Leben mit seltenen Erkrankungen
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<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong>...<br />
Seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />
Seite 10<br />
ATTR-Amyloidose:<br />
Detektivischer<br />
Spürsinn ist gefragt<br />
Seite 12<br />
CTX: Manfred Bauer<br />
ist einer von 30 bis<br />
40 Betroffenen<br />
Seite 14<br />
BPDCN-Patientin Becki:<br />
„Ich will meine Kinder<br />
aufwachsen sehen“<br />
Seite 19<br />
Gentherapie:<br />
neue Hoffnung für<br />
LHON-Patienten<br />
Seite 27<br />
SPIN2030:<br />
eine Agenda für<br />
die Forschung<br />
Kleiner Kämpfer<br />
Joschua ist zwei Jahre alt. Ein Entdecker, ein Schlawiner,<br />
lebensfroh, neugierig, süß – und schwer krank.<br />
Joschua hat Mukoviszidose.
2<br />
Vorwort<br />
Seltene <strong>Erkrankungen</strong> sind<br />
häufig! Dies mag zunächst<br />
paradox anmuten, da laut<br />
Definition weniger als fünf<br />
von 10.000 Menschen von<br />
einer als selten geltenden<br />
Erkrankung betroffen sind.<br />
Eva Luise Köhler<br />
Vorsitzende des Stiftungsrates<br />
der Eva Luise und Horst Köhler<br />
Stiftung für Menschen <strong>mit</strong><br />
Seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />
„Um es zu<br />
verdeutlichen: Vier<br />
Millionen Menschen,<br />
diese Anzahl ist<br />
vergleichbar <strong>mit</strong><br />
der Einwohnerzahl<br />
des Bundeslandes<br />
Rheinland-Pfalz<br />
oder rund der Hälfte<br />
aller Schulkinder in<br />
Deutschland – ein<br />
Alter, das leider viele<br />
von einer <strong>seltenen</strong><br />
Erkrankung betroffene<br />
Kinder nicht<br />
erreichen.“<br />
Die Waisen<br />
der Medizin<br />
A<br />
ngesichts der großen Zahl<br />
von etwa 8.000 verschiedenen<br />
bekannten <strong>Erkrankungen</strong><br />
betrifft dies jedoch<br />
allein in Deutschland mehr<br />
als vier Millionen Menschen.<br />
Um es zu verdeutlichen: Vier Millionen<br />
Menschen, diese Anzahl ist vergleichbar<br />
<strong>mit</strong> der Einwohnerzahl des Bundeslandes<br />
Rheinland-Pfalz oder rund der Hälfte aller<br />
Schulkinder in Deutschland – ein Alter, das<br />
leider viele von einer <strong>seltenen</strong> Erkrankung<br />
betroffene Kinder nicht erreichen. Denn für<br />
die meisten <strong>Erkrankungen</strong> gibt es noch keine<br />
Heilung, oft nicht einmal einen Therapieansatz.<br />
Sie verlaufen chronisch, gehen teilweise<br />
<strong>mit</strong> schweren Beeinträchtigungen einher<br />
und führen noch viel zu oft zum Tod.<br />
Aufgrund der Seltenheit ist das Wissen zu<br />
vielen <strong>Erkrankungen</strong> gering, sind Informationen<br />
nicht verlässlich, Experten rar. Auf<br />
dem Weg zur richtigen Diagnose erleben<br />
Betroffene eine belastende Odyssee von<br />
Arzt zu Ärztin: Im Schnitt dauert es sieben<br />
lange Jahre, bevor sie wissen, was hinter<br />
ihrem Leiden steckt. Was das an persönlichem<br />
Leid in den Familien und zudem an<br />
Zeit, Aufwand und Kosten bedeutet, kann<br />
man erahnen. Diese einschneidenden Erfahrungen<br />
verbinden die Menschen <strong>mit</strong><br />
<strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong>, weil sie trotz ihrer<br />
ganz unterschiedlichen Krankheitsbilder vor<br />
sehr ähnlichen Problemen stehen. Es macht<br />
sie zu den Waisenkindern der Medizin.<br />
Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> sind hier<br />
wichtige Anlaufstellen. Mittlerweile gibt es<br />
bundesweit schon 36 dieser Einrichtungen,<br />
in denen <strong>mit</strong> interdisziplinären Fallkonferenzen,<br />
dem Einsatz von Lotsen und vor allem<br />
<strong>mit</strong> viel Engagement und Beharrlichkeit aller<br />
Beteiligten über den fachspezifischen Tellerrand<br />
hinausgeschaut wird.<br />
Diese und weitere Verbesserungen konnten<br />
nur gemeinsam erreicht werden: Seit<br />
mehr als 15 Jahren setzt sich die Eva Luise<br />
und Horst Köhler Stiftung für die Belange<br />
der Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
ein. Wir tun dies zusammen <strong>mit</strong> engagierten<br />
Medizinern und Forschern, <strong>mit</strong> anderen<br />
Stiftungen und fördernden Partnern und<br />
im Schulterschluss <strong>mit</strong> der Patientenselbsthilfe.<br />
Zu ihr gehören Eltern, die sich im Kampf<br />
um das <strong>Leben</strong> ihrer Kinder zusammengeschlossen<br />
haben, oder selbst Betroffene,<br />
die beraten, Hilfesuchenden zur Seite stehen,<br />
<strong>mit</strong> ihrem Know-how unterstützen – und das<br />
oft ehrenamtlich, neben dem Beruf und der<br />
Pflege des Kindes oder ihrer Angehörigen.<br />
Unter dem Dach der Allianz Chronischer<br />
Seltener <strong>Erkrankungen</strong> (ACHSE) e. V., deren<br />
Schirmherrschaft mir ein Herzensanliegen<br />
ist, haben sich <strong>mit</strong>tlerweile mehr als<br />
130 Patientenorganisationen zusammengeschlossen.<br />
Sie geben den Betroffenen<br />
eine Stimme, bündeln deren Anliegen und<br />
tragen diese in die Politik, in das Gesundheitswesen,<br />
die Medizin.<br />
Und auch in Wissenschaft und Forschung, wo<br />
der Schlüssel zum medizinischen Fortschritt<br />
liegt: Forschung schenkt Hilfe, Hoffnung<br />
und immer öfter auch Heilung. Daher zeichnet<br />
die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung<br />
in jedem Jahr ein beispielhaftes Vorhaben<br />
<strong>mit</strong> einem Forschungspreis für seltene<br />
<strong>Erkrankungen</strong> aus. Und deshalb haben wir<br />
<strong>mit</strong> der Alliance4Rare ein Netzwerk auf den<br />
Weg gebracht, das den medizinischen Fortschritt<br />
und den immensen Forschungsbedarf<br />
zu <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> in der Kinder- und<br />
Jugendheilkunde zusammenführt. Denn wir<br />
sind überzeugt: Wir müssen heute handeln,<br />
weil die Seltenen dringend auf die „Medizin<br />
von morgen“ angewiesen sind.<br />
Mehr über das <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> einer <strong>seltenen</strong><br />
.<br />
Erkrankung erfahren Sie in diesem Magazin.<br />
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen<br />
Ihre Eva Luise Köhler<br />
<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong>... Magazin Healthcare Mediapartner GmbH | Pariser Platz 6a | 10117 Berlin | www.healthcare-mediapartner.de<br />
Herausgeberin Franziska Manske Redaktionsleitung Benjamin Pank Layout Elias Karberg Coverbild privat<br />
Druck BNN Badendruck GmbH Kontakt redaktion@leben<strong>mit</strong>.de | www.leben<strong>mit</strong>.de<br />
Alle Artikel, die <strong>mit</strong> “Gastbeitrag”, Advertorial" oder "Mit freundlicher Unterstützung" gekennzeichnet sind, sind gesponserte Beiträge.<br />
Die Texte der Ausgabe schließen alle Geschlechter <strong>mit</strong> ein. Zur besseren Lesbarkeit wird jedoch nur eine Geschlechtsform verwendet.
3<br />
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Foto: gpointstudio<br />
Foto gpointstudio<br />
Advertorial<br />
Kyowa Kirin engagiert sich für<br />
Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
„Meine ersten Hautprobleme begannen 2004“,<br />
berichtet eine junge Patientin. Sie litt zu dieser<br />
Zeit unter regelmäßig wiederkehrenden Hautausschlägen<br />
und Schmerzen. Erst Jahre später<br />
wurde bei ihr eine Mycosis fungoides diagnostiziert,<br />
eine seltene onkologische Erkrankung,<br />
die in Europa einen von 110.000 bis einen von<br />
350.000 Menschen betrifft. 1 „Ich befand mich<br />
fast zehn Jahre lang in einer Grauzone“, erinnert<br />
sie sich. Ihre anfänglichen Hautauffälligkeiten<br />
wurden zunächst als Ekzem und auch<br />
als Schuppenflechte lokal <strong>mit</strong> Salben behandelt.<br />
Erst ein Zufallsbefund führte zur richtigen<br />
Diagnose. Diese Geschichte ist kein Einzelfall:<br />
Der Weg bis zum Befund bei diesem Krankheitsbild<br />
dauert durchschnittlich zwei bis sieben<br />
Jahre. 2 Die junge Frau ist eine von rund<br />
30 Millionen Betroffenen, die aktuell <strong>mit</strong> einer<br />
<strong>seltenen</strong> Erkrankung in Europa leben. 3 Kyowa<br />
Kirin ist ein weltweit tätiges biopharmazeutisches<br />
Unternehmen, das dort unterstützen<br />
möchte, wo es bislang nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten<br />
gibt. Hierzu zählt insbesondere<br />
der Bereich der <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
Das Unternehmen wurde 1949 in Japan gegründet<br />
und entwickelt seit dieser Zeit innovative Therapien<br />
in den Bereichen Nephrologie, Neurologie,<br />
Onkologie und Immunologie. Die Forschungsund<br />
Entwicklungsarbeit sowie die Wirkstoffproduktion<br />
stützen sich dabei auf Verfahren der Spitzen-Biotechnologie<br />
aus eigenem Hause.<br />
Das Unternehmen gilt als Pionier in der<br />
Behandlung des nur selten auftretenden Phosphatdiabetes<br />
(X-chromosomale Hypophosphatämie,<br />
XLH) – einer genetisch bedingten und<br />
zumeist vererbten Störung des Phosphatstoffwechsels.<br />
XLH ist eine chronische, fortschreitende<br />
Erkrankung, welche die Gesundheit von<br />
Knochen, Muskeln, Sehnen und Gelenken der<br />
Betroffenen beeinträchtigen kann. 4,5 Deren<br />
<strong>Leben</strong>squalität wird durch den Phosphatdiabetes<br />
häufig erheblich eingeschränkt – sowohl im Kindes-<br />
wie auch im Erwachsenenalter. 6,7<br />
Kyowa Kirin setzt sich ebenfalls für die Versorgung<br />
von Menschen <strong>mit</strong> tumorinduzierter Osteomalazie<br />
(kurz: TIO) ein. Hierbei handelt es<br />
sich – anders als beim Phosphatdiabetes – um<br />
eine erworbene Erkrankung, die durch kleine,<br />
langsam wachsende, zumeist gutartige Tumore<br />
verursacht wird. 8,9 Infolge der Tumorbildung<br />
steht den Betroffenen über das Blut zu wenig<br />
Phosphat zur Verfügung, der Phosphatstoffwechsel<br />
ist gestört. 8,9 Besteht die TIO unbehandelt<br />
fort, erleiden die Patienten zumeist Symptome,<br />
die denen der XLH ähneln – <strong>mit</strong> vergleichbaren<br />
Effekten auf die Mobilität, Leistungsfähigkeit<br />
und <strong>Leben</strong>sfreude der Betroffenen. 10<br />
Ein weiterer Schwerpunkt ist der Einsatz therapeutischer<br />
Antikörper zur Behandlung seltener<br />
onkologischer <strong>Erkrankungen</strong>. Hierzu zählen die<br />
bereits angesprochene Mycosis fungoides und<br />
das deutlich seltener auftretende Sézary-Syndrom<br />
– beides Unterformen des kutanen T-Zell-<br />
Lymphoms (kurz: CTCL).<br />
Kyowa Kirin verfolgt ein klares Ziel: sämtlichen<br />
Menschen, <strong>mit</strong> denen es sich im Austausch befindet,<br />
ein Lächeln zu schenken – nicht nur durch<br />
die Entwicklung neuer Wirkstoffe, sondern auch<br />
durch gelebte Partnerschaften, konsequenten<br />
Umweltschutz und ein positives Arbeitsumfeld<br />
für sämtliche Mitarbeiter. Das Unternehmen sucht<br />
weltweit den Austausch <strong>mit</strong> Betroffenen und<br />
Beteiligten, um gemeinsam und kontinuierlich<br />
bessere Antworten auf Patientenbedürfnisse zu<br />
finden. Auf diese Weise konnte Kyowa Kirin das<br />
<strong>Leben</strong> von zahlreichen Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> positiv verändern. Das Unternehmen<br />
wird sich auch zukünftig für eine bessere<br />
Zukunft einsetzen, getrieben von dem Ansporn<br />
„Make people smile“..<br />
1 – Orphanet https://tinyurl.com/4vr9ar9v<br />
2 – CL Foundation https://tinyurl.com/mvk67utw<br />
3 – Europäische Kommission https://tinyurl.com/2s3mas24<br />
4 – Europäische Arznei<strong>mit</strong>telagentur. CRYSVITA: Europäischer öffentlicher Bewertungsbericht (EPAR) –<br />
Produktinformationen. Fachinformation. Verfügbar unter: https://www.ema.europa.eu/en/documents/<br />
product-information/crysvita-eparproduct-information_de.pdf. Letztmalig abgerufen: September 2022.<br />
5 – Beck-Nielsen SS, et al. FGF23 and its role in X-linked hypophosphatemia-related morbidity. Orphanet<br />
Journal of Rare Diseases. 2019;26;14(1):58.<br />
6 – Imel, EA. Congenital Conditions of Hypophosphatemia in Children. Calcified Tissue International.<br />
2021;108:74–90.<br />
7 – Marcucci, G, Brandi, ML. Congenital Conditions of Hypophosphatemia Expressed in Adults. Calcified<br />
Tissue International. 2021;108:91–103.<br />
8 – Brandi ML, et al. Challenges in the management of tumor-induced osteomalacia (TIO). Bone.<br />
2021;152:1160-64.<br />
9 – Florenzano P, et al. Tumor-Induced Osteomalacia. Calcified Tissue International. 2021;108:128-42.<br />
10 – Jerkovich F, et al. Burden of Disease in Patients with Tumor-Induced Osteomalacia. JBMR Plus.<br />
2020;5:e10436.<br />
Die Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 3. November 2022.
