<br />

Im Beispiel überlässt Titius Gaius demnach im Rahmen einer Gesellschaft<br />

(»societas« 27 ) Kapital, das jedoch nach wie vor sein Eigentum bleibt, <strong>und</strong> mit dem<br />

Gaius daraufhin wirtschaftet <strong>und</strong> voraussichtlichen Gewinn erzielt. Da Titius,<br />

der von Eck als in wirtschaftlichen Fragen unerfahren beschrieben wird, das<br />

Risiko, das er als Gesellschaftsteilhaber tragen müsste, nicht eingehen möchte,<br />

verkauft er in einem zweiten Vertrag den erwarteten höheren Gewinn gegen<br />

einen ihm von Gaius garantierten sicheren, aber vermutlich niedrigeren Gewinn.<br />

Damit ist allerdings das bereitgestellte Kapital selbst noch nicht abgesichert, was<br />

in einem dritten Vertrag zwischen beiden geschieht, in dem Gaius Titiusʼ Kapital<br />

versichert <strong>und</strong> dafür von dem garantierten Gewinn noch etwas abzieht. Letztlich<br />

erhält Titius sein zur Verfügung gestelltes Kapital samt einem vorher vereinbarten<br />

Betrag --- bei Eck sind dies im Beispiel fünf Prozent, was wohl der gängigen<br />

Zinspraxis in Augsburg entspricht 28 --- zurück. 29 Da es sich dabei nicht um Zinsen,<br />

sondern um den ›gerechten Preis‹ für den ihm eigentlich zustehenden, aber<br />

21<br />

Vgl. A.a.O., 131. Das Zustandekommen <strong>und</strong> der Ablauf der daraufhin 1515 stattgef<strong>und</strong>enen<br />

Disputation in Bologna, die sich u.a. mit der Frage nach dem Zins auseinandersetzte,<br />

sind für die hier vorgelegte Beschäftigung mit der Zinsfrage nicht ausschlaggebend,<br />

sodass ich hierfür wiederum auf Wurm, Zinsstreit, bes. 128---200 verweise.<br />

22<br />

Vgl. Wurm, Zinsstreit, 97.<br />

23<br />

Vgl. Ebd.<br />

24<br />

Ebd.<br />

25<br />

A.a.O., 98.<br />

26<br />

Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Vertragstheorie zu dieser Zeit siehe<br />

Decock, Theologians and Contract Law.<br />

27<br />

Wurm, Zinsstreit, 101.<br />

28<br />

Vgl. Häberlein, Fugger, 170.<br />

29<br />

Vgl. Wurm, Zinsstreit, 101.


198<br />

Alida C. Euler<br />

unsicheren Gewinn handelt 30 , gerät diese Art von Vertrag nach Eck weder in<br />

Konflikt mit dem biblischen noch mit dem kanonischen Zinsverbot. Im Gegensatz<br />

zu Luther beschäftigt Eck sich mit Produktivkrediten <strong>und</strong> erklärt deren<br />

Legitimität, während er mit seiner Bedingung, dass ein solcher Vertrag nur mit<br />

einem Kaufmann abgeschlossen werden dürfe 31 , diejenigen Kreditvergaben gegen<br />

Zinsen als Wucher deklariert, die nicht der wie auch immer gearteten Produktion,<br />

sondern der Konsumption dienen. Er differenziert daher zwischen Darlehen,<br />

bei denen der Kreditnehmer --- meist aus einer Notlage heraus --- um den<br />

Vertragsabschluss ersucht, <strong>und</strong> den beschriebenen Gesellschaften mit ihren<br />

dreifachen Verträgen, bei denen der Kapitalgeber den Kaufmann, der nicht als<br />

arm, sondern im Gegenteil als erfahren <strong>und</strong> erfolgreich dargestellt wird, um die<br />

sinnvolle Anlage seines Kapitals bittet. 32 Letztlich setzt sich die Auffassung, dass<br />

diese Art des ›Zinses‹ im uneigentlichen Sinn legitim sei, zwar nicht direkt<br />

durch, sodass es im Anschluss an den ›Oberdeutschen Zinsstreit‹ zu »keiner<br />

Änderung der offiziellen kirchlichen Haltung« 33 kommt, dennoch wird trotz der<br />

öffentlichen Debatte über die Legitimität der Zinspraxis der Handelsgesellschaften,<br />

wie v.a. die der Fugger, diese »weiterhin stillschweigend geduldet« 34 .<br />

Insgesamt zeigt sich anhand der Position Ecks während des ›Oberdeutschen<br />

Zinsstreites‹, dass dieser trotz des kanonischen Zinsverbots, das nicht nur nach<br />

wie vor galt, sondern auch viele Unterstützer hatte, eine Antwort auf die Frage<br />

nach dem Zins gef<strong>und</strong>en hatte, die mindestens so ›kapitalismusfördernd‹ war,<br />

wie es die von Calvin eine Generation später sein sollte. Gerade dadurch, dass<br />

Eck Produktivkredite zu einem seiner Ansicht nach fairen ›Zinssatz‹, bzw. ›gerechten<br />

Preis‹ von fünf Prozent für legitim erklärte, <strong>und</strong> gleichzeitig konsumtive<br />

Darlehen als Wucher verneinte, zeigt er sich im Hinblick auf die für kapitalistische<br />

