03.04.2023 Aufrufe

Rainer Rausch | Frank Otfried July | Winfrid Krause (Hrsg.): Luther lehrt predigen(d) (Leseprobe)

Martin Luther hat nicht nur die Predigt des Evangeliums neu ins Zentrum der Kirche gerückt, sondern auch selbst zwischen 1511 und 1546 viel gepredigt. Über 2000 Predigten sind überliefert. Predigten sollten – wie Luther in der Vorrede zur Adventspostille schreibt – »aufbauend und streitbar sein, Brot und Schwert, Weide und Waffen« enthalten. Der Prediger soll insbesondere den Sinn des Evangeliums verständlich machen, Wesen und Geschichte Jesu vermitteln und das Heil Gottes im Zuspruch der Gnade weitergeben. Luther lehrt predigen(d) und bringt dadurch reformatorische Grundanliegen in pastoraler Verantwortung zwar in anderer Weise, aber ebenso deutlich zum Ausdruck wie in seiner sonstigen wissenschaftlichen Arbeit. In diesem Sinn gilt, »daß der größte Gottesdienst die Predigt« (WA 237, 29–32) ist. Luther lehrt predigen(d).

Martin Luther hat nicht nur die Predigt des Evangeliums neu ins Zentrum der Kirche gerückt, sondern auch selbst zwischen 1511 und 1546 viel gepredigt. Über 2000 Predigten sind überliefert. Predigten sollten – wie Luther in der Vorrede zur Adventspostille schreibt – »aufbauend und streitbar sein, Brot und Schwert, Weide und Waffen« enthalten. Der Prediger soll insbesondere den Sinn des Evangeliums verständlich machen, Wesen und Geschichte Jesu vermitteln und das Heil Gottes im Zuspruch der Gnade weitergeben. Luther lehrt predigen(d) und bringt dadurch reformatorische Grundanliegen in pastoraler Verantwortung zwar in anderer Weise, aber ebenso deutlich zum Ausdruck wie in seiner sonstigen wissenschaftlichen Arbeit. In diesem Sinn gilt, »daß der größte Gottesdienst die Predigt« (WA 237, 29–32) ist. Luther lehrt predigen(d).

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Verwandeln Sie Ihre PDFs in ePaper und steigern Sie Ihre Umsätze!

Nutzen Sie SEO-optimierte ePaper, starke Backlinks und multimediale Inhalte, um Ihre Produkte professionell zu präsentieren und Ihre Reichweite signifikant zu maximieren.

<strong>Rainer</strong> <strong>Rausch</strong> | <strong>Frank</strong> <strong>Otfried</strong> <strong>July</strong> |<br />

<strong>Winfrid</strong> <strong>Krause</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

Lüthër lëhrt<br />

prëdïgëñ(d)<br />

Dokumentationen der <strong>Luther</strong>-Akademie<br />

Sondershausen-Ratzeburg e. V.


Prolog<br />

<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d)<br />

Predigt als Mittelpunkt des Gottesdienstes ... Wie kann das »leibliche Wort« des<br />

Evangeliums (CA 5) in seiner Mündlichkeit und Öffentlichkeit, in seiner Personalität<br />

und Lokalität zur Geltung kommen? <strong>Luther</strong> hat in seiner Funktion als<br />

Prediger, der – nicht zuletzt durch das große Postillenwerk – zu <strong>predigen</strong> und<br />

<strong>predigen</strong>d ge<strong>lehrt</strong> hat, erstaunlicherweise nicht die Beachtung gefunden, die er<br />

verdient hat. Deshalb haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer während<br />

der Tagung der <strong>Luther</strong>-Akademie im Oktober 2021 durch Vorträge und Diskussionen<br />

dem docere evangelium <strong>Luther</strong>s gewidmet. <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d) und<br />

bringt dadurch reformatorische Grundanliegen in pastoraler Verantwortung<br />

zwar in anderer Weise, aber ebenso deutlich zum Ausdruck wie in seiner sonstigen<br />

wissenschaftlichen Arbeit.<br />

Die einzelnen Beiträge sind von dem Interesse an einer Vergegenwärtigung<br />

<strong>Luther</strong>s bestimmt, der betont hat, »daß der größte Gottesdienst die Predigt« ist.<br />

Privatdozent Dr. Roland M. Lehmann (Jena) gibt einen Einblick in <strong>Luther</strong>s<br />

Entwicklung als Prediger in den Jahren 1510–1518. <strong>Luther</strong> hielt seine ersten<br />

Pre digten 1510/11 in Erfurt wohl vor seinem Augustinerorden im Rahmen der<br />

spätmittelalterlichen, gute Werke anstrebenden Frömmigkeit. Nach seiner Romreise<br />

predigte er 1514 in Wittenberg über den Johannesprolog, den er mit philosophisch-aristotelischen<br />

Kategorien zu verstehen versucht, die er dann 1522 als<br />

exegetisch ungeeignet ablehnt. <strong>Luther</strong> hielt als Provinzvikar seines Ordens 1515<br />

in Gotha eine Aufsehen erregende Predigt, bei der er drastische Sprachbilder<br />

benutzt . I m J a h r e 1 5 1 7 h ä u fe n sich die k r i tischen Predigten über die Kirche<br />

und ihren Ablasshandel. Man solle nach seinem radikalisierten Bußverständnis<br />

nicht die Strafen, sondern die Sünde selbst fürchten. In einer Predigt über die<br />

Auferweckung des Lazarus 1518 ist die reformatorische Theologie klar ausgebildet:<br />

Das über seine Sünde erschrockene Gewissen wird getröstet und die<br />

Werkgerechtigkeit verworfen.<br />

<strong>Luther</strong>s Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519) betrachtet<br />

Dr. Jonathan Reinert (Reutlingen/Bensheim). <strong>Luther</strong> schrieb den Sermon<br />

7


Prolog<br />

in der Fastenzeit für den Druck, um seine Neuentdeckung des Evangeliums am<br />

Kreuz Jesu darzulegen, wobei Jesaja 53 ihm als Anleitung zum Verstehen diente.<br />

Mit zahlreichen Nachdrucken fand dieser Sermon, der die evangelische Passionsfrömmigkeit<br />

geprägt hat, große Verbreitung. Christi Passion soll nicht unser<br />

menschliches Mitleid erregen, sondern uns über unsere Sünde vor Gott erschrecken<br />

lassen, deren Strafe er hier stellvertretend für uns trägt. Zugleich zeigt sie<br />

uns Jesu Liebe und lässt uns durch Gottes Sohn zur Liebe des Vaters durchdringen.<br />

<strong>Luther</strong>s spätere Passionspredigten ziehen diese Linien aus, wobei er sich<br />

immer polemisch vom Papsttum sowie den Juden, Türken und Schwärmern abgrenzt.<br />

<strong>Luther</strong>s Passionsverständnis ist in seiner Zuspitzung auf die Sünde eine<br />

Anfrage an die heutige Passionspredigt, die eher um das Leiden kreist; dadurch<br />

wird Christus jedoch von einem Sakrament des Heils zu einem bloßen menschlichen<br />

Exemplum.<br />

Martin <strong>Luther</strong> hat nicht nur die Predigt des Evangeliums neu ins Zentrum der<br />

mittelalterlichen Sakramentskirche gerückt, sondern auch zwischen 1511 und<br />

1546 selbst viel gepredigt. Prof. Dr. Hellmut Zschoch (Wuppertal) weist auf die<br />

über 2.000 in der Weimarer Ausgabe (WA) überlieferten Predigten hin. Diese spiegeln<br />

etwa zwei Drittel seiner Predigttätigkeit wider und umfassen etwa ein Drittel<br />

dieser Gesamtausgabe. Predigten sollten – wie <strong>Luther</strong> in der Vorrede zur Adventspostille<br />

schreibt – »aufbauend und streitbar sein, Brot und Schwert, Weide und<br />

Waffen« enthalten. Der Prediger solle den Sinn des Evangeliums verständlich machen,<br />