4<br />
Alagille-Syndrom<br />
„Ein kleines<br />
Stück <strong>Leben</strong>“<br />
Berit Hullmann und ihr Mann freuten sich auf ihr zweites Wunschkind.<br />
Die Familie schwebte im Familienglück. So hätte es weitergehen<br />
können. Ist es aber nicht. Denn ihre zweite Tochter kam<br />
<strong>mit</strong> der <strong>seltenen</strong> Generkrankung Alagille-Syndrom zur Welt.<br />
Statt zum PEKiP und zum Babyschwimmen ging<br />
es in der Kinderklinik ein und aus. Im Alter von einem<br />
Jahr brauchte Lilly eine neue Leber.<br />
Redaktion Emma Howe<br />
Fotos: privat<br />
Frau Hullmann, Lillys Start ins <strong>Leben</strong> war nicht<br />
leicht. Bitte erzählen Sie davon.<br />
Meine Schwangerschaft <strong>mit</strong> Lilly verlief erst<br />
mal bilderbuchmäßig – wie auch die erste. Bei<br />
einer Routinekontrolle in der 34. Woche fand<br />
mein Gynäkologe das Ultraschallbild auffällig<br />
und schickte mich direkt weiter in die Uniklinik.<br />
Hier wurde zuerst diagnostiziert, dass Lillys<br />
Darm verengt war – was genau dahintersteckte,<br />
sollte nach der Geburt sofort abgeklärt werden.<br />
Deshalb habe ich mich für einen geplanten<br />
Kaiserschnitt zwei Wochen vor dem errechneten<br />
Termin entschieden. Was mir das erste Mal<br />
richtig Sorgen bereitet hat, war, dass sie bei ihrer<br />
Geburt sehr klein war. Sie wog zwei Kilo und war<br />
42 Zentimeter groß – obwohl sie kein Frühchen<br />
war. Am ersten <strong>Leben</strong>stag wurde sie direkt operiert<br />
und bekam einen künstlichen Darmausgang.<br />
Doch dann fingen die Probleme erst an.<br />
Sie nahm kaum zu, ihre Leberwerte waren stark<br />
erhöht.<br />
Welche Erklärung hatten die Ärzte für die<br />
schlechten Leberwerte?<br />
Erst mal keine konkrete. Es standen verschiedene<br />
Vermutungen im Raum, von Gallengangsatresie<br />
über Mukoviszidose bis hin zu Krankheiten, bei<br />
denen sie nur eine sehr, sehr kurze <strong>Leben</strong>serwartung<br />
gehabt hätte. Die ersten zehn Wochen<br />
nach ihrer Geburt hat Lilly im Krankenhaus verbracht.<br />
Entlassen wurden wir dann ohne konkrete<br />
Diagnose.<br />
Wann kam es schließlich zur Diagnose, und wie<br />
haben Sie darauf reagiert?<br />
Die Diagnose Alagille-Syndrom haben wir<br />
bekommen, als Lilly acht Monate alt war. Eine<br />
sehr erfahrene Genetikerin an der Uniklinik Essen<br />
hat die Testung veranlasst, weil sie bei Lillys<br />
Symptomen dieses Syndrom vermutete. Wir waren<br />
bei dieser Diagnose erleichtert, sie war von all<br />
den Krankheiten, die wir bis dahin als Verdachtsdiagnose<br />
bekommen hatten, noch die beste –<br />
sofern man das überhaupt sagen darf. Und die<br />
Ärzte wussten jetzt, wo<strong>mit</strong> sie es zu tun haben,<br />
was immer besser ist, als im Nebel zu stochern.<br />
Schnell stand fest, dass Lilly eine<br />
Spenderleber brauchen würde,<br />
um zu überleben …<br />
Lillys Leberwerte wurden zusehends<br />
schlechter, ihre Haut und ihre Augen wurden<br />
immer gelber und sie plagte ein schrecklicher<br />
Juckreiz. Sie nahm kaum zu, brauchte<br />
Spezialnahrung und <strong>mit</strong> jedem Infekt musste<br />
sie ein bis zwei Wochen ins Krankenhaus.<br />
Zunächst wurde sie bei Eurotransplant gelistet.<br />
Dafür musste sie viele Untersuchungen <strong>mit</strong>machen,<br />
einmal quer durch alle medizinischen<br />
Fachbereiche durch. Dann haben mein Mann<br />
und ich uns als <strong>Leben</strong>dspender testen lassen.<br />
Bei meinem Mann passten die Werte am besten.<br />
Die Ärzte wollten nicht abwarten, bis sich<br />
ihr Zustand stark verschlechtert, daher hat die<br />
Klinik die Transplantation kurz nach ihrem ersten<br />
Geburtstag geplant. Über den ganzen Weg<br />
von der Geburt bis zur Transplantation habe<br />
ich ein Buch geschrieben, es heißt „Ein kleines<br />
Stück <strong>Leben</strong>“ und ist bei Amazon erhältlich.<br />
Am 5. Oktober 2015 war es dann so weit. Wie<br />
haben Sie diesen Tag erlebt?<br />
Das war ein schöner, sonniger Herbsttag, an<br />
dem ich ruhelos über das Krankenhausgelände<br />
getigert bin. Es war ein seltsames Gefühl,<br />
zu wissen, dass mein Mann und meine Tochter<br />
gleichzeitig auf dem OP-Tisch lagen. Meine<br />
Schwester und meine Schwiegermutter haben<br />
<strong>mit</strong> mir an der Klinik gewartet. Ich glaube, wir<br />
alle haben diese langen Stunden wie in Trance<br />
erlebt.<br />
Konnte nach der Operation endlich ein Familienalltag,<br />
der nicht von ständigen Krankenhausaufenthalten<br />
geprägt ist, einkehren?<br />
Lilly war acht Wochen nach der Transplantation<br />
im Krankenhaus, die ersten zehn Tage auf<br />
der Intensivstation. In ihren ersten <strong>Leben</strong>sjahren<br />
war sie auch immer wieder mal stationär<br />
in der Klinik, <strong>mit</strong> Lungenentzündungen oder<br />
Infekten. Aber <strong>mit</strong>tlerweile haben wir ein recht<br />
normales Familienleben <strong>mit</strong> mal mehr und mal<br />
weniger Stress und Sorgen.<br />
Wie geht es Lilly heute,<br />
und welche Therapien<br />
bekommt sie?<br />
Sie ist eine recht freche Zweitklässlerin,<br />
die immer einen schlauen<br />
Spruch auf den Lippen hat. In der Schule<br />
kommt sie gut klar, sie geht gern schwimmen<br />
und tanzen. Die Krankheit ist in unserem Alltag<br />
nicht mehr so sehr präsent, zum Glück. Sie<br />
bekommt morgens und abends natürlich ihre<br />
immunsupprimierenden Medikamente, hat<br />
einmal pro Woche Ergotherapie und muss regelmäßig<br />
zur Blutentnahme.<br />
Was möchten Sie anderen Eltern von chronisch<br />
kranken Kindern <strong>mit</strong> auf den Weg geben?<br />
Es ist wichtig zu wissen, dass man nicht allein<br />
ist. Tauscht euch <strong>mit</strong> anderen Betroffenen aus.<br />
Wer mag, kann Tagebuch schreiben oder zumindest<br />
ein Notizbuch führen, um die ganzen<br />
Eindrücke festzuhalten, die da auf einen<br />
einprasseln, und auch Fragen an Ärzte oder<br />
Krankenschwestern aufzuschreiben, die einem<br />
manchmal <strong>mit</strong>ten in der Nacht einfallen. Das<br />
Wichtigste ist aber, an sein Kind zu glauben. Die<br />
Kleinen sind echt zäh und kämpfen sich immer<br />
wieder durch.<br />
Wie kam es dazu, dass Sie sich für den Verein<br />
Leberkrankes Kind engagieren?<br />
Wie alle Eltern, die neu <strong>mit</strong> einer Krankheit des<br />
Kindes konfrontiert sind, habe ich natürlich<br />
wie wild herumgegoogelt, um alles darüber<br />
herauszufinden. Der Verein war da eine gute<br />
Anlaufstelle, sich <strong>mit</strong> anderen Betroffenen<br />
auszutauschen und andere Familien kennenzulernen,<br />
die ebenfalls leberkranke Kinder<br />
haben. Der Verein möchte informieren, Mut<br />
machen und Erfahrungen teilen. .<br />
Weitere Informationen über den<br />
Verein finden Sie unter:<br />
leberkrankes-kind.de<br />
Mehr über Lilly und ihr <strong>Leben</strong> erfahren<br />
Sie unter: babyleaks.net
Experteneinblick<br />
5<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 5<br />
Mehr <strong>Leben</strong>squalität für<br />
ALGS-Patienten <strong>mit</strong><br />
chronischem Juckreiz<br />
Wer sich <strong>mit</strong> dem Alagille-Syndrom beschäftigt, erkennt Betroffene meist auf<br />
den ersten Blick, sagt PD Dr. med. Eva-Doreen Pfister. Dennoch schätzt sie, dass<br />
viele Betroffene gar nicht diagnostiziert sind, da die seltene Erbkrankheit, kurz<br />
ALGS, zu einem sehr heterogenen Krankheitsbild führt.<br />
Frau Dr. Pfister, was passiert beim Alagille-Syndrom<br />
im Körper?<br />
Das Alagille-Syndrom hat eine genetische<br />
Ursache, ist also bereits beim Ungeborenen<br />
im Mutterleib angelegt. Betroffen ist der<br />
Notch-Signalweg, der dafür zuständig ist,<br />
wie die Zellen während der Embryonalentwicklung<br />
<strong>mit</strong>einander agieren. Durch den<br />
Gendefekt entwickeln sich die Organe nicht<br />
regulär.<br />
Welche Symptome treten auf?<br />
Meist treten Kombinationen verschiedener<br />
Symptome auf: starke Neugeborenengelbsucht,<br />
Herzfehler, Gefäß- und Skelettfehlbildungen<br />
und ein ganz typisches Aussehen<br />
– ein kleinerer Kopf <strong>mit</strong> dreieckig<br />
geformtem Gesicht, auffällig breiter Stirn<br />
und schmalem Kinn. Auch die Gallenwege<br />
sind häufig nicht regulär ausgebildet, sodass<br />
die in den Leberzellen produzierten<br />
Gallensäuren nicht komplett in den Dünndarm<br />
abfließen, sondern zurück in die<br />
Leber gestaut werden. Die massiv erhöhten<br />
Gallensäuren in der Leber sorgen für<br />
extremen Juckreiz, der die <strong>Leben</strong>squalität<br />
der Betroffenen erheblich einschränkt: von<br />
chronisch entzündeter Haut, die gar nicht<br />
mehr heilt, über Schlaflosigkeit bis hin zu<br />
Suizidgedanken.<br />
Wie wird das Alagille-Syndrom diagnostiziert<br />
und wie lange dauert es durchschnittlich<br />
bis zur Diagnose?<br />
Das hängt von der Schwere der Symptome<br />
ab. Ein milder Herzfehler fällt zum Beispiel<br />
erst dann auf, wenn der Patient<br />
einmal abgehört wird – oder auch gar nicht.<br />
Ein schwerer angeborener Herzfehler hingegen<br />
kann schon eher den Verdacht auf<br />
ALGS nahelegen, vor allem in Kombination<br />
<strong>mit</strong> weiteren Symptomen. Die Diagnose<br />
erfolgt, wie bei vielen <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong>,<br />
primär klinisch: durch Röntgen der<br />
Wirbelsäule, Ultraschall von Herz und Leber<br />
sowie Untersuchung der Augen. Wir als<br />
PD Dr. med.<br />
Eva-Doreen Pfister<br />
Fachärztin für Kinder- und<br />
Jugendmedizin an der Klinik<br />
für Pädiatrische Nieren-, Leberund<br />
Stoffwechselerkrankungen<br />
der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover<br />
„Alagille-Patienten<br />
haben meist ein<br />
ganz typisches<br />
Aussehen – ein<br />
kleinerer Kopf <strong>mit</strong><br />
dreieckig geformtem<br />
Gesicht, auffällig<br />
breiter Stirn und<br />
schmalem Kinn.“<br />
Mit freundlicher Unterstützung<br />
von Mirum Pharma<br />
Schwerpunktzentrum führen immer auch<br />
genetische Untersuchungen durch, um die<br />
Familie umfänglich beraten zu können.<br />
Wie werden Alagille-Patienten medizinisch<br />
versorgt?<br />
Primär werden Herz- bzw. Lebererkrankungen<br />
vom Kardiologen bzw. Hepatologen<br />
behandelt. Ernährungsfachkräfte<br />
ziehen wir hinzu, wenn die Gewichtszunahme<br />
unzureichend ist. Bestenfalls<br />
sind die kleinen Patienten in einem SPZ<br />
betreut, wo sie <strong>mit</strong> entsprechender Ergound<br />
Physiotherapie sowie Logopädie gefördert<br />
werden können. Auch kognitive<br />
Einschränkungen sind aufgrund der veränderten<br />
Zelldifferenzierung im Gehirn möglich.<br />
Aber auch hier gibt es kein einheitliches<br />
Bild, das sehr breite Spektrum reicht<br />
von intellektuell unterentwickelten Patienten<br />
bis zu Betroffenen <strong>mit</strong> Hochschulabschluss.<br />
Welche neuen Behandlungsoptionen gibt<br />
es und was bedeutet das für die <strong>Leben</strong>squalität<br />
der Betroffenen?<br />
Bislang konnten nur die Symptome behandelt<br />
werden, etwa <strong>mit</strong> Herzkathetereingriffen<br />
und Lebertransplantationen. Eine<br />
Transplantation korrigiert zwar den Defekt,<br />
der für den enormen Juckreiz sorgt, bleibt<br />
aber trotzdem ein invasives Verfahren <strong>mit</strong><br />
sehr vielen Risiken. Zum allerersten Mal<br />
überhaupt ist jetzt ein Medikament für ALGS-<br />
Betroffene weltweit zugelassen, das bereits<br />
nach dem zweiten <strong>Leben</strong>smonat verabreicht<br />
werden darf. Der Wirkstoff Maralixibat<br />
vermindert die Rückaufnahme von<br />
Gallensäuren aus dem Darm ins Blut und da<strong>mit</strong><br />
in die Leber. Dadurch sinkt der Juckreiz.<br />
Für Patienten <strong>mit</strong> ALGS kann das lebensverändernd<br />
sein. Ein weiteres Präparat, das<br />
ebenfalls die Rückaufnahme der Gallensäuren<br />
blockiert, ist bereits für andere seltene<br />
Lebererkrankungen zugelassen und erhält<br />
nun auch die Zulassung für ALGS..
6<br />
Mukoviszidose<br />
„Hoffnung auf ein<br />
normales <strong>Leben</strong>“<br />
Joschua hat Mukoviszidose. Er kam <strong>mit</strong> einem verdrehten<br />
Darm zur Welt. Es folgten Operationen und viele Krankenhausaufenthalte.<br />
Leider war auch die Leber des kleinen<br />
Jungen so stark geschädigt, dass er eine Transplantation<br />
benötigte. Seine Mutter, Stefanie Sprung, berichtet<br />
über die schwerste Zeit im <strong>Leben</strong> der Familie –<br />
über Lachen, Leiden und ganz viel <strong>Leben</strong>swillen.<br />
S<br />
tefanie Sprung und ihr Mann René<br />
führen ein <strong>Leben</strong> wie aus einem Bilderbuch.<br />
Sie mögen ihre Arbeit und<br />
genießen die gemeinsame Freizeit als<br />
Patchworkfamilie. Gemeinsam freuen<br />
sie sich auf ihr erstes gemeinsames<br />
Kind, die vier großen Geschwister auf ihren kleinen<br />
Bruder. Die Familienidylle scheint perfekt. Bis<br />
in der 25. Schwangerschaftswoche alles anders<br />
kam.<br />
Redaktion Leonie Zell<br />
Feindiagnostik, Gentest, Hoffnung<br />
Da Stefanie bei ihrer dritten Schwangerschaft 34<br />
Jahre alt war, riet ihr die Frauenärztin zur Feindiagnostik.<br />
„Anfangs wollte ich das nicht. Bei meinen<br />
vorherigen Schwangerschaften war auch alles<br />
komplikationslos – warum sollte es diesmal anders<br />
sein?“ Sie entschied sich dennoch dafür. Bei<br />
der Untersuchung zeigten sich Auffälligkeiten an<br />
der Darmwand des Babys. „Der Arzt informierte<br />
uns, dass es mehrere Gründe für die Verdickung<br />
geben kann. Einer war Mukoviszidose.“ Es folgten<br />
mehrere Untersuchungen, darunter auch<br />
ein Gentest, den Stefanie und ihr Mann machen<br />
ließen. „Das Ergebnis war, dass mein Mann und<br />
ich Anlageträger für Mukoviszidose sind und dies<br />
an unser Baby weitergegeben werden kann. Die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass daraus eine Mukoviszidose<br />
entsteht, liegt bei 25 Prozent. Aufgrund der<br />
verdickten Darmwand waren sich die Ärzte sicher,<br />
dass Joschua die Krankheit hat. Wir haben bis zum<br />
Schluss gehofft, dass es sich nicht bewahrheitet.“<br />
Frühgeburt, Notoperation, Transplantation<br />
In der 34. Schwangerschaftswoche bewegte sich<br />
Joschua plötzlich nicht mehr in Stefanies Bauch.<br />
„Meine Frauenärztin stellte fest, dass er die ganze<br />
Zeit schlief. Ein Anzeichen dafür, dass es ihm nicht<br />
gut ging.“ Stefanie fuhr direkt nach dem Termin<br />
beim Frauenarzt in die Klinik, wo festgestellt wurde,<br />
dass Joschuas Bauch aufgebläht war – die Ärzte<br />
vermuteten einen Darmverschluss. Am nächsten<br />
Tag musste das Baby per Kaiserschnitt auf die Welt<br />
geholt werden. Joschua musste beatmet werden,<br />
weil er wegen des dicken Bauchs schlecht Luft<br />
bekam. „Während ich noch leicht benebelt war,<br />
wurde Joschua schon in den OP<br />
gebracht. Ich hatte nicht einmal<br />
die Möglichkeit, meinen Sohn in<br />
Ruhe auf dieser Welt zu begrüßen, ihn<br />
zu küssen oder in den Arm zu nehmen<br />
– das war ganz schlimm für mich. Nach der OP<br />
sagte man uns, dass ein Teil seines Darms schon<br />
abgestorben war, weil er einen verdrehten Darm<br />
hatte – das mussten sie alles herausoperieren. Er<br />
bekam einen künstlichen Darmausgang, ein Stoma.<br />
Und die Diagnose Mukoviszidose hatte sich<br />
bestätigt.“<br />
Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt<br />
durfte Joschua endlich nach Hause. Die Familie<br />
hoffte auf einen Funken Normalität. Doch Joschuas<br />
Gelbsucht, die Frühgeborene oft haben,<br />
verschwand einfach nicht. „Joschua wurde im Januar<br />
geboren und war Anfang Mai immer noch<br />
gelb. Wir ließen seine Leberwerte kontrollieren<br />
und die waren sehr auffällig. Da war klar, dass es<br />
nicht mehr die normale Gelbsucht war. Joschua<br />
musste sich einer weiteren Operation unterziehen,<br />
bei der die Rückverlegung des Stomas erfolgte.<br />
Denn es war klar, dass Joschua zunehmen<br />
und stabil sein musste, falls er eine Lebertransplantation<br />
benötigte, um diese zu überleben.“<br />
Nach der Stomarückverlegung war Joschua weitere<br />
vier Wochen im Krankenhaus. Da seine Leber<br />
nicht mehr richtig funktionierte, dauerte es lange,<br />
bis er die Medikamente verstoffwechselte. Der<br />
kleine Junge wurde immer schwächer. Lange versuchten<br />
die Ärzte, seine Leber zu erhalten, doch<br />
die Gallensäfte waren durch die Mukoviszidose<br />
so zähflüssig, dass die Leber sich nach und nach<br />
selbst zerstörte. Joschua brauchte eine neue Leber<br />
– ein Spender musste gefunden werden. „Die Ärzte<br />
teilten uns <strong>mit</strong>, dass es mindestens ein halbes<br />
Jahr dauern würde, bis ein Organ gefunden wäre.<br />
Diese Zeit hatten wir nicht. Joschuas Zustand<br />
war nur noch ein Aufrechterhalten der <strong>Leben</strong>sfunktionen.<br />
Und es war klar, dass wir eine andere<br />
Lösung brauchten. Schließlich ließ sich mein<br />
Mann testen und zum Glück passten alle Parameter,<br />
die eine Transplantation möglich machten.<br />
Am 9. Juli 2021 fand die Transplantation<br />
Fotos: privat<br />
statt. Da war Joschua fünf<br />
Monate alt und mein Mann<br />
mein größter Held.“<br />
Das erste Mal seit Joschuas Geburt<br />
verlief alles reibungslos. Sowohl<br />
Joschua als auch René überstanden die Operationen<br />
ohne größere Komplikationen und<br />
nach fünf Wochen durfte Joschua das Krankenhaus<br />
verlassen und die Familie hoffte, zur Ruhe<br />
zu kommen. Leider vergebens. „Es gab immer<br />
wieder Zwischenfälle: Durch Infekte verlor<br />
Joschua Elektrolyte, dann bekam er Durchfall,<br />
dann eine Pilzlungenentzündung. Das Jahr<br />
2021 habe ich mehr Zeit im Krankenhaus verbracht<br />
als zu Hause, und ich hatte das Gefühl, dass<br />
wir aus den ständigen Krankenhausbesuchen nie<br />
wieder rauskommen.“<br />
Doch Joschua ist ein Kämpfer. „Ich bin so stolz auf<br />
ihn. Er hat so einen großen <strong>Leben</strong>swillen, ist zäh,<br />
beißt sich durch und vergisst dabei nie, uns <strong>mit</strong><br />
seinem Kinderlachen zu verzaubern.“ Seit 2022<br />
haben sie das Krankenhaus nur zu Routineuntersuchungen<br />
von innen gesehen.<br />
Inhalation, Medikation, Vision<br />
Inhalation und Medikamente gehören für<br />
Joschua und seine Familie zum Alltag. „Wir haben<br />
uns gut eingespielt und alle helfen <strong>mit</strong>. Joschua<br />
muss zweimal am Tag inhalieren – morgens und<br />
abends –, wenn er einen Infekt hat, sogar dreimal.<br />
Doch er macht das ganz toll. Seine Geschwister<br />
unterstützen ihn oft dabei und schauen beispielsweise<br />
während der Inhalation ein bisschen <strong>mit</strong><br />
ihm fern.<br />
Die letzten zwei Jahre haben uns gezeigt, dass<br />
es sich immer lohnt weiterzukämpfen, und<br />
haben uns als Familie noch enger zusammengeschweißt.<br />
Seit ein paar Monaten nimmt Joschua<br />
ein neues Medikament, das den Salzkanaldefekt<br />
korrigieren soll. Bei ihm schlägt das sehr gut an.<br />
Unsere größte Hoffnung ist, dass Joschua dank<br />
der guten medizinischen Versorgung, die es <strong>mit</strong>tlerweile<br />
bei Mukoviszidose gibt, irgendwann ein<br />
normales <strong>Leben</strong> führen kann.“.