Wirtschaftsordnungen höchst relevante Säule der Kapitalbeschaffung durch<br />

verzinste Kredite wesentlich modernefördernder, als dies beispielsweise Luther<br />

in seinen Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem Zins fünf Jahre später<br />

sein sollte. Es zeigt sich weiterhin ein großer Unterschied in der Art der Argumentation,<br />

da Johannes Eck im Stil der Scholastik sich vor allem auf juristische,<br />

aber auch theologische Vordenker 35 beruft <strong>und</strong> sich mit den biblischen Zinsverboten<br />

selbst nicht inhaltlich auseinandersetzt, sondern lediglich zu Beginn des<br />

Gutachtens feststellt, dass Wucher »durch beide Testamente <strong>und</strong> durch das Kirchenrecht<br />

verboten« 36 sei. Dies bedarf allerdings in der Logik von Ecks Argumentation<br />

durch seine Konstruktion des Gewinns durch Kapitalbereitstellung auch<br />

30<br />

»Quinque recepta a Ticio non recipiuntur ratione usus pęcunię directe, sed ratione lucri<br />

incerti sibi debiti«, Eck, Consilium, 19r, zitiert nach Wurm, Zinsstreit, 248.<br />

31<br />

Vgl. Wurm, Zinsstreit, 105.<br />

32<br />

Vgl. A.a.O., 104.<br />

33<br />

Häberlein, Fugger, 171.<br />

34<br />

Ebd.<br />

35<br />

Eine Auflistung findet sich bei Wurm, Zinsstreit, 105.<br />

36<br />

Wurm, Zinsstreit, 96.


Die Frage nach dem Zins 199<br />

keiner weiteren Auseinandersetzung, da das, was der Ingolstädter für legitim<br />

erklärt, seiner Ansicht nach keine Zinsnahme im eigentlichen Sinn ist, auch<br />

wenn es letztlich als solche verstanden werden kann.<br />

3. Martin Luthers Position in der Frage nach dem Zins<br />

Insgesamt vier Schriften Luthers beschäftigen sich ausführlich mit der Frage<br />

nach dem Zins: 1519 hält Luther die erste Predigt, die sich mit der Frage nach<br />

dem Zins auseinandersetzt. Dieser ›kleine Sermon von dem Wucher‹ ist vom<br />

Kontext her zum Einen als Stellungnahme Luthers zu der seit Ecks Disputation<br />

in Bologna nicht abgeklungenen Auseinandersetzung um das kanonische Zinsverbot,<br />

<strong>und</strong> zum anderen als Reaktion auf mehrere Missernten, die diverse Bauern<br />

zur Aufnahme von Konsumtionskrediten zwangen, die in der Regel nicht<br />

zurückgezahlt werden konnten, zu verstehen. 37<br />

Im ›großen Sermon von dem<br />

Wucher‹, der 1520 gedruckt wird <strong>und</strong> den zweiten Teil der 1524 erschienenen<br />

Schrift »Von Kaufshandlungen <strong>und</strong> Wucher« bildet, wendet sich Luther erneut<br />

der Zinsfrage zu. Nach einer ausführlichen Einführung, in der Luther die christliche<br />

Nächstenliebe mit vielen biblischen Belegen erläutert, gelangt er schließlich<br />

zu der Frage, ob die Nächstenliebe soweit gehe, dass auch Feinden zu leihen<br />

sei. Auf der Gr<strong>und</strong>lage von Lk 6,35 setzt er sich deutlich für das Verleihen an<br />

jeden ein, da es nach ihm nicht ausreichend ist, als Akt der Nächstenliebe seinen<br />

Feinden innerlich zu vergeben, ohne ihnen auch äußerlich Wohltaten --- wie das<br />

Gewähren eines Darlehens --- zu tun. 38 Im Jahre 1524, als die <strong>Reformation</strong> bereits<br />

um sich gegriffen hat <strong>und</strong> Luther unter der Reichsacht des Wormser Edikts<br />

steht, schreibt der Reformator die Schrift »Von Kaufshandlung <strong>und</strong> Wucher«. Im<br />

ersten Teil gibt Luther den Zweck seiner Schrift an, der darin besteht, dass er<br />

um der Kaufleute willen schreibt, die »Christo zugehoren <strong>und</strong> lieber wollten mit<br />

Gott arm denn mit dem teuffel reich sein« 39 . Luthers prinzipielle Skepsis gegenüber<br />

Kaufleuten zeigt sich jedoch bereits an dem von ihm geäußerten Zweifel am<br />

Erfolg seiner Schrift. 40 Pietsch, der Verfasser des Vorworts zur Weimarer Ausgabe<br />

der hier analysierten Schrift, betont, dass Luther für »die Produktivität des<br />

Geldes <strong>und</strong> somit für die Lebensbedingungen des Großhandels […] so wenig<br />

Verständnis [habe] wie das kanonische Recht« 41 , da er die mittelalterliche Ansicht<br />

teile, »daß nur die Landwirtschaft <strong>und</strong> daneben das Handwerk ein wahrhaft<br />

gottgefälliger Erwerbsstand sei« 42 . Im zweiten Teil der Schrift, dem ›Großen Ser-<br />

37<br />

Vgl. Prien, Luthers Wirtschaftsethik, 72.<br />

38<br />

Vgl. Luther, (großer) Sermon, 43.<br />

39<br />

Luther, Kaufshandlung, 293.<br />

40<br />

Vgl. Ebd.<br />

41<br />

Pietsch, Vorwort zu Luthers Schrift »Von Kaufshandlung <strong>und</strong> Wucher«, 282.<br />

42<br />

Ebd.


Gedruckt mit fre<strong>und</strong>licher Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig <strong>und</strong> strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung<br />

<strong>und</strong> Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>, New Haven, CT & text.doc Mirjam Becker, Leipzig<br />

Druck <strong>und</strong> Binden: Hubert & Co, Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07396-2 // eISBN (PDF) 978-3-374-07397-9<br />

www.eva-leipzig.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!