Wesen und Geschichte Jesu vermitteln und das Heil Gottes im Zuspruch der<br />

Gnade und Kampf gegen die Feinde Christi weitergeben. Ähnlich äußert sich<br />

<strong>Luther</strong> im »klein[en] Unterricht, was man in den Evangelien suchen und gewarten<br />

soll«, am Anfang der Weihnachtspostille; es gehe nicht um historische Berichte,<br />

sondern um Gottes ewige Lebenszusage. Die von <strong>Luther</strong> gerne gedruckten Sermone<br />

zeigen den lebendigen Zusammenhang von Predigt und theologischer Lehre.<br />

Dr. Jonathan Mumme (Michigan/USA) hat die Anredeformen in <strong>Luther</strong>s Predigten<br />

untersucht. Im Anschluss an den Apostel Paulus – besonders in seinen<br />

Briefen an die Korinther – benutzt <strong>Luther</strong> nicht nur das Du und Ihr, um die Predigthörer<br />

anzureden, sondern neben dem Wir aller Christen auch das Wir der<br />

ordinierten Amtsträger, in denen sich der apostolische Auftrag zur Verkündigung<br />

des Evangeliums durch die Kirchengeschichte fortsetzt. So reden Gott und Jesus<br />

durch die Diener am Wort zur Gemeinde und sind im Heiligen Geist anwesend,<br />

und die Prediger sprechen in Gottes Namen. Die damit verbundene Amtszu -<br />

versicht entlaste den Prediger von subjektiven Anfechtungen und vermehre die<br />

Heilsgewissheit der Hörer. Entsprechend kenne die lutherische Tradition nicht<br />

nur das allgemeine Priestertum der Gläubigen, sondern auch das Gegenüber<br />

von Amt und Gemeinde, in dem sich das Gegenüber von Gott und Mensch<br />

spiegele.<br />

Der Professor für Praktische Theologie an der Universität Basel Dr. Albrecht<br />

Grözinger (Basel) widmet sich der Frage: »Was können wir von dem Prediger<br />

8


<strong>Luther</strong> heute lernen?« <strong>Luther</strong> hat zwar nicht wie Augustin und die Autoren der<br />

vielen mittelalterlichen Artes Praedicandi eine Homiletik geschrieben, aber doch<br />

Hinweise dazu gegeben. Wichtig ist eine Lust am Text, die der Predigt zugutekommt.<br />

Nur wenn der Prediger in einer persönlichen Beziehung zum Text lebt,<br />

gewinnen seine Worte Gewicht. <strong>Luther</strong> gibt auch dem Ich des Predigers und<br />

dem Hörer Raum. Weil Gott selbst Wort und Sprache ist, ist die Sprache für die<br />

Predigt von höchster Bedeutung. Durch das Evangelium wird uns eine neue<br />

Sprache verliehen, die in kühnen Metaphern Ausdruck findet.<br />

Der großen Wertschätzung reformatorischer Erkenntnisse für die Verkündigung<br />

trägt die <strong>Luther</strong>-Akademie auch dadurch Rechnung, dass Mette, Complet, An -<br />

dachten und Gottesdienste in jedem Tagungsprogramm der zweimal jährlich<br />

durchgeführten Tagungen enthalten sind. Auf diese Weise wird die Pflege der<br />

Wissenschaft und des geistigen Lebens mit der Pflege lutherischer Spiritualität<br />

im Gottesdienst verbunden.<br />

Insofern ist es konsequent, dass die Predigt über den 46. Psalm, die Prof.<br />

Dr. Oswald Bayer im festlichen Abendmahlsgottesdienst am 6. Oktober 2021 in<br />

der Schlosskirche zu Wittenberg gehalten hat, in dieser Dokumentation abgedruckt<br />

ist.<br />

Nehmen Sie durch die Lektüre der in diesem Tagungsband veröffentlichten Vorträge<br />

und der Predigt Anteil an der Kommunikation des Evangeliums. In diesem<br />

Sinn gilt: »Verbum facit fidem.«<br />

Buggingen / Bad Kleinen, 19. September 2022<br />

<strong>Winfrid</strong> <strong>Krause</strong> und <strong>Rainer</strong> <strong>Rausch</strong><br />

<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d)<br />

9


Inhalt<br />

Roland M. Lehmann<br />

Die Entwicklung Martin <strong>Luther</strong>s als Prediger (1510–1518). . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Jonathan Reinert<br />

<strong>Luther</strong>s Sermon von der Betrachtung des heiligen<br />

Leidens Christi (1519) als Matrix seiner Passionspredigten. . . . . . . . . . . . . 37<br />

Hellmut Zschoch<br />

<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Jonathan Mumme<br />

Verschiedene Anredeformen in <strong>Luther</strong>s Predigten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

Albrecht Grözinger<br />

Was können wir von dem Prediger <strong>Luther</strong> heute lernen?. . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

Oswald Bayer<br />

Psalm 46<br />

Predigt am 6. Oktober 2021 in der Schlosskirche zu Wittenberg . . . . . . . . . . . 111<br />

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

Informationen über die <strong>Luther</strong>-Akademie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />

11


Die Entwicklung Martin <strong>Luther</strong>s<br />

als Prediger (1510–1518)<br />

Einleitung: Predigen als Haupttätigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

1. Die zwei Erfurter Übungspredigten 1510/11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

2. Der Beginn als Prediger in Wittenberg und die Predigt über den<br />

Johannes prolog 1514. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

3. Der angehende Provinzialvikar als Prediger vor dem Gothaer<br />

Ordenskapitel 1515 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

4. Der kritische Prediger gegen den Ablass und seine zwei<br />

Kirchweihpredigten aus dem Jahr 1517 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

5. <strong>Luther</strong> als reformatorischer Prediger – die Predigt über die<br />

Auferweckung des Lazarus vom 19. März 1518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

Resümee: Stufen der Entwicklung <strong>Luther</strong>s zum Prediger der<br />

Rechtfertigungsbotschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Einleitung: Predigen als Haupttätigkeit<br />

Predigen gehörte zu den Haupttätigkeiten des Reformators. 1 Wahrscheinlich<br />

nahm bei ihm auf sein gesamtes Leben gesehen keine andere Aufgabe mehr<br />

Zeit in Anspruch. Im Unterschied zu Traktaten und Flugschriften war die Predigt<br />

dasjenige Medium, mit dessen Hilfe er die Schwelle zwischen Leser und<br />

Nichtleser überwinden und so alle sozialen Schichten – von der einfachen<br />

Landbevö l ke r u n g ü b e r d i e St adtbürgerschaf t bis hin zum n iedere n und hohen<br />

Adel – unmittelbar erreichen konnte. Somit ist die Kanzelrede für <strong>Luther</strong> ein<br />

wichtiger Multiplikator zur Ausbreitung seiner neuen reformatorischen Botschaften.<br />

Nach Zählung von Kurt Aland sind 2.082 Predigten <strong>Luther</strong>s inhaltlich überliefert.<br />

2 Dies umfasst lediglich zwei Drittel seiner etwa 3.000 tatsächlich gehal-<br />

1<br />

Der Inhalt des vorliegenden Beitrags bildet in gekürzter Form das Hinführungs-Kapitel<br />

›Auf dem Weg zum Prediger der Reformation. <strong>Luther</strong>s Predigten in den Jahren von<br />

1510/11 bis 1518‹ meines Buches Roland M. Lehmann: Reformation auf der Kanzel.<br />

Martin <strong>Luther</strong> als Reiseprediger (Beiträge zur historischen Theologie 199), Tübingen<br />

2021, 35–91, ab.<br />

2<br />

Vgl. hierzu Kurt Aland: Hilfsbuch zum <strong>Luther</strong>studium, Bielefeld 4 1996, 262.<br />

13


Roland M. Lehmann<br />

tenen Kanzelreden. 3 Mit rund einem Drittel Umfang in der Weimarer Ausgabe,<br />

und auf über 30 Bänden verteilt, bildet die Weimarer Ausgabe eine der größten<br />

historisch-kritischen Predigtsammlungen zu einer Person.<br />

In der Forschung sind zwar <strong>Luther</strong>s Predigten aus verschiedenen Perspektiven<br />

bereits untersucht worden; dennoch fehlen detaillierte Studien, die seine<br />

Entwicklung als Prediger betreffen. 4 Welche Ausbildung hat <strong>Luther</strong> als Prediger<br />

genossen? Kann man aus praktisch-theologischer Sicht verschiedene Stile in seinen<br />