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8<br />
Homozygote familiäre<br />
Hypercholesterinämie<br />
„Unser Engel<br />
ist eine von<br />
einer Million“<br />
Avery ist 14 Jahre alt und ein lebensfroher Teenager.<br />
Sie hat die seltene Krankheit homozygote<br />
familiäre Hypercholesterinämie (hoFH), die <strong>mit</strong><br />
tödlichen Herzinfarkten im Kindesalter einhergehen<br />
kann. Wir sprachen <strong>mit</strong> Avery und ihrer Mutter<br />
Michelle über den Kampf ihres <strong>Leben</strong>s.<br />
Redaktion Emma Howe<br />
Michelle, haben Sie gemerkt, dass Avery krank<br />
ist?<br />
Nein, Avery hatte keine Symptome und es gab keinen<br />
Hinweis darauf, dass etwas nicht in Ordnung<br />
war. Mein Mann und ich hatten beide immer einen<br />
hohen Cholesterinspiegel und in der Familie<br />
meines Mannes traten frühe Herzkrankheiten<br />
auf. Aus diesem Grund bat ich unseren Kinderarzt,<br />
Averys Lipidstatus zu kontrollieren, um<br />
zu sehen, wie hoch ihr Cholesterinspiegel war.<br />
Damals war sie sechs Jahre alt. Obwohl unser<br />
Kinderarzt unsere Familiengeschichte kannte,<br />
schlug er uns nie vor, die Lipidwerte überprüfen<br />
zu lassen. Averys Cholesterinwert lag bei 800,<br />
normal ist ein Wert unter 110. Danach wurde ein<br />
Gentest durchgeführt und die Diagnose homozygote<br />
familiäre Hypercholesterinämie gestellt.<br />
Was haben Sie als Mutter in diesem Moment<br />
gedacht?<br />
Ich war geschockt, als der Kardiologe uns sagte,<br />
sie sei „eine von einer Million“. Der anfängliche<br />
Schock verwandelte sich schnell in Angst und<br />
Traurigkeit, nachdem ich erfahren hatte, dass unsere<br />
Tochter, die äußerlich vollkommen gesund<br />
aussah, an einer lebensbedrohlichen <strong>seltenen</strong><br />
Krankheit leidet. Unser <strong>Leben</strong> änderte sich innerhalb<br />
weniger Sekunden. Von diesem Moment<br />
an drehte sich alles fast ausschließlich um Averys<br />
Gesundheit und ihre wöchentlichen Lipoproteinapherese-Behandlungen,<br />
ein stundenlanges<br />
Verfahren, das das LDL-Cholesterin aus Averys<br />
Blut herausfiltert, um die Plaquebildung in ihren<br />
Arterien zu verlangsamen.<br />
„So richtig verstanden habe ich damals<br />
meine Diagnose nicht. Ich merkte nur, dass<br />
sich mein <strong>Leben</strong> veränderte – das fand ich<br />
teilweise sehr beängstigend.“<br />
Dann kam im Herbst 2019 die nächste Hiobsbotschaft<br />
…<br />
Ja, trotz der wöchentlichen Behandlungen, mehrerer<br />
Medikamenteneinnahmen, regelmäßiger Besuche<br />
bei Kinderkardiologen und umfangreicher<br />
medizinischer Tests erfuhren wir im Herbst 2019,<br />
dass sich Averys Zustand verschlechtert hatte und<br />
sie so schnell wie möglich am offenen Herzen operiert<br />
werden musste. Das war eine der gruseligsten<br />
Neuigkeiten, die ich je in meinem <strong>Leben</strong> erfahren<br />
hatte. Wir hatten absolut keine Ahnung, wie die<br />
Operation verlaufen würde, und ob unser kleines<br />
Mädchen es schaffen würde.<br />
„Ich hatte Angst vor der Operation, aber<br />
ich versuchte, es positiv zu sehen. Und das<br />
Gefühl, dass ich wusste, dass meine Eltern<br />
immer an meiner Seite sind und das alles<br />
<strong>mit</strong> mir zusammen durchstehen, hat mir<br />
auch sehr geholfen und mir Kraft gegeben.“<br />
Was geschah am Tag der Operation?<br />
Am Morgen des 3. Januar 2020 sahen wir zu, wie<br />
sie unser kleines Mädchen zur Operation brachten<br />
– ein Schmerz, den wir nie erwartet hatten, als<br />
wir unser perfektes kleines Mädchen im Juli 2008<br />
<strong>mit</strong> solcher Freude auf der Welt willkommen<br />
hießen. Die Stunden im Wartebereich kamen<br />
uns wie eine Ewigkeit vor, aber sieben Stunden<br />
später kam der Herz-Thorax-Chirurg, um uns<br />
<strong>mit</strong>zuteilen, dass die Operation erfolgreich war<br />
und Avery auf die Intensivstation gebracht wurde.<br />
Dort kam es zu Komplikationen und Avery wurde<br />
in einer Notoperation ein zweites Mal am offenen<br />
Herzen operiert. Avery überstand die zweite Operation<br />
gut, verbrachte die nächsten Tage jedoch<br />
sediert und intubiert auf der Intensivstation. Als<br />
ob dies nicht genug wäre, erfuhren wir, dass unsere<br />
elfjährige Avery einen Herzinfarkt erlitten<br />
Foto: privat<br />
hatte. Es dauerte ein paar Wochen, bis Avery sich<br />
erholt hatte. Die ganze Zeit im Krankenhaus zu<br />
leben, war sehr schwierig und anstrengend, aber<br />
wir wollten nicht von ihrer Seite weichen. Am 22.<br />
Januar 2020 durften wir alle endlich zurück nach<br />
Hause.<br />
Wie schauen Sie heute auf diese Zeit zurück?<br />
Ich hatte Angst um das <strong>Leben</strong> meiner Tochter,<br />
und diese lässt mich bis heute nicht los. Zum Glück<br />
wird Avery jeden Tag stärker, und doch wissen<br />
wir, dass unser Kampf noch nicht vorbei ist. Und<br />
so geht unsere Reise weiter.<br />
Was ist Ihr größter Wunsch für Avery?<br />
Mein Wunsch für Avery ist, dass sie glücklich<br />
und erfüllt ist. Dass sie ihre Diagnosen weiterhin<br />
positiv beurteilt und die freundliche, großzügige,<br />
schöne Tochter ist, die sie immer war. Wir sind so<br />
stolz auf sie und lieben sie mehr, als Worte sagen<br />
können!<br />
„Mir geht es sehr gut. Ich nehme zwar Medikamente,<br />
kann aber ein normales <strong>Leben</strong><br />
führen. Natürlich weiß ich, dass ich eine<br />
seltene Erkrankung habe, aber das ist okay.<br />
Ich besuche jeden Tag eine Kunstschule und<br />
tanze fünf- bis siebenmal pro Woche. Ich<br />
liebe Tanzen sehr, weil es mir die Möglichkeit<br />
gibt, meine Gefühle auszudrücken,<br />
und es hilft mir auch, alles zu verarbeiten,<br />
was ich erlebt habe. Mein größter Traum<br />
ist es, Ärztin zu werden, da<strong>mit</strong> ich anderen<br />
Kindern <strong>mit</strong> gesundheitlichen Problemen<br />
helfen kann. Ich hatte in den letzten acht<br />
Jahren so viele großartige Ärzte, die sich<br />
um mich gekümmert haben, und ich habe<br />
gelernt, wie wichtig es ist, Ärzte zu haben,<br />
die sich <strong>mit</strong> meiner Krankheit auskennen.“
9<br />
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Experteneinblick<br />
Alarmsignal LDL-Cholesterinwert –<br />
was dahinterstecken könnte<br />
Die homozygote familiäre Hypercholesterinämie (hoFH) zählt zu den <strong>seltenen</strong><br />
Erbkrankheiten. Unbehandelt steigert die hoFH das Risiko für Arterienverschlüsse und<br />
Infarkte. Dabei ist die erbliche Stoffwechselstörung wahrscheinlich gar nicht so selten,<br />
sondern wird oft einfach nicht erkannt, sagt Prof. Dr. Ioanna Gouni-Berthold.<br />
Frau Prof. Dr. Gouni-Berthold, was sind die<br />
Ursachen einer hoFH?<br />
Ursache der familiären Hypercholesterinämie<br />
ist am häufigsten eine Mutation des LDL-Rezeptor-Gens.<br />
Da durch den Gendefekt der Rezeptor<br />
fehlt oder keine Bindung zum Rezeptor aufgebaut<br />
wird, kann das Cholesterin nicht von der<br />
Leber aufgenommen und ausgeschieden werden,<br />
sondern verbleibt im Blut. Die Folge: massiv<br />
erhöhte Cholesterinwerte und so<strong>mit</strong> ein stark<br />
erhöhtes Risiko kardiovaskulärer <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
Welches charakteristische Merkmal geht <strong>mit</strong><br />
der Erkrankung einher?<br />
Charakteristisch sind massiv erhöhte LDL-Werte.<br />
Typische Symptome wie Trübungsringe um<br />
die Iris des Auges, Xanthome und Xanthelasmen<br />
können auch auftreten. Es fehlt leider das<br />
Bewusstsein für die hoFH. Daher ist die erste<br />
erkannte Symptomatik dann oft ein Herzinfarkt<br />
oder Schlaganfall.<br />
Wie wird hoFH diagnostiziert?<br />
Die klinische Diagnostik erfolgt in Europa meistens<br />
nach den Dutch-Lipid-Clinic-Network<br />
(DLCN)-Kriterien. Betrachtet wird dabei unter<br />
anderem auch die Familienanamnese: Sind<br />
erhöhte LDL-Werte oder vorzeitige koronare<br />
Herzkrankheiten in der Familie bekannt? Bei<br />
einem Gesamtergebnis größer als acht gilt die<br />
Diagnose hoFH als klinisch gesichert. Außerdem<br />
sind molekulargenetische Untersuchungen<br />
anzuraten.<br />
Prof. Dr. Ioanna<br />
Gouni-Berthold<br />
Fachärztin für Innere Medizin,<br />
Endokrinologie und Diabetologie<br />
Warum wird die Diagnose oft erst so spät<br />
gestellt?<br />
Es fehlt einfach am Bewusstsein für diese<br />
Erkrankung. Wenn der Hausarzt beim Checkup<br />
erhöhte LDL-Werte feststellt und dann einen<br />
Zusammenhang herstellt, ist man diagnostisch<br />
auf dem richtigen Weg. In der medizinischen<br />
Literatur gibt es leider viele Fälle<br />
von Kindern <strong>mit</strong> Herzinfarkt oder Schlaganfall<br />
aufgrund von unbehandelter hoFH. Ich wäre<br />
glücklich, wenn bei jedem Neugeborenen-<br />
Screening der LDL-Wert <strong>mit</strong> untersucht würde.<br />
Je früher, desto besser. Die Bestimmung<br />
von LDL-Werten wäre auch <strong>mit</strong> drei oder fünf<br />
Jahren wünschenswert.<br />
Mit freundlicher Unterstützung von Ultragenyx<br />
Welche Therapieoptionen standen bislang zur<br />
Verfügung?<br />
Die LDL-Werte allein durch viel Bewegung und<br />
gesunde Ernährung signifikant zu senken, funktioniert<br />
bei der hoFH nicht. Therapieoptionen<br />
sind die Statine, Ezetimib, PCSK9-Inhibitoren,<br />
Lo<strong>mit</strong>apid sowie die Lipidapherese. Es sind<br />
auch wenige Fälle von Lebertransplantationen<br />
bekannt.<br />
Gibt es neue Therapien?<br />
Neu zugelassen sind Lipidsenker, die unabhängig<br />
von den LDL-Rezeptoren wirken. Hierbei wird<br />
das Angiopoetin-ähnliche Protein 3 (ANGPTL3),<br />
das überwiegend in der Leber exprimiert wird,<br />
gehemmt. Dadurch kann das LDL-Cholesterin<br />
unabhängig von den LDL-Rezeptoren gesenkt<br />
werden.<br />
Was bedeutet das für die Betroffenen?<br />
Grundsätzlich muss bei bekannter hoFH schnell<br />
und aggressiv therapiert werden, <strong>mit</strong>tels Lipidapherese<br />
kombiniert <strong>mit</strong> Lipidsenkern. Ziel sollte<br />
es sein, die LDL-Werte unter 70 Milligramm<br />
pro Deziliter und bei Patienten, die schon einen<br />
Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben,<br />
unter 55 Milligramm pro Deziliter zu bringen.<br />
Hohe LDL-Werte haben einen kumulativen<br />
Effekt. Daher ist es wichtig, so früh wie möglich<br />
<strong>mit</strong> der Therapie zu starten. Statine können<br />
schon ab acht Jahren verabreicht werden..<br />
Redaktion Nicole Kraß<br />
Unser Auftrag: Patienten <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong><br />
Erkankungen helfen<br />
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10<br />
Gaby M. und ihr Mann verbringen ihre gemeinsame Zeit am liebsten im Garten. Illustrative Fotos: G. Hoffmann<br />
Transthyretin-Amyloidose <strong>mit</strong> Kardiomyopathie<br />
Unbekannte Herzschwäche<br />
<strong>mit</strong> vielfältigen Symptomen<br />
Eine Amyloidose ist eine mögliche Ursache für eine Herzschwäche (in der medizinischen<br />
Fachsprache auch Herzinsuffizienz genannt), von der viele Menschen vermutlich noch nie<br />
etwas gehört haben. Das heißt aber keineswegs, dass Amyloidosen selten sind. Vielmehr<br />
ist davon auszugehen, dass sie lediglich weniger häufig diagnostiziert werden, weil sie<br />
sich wie ein Chamäleon hinter einem breiten Fächer von Symptomen und Symptomkonstellationen<br />
verbergen können. Für die Diagnosestellung ist daher von Ärzten detektivischer<br />
Spürsinn gefragt. Aber auch herzkranke Menschen, deren Beschwerden sich<br />
unter einer verordneten Therapie nicht bessern, sollten hartnäckig bei der<br />
Ursachenforschung <strong>mit</strong>wirken und „dranbleiben“.<br />
Gastbeitrag<br />
Der Begriff Amyloidose steht für eine Vielzahl unterschiedlicher<br />
<strong>Erkrankungen</strong>, die eines gemeinsam<br />
haben: Durch Ablagerungen von bestimmten<br />
Eiweißen an Organen kann es zu schweren<br />
Funktionsstörungen kommen. Eine der häufigsten<br />
Amyloidoseformen ist die Transthyretin-Amyloidose<br />
<strong>mit</strong> Kardiomyopathie (Kurzbezeichnung: ATTR-CM), bei der sich das<br />
Eiweiß Transthyretin zwischen den Herzmuskelzellen ablagert. Das<br />
führt zu einer Verdickung der Herzwände und infolgedessen zu einem<br />
Nachlassen der Herzleistung, die <strong>mit</strong> einer klinisch relevanten<br />
Herzschwäche einhergeht. Warum sich Transthyretin ablagert, ist bislang<br />
nicht geklärt.<br />
Oft sind ältere Menschen von der Erkrankung betroffen, vor allem<br />
Männer über 60 Jahre. Aber auch Frauen sind nicht davor gefeit, wie<br />
die nachstehende Krankengeschichte einer Patientin zeigt:
ATTR-Amyloidose <strong>mit</strong> Kardiomyopathie –<br />
Eine Patientin berichtet<br />
Im Alter von 54 Jahren wurde bei Gaby M.<br />
eine ATTR-CM diagnostiziert. Die Patientin<br />
erzählt, dass sie schon früh Probleme <strong>mit</strong><br />
dem Herzen hatte. So wurde sie schon im<br />
Alter von etwas über 30 Jahren wegen ihres<br />
damals zu hohen Blutdrucks behandelt. Jedoch<br />
schritten die Herzprobleme<br />
im Verlauf der<br />
Jahre fort und gipfelten 20<br />
Jahre später in einem ersten<br />
Zusammenbruch. Um<br />
die Ursachen dafür näher<br />
abklären zu lassen, wurde<br />
Gaby M. schließlich von<br />
ihrer Hausärztin zum Kardiologen<br />
überwiesen. Der weitere Weg führte<br />
die Patientin zum Herz-MRT ins Krankenhaus,<br />
wo erstmals die Vermutung geäußert<br />
wurde, dass „eine Amyloidose im Spiel sein<br />
könnte“. Einige Zeit später folgte dann in der<br />
Klinik eine Skelettszintigraphie sowie eine<br />
Herzmuskelbiopsie, die die Verdachtsdiagnose<br />
einer ATTR-CM bestätigten.<br />
Vor der Diagnose litt Gaby M. immer wieder<br />
unter Kurzatmigkeit und größeren Wassereinlagerungen<br />
in den Beinen. Dementsprechend<br />
wurden mehrmals „radikale Entwässerungen<br />
im Krankenhaus durchgeführt“, berichtet sie.<br />
„Als dann die Diagnose ATTR-CM feststand,<br />
habe ich gedacht, dass da<strong>mit</strong><br />
alles verbunden sei. Es<br />
war eine Erleichterung, als<br />
ich dann wusste, was für<br />
eine Krankheit ich habe“, so<br />
die Patientin.<br />
Für die Zukunft wünscht<br />
sich Gaby M., dass sie trotz<br />
der Amyloidose gemeinsam <strong>mit</strong> ihrem Mann alt<br />
werden kann. In Bezug auf ihre Herzerkrankung<br />
sagt sie: „Ich möchte jeden ermutigen, der irgendwelche<br />
Symptome verspürt, wo aber der<br />
Hausarzt nicht genau weiß, was er hat: Wendet<br />
euch weiter, sucht eine zweite oder dritte<br />
Meinung von Kardiologen. Denn es ist wirklich<br />
Hilfe möglich, und je früher, umso besser.“<br />
Auf dem Weg zur Diagnose einer (noch)<br />
recht unbekannten Krankheit<br />
Priv.-Doz. Dr. Sebastian Spethmann<br />
Oberarzt in der Kardiologie am<br />
Deutschen Herzzentrum der Charité<br />
„Sucht eine<br />
zweite oder dritte<br />
Meinung – es ist<br />
Hilfe möglich!“<br />
Eine Herzschwäche entsteht oft schleichend<br />
und die Symptome sind anfangs häufig unabhängig<br />
von der zugrunde liegenden Ursache<br />
gleich: Als Warnhinweise gelten Leistungsminderung,<br />
Luftnot unter Belastung oder eine<br />
Gewichtszunahme, die meistens durch Wassereinlagerungen<br />
hervorgerufen wird. „Diese<br />
Symptome sollten unbedingt ärztlich abgeklärt<br />
werden. Wichtig ist es dabei, auch an die weniger<br />
bekannten Ursachen einer Herzschwäche zu<br />
denken. Dafür sollte einmal die genaue Krankengeschichte<br />
erfragt werden, um die Krankheitssymptome<br />
und weitere begleitende <strong>Erkrankungen</strong><br />
zu erfahren“, erklärt PD Dr. Sebastian<br />
Spethmann, der sich als Oberarzt in der Kardiologie<br />
am Deutschen Herzzentrum der Charité<br />
unter anderem <strong>mit</strong> der Diagnose und Therapie<br />
von Amyloidosen befasst. Da sich das Eiweiß<br />
Transthyretin in verschiedenen Organen ablagert,<br />
können verschiedene Organsysteme wie<br />
das Herz von einer Amyloidose betroffen sein.<br />
„Treten in Kombination <strong>mit</strong> einer Herzschwäche<br />
orthopädische <strong>Erkrankungen</strong> wie ein Karpaltunnelsyndrom,<br />
eine Verengung des Wirbelkanals<br />
oder Gefühlsstörungen in den Beinen<br />
<strong>mit</strong> Kribbeln auf, sollte man unter anderem an<br />
eine Amyloidose denken“, unterstreicht Spethmann.<br />
Um dieser Erkrankung auf die Spur zu<br />
kommen, werden beim Verdacht grundsätzlich<br />
zuerst ein EKG und ein Herzultraschall, also<br />
eine Echokardiographie, durchgeführt. „Vor<br />
allem <strong>mit</strong> der Echokardiographie können wir<br />
die Funktion und die Größe des Herzens sehr<br />
genau analysieren. Dabei bekommen wir wichtige<br />
Hinweise, ob eine Herzbeteiligung einer<br />
Amyloidose besteht. Zudem wird eine Labordiagnostik<br />
gemacht“, führt der Kardiologe aus.<br />
Bestätigt sich der Anfangsverdacht, werden weitere<br />
Untersuchungen notwendig. Die Diagnosesicherung<br />
einer ATTR-Amyloidose erfolgt durch<br />
eine sogenannte Skelettszintigraphie, <strong>mit</strong> der<br />
die Ablagerungen des Eiweißes Transthyretin<br />
im Herzmuskel sichtbar gemacht werden können.<br />
Auch eine Biopsie, wie in der Patientengeschichte<br />
von Gaby M. beschrieben, kann zur<br />
Bestätigung der Diagnose eingesetzt werden.<br />
Viele Herz-Kreislauf-<strong>Erkrankungen</strong> können<br />
heute sehr gut behandelt werden und auch für<br />
die ATTR-CM steht seit einigen Jahren ein spezifisches<br />
Medikament zur Verfügung. Dabei hat<br />
die frühe Diagnose einen hohen Stellenwert,<br />
denn „je früher wir behandeln, umso besser<br />
können wir den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen“,<br />
so Spethmann. .<br />
11<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 11<br />
„Endlich weiß ich, was ich habe!“<br />
Das Unternehmen Pfizer forscht dafür, dass<br />
auch Krankheiten, die nicht alltäglich sind,<br />
mehr Aufmerksamkeit erfahren. Denn seltene<br />
und unterdiagnostizierte <strong>Erkrankungen</strong><br />
haben eines gemeinsam: Die Diagnose<br />
wird häufig erst gestellt, wenn die Krankheit<br />
schon weit fortgeschritten ist. Dabei können<br />
früh erkannte Krankheiten grundsätzlich<br />
am besten behandelt werden.<br />
Und noch etwas ist wichtig: Erkrankte wollen<br />
wissen, worunter sie leiden. Denn erst<br />
<strong>mit</strong> der Diagnose endet für sie ein Marathon<br />
aus Untersuchungen, Hoffen, Bangen und<br />
Warten. „Gaby M. bringt ihre Erleichterung<br />
darüber, dass ihre Krankheit nun endlich<br />
einen Namen hat, <strong>mit</strong> der Schilderung<br />
ihrer Krankengeschichte auf den Punkt“,<br />
sagt Prof. C. Franzen, Medizinischer Leiter<br />
des Bereichs Seltene <strong>Erkrankungen</strong> bei<br />
Pfizer. „Für alle, die mehr wissen möchten,<br />
haben wir die typischen Symptome einer<br />
ATTR-CM im Erklärfilm<br />
Herzschwäche und es wird<br />
einfach nicht besser? anschaulich<br />
auf YouTube<br />
zusammengefasst.“<br />
Zudem bietet die Website www.leben<strong>mit</strong>-amyloidose.de<br />
neben Informationen<br />
rund um die Erkrankung, ihre Ursachen,<br />
Diagnose und Behandlung auch zahlreiche<br />
Tipps für den Alltag sowie Servicematerialien<br />
für Betroffene und ihre Angehörigen.<br />
Auch ein Blick auf die Website<br />
www.hilfefuermich.de/amyloidose lohnt<br />
sich: Hier sind viele Informationen verfügbar,<br />
die allesamt von einem Expertengremium<br />
geprüft sind.
12<br />
Cerebrotendinöse Xanthomatose<br />
„Man sollte<br />
nicht nur für die<br />
Krankheit leben,<br />
sondern <strong>mit</strong> ihr“<br />
Cerebrotendinöse Xanthomatose (CTX) ist eine sehr<br />
seltene Stoffwechselerkrankung. In Deutschland<br />
leben schätzungsweise nur 30 bis 40 Betroffene,<br />
die diagnostiziert sind. Manfred Bauer ist einer von<br />
ihnen. Im Interview spricht er über seine Symptome<br />
und die außergewöhnlich späte Diagnose.<br />
Redaktion Nicole Kraß<br />
Foto: privat<br />
Herr Bauer, Sie haben CTX. Wie hat sich die<br />
Erkrankung bei Ihnen geäußert?<br />
Rückblickend hat sich die Erkrankung wahrscheinlich<br />
schon zehn bis 15 Jahre zuvor gezeigt.<br />
Mir wurde immer gesagt, ich hätte einen<br />
„schlampigen Gang“. Dass etwas nicht stimmt,<br />
habe ich gemerkt, als ich <strong>mit</strong> dem Tempo meiner<br />
Frau nicht mehr <strong>mit</strong>halten konnte. Bei einer<br />
Wanderung im Januar 2017 haben dann<br />
meine Beine plötzlich so gezittert, dass ich<br />
nicht mehr weitergehen konnte.<br />
Welche Symptome hatten Sie außerdem?<br />
Die Gangunsicherheiten wurden stärker, ich<br />
fing an zu stolpern. Dazu kamen neuropathische<br />
Schmerzen, erst an den Füßen und Beinen,<br />
dann an Händen und Armen. Dann nächtliche<br />
Krämpfe bis hin zur Spastik, auch erst an den<br />
Beinen, dann an den Armen. Die Gehstrecke<br />
wurde immer kürzer, inzwischen bin ich auf<br />
den Rollstuhl angewiesen.<br />
Wie wurde die Erkrankung diagnostiziert?<br />
Mein erster Weg führte mich zum Hausarzt.<br />
Der hat mich zum Neurologen geschickt. Nach<br />
einigen Untersuchungen kam ich in eine Klinik<br />
und wurde komplett auf den Kopf gestellt: CTs,<br />
MRTs, Lumbalpunktion. Dann folgten weitere<br />
Tests am Friedrich-Baur-Institut in München,<br />
einer Fachambulanz für neuromuskuläre<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Der Cholestanol-Wert im Blut<br />
war zwar erhöht, aber nur leicht. Erst in Verbindung<br />
<strong>mit</strong> der genetischen Untersuchung hat<br />
dann ein Arzt den Zusammenhang hergestellt.<br />
Wie hat Ihre Familie auf die Diagnose<br />
reagiert?<br />
Am Anfang war eine große Unsicherheit. Am<br />
stärksten belastet ist meine Frau. Ich muss<br />
aber auch sagen, dass es überhaupt wichtig<br />
ist, eine Diagnose zu erhalten. Bei mir<br />
ging das in Überschallgeschwindigkeit, in<br />
nur eineinhalb Jahren. Das ist nicht selbstverständlich.<br />
Viele Betroffene warten mehrere<br />
Jahrzehnte auf eine Diagnose.<br />
Wie werden Sie behandelt?<br />
Ich habe sofort <strong>mit</strong> der Einnahme von Chenodesoxycholsäure<br />
angefangen. Dazu bekomme<br />
ich Physiotherapie und Ergotherapie,<br />
außerdem trainiere ich täglich am Theramed,<br />
um die Spastiken zu lösen und um die Muskulatur<br />
zu bewegen. Gegen die neuropathischen<br />
Schmerzen und gegen die Spastiken nehme<br />
ich unter anderem Cannabisprodukte.<br />
Wie sieht Ihr Alltag <strong>mit</strong> der Erkrankung aus?<br />
Mein Alltag ist nicht vergleichbar zu vorher.<br />
Alles ist anders. Man muss sich seine Kräfte<br />
und Strecken einteilen. Ich muss mir immer<br />
überlegen, wie ich wo hinkomme und welche<br />
Kräfte ich dazu brauche. Ja, und manchmal<br />
hat man auch seine Emotionen nicht mehr so<br />
im Griff. Es wird körperlich, aber auch mental<br />
immer schwieriger.<br />
Heilbar ist CTX nicht. Können Sie trotz der<br />
Erkrankung ein normales <strong>Leben</strong> führen?<br />
Solange ich keinen Rollstuhl gebraucht habe,<br />
war es weitgehend „normal“. Aber auch jetzt<br />
will ich raus in die Natur. Daher habe ich mir<br />
einen klappbaren Elektrorollstuhl zugelegt.<br />
Wir sind immer gerne gewandert, am liebsten<br />
abseits der Touristenpfade. Das geht <strong>mit</strong> dem<br />
Rollstuhl nicht mehr.<br />
Sie sind Teil der Selbsthilfegruppe ELA e. V.<br />
Wie kam es dazu?<br />
Bei einem Reha-Aufenthalt bin ich <strong>mit</strong> einer<br />
Dame aus dem ELA-Vorstand ins Gespräch<br />
gekommen, und jetzt bin ich selbst Mitglied,<br />
das einzige <strong>mit</strong> CTX. Es ist ein Austausch<br />
außerhalb der Medizin, ein Erfahrungsaustausch<br />
zwischen Betroffenen. Wie man den<br />
Alltag bewältigen kann, wie man <strong>mit</strong> Behörden<br />
und Krankenkassen umgeht.<br />
Was ist ein großer Wunsch von Ihnen?<br />
Ich wünsche mir mehr Öffentlichkeit und<br />
den Austausch <strong>mit</strong> anderen CTX-Patienten,<br />
zum Beispiel über den Verein ELA (www.<br />
elaev.de). Die Krankheit sollte aber nicht im<br />
Vordergrund stehen. Man sollte nicht nur<br />
für die Krankheit leben, sondern <strong>mit</strong> der<br />
Krankheit..<br />
CTX-Fakten<br />
• Die CTX ist eine erbliche Störung des Gallensäurestoffwechsels,<br />
die durch Genmutationen<br />
verursacht wird. Diese Störung<br />
verhindert die Umwandlung von Cholesterin<br />
in Gallensäuren und es kommt vermehrt zu<br />
Ablagerungen von Fetten (Cholesterin und<br />
Cholestanol) im Gehirn und anderen Geweben.<br />
• Einer von 135.000 bis 460.000 Menschen in<br />
Europa ist betroffen.<br />
• Die Symptome können nach Altersgruppen<br />
(Neugeborene, Kinder und Jugendliche,<br />
Erwachsene) gegliedert werden. Bei Neugeborenen<br />
kann z. B. eine verlängerte Neugeborenengelbsucht<br />
oder chronischer Durchfall<br />
ein Anzeichen sein. Bei Kindern und Jugendlichen<br />
können zum chronischen Durchfall<br />
auch ein Grauer Star, Entwicklungsverzögerungen<br />
oder neurologische Auffälligkeiten<br />
hinzukommen. Typische Symptome bei<br />
Erwachsenen sind Xanthome (Fettablagerungen<br />
an Sehnen), kognitive, neurologische<br />
oder auch psychiatrische Störungen.