Predigten ausmachen? Wodurch werden seine Kanzelworte zu reformatorischen<br />

Predigten? Über die Fragen soll im Folgenden nachgedacht werden.<br />

Hierzu sind fünf biografische Stationen im Zeitraum von 1510/11 bis 1518<br />

in den Blick zu nehmen, indem exemplarische Predigten auf ihre Eigenarten untersucht<br />

werden. Ziel ist es, anhand des Vergleichs der Predigten die Veränderungen<br />

und Fortschritte <strong>Luther</strong>s als Prediger auszumachen. Zuerst sind die<br />

frühesten Übungspredigten seiner Erfurter Zeit zu betrachten. Danach folgt ein<br />

Blick auf den Beginn seiner Predigtpraxis in Wittenberg. In einem dritten Schritt<br />

ist seine neue Rolle bei den Augustinereremiten zu erörtern, wenn er als Subprior<br />

und angehender Distriktvikar vor seinen Mönchsbrüdern auf der Kanzel<br />

spricht. Viertens sind der Ablasshandel und seine Auswirkungen auf <strong>Luther</strong>s<br />

Predigten zu analysieren. Und schließlich wird das Augenmerk auf eine Predigt<br />

zu legen sein, die eine gewisse Zäsur markiert und exemplarisch für seine Tätigkeit<br />

als reformatorischer Prediger steht.<br />

1. Die zwei Erfurter Übungspredigten 1510/11<br />

<strong>Luther</strong>s Predigttätigkeit begann nicht erst in Wittenberg, sondern in Erfurt.<br />

Seine Kanzelberedsamkeit erwarb er sich nicht als Autodidakt, sondern er wurde<br />

zum Prediger ausgebildet. Denn obwohl das Spätmittelalter von einer sakramentalen<br />

und rituellen Frömmigkeit geprägt war, verschwand die Predigt nie völlig<br />

aus dem kirchlichen Leben. 5 Vielmehr kam es am Vorabend der Reformation zur<br />

3<br />

Vgl. Christopher Spehr: Art. ›Predigten <strong>Luther</strong>s‹, in: Volker Leppin / Gury Schneider-<br />

Ludorff (Hg.): Das <strong>Luther</strong>-Lexikon, Regensburg 2014, 560–569.<br />

4<br />

Zur Forschungsliteratur vgl. Roland M. Lehmann: Reformation auf der Kanzel (wie<br />

Anm. 1), 3–13, hier 4, Anm. 9.<br />

5<br />

Vgl. Johann Baptist Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg 1969;<br />

Karin Morvay / Dagmar Grube: Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters<br />

(Münchener Texte und Untersuchungen 47), München 1974; Jean LongÈre: La prédication<br />

médiévale, Paris 1983; Michael Menzel: Predigt und Predigtorganisation im<br />

Mittelalter, in: HJ 111 (1991), 337–384; Isnard W. <strong>Frank</strong>: Art. ›Predigt VI. Mittelalter‹,<br />

in: TRE 27, 248–262; Martine de Reu: Divers chemins pour étudier un sermon, in:<br />

Jacqueline Hamesse / Xavier Hermand (Hg.): De l’homélie au sermon. Histoire de la<br />

14


Die Entwicklung Martin <strong>Luther</strong>s als Prediger (1510–1518)<br />

Erneuerung der Predigtkultur insbesondere in den aufblühenden Städten, in<br />

denen das Bürgertum hohe Ansprüche an den Prediger stellte und nach Belehrung<br />

verlangte. Einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Qualität von<br />

Predigten leisteten hierbei die Augustinereremiten. Von ihrer Erfahrung profitierte<br />

auch <strong>Luther</strong> in seiner Ausbildung zum Prediger. 6<br />

Von anderen Klöstern ist bekannt, dass zur Vorbereitung auf den Predigtdienst<br />

Übungspredigten verfasst wurden, die der Prädikant vorzutragen hatte. 7<br />

Übungspredigten sind auch im Rahmen von Promotionen überliefert. 8 So verlangten<br />

die Statuten der Erfurter Universität für den Grad eines baccalaureus<br />

sententiae formatus das Anfertigen von Predigten, was mit einer nachfolgenden<br />

Befragung verbunden war. 9<br />

In der neueren Forschung unterscheidet man zwei Aufenthalte <strong>Luther</strong>s in<br />

Erfurt. 10 Der erste dauerte von Mai 1501 bis Oktober 1508. In der Zeit erfolgten<br />

sein Studium zum Magister artium (Mai 1501 bis April 1505) und der Beginn<br />

prédication médiévale. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve 1992, Louvain-la-Neuve<br />

1993, 331–340.<br />

6<br />

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sah man die Entwicklung der Predigtpraxis im<br />

Spätmittelalter als Verfallsgeschichte, um sie als Negativfolie für die Aufwertung der<br />

Predigt im Zeitalter der Reformation zu verwenden. Vgl. beispielsweise Rudolf Cruel:<br />

Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879 oder Edwin Charles<br />

Dargan: A history of preaching, Bd. 1: From the Apostolic Fathers to the great reformers<br />

(70–1572), New York 1905, Bd. 2: From the close of the Reformation period to the end<br />

of the nineteenth century (1572–1900), New York 1912. Zur Neubewertung der Predigt<br />

im Spätmittelalter vgl. etwa Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hg.): Literatur<br />

und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Symposion Wolfenbüttel<br />

1981, Stuttgart 1984.<br />

7<br />

Vgl. Isnard Wilhelm <strong>Frank</strong>: Die Bettelordensstudia im Gefüge des spätmittelalterlichen<br />

Universitätswesens (Vorträge des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 83), Stuttgart<br />

1988, 9.<br />

8<br />

Vgl. Jacques-Guy Bougerol: Les sermons dans les ›Studia‹ des mendiants, in: Le scuole<br />

degli ordini mendicanti (secoli XIII–XIV), 11–14 ottobre 1976 (Convegni. Centro di Studi<br />

sulla Spiritualità Medievale 17), Todi 1978, 249–280.<br />

9<br />

»§ 48. Item statuimus et ordinamus quod biblici et baccularii et licenciati suas posiciones<br />

determinaciones collocaciones et sermones ostendant magistro suo vel decano facultis<br />

et stent eius consilio et moderacioni, nec volumus quemquam de licenciatis<br />

bacculariis ac scolaribus in nostra facultate publicum actum facere de predictis, nisi<br />

es, que dicturus est, ostendat suo magistro« (Hermann Weissenborn [Hg.]: Acten der<br />

Erfurter Universitaet, hg. von der Historischen Commission der Provinz Sachsen, Teil<br />

2, Halle 1884, 54,3–6).<br />

10<br />

Vgl. Hans Schneider: Martin <strong>Luther</strong>s Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet,<br />

in: Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte, hg. von der Akademie der<br />

Wissenschaften zu Göttingen, Sammelband 2, Berlin 2011, 1–158, hier 104.<br />

15


Roland M. Lehmann<br />

des Jurastudiums (Mai 1505 bis Juli 1505). Am 2. Juli 1505 kam es zur Bekehrung<br />

in Stotternheim und der Entscheidung, Mönch zu werden, worauf er zum<br />

Priester ausgebildet wurde (Juli 1505 bis Mai 1507) und danach sein Theologiestudium<br />

begann (Mai 1507 bis Oktober 1508). Da <strong>Luther</strong> bereits als Magister<br />

artium das Philosophiestudium absolviert hatte, war er in einer Doppelfunktion<br />

tätig, sowohl als Lernender der Theologie als auch als Lehrender der Philosophie.<br />