13<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 13<br />
Eine frühe Diagnose<br />
ist entscheidend!<br />
Eine Studie <strong>mit</strong> 55 Patienten zeigte, dass das<br />
Durchschnittsalter beim ersten Auftreten<br />
der Symptome bei 9,5±9,0 Jahren und das<br />
durchschnittliche Alter bei der Diagnose bei<br />
35,5±11,8 Jahren lag, <strong>mit</strong> einer großen Diagnoseverzögerung<br />
von 20 bis 25 Jahren. * Beim<br />
Zeitpunkt der Diagnose können bereits neurologische<br />
und psychiatrische Probleme vorgelegen<br />
haben. Eine adäquate Behandlung kann<br />
den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen<br />
und das Fortschreiten der Symptomatik<br />
aufhalten, insbesondere wenn in den frühen<br />
Phasen der Erkrankung da<strong>mit</strong> begonnen wird.<br />
CTX-Symptome<br />
Ein Tropfen Blut genügt<br />
Wie bei vielen <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> ist auch bei der<br />
cerebrotendinösen Xanthomatose eine frühe Diagnose<br />
entscheidend für den Verlauf der Erkrankung. Aus diesem<br />
Grund wurde die Trockenblutkarte entwickelt.<br />
Gastbeitrag<br />
Frau Ivanchenko, woran liegt es, dass es<br />
so lange dauert, bis eine CTX diagnostiziert<br />
wird?<br />
Laut Studien dauert die Diagnosestellung<br />
im Durchschnitt 20 Jahre. Das liegt hauptsächlich<br />
an den unspezifischen Symptomen<br />
der CTX, die auch bei vielen anderen<br />
Krankheitsbildern auftreten.<br />
PHASE I<br />
Kinder<br />
beidseitiger Grauer Star, verlängerte Neugeborenengelbsucht,<br />
chronische Durchfälle<br />
PHASE III<br />
Erwachsene<br />
Phase 2 + schwere<br />
neurologische Symptome;<br />
Herz-Kreislauf-<br />
<strong>Erkrankungen</strong><br />
assoziiert <strong>mit</strong> Atherosklerose,<br />
Osteoporose;<br />
frühzeitige<br />
Demenz<br />
Quelle: * Mignarri A, Gallus GN, Dotti<br />
MT, Federico A. A suspicion index<br />
for early diagnosis and treatment<br />
of cerebrotendinous xanthomatosis.<br />
Journal of Inherited Metabolic<br />
Disease. 2014;37:421-9<br />
PHASE II<br />
Jugendliche bis<br />
junge Erwachsene<br />
Phase 1 + neurologische<br />
Symptome<br />
(kognitive Störungen,<br />
Krampfanfälle);<br />
Xanthomentwicklung;<br />
psychiatrische<br />
Symptome (Verhaltensauffälligkeiten,<br />
Aktivitäts- und<br />
Aufmerksamkeitsstörungen,<br />
Halluzination,<br />
Aggressionen,<br />
Depressionen,<br />
Agitiertheit)<br />
Wie verläuft die Krankheit, wenn sie<br />
nicht diagnostiziert wird?<br />
Das ist von Patienten zu Patienten unterschiedlich.<br />
Häufig hat die unbehandelte<br />
CTX jedoch einen progressiven<br />
Krankheitsverlauf. So können bereits im Kindesalter<br />
Grauer Star, anhaltende Durchfälle<br />
und Entwicklungsverzögerungen auftreten.<br />
Fortschreitend kann es zu schweren neurologischen<br />
Komplikationen wie Demenz, Spastik,<br />
Ataxie, atypischem Parkinson-Syndrom,<br />
Osteoporose, epileptischen Anfällen sowie<br />
einer frühen Atherosklerose <strong>mit</strong> lebensbedrohlichen<br />
Folgen wie Herzinfarkten kommen.<br />
Wenn der Verdacht auf CTX vorliegt, wie<br />
wurde bisher die Diagnose gestellt?<br />
Besteht der Verdacht, wird EDTA-Plasma<br />
abgenommen und die Plasma-Cholestanol-Konzentration<br />
bestimmt. Bei einer<br />
CTX ist dieser Wert im Blut häufig um<br />
das 3- bis 15-Fache erhöht, während der<br />
Cholesterinspiegel unauffällig ist. Abschließend<br />
erfolgt die Diagnosesicherung<br />
molekulargenetisch durch den Nachweis<br />
der Mutation des CYP27A1-Gens.<br />
Seit Neuestem gibt es die Möglichkeit der<br />
Diagnostik durch den Trockenbluttest.<br />
Was sind die Vorteile?<br />
Der Trockenbluttest vereinfacht die Diagnosestellung<br />
immens. Bei diesem Test<br />
werden nur wenige Tropfen Blut benötigt,<br />
um die Gallensäurevorstufen im Blut<br />
zu bestimmen. Bei einer konventionellen<br />
Untersuchung muss oftmals Blut aus der<br />
Vene entnommen werden. Man braucht<br />
mehr Blut, was vor allem bei Babys und<br />
Kindern ein Problem sein kann. Zudem<br />
muss das Blut oft auch gekühlt werden.<br />
Der Transport ist also komplizierter. Die<br />
Trockenblutkarte verträgt Raumtemperatur,<br />
kann also mehrere Tage bis zum Versand<br />
gelagert werden und ist einfach per<br />
Post zu versenden.<br />
Elena Ivanchenko<br />
Marketing Director der<br />
Leadiant GmbH<br />
Wie wird der Test durchgeführt?<br />
Ein Tropfen Blut aus der Fingerkuppe wird<br />
auf die Trockenblutkarte aufgebracht.<br />
Nachdem die Testkarte getrocknet ist,<br />
wird sie per Post in das Labor geschickt.<br />
Dort wird das Blut wieder aus der Filterkarte<br />
herausgelöst und für die folgenden<br />
Tests aufbereitet. Diese Tests<br />
basieren auf dem Nachweis der Gallensäurenvorstufen<br />
t-CDCA und Tetrol.<br />
Mit der gleichen Karte lässt sich bei Erhärtung<br />
des Verdachts auf eine CTX auch<br />
die molekulargenetische Untersuchung<br />
auf die CYP27A1-Mutation durchführen.<br />
Da<strong>mit</strong> wird die Abklärung der<br />
Verdachtsdiagnose auf eine CTX enorm<br />
vereinfacht. Bereits nach wenigen Tagen<br />
steht das Testergebnis fest.<br />
Dank der neuen Trockenblutkarte besteht<br />
eine realistische Chance, dass die CTX<br />
früher diagnostiziert wird und dass mehr<br />
Patienten dank passender Therapien ein<br />
nahezu normales <strong>Leben</strong> ermöglicht werden<br />
kann. Die rechtzeitige Diagnosestellung<br />
ist entscheidend, da die CTX durch<br />
eine frühzeitige Substitutionstherapie gut<br />
behandelt werden kann. Dank der Therapie<br />
kann die Symptomatik verbessert<br />
und das Fortschreiten der CTX verhindert<br />
werden..<br />
Weitere Informationen zu CTX,<br />
dem Trockenbluttest sowie<br />
Hilfe für Betroffene finden Sie<br />
unter: www.ctxawareness.<br />
com/de und www.leadiant.de
14<br />
Blastische plasmazytoide<br />
dendritische Zellneoplasie<br />
„Mein größter<br />
Wunsch ist es,<br />
meine Kinder<br />
aufwachsen<br />
zu sehen“<br />
Fotos: privat<br />
Becki ist alleinerziehende<br />
Mutter von zwei kleinen<br />
Kindern. Im März 2022<br />
bekommt sie die Diagnose<br />
blastische plasmazytoide<br />
dendritische Zellneoplasie<br />
(BPDCN) – eine sehr<br />
seltene und meist aggressiv<br />
verlaufende hämatologische<br />
Neoplasie. Im Interview<br />
spricht sie über ihren<br />
Kampf gegen den Krebs<br />
und verrät ihre größten<br />
Wünsche für die Zukunft.<br />
Haben Sie vorher gemerkt, dass etwas nicht<br />
stimmt?<br />
Bereits im Oktober 2021 hatte ich einen komischen<br />
blauen Fleck auf dem Rücken, doch ich<br />
dachte mir da noch nichts dabei. Im Januar<br />
2022 bemerkte ich dann weitere blaue Flecken<br />
und es wurden immer mehr. Als Hitzewallungen,<br />
Nachtschweiß und Angstzustände hinzukamen,<br />
begann ich mir Sorgen zu machen<br />
und ging zu meinem Hausarzt.<br />
Konnte der Ihnen helfen?<br />
Er konnte weder <strong>mit</strong> den beschriebenen Symptomen<br />
noch <strong>mit</strong> den blauen Flecken etwas anfangen.<br />
Doch er schickte mich zu einer Biopsie<br />
beim Hautarzt. Zum Glück bekam ich recht<br />
schnell einen Termin. Und nachdem diese im<br />
Labor ausgewertet worden war, bekam ich die<br />
Diagnose BPDCN.<br />
Wie haben Sie darauf<br />
reagiert?<br />
Ich war schockiert. Ich hatte<br />
vermutet, dass ich ein Hautlymphom<br />
habe. Als ich hörte, es ist BPDCN, ein<br />
sehr seltener Blutkrebs, war ich am Boden<br />
zerstört, und die Angst zu sterben war allgegenwärtig.<br />
Weltweit gibt es weniger als 1.500<br />
Fälle pro Jahr. Zudem tritt es vorrangig bei älteren<br />
Männern auf. Ich frage mich immer wieder:<br />
Warum hat es ausgerechnet mich erwischt?<br />
Hatten Sie vorher schon einmal von<br />
BPDCN gehört?<br />
Nein, noch nie. Auch der Hautarzt, der die<br />
Biopsie gemacht hatte, kannte das nicht. Mein<br />
Hausarzt kannte über drei Ecken jemanden,<br />
der jemanden kannte, der auch BPDCN hatte.<br />
Was hat Ihnen geholfen, die Krankheit zu<br />
akzeptieren?<br />
Da ich wusste, dass ich Krebs hatte, bevor es<br />
diagnostiziert wurde, konnte ich den Krebs an<br />
sich akzeptieren. Dass es BPDCN war, machte<br />
mich schon fassungslos, da die Chancen, es<br />
zu überleben, nicht die besten sind. Doch ich<br />
bin eine Kämpferin und habe auch während<br />
der schlimmsten Momente nie meine positive<br />
Einstellung zum <strong>Leben</strong> verloren. Das hat mir<br />
während der gesamten Reise sehr geholfen.<br />
Und natürlich sind da noch meine wunderbaren<br />
Kinder. Schon für sie war die Option, einfach<br />
aufzugeben, nicht möglich.<br />
Wie ging es dann weiter?<br />
Ich habe mich über den Krebs und die Behandlung<br />
informiert. Es gibt nur wenige Behandlungsmöglichkeiten<br />
für BPDCN. Ich musste<br />
mich zusätzlichen Tests wie einer Knochenmarkbiopsie,<br />
einem Herzscan und<br />
Lungentests unterziehen, um das Ausmaß<br />
der Erkrankung und meine Eignung für eine<br />
Behandlung zu beurteilen.<br />
Welche Therapien haben Sie<br />
erhalten?<br />
Ich unterzog mich einer stationären<br />
Immuntherapie und einem 6,5-wöchigen<br />
Krankenhausaufenthalt <strong>mit</strong> Chemotherapie.<br />
Zudem erhielt ich auch eine intrathekale Chemotherapie,<br />
die direkt in die Rückenmarksflüssigkeit<br />
injiziert wurde, um zu verhindern,<br />
dass der Krebs mein Gehirn erreicht. Nachdem<br />
es mir besser ging, unterzog ich mich einer<br />
Stammzelltransplantation, für die meine<br />
Schwester meine Spenderin war. Ich danke<br />
ihr nach wie vor jeden Tag dafür – sie ist meine<br />
Heldin. Ich verbrachte von Mai bis Oktober<br />
etwa 3,5 Monate im Krankenhaus und zudem<br />
viel Zeit auf der Tagesstation. Ich habe am 21.<br />
Oktober 2022 nach einer anstrengenden Reise<br />
eine Remission erreicht. Heute nehme ich<br />
täglich viele Tabletten ein, muss aber nur für<br />
wöchentliche Untersuchungen ins Krankenhaus<br />
gehen. Dadurch habe ich endlich wieder<br />
Zeit für meine Kinder.<br />
Wie geht es Ihnen heute und was ist Ihr größter<br />
Wunsch?<br />
Heute bin ich krebsfrei und hoffe, dass dies ganz<br />
lange so bleibt. Ich erhole mich langsam, aber<br />
gut von all den Ereignissen der letzten Monate.<br />
Ich hatte gerade eine Knochenmarkbiopsie, die<br />
bestätigte, dass die Transplantation ein Erfolg<br />
war. Ich muss immer noch sehr vorsichtig <strong>mit</strong><br />
Menschen umgehen, wie zu COVID-Zeiten,<br />
um zu versuchen, Krankheiten zu vermeiden.<br />
Ich ermüde sehr schnell, bekomme Übelkeit<br />
und bin in den Wechseljahren. Aber ich bin<br />
relativ gesund und werde immer stärker. Mein<br />
Wunsch ist es, anderen Krebskämpfern Mut zu<br />
machen, sie darin zu bestärken, niemals aufzugeben.<br />
Und mein größter Wunsch ist es, lange<br />
genug da zu sein, um meine Kinder aufwachsen<br />
zu sehen..<br />
Redaktion Leonie Zell
15<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 15<br />
Experteneinblick<br />
Neue Hoffnung für BPDCN-Patienten<br />
Die blastische plasmazytoide dendritische Zellneoplasie (BPDCN) ist eine sehr seltene und<br />
meist aggressiv verlaufende hämatologische Neoplasie. Im letzten Jahr hat Dr. Daniel Schöndube<br />
zwei Patienten <strong>mit</strong> BPDCN behandelt. Bei der Seltenheit der Erkrankung sind das viele.<br />
Welche Beschwerden macht BPDCN bei den<br />
Betroffenen?<br />
Zu Beginn der Erkrankung haben die Patienten<br />
wenig Beschwerden. In der Regel treten Hautverfärbungen<br />
oder -knoten zuerst auf. Diese<br />
Hautmanifestationen breiten sich häufig über<br />
den Rumpf oder auch auf die Arme oder den<br />
Kopf aus. Im weiteren Verlauf kommen dann<br />
allgemeine Krankheitserscheinungen hinzu.<br />
Die Patienten gehen <strong>mit</strong> Schwäche oder anderen<br />
Symptomen zum Arzt, der dann weitere<br />
Untersuchungen vornimmt.<br />
Warum dauert es häufig recht lange, bis<br />
BPDCN erkannt wird?<br />
Die initiale Hautmanifestation wird oft nicht<br />
als schwerwiegend wahrgenommen, erst<br />
bei Zunahme der Hautbeteiligung oder aber<br />
bei Hinzutreten anderer Symptome erfolgt<br />
der Gang zum Arzt und eine weitere Diagnostik.<br />
Abgeschlagenheit, Knochenschmerzen,<br />
aber auch Fieber deuten dann bereits<br />
auf eine Beteiligung anderer Organe hin.<br />
Hierbei ist vor allem die Knochenmarkinfiltration<br />
zu nennen, welche zu Blutarmut<br />
oder Infektionen aufgrund der Verdrängung<br />
der normalen Blutbildung führt. Auch Manifestationen<br />
im zentralen Nervensystem<br />
sind schwerwiegend und müssen möglichst<br />
früh diagnostiziert und behandelt werden.<br />
Je mehr Organe beteiligt sind, umso belastender<br />
und auch gefährlicher ist die Therapie<br />
für die Patienten. Der Verlauf ist individuell<br />
jedoch sehr unterschiedlich.<br />
Wie wird die Diagnose gestellt?<br />
Die Diagnose der Erkrankung erfolgt in der Regel<br />
an Hautproben, aber auch an Proben des<br />
Knochenmarks oder anderer beteiligter Organe.<br />
Der Pathologe wird <strong>mit</strong>hilfe von Oberflächenmarkern,<br />
die sich auf den Zellen befinden,<br />
versuchen, die Erkrankung näher einzuordnen.<br />
Diese Oberflächenmarker – in der Regel <strong>mit</strong> CD<br />
(Cluster of Differentiation) und einer Nummer<br />
bezeichnet – sind membrangebundene Eiweiße,<br />
die sich in einem bestimmten Muster auf all unseren<br />
Zellen finden. Bei bösartigen <strong>Erkrankungen</strong><br />
ändern sich diese Oberflächenmerkmale<br />
und eine bestimmte Kombination dieser Marker<br />
erlaubt es, <strong>Erkrankungen</strong> eindeutig zuzuordnen.<br />
Die Diagnose einer BPDCN kann anhand<br />
der Kombination der Marker CD123, CD4,<br />
CD56 und des Fehlens anderer Marker gestellt<br />
werden.<br />
Dr. med. Daniel Schöndube<br />
Chefarzt Klinik für Hämatologie<br />
und Leiter Zentrum für Hämatologische<br />
Neoplasien im<br />
Helios Klinikum Bad Saarow<br />
Was passiert nach der Diagnosestellung?<br />
In der Regel erfolgt die stationäre Aufnahme in<br />
einem Zentrum für Hämatologische Neoplasien,<br />
verbunden <strong>mit</strong> einer umfangreichen Diagnostik,<br />
um die genaue Krankheitsausbreitung zu<br />
bestimmen. Dies beinhaltet bildgebende Verfahren,<br />
wie Computertomografie oder Magnetresonanztomografie,<br />
aber auch Knochenmarkpunktion<br />
und die Untersuchung des Hirnwassers.<br />
Bei dieser <strong>seltenen</strong> Erkrankung sind Leitlinien,<br />
in Deutschland die der Deutschen Gesellschaft<br />
für Hämatologie und Onkologie, sehr<br />
hilfreich. 1<br />
Relativ schnell sollte die Suche nach einem<br />
Knochenmark- oder Stammzellspender eingeleitet<br />
werden, um die Erkrankung nach einer<br />
initialen Therapie auch langfristig <strong>mit</strong>hilfe eines<br />
neuen Immunsystems kontrollieren zu können.<br />
Wie wurden Betroffene bisher therapiert?<br />
Die Klassifikation der Erkrankung erfolgt erst<br />
seit 2016 unter dem Namen BPDCN, vorher<br />
erfolgte die Einordnung unter verschiedenen<br />
anderen Namen. Aufgrund der Überlappung<br />
<strong>mit</strong> anderen, damals besser charakterisierten<br />
<strong>Erkrankungen</strong>, orientierte man sich an der<br />
Therapie von Blutkrebserkrankungen, wie zum<br />
Beispiel der akuten lymphatischen Leukämie.<br />
Diese Therapien waren sehr intensiv, bedeuteten<br />
oft einen langen Krankenhausaufenthalt<br />
und viele Komplikationen. Trotz initial guter<br />
Mit freundlicher Unterstützung von Stemline Therapeutics<br />
Erfolge rezidivierte die Erkrankung schnell und<br />
das Überleben der Patienten war sehr begrenzt.<br />
Die allogene Stammzelltransplantation, als<br />
Therapieoption für ausgewählte Patienten, verbesserte<br />
die Therapieerfolge, viele Patienten<br />
erreichten diesen Therapieschritt jedoch nicht.<br />
Welche neuen Behandlungsmöglichkeiten<br />
gibt es?<br />
Hier handelt es sich um sogenannte zielgerichtete<br />
Therapien. Nach der Infusion bindet das<br />
spezifische Medikament in der Regel direkt an<br />
die bösartigen Zellen, diese nehmen das Molekül<br />
auf und schädigen die Zellen, sodass diese<br />
sterben. In der Therapie der Erkrankung ist dies<br />
eine wichtige Therapieoption, insbesondere<br />
neben der allogenen Stamzelltransplantation.<br />
Die bekannten Nebenwirkungen klassischer<br />
Chemotherapie treten nicht auf. Aufgrund des<br />
spezifischen Wirkmechanismus werden Schäden<br />
an anderen Zellen und Organen möglichst<br />
vermieden. Das Ziel ist, dass eine höhere<br />
Zahl von Patienten ein gutes Ansprechen<br />
erreichen und eine allogene Stamzelltransplantation<br />
erhalten können. Diese ist weiterhin<br />
eine intensive und nebenwirkungsreiche<br />
Therapie, allerdings wird die Therapieund<br />
Krankheitskontrolle besser. Kann eine<br />
allogene Stammzelltransplantation nicht erfolgen,<br />
so kann die anfängliche zielgerichtete<br />
Therapie weitergeführt werden. Aufgrund der<br />
Seltenheit der Erkrankung müssen wir natürlich<br />
insgesamt die Langzeitergebnisse der<br />
Studien abwarten, um die ermutigenden Ergebnisse<br />
besser einordnen zu können. Auch<br />
erreichen nicht alle Patienten eine dauerhafte<br />
Krankheitskontrolle, sodass eine Entwicklung<br />
anderer spezifischer Therapien notwendig<br />
erscheint.<br />
Was bedeutet das für die <strong>Leben</strong>squalität der<br />
Patienten?<br />
Bei Diagnosestellung haben die meisten Patienten<br />
deutliche Beschwerden. Aufgrund des guten<br />
Ansprechens der zielgerichteten Therapie sistieren<br />
diese meist relativ schnell und schreiten<br />
nicht weiter voran, es treten weniger therapiebedingte<br />
Komplikationen auf. Die Therapie kann<br />
im Verlauf in kurzen Krankenhausaufenthalten<br />
oder sogar ambulant verabreicht werden. Die<br />
weitere <strong>Leben</strong>squalität hängt dann maßgeblich<br />
vom Ergebnis und den Nebenwirkungen der<br />
allogenen Stammzelltransplantation ab..<br />
1 Onkopedia, Blastische plasmazytoide dendritische Zellneoplasie (BPDCN), Januar 2022
16<br />
Hämophilie<br />
„Mit 15 Jahren fing mein <strong>Leben</strong> erst an“<br />
Foto: privat<br />
Herr Grote, wann wurde bei Ihnen Hämophilie<br />
diagnostiziert?<br />
Als ich ins Krabbelalter kam, das war in den<br />
50er-Jahren, bildeten sich bei mir riesige blaue<br />
Flecke, ich hatte Einblutungen an Armen und<br />
Beinen. Der Kinderarzt wusste nicht weiter und<br />
schickte meine Eltern und mich ins örtliche<br />
Krankenhaus. Weil die Ärzte auch dort überfragt<br />
waren, wurden wir in die Uniklinik Münster<br />
überwiesen. Dort wurde dann Hämophilie<br />
diagnostiziert.<br />
Als man bei Ulrich Grote Hämophilie diagnostizierte, sagten<br />
die Ärzte, dass er eine <strong>Leben</strong>serwartung von 14 Jahren hat.<br />
Heute ist er 68 Jahre alt.<br />
Redaktion Emma Howe<br />
Wie sind die Ärzte damals <strong>mit</strong> der Diagnose umgegangen?<br />
Ich bekam Bluttransfusionen, auch per Direktübertragung<br />
von meiner Mutter, die als Überträgerin<br />
der Krankheit sowieso schon einen stark verminderten<br />
Faktor-8-Gehalt hatte. Das brachte mir<br />
also gar nichts. Doch die Ärzte wussten es damals<br />
nicht besser.<br />
Wie hat sich die Erkrankung auf Ihre Kindheit<br />
ausgewirkt?<br />
Ich hatte keine normale Kindheit. Meine Eltern<br />
haben mich in Watte gepackt. Ihre große Angst,<br />
die absolut nachvollziehbar war, hat mich sehr<br />
eingeschränkt. Wegen der ständigen Gefahr, Einblutungen<br />
in den großen Gelenken zu erleiden,<br />
musste ich mich äußerst vorsehen. Zudem musste<br />
ich fast wegen jedem Zahnwechsel ins Krankenhaus.<br />
Einfach Kind sein – das hatte ich leider nicht.<br />
Was war das einschneidendste Erlebnis <strong>mit</strong> der<br />
Hämophilie?<br />
Ich habe mir zweimal hintereinander den Kopf<br />
gestoßen und daraus ist eine Gehirnblutung entstanden.<br />
Zum Glück war ich damals schon unter<br />
Faktor-8. Dadurch haben die Ärzte das sehr schnell<br />
in den Griff bekommen. 1973 habe ich gelernt,<br />
mich selbst zu spritzen – das war eine Revolution.<br />
Da<strong>mit</strong> fing für mich ein relativ normales <strong>Leben</strong> an.<br />
Wie hat sich die Therapie seitdem verändert?<br />
Ich spritze mich momentan zweimal pro Woche.<br />
Die Präparate sind so fortschrittlich, dass man es<br />
quasi nebenbei machen kann. Wenn Kinder heute<br />
<strong>mit</strong> Hämophilie auf die Welt kommen, können<br />
sie dank der modernen Therapiemöglichkeiten<br />
ein nahezu normales <strong>Leben</strong> führen – das ist natürlich<br />
unglaublich toll.<br />
Was gibt Ihnen die größte Sicherheit im <strong>Leben</strong>?<br />
An erster Stelle steht meine Frau, meine ganz<br />
große Liebe, und meine Freunde, Verwandten<br />
sowie mein kleiner Hund. Ich genieße es sehr,<br />
Hobbys und Leidenschaften zu haben und diese<br />
auch auszuleben. Meine größte Sehnsucht war<br />
immer, so normal wie möglich zu leben, und das<br />
ist dank der modernen Therapien wahr geworden<br />
– dafür bin ich sehr dankbar. .<br />
„Schaut nicht auf das, was nicht geht“<br />
Foto: privat<br />
Herr Wolf, bitte geben Sie uns einen Einblick in<br />
Ihre Kindheit und Jugend.<br />
Als Kind und Jugendlicher war ich immer sehr aktiv<br />
und hatte, tatsächlich auch aus diesem Grund,<br />
wenig Probleme oder Blutungen. Ob Schwimmen,<br />
Tennis, Tischtennis oder auch einfach nur<br />
Sport <strong>mit</strong> Freunden auf dem Bolz- oder Spielplatz,<br />
meine Muskulatur war gut genug ausgeprägt,<br />
um Verletzungen und Blutungen vorzubeugen,<br />
und Bewegung war für mich genau die<br />
richtige Ergänzung zur Prophylaxe.<br />
Benjamin Wolf ist 33 Jahre alt und hat eine schwere<br />
Hämophilie B. Einschränken lässt er sich durch seine<br />
Erkrankung nicht.<br />
Redaktion Leonie Zell<br />
Wie geht es Ihnen heute?<br />
Mein Motto lautet: Ein starker Muskel stützt die<br />
Gelenke und hilft gegen Verletzungen.<br />
Wie sieht Ihre persönliche Therapie aus und wie<br />
ist die Kommunikation <strong>mit</strong> Ihrem Arzt?<br />
Meine Behandlung stimme ich individuell <strong>mit</strong><br />
meinem Arzt ab. Im Hämophilie-Zentrum in<br />
Bonn bin ich bei einem sehr fortschrittlichen<br />
und proaktiven Zentrum sehr gut aufgehoben.<br />
Meine Ärzte sind immer gut für mich erreichbar.<br />
Das ist vor allem dann wichtig, wenn ich<br />
Unternehmungen wie eine Reise planen möchte.<br />
Über neue Faktorpräparate oder digitale Angebote<br />
für meine Therapie, wie zum Beispiel Apps<br />
zur Therapiedokumentation, werde ich eigentlich<br />
immer zeitnah informiert. So konnte ich an einer<br />
Testversion für eine App zur digitalen Dokumentation<br />
teilnehmen und führe nun schon viele<br />
Jahre meine Dokumentation per App durch.<br />
Welche Herausforderungen begegnen Ihnen?<br />
Das Thema Reisen und dabei spontane Entscheidungen<br />
treffen zu können ist wohl die größte<br />
Herausforderung. Work & Travel wäre für mich<br />
zum Beispiel kompliziert. Ich muss meine Urlaube<br />
gut planen, dabei helfen mir Informationen<br />
wie: Wo sind Behandlungszentren? Wie und wo<br />
bekomme ich meinen Faktor? Habe ich alle wichtigen<br />
Dokumente wie eine Zollbescheinigung<br />
dabei?<br />
Welche Tipps möchten Sie anderen Betroffenen<br />
geben?<br />
Schaut nicht immer auf das, was nicht geht, sondern<br />
vielmehr auf das, was geht. Es gibt viele interessante<br />
Sportarten wie Rudern oder Schwimmen.<br />
Sucht euch Hobbys und Berufe, in denen<br />
ihr trotz eventueller Einschränkungen aufgeht<br />
und die ihr gerne macht. Ein Blick in die Vergangenheit<br />
kann helfen und motivieren, weil es gerade<br />
jüngeren Betroffenen und deren Angehörigen<br />
aufzeigt, wie weit wir schon <strong>mit</strong> den uns zur<br />
Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten<br />
gekommen sind, Stichwort Heimselbstbehandlung<br />
und verlängerte Halbwertszeit der Faktorpräparate.<br />
Diese Möglichkeiten hatten die älteren<br />
Generationen noch nicht..
17<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 17<br />
Arzt und Patient:<br />
„Zusammenarbeit und<br />
Kommunikation fördern<br />
eine optimale Behandlung“<br />
Ein Interview <strong>mit</strong> Prof. Dr. Johannes Oldenburg.<br />
Prof. Dr.<br />
Johannes Oldenburg<br />
Facharzt für Transfusionsmedizin,<br />
Hämostaseologie und<br />
Medizinische Genetik,<br />
Direktor des Hämophilie-<br />
Zentrums Bonn<br />
Was ist der Unterschied zwischen Hämophilie<br />
A und B?<br />
Bei der Hämophilie A fehlt der Gerinnungsfaktor<br />
VIII, bei der Hämophilie B fehlt der<br />
Gerinnungsfaktor IX. Die Hämophilie A ist<br />
<strong>mit</strong> etwa 6.000 Patienten in Deutschland<br />
etwa siebenmal häufiger als die Hämophilie<br />
B <strong>mit</strong> etwa 800 Patienten. Jeweils etwa die<br />
Hälfte der Patienten hat eine schwere Verlaufsform.<br />
Die Blutungssymptome unterscheiden<br />
sich bei Hämophilie A und Hämophilie<br />
B nicht.<br />
Welche Symptomatik ist typisch für die<br />
Erkrankung?<br />
Insbesondere bei der schweren Verlaufsform<br />
sind Muskel- und Gelenkblutungen<br />
typisch. In <strong>seltenen</strong> Fällen können auch lebensbedrohliche<br />
Blutungen in innere Organe<br />
oder auch in das Gehirn auftreten. Diese<br />
Blutungen können auch spontan, also ohne<br />
äußeren Anlass, geschehen. Besondere Bedeutung<br />
haben die Gelenkblutungen, da<br />
diese über die Jahre zu bleibenden Gelenkschäden<br />
und Behinderungen führen können.<br />
Wie wird die Hämophilie diagnostiziert?<br />
In der Regel fallen Säuglinge dadurch auf,<br />
dass beim Krabbeln vermehrt blaue Flecken<br />
entstehen. Oft gibt es in der Familie aber<br />
auch schon Betroffene <strong>mit</strong> einer Hämophilie,<br />
sodass bei Neugeborenen direkt entsprechende<br />
Tests durchgeführt werden.<br />
Wie sieht die Hämophilie-Therapie heute<br />
aus?<br />
Die Hauptform der Behandlung ist eine vorbeugende<br />
Vermeidung von Blutungen durch<br />
die regelmäßige Gabe von Faktorenkonzentraten<br />
bzw. bei der Hämophilie A alternativ die<br />
Behandlung <strong>mit</strong> einem monoklonalen Antikörper.<br />
Diese Medikamente werden im Rahmen<br />
der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung<br />
von den Patienten – oder bei kleinen Kindern<br />
von den Eltern – selbst zu Hause verabreicht.<br />
Warum ist die Arzt-Patienten-Kommunikation<br />
so wichtig, und wie kann diese bestmöglich<br />
gewährleistet werden?<br />
Die Hämophilie ist eine lebenslang bestehende<br />
Erkrankung. Die Blutungsfolgen, insbesondere<br />
der Gelenkblutungen, zeigen sich oft erst<br />
nach vielen Jahren. Daher ist es wichtig, Blutungen<br />
im Idealfall durch eine gute Behandlung<br />
nahezu vollständig zu vermeiden. Hierfür<br />
ist die Betreuung in Hämophilie-Zentren<br />
wichtig, da dort die notwendige Erfahrung<br />
<strong>mit</strong> dem Krankheitsbild bzw. -verlauf und<br />
den Medikamenten besteht. In Hämophilie-Zentren<br />
stehen in der Regel auch Teams<br />
aus Gerinnungsspezialisten, Orthopäden,<br />
Physiotherapeuten und anderen Fachdisziplinen<br />
zur Verfügung, um multidisziplinär<br />
die Erkrankung optimal zu behandeln. Ganz<br />
wichtig ist auch die Mitarbeit des Patienten<br />
selbst, denn die Behandlung erfolgt lebenslang<br />
und schon wenige Blutungen können<br />
Jahre später zu irreversiblen Gelenkschäden<br />
führen. Die Kommunikation sollte partnerschaftlich<br />
sein, da nur die gute Zusammenarbeit<br />
und Kommunikation von Arzt und Patient<br />
bei dieser chronischen Erkrankung ein<br />
gutes Behandlungsergebnis gewährleistet.<br />
Unterstützt wird die Patienten-Arzt-Kommunikation<br />
durch moderne Apps, bei denen<br />
der Patient in Echtzeit seine Behandlung<br />
und auch seine Blutungen dokumentieren<br />
kann sowie weitere Informationen festhalten<br />
kann. Diese Apps können auch die aktuelle<br />
Faktorenaktivität und da<strong>mit</strong> den Schutz vor<br />
Blutungen bzw. den Zeitpunkt der nächsten<br />
Medikamentengabe anzeigen. Das Telefon<br />
bleibt aber im Notfall das wichtigste Kommunikationswerkzeug<br />
<strong>mit</strong> dem Zentrum, um<br />
direkt die notwendigen Maßnahmen einzuleiten..<br />
Redaktion Leonie Zell<br />
LIBERATION MAP<br />
Leitfaden für Patienten – Optimieren<br />
Sie Ihre Arztgespräche und Ziele<br />
Für wen wurde die<br />
Liberation Map entwickelt?<br />
Die Liberation Map ist für Hämophilie-Patienten<br />
und Eltern<br />
von Kindern <strong>mit</strong> Hämophilie<br />
entwickelt worden. Sie wurde<br />
gemeinsam <strong>mit</strong> Patienten<br />
und Behandlern erarbeitet<br />
und in drei europäischen Hämophilie-Zentren<br />
getestet.<br />
Was ist die Liberation Map?<br />
Die Liberation Map ist ein<br />
kurzes Quiz <strong>mit</strong> acht Fragen.<br />
Mittels einer Skala von 1 bis 5<br />
können Sie Ihre aktuelle Zufriedenheit<br />
in acht verschiedenen<br />
Kategorien bewerten,<br />
um so zu erkennen, in welchen<br />
<strong>Leben</strong>sbereichen Sie<br />