Deshalb versetzte man ihn im Jahr 1508 kurzfristig nach Wittenberg, um dort<br />

neben der Fortführung seiner theologischen Ausbildung auch Vorlesungen über<br />

die aristotelische Dialektik und die Nikomachische Ethik zu halten.<br />

Schneller als üblich, nämlich bereits am 9. März 1509, erlangte er den baccalaureus<br />

biblicus, der ihn dazu berechtigte, Vorlesungen über biblische Bücher<br />

zu halten. 11 Danach, im Herbst 1509, wurde ihm der Grad des baccalaureus sententiarius<br />

in Wittenberg verliehen, mit dem er sich nun in der Sentenzenaus -<br />

legung des Petrus Lombardus zu üben hatte. 12 Das Ziel dieser Vorlesungen war<br />

der Titel des baccalaureus sententiarius formatus und damit die Lizenz zur Sentenzenauslegung.<br />

Hierzu hätte im November 1509 die feierliche Eröffnungsvorlesung<br />

in Wittenberg stattfinden sollen, um die Kommentierung zu eröffnen. 13<br />

Um diese Lizenz zu erwerben, musste er jedoch den Erfurter Statuten gemäß<br />

auch Predigten gehalten haben. 14 Doch noch ehe er mit den Vorlesungen beginnen<br />

konnte, wurde er wahrscheinlich aufgrund eines Lehrermangels im November<br />

1509 nach Erfurt zurückbeordert. Dies ist <strong>Luther</strong>s sogenannter zweiter<br />

Erfurter Aufenthalt. Entgegen der älteren Forschung wurde dieser Aufenthalt<br />

nicht durch die Romreise unterbrochen, sondern dauerte eineinhalb Jahre von<br />

November 1509 bis Sommer 1511. 15 Erst danach schloss sich die Romreise von<br />

Herbst 1511 bis Frühsommer 1512 an.<br />

11<br />

Vgl. Carl Eduard Förstemann (Hg.): Album academiae Vitebergensis, Bd. 1, Leipzig<br />

1841, 27f.<br />

12<br />

Vgl. den Brief <strong>Luther</strong>s an den Prior und die Senioren des Erfurter Augustinerkonvents,<br />

16. Juni 1514, WA Br 1; Nr. 8, 25,22–26; vgl. ferner den Brief <strong>Luther</strong>s an den Dekan<br />

und die theologische Fakultät zu Erfurt vom 21. Dezember 1514, WA Br 1; Nr. 10, 30,13–<br />

18.<br />

13<br />

Vgl. Hans Schneider: Martin <strong>Luther</strong>s Reise nach Rom (wie Anm. 10), 99f.<br />

14<br />

Der § 76 der Erfurter Statuten lautet: »Item statuimus quod quilibet talis baccularius<br />

formatus teneatur cuilibet magistro in Erffordia commoranti quolibet anno vacante post<br />

lecturam ad minus semel ordinarie respondere et sermones facere, prout superius rubrica<br />

septima fuit (facit D.) expressum« (Hermann Weissenborn [Hg.]: Acten der Erfurter<br />

Universitaet [wie Anm. 9], 58,1–4). Vgl. ferner Georg Oergel: Vom jungen <strong>Luther</strong>.<br />

Beiträge zur <strong>Luther</strong>forschung, Erfurt 1899, 118f.; Otto Scheel: Martin <strong>Luther</strong>. Vom Katholizismus<br />

zur Reformation, Bd. 2: Im Kloster, Tübingen 4 1930, 553; Andreas Stegmann:<br />

<strong>Luther</strong>s Auffassung vom christlichen Leben, Tübingen 2014, 15.<br />

15<br />

Vgl. Hans Schneider: Martin <strong>Luther</strong>s Reise nach Rom (wie Anm. 10), 104. <strong>Luther</strong> selbst<br />

16


Die Entwicklung Martin <strong>Luther</strong>s als Prediger (1510–1518)<br />

Aus <strong>Luther</strong>s eigener Feder sind aus dieser Zeit nur wenige Zeugnisse überliefert.<br />

Von seinen zahlreichen Briefen sind lediglich drei erhalten. 16 Jedoch existieren<br />

in der Zwickauer Ratsschulbibliothek Aufzeichnungen zweier Predigten. 17<br />

Dabei handelt es sich um Abschriften von <strong>Luther</strong>s Originalmanuskripten, die<br />

der Erfurter Prediger Andreas Poach anfertigte. 18 Sie sind Auslegungen zum<br />

einen von Mt 7,12 und zum anderen von Joh 3,16. 19 Erich Vogelsangs Urteil zufolge<br />

könnte es sich bei ihnen um die allerersten Predigten von <strong>Luther</strong> überhaupt<br />

handeln. 20 Eine genauere Datierung der Predigt über Mt 7,12 ist nicht möglich.<br />

Jedoch herrscht in der Forschung ein Konsens darüber, dass <strong>Luther</strong> sie zeitlich<br />

vor der anderen Predigt gehalten haben muss. 21 Da über Joh 3,16 üblicherweise<br />

am Pfingstmontag gepredigt wurde und <strong>Luther</strong> darin auch auf das Pfingstfest<br />

eingeht, dürfte die zweite Predigt wohl am 20. Mai 1510 oder am 9. Juni 1511<br />

gehalten worden sein. 22 17<br />

spricht von eineinhalb Jahren (»sesquiannum«). Vgl. hierzu den Brief <strong>Luther</strong>s an den<br />

Dekan und die theologische Fakultät zu Erfurt vom 21. Dezember 1514, WA Br 1; Nr. 10,<br />

30,36.<br />

16<br />

WA Br 1; Nr. 3–5, 10–17; vgl. ferner Jun Matsuura (Hg.): Erfurter Annotationen 1509–<br />

1510/11 (AWA 9), Köln u. a. 2009, XV.<br />

17<br />

Vgl. Zwickauer Ratsschulbibliothek, Cod. XXV, Ms. 25, Bl. 150–152 und Bl. 152–155a.<br />

Eine Kopie der Handschrift lag der Untersuchung zugrunde.<br />

18<br />

Vgl. WA 4; 590,2f. und WA 4; 595,12f. (Predigten, ca. 1514–1520).<br />

19<br />

Vgl. WA 4; 590–595 u. 595–605; BoA 5; 20–26 u. 26–37 (Predigten, ca. 1514–1520).<br />

Eine deutsche Übersetzung des ersten Textes liegt vor in Martin <strong>Luther</strong>: Das Matthäus-Evangelium,<br />

Kap. 3–25, hg. von Erwin Mülhaupt (D. Martin <strong>Luther</strong>s Evangelien-<br />

Auslegung 2), Göttingen 4 1973, 213–219. Vgl. ferner BoA 5; 20–26 u. 26–37.<br />

20<br />

»Sie [die Predigten, d. Vf.] sind also so früh wie nur möglich anzusetzen, vermutlich<br />

überhaupt die allerfrühsten erhaltenen Predigten« (BoA 5; 20). Vgl. ferner Erich Vogelsang:<br />

Zur Datierung der frühesten <strong>Luther</strong>predigten, in: ZKG 50 (1931), 112–145,<br />

hier 115f.<br />

21<br />

Zur Forschung vgl. Heinz Bluhm: The Significance of <strong>Luther</strong>’s Earliest Extant Sermon,<br />

in: The Harvard Theological Review 37 (1944), 175–184; Reynold Weijenborg: La charité<br />

dans la première théologie de <strong>Luther</strong>, in: RHE 45 [1950], 617–669, hier 636f., 642f.;<br />

Leif Grane: Contra Gabrielem. <strong>Luther</strong>s Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der<br />

D i s p u t a t i o C o n t r a S ch o l a st i c a m T h e o l o g i a m 1 5 1 7 , a u s d e m D ä n i s ch e n ü b e r s et z t vo n<br />

Elfriede Pump [AThD 4], Kopenhagen 1962, 282; Peter Iver Kaufman: <strong>Luther</strong>’s ›Scholastic<br />

Phase‹ Revisited: Grace, Works, and Merit in the Earliest Extant Sermons, in: ChH<br />

51 (1982), 280–289, hier 281f.; Steven D. Paulson: »Deus absconditus« in <strong>Luther</strong>’s<br />

early sermons, in: LuJ 85 (2018), 198–240, 205–207; Andreas Stegmann: <strong>Luther</strong>s Auffassung<br />

vom christlichen Leben (wie Anm. 14), 15–26.<br />

22<br />

Erich Vogelsang: Zur Datierung der frühesten <strong>Luther</strong>predigten (wie Anm. 20), 113.


<strong>Luther</strong>s Sermon von der Betrachtung<br />

des heiligen Leidens Christi (1519) als<br />

Matrix seiner Passionspredigten<br />

1. Der <strong>predigen</strong>de <strong>Luther</strong> und das Kreuz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

2. Der Sermon von der Betrachtung des heiligen<br />

Leidens Christi (1519). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

2.1 Zum frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

2.2 Die theologischen Leitgedanken des Passionssermons . . . . . . . . . . 44<br />

2.3 Zur Bedeutung des Passionssermons. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

3. <strong>Luther</strong>s Passionspredigt im Vollzug – die Predigtreihe von 1529. . 48<br />

3.1 Kontext der Predigten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

3.2 Zu Beginn das Wesentliche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

3.3 Zur fortlaufenden Auslegung der Passionsgeschichte. . . . . . . . . . . . 54<br />

3.3.1 Erinnerung ans Wesentliche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

3.3.2 Korrektur der Passionsmeditation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

3.3.3 Positive und negative Exempel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

3.3.4 Profilierung im Kontrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

3.4 Fortsetzung folgt: Der Ostermorgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

4. Ausblick: Theologische Herausforderung heute. . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />

1. Der <strong>predigen</strong>de <strong>Luther</strong> und das Kreuz<br />

»<strong>Luther</strong> war Prediger mit Leib und Seele.« 1 – So hat es Christopher Spehr auf<br />

den Punkt gebracht. Dass er Prediger mit Leib und Seele war, ist jedoch nicht<br />

bloß die retrospektive Erkenntnis eines Kirchenhistorikers, der sich intensiv mit<br />

<strong>Luther</strong> befasst hat. 2 Es beschreibt vielmehr die Wahrnehmung der Zeitgenossen<br />

– und zugleich, in stilisierter Form, wie <strong>Luther</strong> erinnert werden sollte. Denn<br />

entsprechend wurde der Reformator ins Bild gesetzt. Veranschaulichen lässt sich<br />

dies an drei bekannten Darstellungen des <strong>predigen</strong>den <strong>Luther</strong>.<br />

1<br />

Christopher Spehr: Art. ›Predigten <strong>Luther</strong>s‹, in: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff<br />

(Hg.) unter Mitarbeit von Ingo Klitsch: Das <strong>Luther</strong>-Lexikon, Regensburg 2014,<br />

560–569, hier 560.<br />

2<br />

Vgl. auch die Beiträge von Hellmut Zschoch und Roland M.Lehmann in diesem Band.<br />

37


Jonathan Reinert<br />

Abbildung 1: Unterscheid zwischen der waren Religion Christi / vnd falschen Abgöttischen<br />

lehr des Antichrists in den fürnemsten Stücken, Holzschnitt aus der Werkstatt von Lucas<br />

Cranach d. J., um 1545, © gemeinfrei<br />

Abbildung 2: Martin <strong>Luther</strong> bei der Predigt, Gegenüberstellung des Abendmahls in beiderlei<br />

Gestalt und der Höllenfahrt der römischen Kirche, Holzschnitt aus der Werkstatt von Lucas<br />

Cranach d. J., um 1546, © gemeinfrei<br />

38


<strong>Luther</strong>s Sermon von 1519 als Matrix seiner Passionspredigten<br />

Bei den ersten beiden Bildern handelt es sich um Holzschnitte, die in den Jahren<br />

um 1546, also kurz vor oder kurz nach <strong>Luther</strong>s Tod, 3 entstanden sind. Die Darstellung<br />

des Reformators als Prediger ist in beiden Holzschnitten – mit unterschiedlicher<br />

Anordnung und teils ähnlicher, teils verschiedener Motivik – von<br />

einer starken Antithetik geprägt. 4 Damit wird grundsätzlich die Stimmung der<br />

Zeit aufgenommen, die werdende Konfessionsbildung im Gegenüber von evangelischen<br />

Landeskirchen und römisch-katholischer Kirche, ein Gegenüber, das<br />

zeitgenössisch seinen militärischen Ausdruck im Schmalkaldischem Bund einerseits<br />

und der Katholischer Liga andererseits fand. Zugleich ist die Antithetik<br />

in <strong>Luther</strong>s eigener Theologie verwurzelt, vollzog sich dessen theologisches Denken<br />

doch – mit Albrecht Beutel im Anschluss an Gerhard Ebeling gesprochen –<br />

als »Unterscheidungslehre«. 5 In seinen Predigten, zumal in den Passionspredigten,<br />

findet sich vielfach eine scharfe Kontrastierung, eine antithetische Zuspitzung,<br />

wie sie auch auf den beiden per Flugblatt verbreiteten Holzschnitten aus<br />

der Cranach-Werkstatt mit dem <strong>predigen</strong>den <strong>Luther</strong> dargestellt wurde.<br />

Das dritte Bild mit <strong>Luther</strong> als Prediger ist die (vermutlich ältere) Predella<br />

des Wittenberger Stadtkirchenalters, der ca. 1547, also ebenfalls bald nach <strong>Luther</strong>s<br />

Tod, fertiggestellt wurde. 6<br />

Das Altarbild hat neben einer anderen Gestalt, anderen Materialien und<br />

einem anderen Format auch eine andere Funktion als die beiden Flugblätter. Es<br />

veranschaulicht im Zusammenhang der Komposition des Altars, was die Kirche<br />

mit ihrem Zentrum, dem Gottesdienst, 7 ausmacht: Taufe, Abendmahl und Beichte<br />

3<br />

Zu Ereignis und Erinnerung des Todes <strong>Luther</strong>s vgl. die Beiträge in Armin Kohnle (Hg.):<br />

<strong>Luther</strong>s Tod. Ereignis und Wirkung, Schriften der Stiftung <strong>Luther</strong>gedenkstätten in Sachsen-Anhalt<br />

23, Leipzig 2019.<br />

4<br />

Zu den beiden Druckgrafiken vgl. Armin Kunz: Cranach der Jüngere und die Druckgrafik,<br />

in: Roland Enke / Katja Schneider/ Jutta Strehle (Hg.): Lucas Cranach der<br />

Jüngere. Entdeckung eines Meisters, München 2015, 78–89; Joseph Leo Koerner: Die<br />

Reformation des Bildes, München 2017, 319–332.<br />

5<br />

Albrecht Beutel: Art. ›Theologie als Unterscheidungslehre‹, in: Ders. (Hg.): <strong>Luther</strong>-<br />

Handbuch, Tübingen 3 2017, 499–503.<br />

6<br />

Vgl. Hans-Christoph Dittscheid: Sichtbar gemachtes Wort. Der Wittenberger Reforma -<br />

tionsaltar von Lucas Cranach d. Ä., in: CA(M) 2/2015, 35–43; Insa Christiane Hennen:<br />

Der Wittenberger Reformationsaltar im Kontext der Umgestaltung der Stadtpfarrkirche<br />

zwischen 1520 und 1580, in: Elke A. Werner / Anne Eusterschulte / Gunnar Heydenreich<br />

(Hg.): Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder, München 2015, 62–71.<br />

7<br />

Vgl. Christopher Spehr: <strong>Luther</strong>s Theologie des Gottesdienstes, in: Hans-Joachim Eckstein<br />

/ Ulrich Heckel / Birgit Weyel (Hg.): Kompendium Gottesdienst. Der evange -<br />

lische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2011, 84–103; Dorothea<br />

Wendebourg: Reformation und Gottesdienst, in: ZThK 113 (2016), 323–365.<br />

39


Jonathan Reinert<br />

Abbildung 3: Predella des Wittenberger Stadtkirchenaltars, Gemälde aus der Werkstatt von<br />

Lucas Cranach d.Ä., fertiggestellt um 1547 (vermutlich älter), © gemeinfrei<br />

finden sich auf den Seitenflügeln und dem Mittelteil; und darunter auf der Predella,<br />

gewissermaßen diese drei Elemente tragend, eine Szene der Verkündigung<br />

des Wortes Gottes. Dargestellt sind <strong>Luther</strong> auf der Kanzel am rechten Bildrand,<br />

die versammelte Gemeinde, Männer und Frauen, Junge und Alte, am linken Bildrand<br />

und in der Mitte der gekreuzigte Christus, auf den der <strong>predigen</strong>de <strong>Luther</strong><br />

mit einem ausgestreckten Arm verweist, während die andere Hand auf der aufgeschlagenen<br />