sich eine Verbesserung wünschen.<br />
Am Ende des Quiz erhalten<br />
Sie eine auf Sie persönlich<br />
zugeschnittene Map.<br />
Die treffendste Antwort ist<br />
meist diejenige, die Ihnen<br />
zuerst einfällt. Es gibt<br />
keine richtige oder falsche<br />
Antwort!<br />
Wo finde ich zusätzliche<br />
Infos zu den Bereichen, die<br />
ich verbessern möchte?<br />
Jede Kategorie der Liberation<br />
Map ist <strong>mit</strong> vielen nützlichen<br />
Informationen verlinkt, die Sie<br />
bei Ihrer Hämophilie-Behandlung<br />
und Ihren Zielen unterstützen<br />
können.<br />
Kann ich meine Liberation<br />
Map speichern?<br />
Sie können Ihre persönliche<br />
Map auf dem Computer oder<br />
Smartphone speichern, ausdrucken<br />
und zum nächsten<br />
Termin <strong>mit</strong>nehmen.<br />
Was geschieht <strong>mit</strong> meinen<br />
Daten?<br />
Es ist keine Registrierung notwendig,<br />
um die Liberation<br />
Map zu nutzen. Entsprechend<br />
unseren Richtlinien<br />
werden Ihre Daten nicht weitergegeben<br />
oder gespeichert.<br />
Hier geht es zur Liberation Map:<br />
www.liberatelife.de/deine-liberation-map
18<br />
Lebersche hereditäre<br />
Optikusneuropathie<br />
„Selten,<br />
aber nicht allein“<br />
Als Nadine Rokstein 16 Jahre alt ist, bekommt sie Probleme<br />
<strong>mit</strong> den Augen. Anfangs denkt sie sich nichts dabei und geht<br />
zum Augenarzt. Dass die seltene Erkrankung LHON<br />
dahintersteckt, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.<br />
Redaktion Emma Howe<br />
Nadine, wann und wie haben Sie bemerkt,<br />
dass Sie nicht mehr so gut sehen können?<br />
Das war ca. im November 2011. Ich war zu diesem<br />
Zeitpunkt 16 und wollte mich abends für<br />
eine Party fertig machen. Als ich mich schminken<br />
wollte, merkte ich beim Auftragen der<br />
Wimperntusche, dass auf dem linken Auge fast<br />
alles Dunkel war. Ich konnte kaum Licht wahrnehmen.<br />
Im Alltag ist dies kaum aufgefallen,<br />
da das rechte Auge noch nicht betroffen war<br />
und so<strong>mit</strong> das linke Auge ausgleichen konnte.<br />
Der Weg bis zur Diagnose war nicht leicht.<br />
Bitte erzählen Sie uns davon.<br />
Fünf Monate habe ich auf eine Diagnose<br />
„gewartet“. Gewartet bedeutet nicht, dass ich<br />
Däumchen gedreht habe. Es waren unzählige<br />
Tests nötig. Vor allem weil LHON oft <strong>mit</strong> MS<br />
oder einem Hirntumor verwechselt wird. Dies<br />
musste ausgeschlossen werden. Ich habe im<br />
Dezember die meiste Zeit im Krankenhaus<br />
gelegen und durfte über die Feiertage wieder<br />
nach Hause. Von Kortison-Stoßtherapien über<br />
Lumbalpunktionen bis hin zur Plasmapherese<br />
war alles dabei. Mein letzter Aufenthalt im<br />
Krankenhaus war im Februar 2012. Die Diagnose<br />
bekam ich dann Anfang März.<br />
Die Diagnose wurde durch einen Gentest gestellt.<br />
Wie wurde dieser durchgeführt?<br />
Von dem Gentest habe ich nichts <strong>mit</strong>bekommen.<br />
In dieser Zeit wurde mir ständig Blut abgenommen,<br />
sodass ich gar nicht sagen kann,<br />
welche Abnahme letztendlich dafür verantwortlich<br />
war. Ich habe mich über ein Pharmaunternehmen<br />
informiert, wie die Diagnostik<br />
verläuft. Da ich die Mutation 11778 habe,<br />
konnte meine Diagnostik über die Sequenzanalyse<br />
nach Sanger stattfinden. Mit dieser sind<br />
die drei typischen Mutationsformen erkennbar.<br />
Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie die<br />
Diagnose erhalten haben? Hatten Sie vorher<br />
schon einmal von LHON gehört?<br />
Nein, LHON war mir genauso unbekannt, wie<br />
es da draußen wahrscheinlich für einige Leser<br />
ist. Seltene <strong>Erkrankungen</strong><br />
gehören leider nicht zum Lernstoff<br />
in Biologie.<br />
Die Diagnose war wie ein Faustschlag,<br />
weil ich da<strong>mit</strong> einfach nicht gerechnet<br />
hatte. Ich war vor der Bekanntmachung<br />
noch davon ausgegangen, dass es irgendwelche<br />
Tabletten geben würde und ich dann<br />
mein gewohntes <strong>Leben</strong> fortführen kann. Dass<br />
es nicht so sein würde, löste ein großes Gefühlschaos<br />
aus.<br />
Wie sind Sie da<strong>mit</strong> umgegangen?<br />
Mein <strong>Leben</strong> war von Kunst und Kreativität<br />
geprägt. Ich wollte Fotografin werden, Fotografie<br />
und Medien studieren und machte<br />
gerade einen Abschluss in Gestaltung. Dies<br />
als Sturkopf alles abzubrechen und mich<br />
von meinem Traum zu verabschieden, war<br />
nicht leicht. Plötzlich sollte ich in eine Werkstatt<br />
für behinderte Menschen, sollte auf<br />
eine spezielle Schule und ich habe Freunde<br />
verloren. Es war keine einfache Zeit und<br />
ich war weiß Gott kein einfacher Mensch.<br />
Aber ich habe mich <strong>mit</strong>tlerweile gefunden.<br />
Wie wurden und werden Sie therapiert?<br />
Damals habe ich ein Medikament bekommen,<br />
da das bei mir aber keinen Effekt erzielt hat,<br />
habe ich die Therapie abgebrochen. Für mich<br />
war das ein wichtiger Schritt. Dadurch habe ich<br />
gelernt, meine Erblindung zu akzeptieren. Es<br />
gibt jedoch Studien <strong>mit</strong> vielversprechenden Daten<br />
zu einer neuen Gentherapie. Weitere Informationen<br />
darüber findet man u. a. auf der Website<br />
der Selbsthilfegruppe PRO RETINA e. V.<br />
Wie geht es Ihnen heute <strong>mit</strong> der Erkrankung?<br />
Mir geht es gut. Damals ist alles sehr schnell<br />
gegangen. Die Diagnose habe ich im März<br />
bekommen, das zweite Auge war schon im<br />
Februar betroffen und kurz nach der Diagnose<br />
galt ich bereits als blind. In Deutschland<br />
gilt man ab einem gemessenen Visus von zwei<br />
Prozent und weniger als blind. Das hat sich bis<br />
Mehr von Nadine:<br />
www.instagram.com/<br />
stoeckchen_<strong>mit</strong>_lhon,<br />
www.stockundstein.<br />
org<br />
heute nicht mehr verändert.<br />
Ich habe nach dem Studium<br />
der Sozialen Arbeit ein paar<br />
Jahre in dem Beruf gearbeitet. Mittlerweile<br />
studiere ich Journalismus, schreibe<br />
Kolumnen, bin Aktivistin für Inklusion und<br />
kläre auf diversen Plattformen über Sprache,<br />
Behinderungen und Antidiskriminierung auf.<br />
Welchen Rat möchten Sie anderen Betroffenen<br />
geben?<br />
Ihr dürft wütend, traurig und ratlos sein.<br />
All eure Gefühle sind valide. Aber <strong>mit</strong> einer<br />
Behinderung seid ihr nicht weniger wert. Und<br />
vor allem seid ihr nicht allein. Auch wenn<br />
sich das <strong>mit</strong> einer <strong>seltenen</strong> Erkrankung oft so<br />
anfühlen kann. Wir sind da draußen und wir<br />
sind ca. vier Millionen Menschen in Deutschland.<br />
Es gibt Gruppen und Selbsthilfeorganisationen,<br />
die sich <strong>mit</strong> LHON beschäftigen.<br />
Sei es auf Social Media, die PRO RETINA<br />
Deutschland e. V. oder der LHON Deutschland<br />
e. V..<br />
LHON-Fakten<br />
Foto: privat<br />
• LHON ist eine seltene, <strong>mit</strong>ochondriale Erkrankung,<br />
die durch eine Sehnervstörung<br />
zu einer massiven Visusminderung im<br />
zentralen Gesichtsfeld führen kann. Dies<br />
wird durch eine Mutation im Erbgut verursacht,<br />
welche sich im Folgenden auf den<br />
Sehnerv und da<strong>mit</strong> auf das Sehvermögen<br />
des Betroffenen auswirkt.<br />
• In der Forschung geht man von einer<br />
Prävalenz von 1:50.000 auf. Man schätzt,<br />
dass es in Deutschland jährlich rund 80<br />
Neuerkrankungen gibt.<br />
• Männer sind rund viermal häufiger von<br />
einer LHON betroffen als Frauen.<br />
Weitere Informationen unter: www.proretina.de<br />
und www.lhon-deutschland.de
Anzeige<br />
19<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 19<br />
GENTHERAPIEN<br />
bei <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
der Netzhaut<br />
GenSight Biologics ist ein französisches Biotechnologie-<br />
Unternehmen, das sich auf die Entdeckung, Entwicklung<br />
und Vermarktung neuartiger Therapien für Patientinnen und<br />
Patienten <strong>mit</strong> schweren neurodegenerativen <strong>Erkrankungen</strong><br />
der Netzhaut spezialisiert hat. Dabei fokussieren sich die innovativen<br />
Therapieansätze besonders auf Patientinnen und<br />
Patienten <strong>mit</strong> Leberscher hereditärer Optikusneuropathie<br />
(LHON) und Retinitis pigmentosa.<br />
Neue Gentherapie für Patientinnen und Patienten<br />
<strong>mit</strong> Leberscher hereditärer Optikusneuropathie<br />
Eine Gentherapie beinhaltet den Transfer von Genen in Zellen,<br />
entweder um defekte Gene zu ersetzen, die eine Krankheit<br />
verursachen (z. B. weil sie kein funktionsfähiges Protein herstellen),<br />
oder um therapeutische Proteine lokal zu produzieren.<br />
Für LHON-Patientinnen und -Patienten befindet sich<br />
derzeit eine Gentherapie, die aus der Forschung am Institut<br />
de la Vision in Paris hervorgeht und in einem klinischen Studienprogramm<br />
bei mehr als 200 Patientinnen und Patienten<br />
<strong>mit</strong> LHON entwickelt wurde, im europäischen Zulassungsprozess.<br />
Der gentherapiebasierte Ansatz ist so konzipiert,<br />
dass beide Augen <strong>mit</strong>tels einer intravitrealen Injektion behandelt<br />
werden. Ziel ist es, den Patientinnen und Patienten eine<br />
nachhaltige Wiederherstellung des Sehvermögens und eine<br />
weitgehende Verbesserung der <strong>Leben</strong>squalität zu ermöglichen.<br />
Der Antrag für die Marktzulassung ist eingereicht und<br />
wird derzeit von der europäischen Arznei<strong>mit</strong>telagentur (EMA)<br />
begutachtet.<br />
Neben der Gentherapie für LHON-Betroffene untersucht<br />
GenSight Biologics eine Behandlung zur Wiederherstellung<br />
des Sehvermögens bei Patientinnen und Patienten, die an<br />
Retinitis pigmentosa leiden.<br />
A LEADING GENE THERAPY BIOTECHNOLOGY COMPANY<br />
GENSIGHT-BIOLOGICS.COM
20<br />
Duchenne-Muskeldystrophie<br />
Ja zum <strong>Leben</strong> –<br />
trotz seltener<br />
Erkrankung<br />
Trotz der häufig massiven krankheitsbedingten<br />
Einschränkungen zeigen Menschen <strong>mit</strong> Duchenne-<br />
Muskeldystrophie (DMD) oft eine außerordentlich<br />
lebensbejahende Haltung und ausgeprägten<br />
<strong>Leben</strong>smut. Einer von ihnen ist Benni.<br />
Redaktion Kristina Kempf<br />
Benni Over ist ein Botschafter<br />
für die Orang-Utans. Seit<br />
mehreren Jahren setzt er<br />
sich für die Rettung der rothaarigen<br />
Waldmenschen<br />
und ihren <strong>Leben</strong>sraum, den<br />
Regenwald, ein und kämpft da<strong>mit</strong> auch für<br />
eine bessere Welt für uns alle. Benni hat Duchenne-Muskeldystrophie,<br />
sitzt seit seinem<br />
zehnten <strong>Leben</strong>sjahr im Rollstuhl und kann<br />
nur seine Finger bewegen. Seit einem Herzstillstand<br />
im Dezember 2016 und einem lebensrettenden<br />
Luftröhrenschnitt ist Benni<br />
hauptsächlich auf ein Beatmungsgerät angewiesen.<br />
Aber all das hält ihn nicht auf!<br />
Für Benni begann alles <strong>mit</strong> einem Zoobesuch,<br />
bei dem er in die Augen eines Orang-<br />
Utans blickte und sich daran erinnerte, wie<br />
er seine Seele, sein Charisma und seine<br />
Loyalität spürte. Zu Hause angekommen,<br />
erforschte er die Tiere und saugte alles<br />
Wissen auf. Der Traum war geboren, diese<br />
Lebewesen einmal zu erleben – außerhalb<br />
eines Zoos. Benni und sein Vater veröffentlichten<br />
das Kinderbuch „Henry rettet<br />
den Regenwald“ über die Orang-Utans und<br />
die Zerstörung ihres <strong>Leben</strong>sraums – vor<br />
allem durch die Abholzung der Wälder zur<br />
Palmölgewinnung. Das Buch soll die Leser<br />
für ihre Verantwortung gegenüber der Natur<br />
sensibilisieren. Jeder kann etwas tun.<br />
Man kann zum Beispiel frisch kochen und<br />
darauf achten, dass man keine palmölhaltigen<br />
Produkte im Supermarkt kauft. Das<br />
ist nicht einfach, denn Palmöl ist in einer<br />
Vielzahl von Produkten enthalten, von Fertiggerichten<br />
über Süßigkeiten bis hin zu<br />
Wasch<strong>mit</strong>teln und Kosmetika. Aber der Verzicht<br />
auf Palmöl könnte die Industrie zum<br />
Umdenken zwingen.<br />
Der Fortbestand der Regenwälder ist für<br />
uns alle lebenswichtig, denn in den Bäumen<br />
und Böden der Regenwälder sind<br />
große Mengen an Kohlendioxid<br />
gespeichert. Wenn die<br />
Wälder abgeholzt werden, können<br />
sie kein CO2 mehr aufnehmen.<br />
Der Regenwald beherbergt nicht nur zahlreiche<br />
Tier- und Pflanzenarten, sondern<br />
spielt auch eine wichtige Rolle im globalen<br />
Kohlenstoffkreislauf.<br />
Normalerweise hält Benni persönliche Vorträge,<br />
zum Beispiel in Schulen, und gibt sein<br />
Wissen und seine Erfahrungen weiter, auch<br />
als Denkanstoß. Bei der COVID-Pandemie<br />
wurden er und seine Familie vor eine große<br />
Herausforderung gestellt. Aufgrund seiner<br />
Krankheit musste Benni besonders geschützt<br />
werden. Das bedeutete monatelange<br />
Isolation. Und hier kam zum Glück<br />
die Digitalisierung ins Spiel. Die Eltern<br />
von Benni organisierten Zoom-Treffen <strong>mit</strong><br />
Freunden und Bekannten. Sie schwelgten<br />
in Erinnerungen, redeten, planten und<br />
fühlten sich dadurch wieder näher.<br />
Doch das war Benni nicht genug. Er bot seine<br />
sonst live gehaltenen Vorträge online an.<br />
Die Zielgruppe waren Seniorenheime und<br />
Schulen. Alles konnte nun online stattfinden.<br />
Die Berichte wurden <strong>mit</strong> eindrucksvollen<br />
Videos gekrönt, sodass es für jeden<br />
anschaulich wurde, warum der Regenwald<br />
für uns alle so immens wichtig ist.<br />
Die COVID-Zeit war herausfordernd und<br />
Benni hat einmal mehr bewiesen, dass er<br />
neue Wege gehen und flexibel reagieren<br />
kann. Die Digitalisierung hat ihm auch<br />
geholfen, in regelmäßiger Kommunikation<br />
<strong>mit</strong> Indonesien zu stehen, sodass er immer<br />
über die neuesten Fortschritte und Entwicklungen<br />
informiert war. Lasst uns alle Benni<br />
als Inspiration nehmen. Lasst uns die Welt<br />
zu einem besseren Ort machen. Lasst uns<br />
träumen und handeln und lasst uns unseren<br />
täglichen Luxus überdenken und auf<br />
Dinge verzichten, die unserem<br />
Planeten schaden.<br />
Benni möchte etwas bewegen<br />
und weiß: Jeder kann etwas<br />
tun, um die Welt ein bisschen besser zu<br />
machen – schließen Sie sich ihm an? .<br />
Buchtipp<br />
Fotos: privat<br />
Benni liebt Orang-Utans so sehr, dass er<br />
die rothaarigen Menschenaffen unbedingt<br />
einmal in ihrer Heimat auf der Insel Borneo<br />
besuchen will – trotz der unheilbaren Erbkrankpheit<br />