Bibel liegt. Im Zentrum evangelischer Verkündigung steht der gekreuzigte<br />

und auferstandene Jesus Christus. 8 Wie die Exklusivpartikel (solus<br />

Christus, sola gratia, sola fide, sola scriptura) in konzentrierter Weise zum Ausdruck<br />

bringen, ist reformatorische Theologie – und von ihr ausgehend reformatorische<br />

Frömmigkeit und die durch sie geprägte Gesellschaft insgesamt – von<br />

einer »normative Zentrierung« geprägt, wie es Berndt Hamm auf den Begriff gebracht<br />

hat. 9 Auf der Predella des Wittenberger Stadtkirchenaltars findet sich eine<br />

8<br />

Auf der Rückseite des Altars ist im Mittelteil der Auferstandene als Sieger über Tod<br />

und Teufel dargestellt, flankiert auf den Seitenflügeln mit der Opferung Isaaks (Gen 22)<br />

und der ehernen Schlange (Num 21), zwei der wichtigsten alttestamentlichen Figuren<br />

der Passion Christi. Die Rückseite also bietet den gekreuzigten Auferstandenen – die<br />

Predella auf der Vorderseite umgekehrt den auferstandenen Gekreuzigten: Dargestellt<br />

ist Christus am Kreuz, wobei das fliegende, strahlend weiße Grabtuch die Auferstehung<br />

mit ins Bild holt.<br />

9<br />

Berndt Hamm: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft,<br />

in: JBTh 7 (1992), 241–279; ders.: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation.<br />

Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland,<br />

in: ARG 84 (1993), 7–82; ders.: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahr -<br />

hundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Ders.: Religiosität<br />

im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, SMHR 54, Tübingen<br />

2011, 3–40.<br />

40


<strong>Luther</strong>s Sermon von 1519 als Matrix seiner Passionspredigten<br />

solche normative Zentrierung der Predigt <strong>Luther</strong>s dargestellt: zentriert auf das<br />

Kreuz, auf den Gekreuzigten.<br />

»Normative Zentrierung« und »Unterscheidungslehre« – diese beiden für<br />

L u t h e r s D e n ke n i n s g e s a m t ch a r a k te r i st i s ch e n G r u n d z ü g e , d i e w i r a u ch i m<br />

B i l d p r o g r a m m d e s p r e d i g e n d e n L u t h e r s e n t d e cke n kö n n e n , s i n d e b e n s o t y -<br />

pisch für seine Passionspredigt. Dies war ein Ergebnis des Kapitels zu <strong>Luther</strong>s<br />

Passions predigten in dessen Kirchen- und den Hauspostillen in meiner Dissertation.<br />

10<br />

Doch was macht <strong>Luther</strong>s Passionspredigt konkret inhaltlich aus? Welche<br />

Weichen sind darin theologisch gestellt und wie hängen diese mit seiner Theologie<br />

zusammen?<br />

Dafür ist zunächst ein Blick in <strong>Luther</strong>s frühen Sermon von der Betrachtung<br />

des heiligen Leidens Christi (1519) zu werfen. In einem zweiten Schritt wird die<br />

in der Überschrift des Aufsatzes formulierte These, bei dem Passionssermon<br />

handle sich in gewisser Hinsicht um eine Matrix für <strong>Luther</strong>s Passionspredigt,<br />

geprüft. Dies geschieht exemplarisch anhand einer kleinen Predigtreihe aus den<br />

Kartagen von 1529, in der <strong>Luther</strong> in vier Predigten die Passionsgeschichte ausgelegt<br />

hat. Am Ende des Aufsatzes wird der historisch-deskriptive Zugang zum<br />

Thema verlassen und auf die Passionspredigt in der Gegenwart geblickt, um<br />

mögliche theologische Herausforderungen, wie sie sich von <strong>Luther</strong>s Passionspredigt<br />

her ergeben, zu benennen.<br />

2. Der Sermon von der Betrachtung<br />

des heiligen Leidens Christi (1519)<br />

2.1 Zum frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext<br />

Mit dem Fokus auf Passion und Kreuz bewegte sich <strong>Luther</strong> voll im Trend seiner<br />

Zeit, einer Zeit mit ausgeprägter Passionsfrömmigkeit.<br />

In einem Überblicksartikel über »Hauptströmungen der spätmittelalterlichen<br />

Frömmigkeit« behandelt der Mediävist Richard Kieckhefer unter den wichtigsten<br />

Themen nicht umsonst die Passion Christi als erstes, gefolgt von marianischer<br />

Frömmigkeit, dem Heiligenkult und der Eucharistie. 11 Freilich durchdrangen<br />

sich diese Themen in der praxis pietatis vielfach gegenseitig. Gleichwohl muss<br />

10<br />

Vgl. Jonathan Reinert: Passionspredigt im 16. Jahrhundert. Das Leiden und Sterben<br />

Jesu Christi in den Postillen Martin <strong>Luther</strong>s, der Wittenberger Tradition und altgläubiger<br />

Prediger, SMHR 119, Tübingen 2020, 114–116.<br />

11<br />

Richard Kieckhefer: Hauptströmungen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, in: Jill<br />

Raitt / Bernard McGinn / John Meyendorff (Hg.): Geschichte der christlichen Spiritualität.<br />

Band 2: Hochmittelalter und Reformation, Würzburg 1995, 90–123.<br />

41


Hellmut Zschoch<br />

<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d)<br />

1. <strong>Luther</strong> geht es um die Predigt – von Anfang an. . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

2. <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong> – die Postille. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72<br />

3. <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>d – ein Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />

4. <strong>Luther</strong> wirkt <strong>predigen</strong>d – der Reformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />

1. <strong>Luther</strong> geht es um die Predigt – von Anfang an<br />

Es sollte »die erste und einzige Aufgabe aller Bischöfe sein, dass das Volk das<br />

Evangelium lernt und die Liebe Christi. Denn nirgends hat Christus geboten,<br />

Ablässe zu <strong>predigen</strong>, aber das Evangelium zu <strong>predigen</strong>, hat er mit allem Nachdruck<br />

geboten.« 1<br />

Das schreibt <strong>Luther</strong> am 31. Oktober 1517 an Kardinal Albrecht von Brandenburg,<br />

den Erzbischof von Mainz und Magdeburg. Der Satz könnte wie eine Überschrift<br />

über der Reformationsgeschichte stehen. Es geht von Anfang an um die Predigt,<br />

um den Verkündigungsauftrag der Kirche als deren »erste und einzige Aufgabe«.<br />

Der Ablass und seine reißerische Verkündigung sind nur der äußere Anlass für<br />

eine prinzipielle Auseinandersetzung über den Auftrag und die Gestalt der<br />

christlichen Kirche. <strong>Luther</strong>s Mahnung impliziert einen Gegenentwurf zur vorfindlichen<br />

Kirche des späten Mittelalters. Darin gründet die Dynamik, in der<br />

sich sein Einspruch gegen die Ablassverkündigung entfaltet – sowohl bei ihm<br />

selbst und in seiner Anhängerschaft als auch bei seinen Gegnern: Auf der einen<br />

Seite initiiert dieser Einspruch eine Bewegung der Befreiung aus den Fesseln<br />

einer klerikalen und autoritären Kircheninstitution, eine Leidenschaft fürs Predigen<br />

und fürs Predigthören, eine vielgestaltige Suche nach lebendigem Christsein<br />

und nach adäquaten Formen der Verkündigung, der Frömmigkeit und der<br />

Lebensorientierung – samt der Distanzierung von einer Kirche, die dem allen<br />

im Wege steht, symbolisiert durch das päpstliche Kirchenrecht, dessen Verbrennung<br />

im Dezember 1520 den prinzipiellen Bruch dokumentiert. Auf der anderen<br />

Seite steht <strong>Luther</strong>s Einspruch gegen die kirchliche Praxis am Anfang des Ketzerprozesses<br />

gegen ihn, in dem es sehr schnell nicht mehr um Ablass und Buße<br />

1<br />

Zitiert nach Hellmut Zschoch (Bearb.), Wittenberg, den 31. Oktober 1517. <strong>Luther</strong>s Brief<br />

an Kardinal Albrecht von Brandenburg, in: <strong>Luther</strong> 88 (2017), 76–80, 79. Lateinischer<br />

Originaltext des Briefes in: WA Br 1, 110–112, Nr. 48.<br />

69


Hellmut Zschoch<br />

geht, sondern um Aufgabe und Autorität der Kirche, und in dem deren universaler<br />

Alleinvertretungsanspruch dauerhaft Schaden nimmt.<br />

Die gebräuchliche Verbindung des Beginns der Reformation mit <strong>Luther</strong>s Infragestellung<br />

von Theorie und Praxis des Ablasses führt insofern in die Irre. Anlässlich<br />

des 2017 begangenen Jubiläums hat sich nach meinem Eindruck von<br />

Neuem gezeigt, wie mühsam es ist, den epochalen Umbruch der Reformation<br />

auf einen Streit um den Ablass zurückzuführen. Schnell erweckt diese Verbindung<br />

den falschen Eindruck, es sei doch nur um eine marginale Frage gegangen,<br />

vielleicht auch nur um die Verbindung religiöser Angebote mit finanziellen Interessen,<br />

also um Missbräuche statt um grundlegende Orientierungsfragen. In<br />

Wirklichkeit geht es gerade <strong>Luther</strong> aber von Anfang an um die Predigt, und mit<br />

diesem zentralen Interesse eröffnet er die Kontroverse um die Gestalt der Kirche.<br />

Sein Brief an Kardinal Albrecht sieht die von diesem repräsentierte Kirche<br />

unter we g s a u f Ne b e n s ch a u p l ätzen, deren aktuelle Konkretio n 1517 der Peters -<br />

ablass darstellt. Da geht es um das auf klerikale Vermittlung gebaute Heilsversprechen<br />

der Kirche, mit dem sich die Boten des Heils dessen Zuteilung nach<br />

selbstgeschneiderten Regeln anmaßen. Mit der durch die Ablassverkündigung<br />

(und andere kirchliche Praktiken) verdrängten Evangeliumspredigt werden zugleich<br />

auch die Werke eines christlichen Lebens – »Frömmigkeit und Nächstenliebe«<br />

‒ zugunsten des Sammelns kirchlich approbierter Heilsbescheinigungen<br />

in den Hintergrund gedrängt. Dieser Fundamentalkritik kirchlichen Handelns<br />

entspricht in <strong>Luther</strong>s dem Brief an Albrecht beigelegten 95 Thesen die ablasstheologisch<br />

verpackte These über den »Schatz der Kirche«: »Der wahre Schatz<br />

der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.« 2 Diese<br />

These lässt sich als inhaltliche Füllung der im Brief benannten vordringlichen<br />

Aufgabe der Kirche verstehen: Es geht um die Predigt – in einem inhaltlich prägnant<br />

gefüllten Sinn, für <strong>Luther</strong> nicht um das »Dass«, sondern um das »Was« der<br />

kirchlichen Predigt. In der spätmittelalterlichen Kirche wurde reichlich gepredigt,<br />

und auch der Ablass wurde ja in Predigten angepriesen. <strong>Luther</strong> geht es um<br />

die Predigt des ›Evangeliums‹ – seine ganze weitere theologische Entwicklung<br />

und sein ganzer reformatorischer Lebenseinsatz drehen sich im Kern darum: zu<br />

klären, was das heißt und wie das geht – Evangelium <strong>predigen</strong>, Christusverkündigung,<br />

promissio, d. h. Zusage der Heilsgemeinschaft. <strong>Luther</strong> stößt 1517 die Bewegung<br />

zu einer <strong>predigen</strong>den, das Evangelium verkündigenden Kirche an – und<br />

zu einer Theologie des Evangeliums, die nicht nachlässt, Gehalt und Gestalt des<br />

Evangeliums zu reflektieren, zu explizieren und zu kommunizieren – und zwar<br />

so, dass Menschen dieses Evangelium verstehen und ihm glauben können.<br />

2<br />

Zitiert nach LDStA 2, 11,12f. (Übersetzung: Johannes Schilling und Reinhard<br />

Schwarz). Lateinischer Originaltext in: WA 1, (229) 233–238, hier 236,22f. = LDStA 2,<br />

10,12f.<br />

70


<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d)<br />

<strong>Luther</strong>s Denken, Lehren und Handeln als Reformator der Kirche wird davon<br />

bewegt, dass die Verkündigung selbst Menschen für die Heilsgemeinschaft gewinnt,<br />

dass die Predigt nicht irgendein kirchlicher Vermittlungsvorgang ist, sondern<br />

die Kirche konstituiert, weil eigentlich Christus selbst in ihr zu Wort<br />

kommt. Denn die Predigt vergegenwärtigt als Wort-Handlung das Wort-Handeln<br />

Gottes, der in Christus redet, anredet und im Wort Heil und Gemeinschaft gewährt.<br />

Für <strong>Luther</strong> und die von ihm bewegte Kirche des Evangeliums ist die Predigt<br />

selbst »Heilsgeschehen im Vollzug«. 3<br />

Diese grundsätzlichen Bemerkungen habe ich an den Anfang gestellt, um<br />

unser Thema reformationsgeschichtlich einzuordnen. Die Geschichte der Reformation<br />

ist gerade in ihren Anfängen die einer Predigtbewegung, und sie mündet<br />

ein in den Versuch bzw. in verschiedene Versuche, diese Predigtbewegung in<br />

eine kirchliche Gestalt zu überführen. Evangelische Christen und Christinnen<br />

stellen sich in die Geschichte dieser Versuche und lassen sich von ihnen herausfordern<br />

zu eigenen Versuchen der Gestaltung einer evangelisch <strong>predigen</strong>den Kirche<br />

und einer darauf zielenden Theologie.<br />

Für <strong>Luther</strong> war das Predigen seine Lebensaufgabe und, in enger Verbindung<br />

mit seinem akademischen Lehramt, seine Profession. Er predigte seit 1511 regelmäßig,<br />

zum letzten Mal drei Tage vor seinem Tod. Erhalten sind – zumeist in<br />

Nachschriften – etwa 2.000 Predigten, geschätzt vielleicht zwei Drittel der gehaltenen.<br />

Die Häufigkeit des Predigens macht staunen: Spitzenjahr erhaltener<br />

Predigten ist 1528, in dem <strong>Luther</strong> 195-mal an 145 Tagen predigte, an manchen<br />

Tagen mehrfach mit unterschiedlichen Predigten! Im Folgenden soll es aber nicht<br />

um Predigtstatistik gehen, auch nicht um eine Systematisierung von <strong>Luther</strong>s<br />

Predigttätigkeit, 4 sondern darum, wie <strong>Luther</strong> <strong>predigen</strong> <strong>lehrt</strong> – nicht zuletzt,<br />

indem er predigt. Der abkürzend formulierte Titel dieser Ausführungen hieße<br />

also in ausführlicher Gestalt: <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong> – und er <strong>lehrt</strong>, indem er predigt.<br />

Und das eigene Predigen und das Predigen-Lehren gehören bei ihm ganz<br />

eng zusammen. Ich betrachte beide Aspekte im Folgenden trotzdem aus pragmatischen<br />

Gründen zunächst jeweils für sich und beschränke mich auf Grundlegendes<br />

und Beispielhaftes.<br />

3<br />

Albrecht Beutel, Art. ›Predigt‹, in: Das <strong>Luther</strong>-Lexikon, hg. von Volker Leppin und<br />

Gury Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 558–560, 558.<br />

4<br />

Zu beidem siehe Christopher Spehr, Art. ›Predigten <strong>Luther</strong>s‹, in: a. a. O., 560–569. Vgl.<br />

insgesamt auch Hellmut Zschoch, Predigten, in: Albrecht Beutel (Hg.), <strong>Luther</strong>- Handbuch,<br />

Tübingen ³2017, 358–365.<br />

71


Hellmut Zschoch<br />

2. <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong> – die Postille<br />

1520 folgt <strong>Luther</strong> einer Anregung seines Landesherrn und beginnt mit der Ausarbeitung<br />

von Postillen, also Auslegungen der zur Predigt vorgesehenen Evangelien-<br />

und Episteltexte, wobei <strong>Luther</strong> der brandenburgischen Perikopenordnung<br />

von 1494 folgt. 5 Die lateinische Bearbeitung der Texte für die Adventssonntage<br />

erscheint im Frühjahr 1521. 6 Auf der Wartburg arbeitet <strong>Luther</strong> dann kontinuierlich<br />

weiter, stellt die Postille aber auf die deutsche Sprache um und verstärkt so<br />

die predigtpraktische Nutzbarkeit. Die Wartburgpostille für den Advents- und<br />

Weihnachtsfestkreis bis Epiphanias erscheint im Frühjahr 1522. 7 <strong>Luther</strong>s eigene<br />

Arbeit am Postillenwerk endet 1525 mit der Auslegung der Texte für die Sonntage<br />

der vorösterlichen Fastenzeit; für die übrigen Sonn- und Festtage des<br />

Kirchenjahres werden dann Lut her texte von anderen bearbeitet und zusammengestellt.<br />

Mit seiner Postille <strong>lehrt</strong> <strong>Luther</strong> <strong>predigen</strong>. In fundamentaler theologischer<br />

Perspektive bietet <strong>Luther</strong>s Postillenwerk, besonders in der Wartburgpostille, eine<br />

Auslegung konkreter Bibelabschnitte, die das Predigen nicht vorwegnimmt, aber<br />

auf die Predigtaufgabe zuführt. Die einzelnen Auslegungen sind keine Musterpredigten;<br />

dazu sind viele auch einfach zu lang. Sie vergegenwärtigen an ihren<br />

jeweiligen Texten den grundlegenden theologischen Zusammenhang, integrieren<br />

eine Fülle einzelner Lehrpunkte und bieten insgesamt weit mehr als homiletische<br />

Hilfestellung. Im Grunde handelt es sich bei <strong>Luther</strong>s Postillenwerk vielmehr<br />

um ein Lehrbuch seiner Theologie des Evangeliums für Prediger, das in die prinzipielle<br />

Wechselwirkung einführt, in der für ihn Verkündigung und Theologie<br />

stehen. 8 Um im Folgenden zu verdeutlichen, was <strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong>, wenn er <strong>predigen</strong><br />

<strong>lehrt</strong>, beschränke ich mich auf drei Stücke, die <strong>Luther</strong>s theologischen Zugang<br />

zur Predigtaufgabe explizit thematisieren:<br />

5<br />

So überzeugend Jonathan Reinert, Passionspredigt im 16. Jahrhundert. Das Leiden<br />

und Sterben Jesu Christi in den Postillen Martin <strong>Luther</strong>s, der Wittenberger Tradition<br />

und altgläubiger Prediger, Tübingen 2020, 24, Anm. 6. Bei <strong>Luther</strong> liegt mithin nicht,<br />

wie häufig zu lesen ist, eine Wiederaufnahme der »altkirchlichen Perikopenordnung«<br />

vor, die sich als explizite Distanzierung von der römischen Ordnung deuten ließe. Ich<br />

danke Jonathan Reinert, dass er mich auf diesen ›Beifang‹ seiner Forschungen zur Passionspredigt<br />

hingewiesen hat.<br />

6<br />

Enarrationes epistolarum et euangeliorum, quas postillas vocant, WA 7, (458) 463–537.<br />

7<br />

WA 10/I/1.<br />

8<br />

Hier und im Folgenden nehme ich eine frühere Studie auf: Hellmut Zschoch, Theologie<br />

des Evangeliums in der Zeit. Martin <strong>Luther</strong>s Postillenwerk als theologisches Programm,<br />

in: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf<br />

zum 70. Geburtstag, hg. von Albrecht Beutel und Reinhold Rieger, Tübingen 2011,<br />

575–599; Selbstzitate weise ich nicht nach.<br />

72


<strong>Luther</strong> <strong>lehrt</strong> <strong>predigen</strong>(d)<br />

Erstens: In dem an Kurfürst Friedrich adressierten Widmungsbrief zu der<br />

lateinischen Adventspostille 9 bedenkt <strong>Luther</strong> zunächst die Rolle des Theologen,<br />

der zur Predigt anleitet. Er kann sich nicht in den Schutzraum einer distanzierten<br />

Wissenschaftlichkeit zurückziehen, sondern nimmt teil am Streit um die Wahrheit<br />

des Evangeliums. Nicht »alberne und unbrauchbare Glossen« 10 sind seine<br />

Sache, auch nicht »Lehrmeinungen und Problemerörterungen«, 11 sondern die<br />

Erschließung des sensus evangelicus:<br />

»Ich werde aber genug angerichtet haben, wenn ich [...], so gut ich kann, den reinsten<br />

und schlichtesten Sinn des Evangeliums offenlege. Dann kann das Volk wenigstens anstelle<br />

der Fabeln und Träume nichts als die von menschlichem Schmutz gereinigten<br />

Worte seines Gottes hören. Ich verspreche also nicht mehr als die Reinheit und Unverletztheit<br />

des evangelischen Sinnes, einer ziemlich einfachen und volkstümlichen Auffassungsgabe<br />

angepaßt.« 12<br />

Es geht <strong>Luther</strong> schon hier programmatisch um eine Theologie des Evangeliums<br />

– des zu verkündigenden Evangeliums, wohlgemerkt! –, um den theologischen<br />

Zugang zur Unmittelbarkeit der göttlichen Anrede selbst, um eine für alle Christen<br />

verständliche und existenziell nachvollziehbare Kommunikation des Evangeliums.<br />

Dabei muss eine solche Theologie nach <strong>Luther</strong> mit dem »evangelischen<br />

Sinn« zugleich dessen Kontext und Wirkung bedenken: <strong>Luther</strong> treibt »Studien<br />

des Friedens und des Krieges« 13 ; seine Theologie, die er als Predigtlehre entfaltet,<br />

ist zugleich aufbauend und streitbar.<br />

Zweitens: Am Anfang seiner Weihnachtspostille nimmt <strong>Luther</strong> den Gedanken<br />

der doppelten Wirkung des Predigens auf. Die erste Auslegung im Weihnachtszyklus<br />

ist die zu Tit 2,11–15, der Epistel in der Christnacht, 14 fertiggestellt im<br />

Juni 1521, also in den ersten Wochen von <strong>Luther</strong>s Wartburgzeit. Sie beginnt mit<br />

hermeneutischen Vorbemerkungen, mit denen <strong>Luther</strong> erneut das Programm<br />

einer zugleich aufbauenden und streitbaren Theologie skizziert. Er betont,<br />

»dass man das Wort Gottes auf zwei Weisen gebrauche solle: als Brot und als Schwert,<br />

zu speisen und zu streiten, zu Friedens- und zu Kriegszeiten, und so mit einer Hand<br />

9<br />

WA 7, 463–465. Deutsche Übersetzung: Hellmut Zschoch (Bearb.), »Evangelische«<br />

Theologie – aufbauend und streitbar. <strong>Luther</strong>s Vorrede zur lateinischen Adventspostille<br />

von 1521, in: <strong>Luther</strong> 82 (2011), 82–87.<br />

10<br />

A. a. O., 84 (≙ WA 7, 465,12).<br />

11<br />

A. a. O., 85 (≙ WA 7, 465,16).<br />

12<br />

A. a. O., 84f. (≙ WA 7, 465,11‒15).<br />

13<br />

A. a. O., 83. (≙ WA 7, 464,16).<br />

14<br />

WA 10/I/1, 18–58.<br />

73


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.<br />

© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Coverbild: Ausschnitt aus dem Wittenberger Reformationsaltar<br />

Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Binden: Docupoint Magdeburg GmbH<br />

ISBN 978-3-374-07382-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-07383-2<br />

www.eva-leipzig.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!