DMD. Wie Benni dennoch 15.000<br />
Kilometer weit im Rollstuhl nach Indonesien<br />
reist, davon erzählt dieses Buch. Seine<br />
Familie und Helfer machen das Unmögliche<br />
möglich und so besucht er Orang-Utan-<br />
Camps, trifft Umweltschützer, begegnet den<br />
einheimischen Dayak und begeistert ganze<br />
Schulklassen <strong>mit</strong> seinem intensiven <strong>Leben</strong>smut.<br />
Mit seiner Offenherzigkeit und seiner inneren<br />
Stärke reißt er andere Menschen <strong>mit</strong>,<br />
ohne dass er viele Worte machen muss.<br />
Im Rollstuhl zu den Orang-Utans<br />
ISBN-10: 386196760X
Jeder Tag zählt!<br />
Duchenne-Muskeldystrophie<br />
erkennen<br />
WAS IST DUCHENNE<br />
MUSKELDYSTROPHIE (DMD)? 1–4<br />
Hinter Entwicklungsverzögerungen, speziell bei Jungen,<br />
kann mehr stecken. Auch wenn sich eine verzögerte<br />
Entwicklung in den wenigsten Fällen auf eine ernsthafte<br />
Erkrankung zurückführen lässt, kann in vereinzelten Fällen<br />
eine seltene genetische Erkrankung <strong>mit</strong> dem Namen<br />
Duchenne-Muskeldystrophie (kurz DMD) der Grund sein.<br />
DUCHENNE UND ICH –<br />
NUR EIN KLICK ENTFERNT<br />
Neue App zur Unterstützung von<br />
Duchenne-Patienten und ihren Familien!<br />
Sie oder Ihr Kind leiden<br />
an Duchenne-Muskeldystrophie?<br />
Die neue App<br />
„Duchenne und ich“<br />
unterstützt Sie <strong>mit</strong> wichtigen<br />
Informationen und weiteren<br />
Zusatzfunktionen<br />
Gastbeitrag<br />
Aber was ist DMD? Es handelt sich dabei um eine schwere und lebensbedrohende<br />
Erkrankung, die bei ungefähr einem von 3.600 bis 6.000<br />
männlichen Neugeborenen auftritt. Durch eine Veränderung in der<br />
Erbsubstanz fehlt das Muskelprotein Dystrophin. Als Folge kommt<br />
es bei Jungen ab der frühesten Kindheit zum Abbau der Bewegungsund<br />
später zum Abbau der Atem- und Herzmuskulatur. In anderen<br />
Worten: Die Muskelschwäche nimmt im Laufe der Zeit zu und breitet sich auf den<br />
ganzen Körper aus. Einmal zugrunde gegangene Muskeln können nicht wieder repariert<br />
werden. Deswegen ist es so wichtig, die Erkrankung früh zu erkennen, um das<br />
Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.<br />
1. Alle Daten auf einen Blick<br />
2. Hilfebereich & Notfallkontakte<br />
3. Persönliche Assistenz<br />
beantwortet Fragen<br />
4. Keine externe Datenspeicherung<br />
Zum kostenlosen<br />
Download bei:<br />
Verlust der<br />
Gehfähigkeit<br />
Rollstuhlpflicht<br />
Lungen- und<br />
Herzkomplikationen<br />
DER NEUE BEGLEITER FÜR<br />
ALLE DUCHENNE-PATIENTEN!<br />
DMD führt zu einem progredienten Verlust der<br />
körperlichen Funktionsfähigkeit über definierte<br />
Erkrankungsstadien<br />
Vorzeitige Sterblichkeit<br />
(3. <strong>Leben</strong>sjahrzehnt)<br />
Die frühen Zeichen der DMD zu erkennen, ist eine Herausforderung, denn die DMD ist<br />
anfänglich schwer zu diagnostizieren und „unspezifisch“ in Form von Entwicklungsverzögerungen<br />
im Vergleich zu Gleichaltrigen. Kinder <strong>mit</strong> DMD können bei der Geburt<br />
normal erscheinen und erreichen sehr frühe Meilensteine der motorischen Entwicklung.<br />
Unspezifische Frühsymptome können jedoch bereits im Säuglingsalter<br />
auftreten. Üblicherweise treten erste Symptome im Alter von zwei bis drei Jahren auf.<br />
Bei der U7-Untersuchung können frühe Anzeichen und Symptome festgestellt werden.<br />
Die U7 erfolgt für gewöhnlich zwischen dem 21. und 24. <strong>Leben</strong>smonat. Neben<br />
einer körperlichen Untersuchung wird besonders auf die geistige Entwicklung sowie<br />
die Entwicklung der Sprache geachtet.<br />
Zu den frühen Zeichen einer möglichen DMD gehören Verzögerungen beim Sprechen,<br />
Bewegen und Lernen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen wirken Kinder <strong>mit</strong> DMD<br />
.<br />
weniger geschickt, schneller erschöpft und insgesamt „langsamer“. Der Kinderarzt<br />
wird bei Verdacht einen einfachen Bluttest, den sogenannten CK-MM-Test, durchführen.<br />
17<br />
0010<br />
0100<br />
Dashboard<br />
Zusammenfassende Liste relevanter Daten<br />
zu Gesundheit und Wohlbefinden<br />
Zeitplan<br />
Strukturieren Sie Tag und Termine, speichern Sie<br />
Medikamenteneinnahme und Aktivitäten<br />
Medizinische Daten<br />
Gelangen Sie <strong>mit</strong> nur einem Klick zu medizinischen<br />
Daten und fügen Sie Behandlungsdetails hinzu<br />
Persönliche Assistenz<br />
Lassen Sie sich von der integrierten persönlichen<br />
Assistenz offene Fragen beantworten<br />
Notfallinformationen<br />
Seien Sie für Notfälle gewappnet! Informationen<br />
und Ansprechpartner zu Duchenne<br />
Weitere Informationen zur Duchenne-<br />
Muskeldystrophie finden Sie unter:<br />
www.hinterherstattvolldabei.de,<br />
www.duchenne.de und www.ptcbio.de<br />
Privatsphäre<br />
Die eingegebenen Daten werden nur auf Ihrem<br />
Handy gespeichert – eine externe Speicherung<br />
auf Servern erfolgt nicht<br />
Die App „Duchenne und ich“ wird von PTC Therapeutics bereitgestellt und unterstützt.<br />
Sie soll Duchenne-Patienten und deren Angehörigen zur Seite stehen, ihren Alltag<br />
erleichtern und zur Verbesserung der <strong>Leben</strong>squalität beitragen.
22<br />
Hereditäres Angioödem<br />
„Den Attacken<br />
vorbeugen“<br />
Die plötzlichen Schwellungsattacken des Hereditären<br />
Angioödems, kurz HAE, begannen bei Franziska von<br />
Werder bereits in der Jugend. Im Interview spricht<br />
sie über ihr <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> der <strong>seltenen</strong> Erkrankung.<br />
Redaktion Leonie Zell<br />
Franziska, Sie sind einer von etwa 1600<br />
Patienten in Deutschland <strong>mit</strong> der Diagnose<br />
HAE. Mit welchen Symptomen hat sich die<br />
seltene, genetische Erkrankung erstmals bei<br />
Ihnen gezeigt?<br />
Meine erste Attacke hatte ich <strong>mit</strong> 14 Jahren. Mit<br />
der Einnahme der Anti-Baby-Pille bekam ich<br />
Schwellungen im Gesicht, meine Lippe war fünfmal<br />
so dick und ich wurde sofort ins Krankenhaus<br />
gebracht. Da meine Mutter ebenfalls betroffen ist,<br />
war schnell klar, dass ich auch HAE habe. Dieses<br />
„Glück“ hat ja aber nicht jeder. Ich weiß, dass viele<br />
Betroffene von Arzt zu Arzt laufen und es teilweise<br />
Jahre dauert, bis sie eine Diagnose erhalten.<br />
Wie äußern sich Attacken?<br />
Bei mir sind es meistens Attacken in den Extre<strong>mit</strong>äten,<br />
in den Händen und Füßen. Manchmal sind<br />
auch die Unterarme und Ellenbogen betroffen.<br />
In den letzten Jahren kamen Magenattacken hinzu.<br />
Dabei schwillt der Magen an, was starke Magenkrämpfe<br />
und Erbrechen zur Folge hat.<br />
Welche Herausforderungen gibt es für Menschen<br />
<strong>mit</strong> HAE?<br />
HAE ist selten und an seltene Dinge denkt man<br />
erst, nachdem man an die häufigen Dinge gedacht<br />
hat. Das ist aber nicht das eigentliche<br />
Problem, denn das geht vielen Patienten <strong>mit</strong><br />
vielen verschiedenen <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
so. Nun kommt beim Hereditären Angioödem<br />
dazu, dass die Ausprägung ganz unterschiedlich<br />
sein kann. Es gibt also Patienten, die haben<br />
vornehmlich oder ausschließlich Schwellungen<br />
im Bauchraum. Das ist etwas ganz anderes als die<br />
Lage bei Patienten, bei denen vornehmlich die<br />
Hände schwellen oder die Lippe oder die Augen.<br />
Die gehen vielleicht auch zu ganz unterschiedlichen<br />
Ärzten. Der erste Patient geht vielleicht<br />
zu einem Gastroenterologen, weil er zu Recht<br />
denkt, da ist irgendetwas nicht richtig <strong>mit</strong> dem<br />
Verdauungstrakt, und der nächste geht vielleicht<br />
zu einem Allergologen, weil er denkt, irgendwas<br />
ist doch da, was mich andauernd anschwellen<br />
Die Attacken machen das <strong>Leben</strong><br />
weniger planbar und können<br />
theoretisch auch lebensbedrohlich<br />
werden. Persönlich habe ich<br />
mich aber nie wirklich eingeschränkt gefühlt.<br />
Durch meine familiäre Vorbelastung bin ich<br />
früh von Experten betreut worden, die sich gut<br />
<strong>mit</strong> HAE auskannten. Ich hatte immer meine<br />
Akutmedikation dabei und konnte ein relativ<br />
normales <strong>Leben</strong> führen. Aber als ich in eine andere<br />
Stadt gezogen bin, habe ich auch anderes<br />
erlebt. Da musste ich den Ärzten erklären, was<br />
HAE ist und auch, dass manche Therapievorschläge<br />
nicht helfen, beispielsweise Kortison.<br />
Wie werden Sie therapiert?<br />
Anfangs hatte ich eine Akuttherapie. Immer<br />
wenn ich eine Attacke hatte, bekam ich eine<br />
Spritze, intravenös. Später bin ich auf ein subkutanes<br />
Mittel gewechselt. Immer wenn ich eine<br />
Attacke hatte, habe ich mich subkutan gespritzt.<br />
Wie offen gehen Sie <strong>mit</strong> der Erkrankung um?<br />
Eigentlich sehr offen. Sowohl mein Arbeitgeber<br />
als auch alle meine Freunde wissen Bescheid.<br />
Fotos: privat<br />
Schwellungen, beispielsweise<br />
an der Hand, sind ja auch<br />
nicht zu übersehen. Natürlich<br />
ist es mir auch etwas unangenehm,<br />
weil es nicht schön aussieht, wenn man<br />
eine dicke Ballonhand hat. Wenn jemand Außenstehendes<br />
fragt, was das ist, beantworte ich immer<br />
gern jede Frage dazu. Mir ist es wichtig, über<br />
HAE aufzuklären.<br />
Gibt es Situationen, in denen Sie sich eingeschränkt<br />
fühlen?<br />
HAE schränkt mich eigentlich gar nicht ein.<br />
Durch meine Therapie kann ich ein normales <strong>Leben</strong><br />
führen. Das Wichtigste ist, dass Betroffene<br />
schnell eine Diagnose erhalten. Denn wenn die<br />
Diagnose einmal steht, ist die Herausforderung<br />
eher eine organisatorische. Ich nehme inzwischen<br />
regelmäßig ein Medikament als Kapsel<br />
zur Prophylaxe, habe aber vorsichtshalber auch<br />
immer meine Akutmedikation dabei. Aber davon<br />
abgesehen mache ich alles, was Nichtbetrof-<br />
.<br />
fene auch können: Ich habe studiert, ich arbeite,<br />
mache Sport, gehe feiern, fahre in den Urlaub<br />
und plane meine Zukunft.<br />
Was macht die Diagnose HAE oft so schwierig?<br />
Prof. Dr. Marcus Maurer<br />
Angioödem-Referenz- und Exzellenzzentrum,<br />
Charité Berlin<br />
Foto: Charité-IFA<br />
lässt, und so ist diese unterschiedliche klinische<br />
Abbildung der Erkrankung ganz häufig<br />
ein Grund dafür, dass sie erst spät erkannt wird.<br />
Beim Hereditären Angioödem haben wir als<br />
Diagnostiker den Vorteil, dass es eine familiäre<br />
Erkrankung ist. Dass wir also die Frage stellen<br />
können, gibt es da noch andere Menschen in<br />
der Familie, die ein ähnliches Beschwerdebild<br />
haben, und wenn die Antwort Ja ist, dann muss<br />
uns das an HAE denken lassen. Aber wenn die<br />
Antwort Nein ist, muss ich trotzdem weiter<br />
daran denken, weil es sein kann – und das ist<br />
für das Hereditäre Angioödem relativ speziell<br />
–, dass dies ein Patient ist, der die Mutation<br />
erworben hat im Sinne von spontan erworben,<br />
ohne dass jemand früher in der Familie das<br />
auch schon gehabt hat. Das sind die Herausforderungen,<br />
wenn es um die Diagnostik des HAE<br />
geht..
Initiative<br />
Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> HAEllo zum <strong>Leben</strong> – eine Initiative der brauchen<br />
BioCryst Pharma Deutschland GmbH<br />
Weitere Informationen unter<br />
www.haellozumleben.de sowie auf<br />
besondere Facebook und Instagram @haellozumleben Unterstützung<br />
Gastbeitrag<br />
Plötzliche Schwellungen im<br />
Gesicht, im Hals, an den<br />
Gliedmaßen oder kolikartige<br />
Bauchkrämpfe – bei solchen<br />
Symptomen, die oft als <strong>Leben</strong>s<strong>mit</strong>telunverträglichkeit,<br />
Allergie oder Blinddarmentzündung fehlgedeutet<br />
werden, kann die seltene Erkrankung<br />
Hereditäres Angioödem (engl. hereditary angioedema,<br />
kurz: HAE) dahinterstecken.<br />
HAE ist eine chronische<br />
genetische Erkrankung<br />
und gekennzeichnet<br />
durch wiederkehrende,<br />
attackenartige Schwellungen<br />
verschiedener<br />
Körperteile und Organe.<br />
Sag<br />
wieder<br />
„HAEllo“<br />
zum <strong>Leben</strong>!<br />
Approval-Nr. DE.HAE.00089<br />
Stand 02/2023<br />
Schätzungsweise leben in<br />
Deutschland etwa 1600<br />
Menschen <strong>mit</strong> einem<br />
diagnostizierten HAE, vermutlich<br />
gibt es aber mehr<br />
Betroffene, die (noch) keine<br />
Diagnose haben: Da<br />
die Erkrankung so selten<br />
ist, kann es für Betroffene<br />
schwierig sein, eine Ärztin<br />
oder einen Arzt zu finden,<br />
die oder der die Symptome<br />
richtig deutet. Oft<br />
vergehen Jahre bis zur gesicherten<br />
Diagnose, Arzt-<br />
Odyssee bei verschiedenen<br />
Fachrichtungen von Dermatologie über<br />
Allergologie bis HNO inklusive. Wichtig ist<br />
daher, sich bei unklarer Diagnose rechtzeitig<br />
an ein Zentrum für Seltene <strong>Erkrankungen</strong><br />
oder ein HAE-Zentrum überweisen zu lassen.<br />
Denn <strong>mit</strong> dem passenden medikamentösen<br />
Management ist <strong>mit</strong> HAE ein nahezu<br />
normales <strong>Leben</strong> möglich.<br />
HAE findet auch im Kopf statt<br />
Nicht zu wissen, wann die nächste Attacke<br />
kommt, kann es für Betroffene zum einen<br />
schwierig machen, ihr <strong>Leben</strong> zu planen.<br />
Zum anderen kann die ständige Sorge viel<br />
Raum im Kopf einnehmen. Beides kann die<br />
<strong>Leben</strong>squalität erheblich mindern. Für ein<br />
gutes <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> HAE ist daher nicht nur die<br />
Kontrolle der Krankheit wichtig, sondern<br />
auch, einen guten Umgang <strong>mit</strong> den Belastungen<br />
zu finden. Denn HAE findet auch<br />
Nicht zu wissen,<br />
wann die nächste<br />
Attacke kommt,<br />
kann es für<br />
Betroffene zum<br />
einen schwierig<br />
machen, ihr<br />
<strong>Leben</strong> zu planen.<br />
Zum anderen<br />
kann die ständige<br />
Sorge viel<br />
Raum im Kopf<br />
einnehmen.<br />
im Kopf statt. Ständig kreisen Fragen: Wie<br />
lässt sich die Erkrankung gut kontrollieren<br />
und das <strong>Leben</strong> so planen, wie ich es mir vorstelle?<br />
Kann ich eine Ausbildung machen,<br />
studieren, das tolle Jobangebot annehmen?<br />
Kann ich meinen Familienalltag organisieren,<br />
unbeschwert <strong>mit</strong> Freunden ausgehen,<br />
Hobbys nachgehen, in den Urlaub fahren?<br />
Was muss ich beachten, wenn ich eine Familie<br />
gründen will? Wie schaffe ich es, weiter<br />
mutig zu sein?<br />
Wieder „HAEllo“ zum<br />
<strong>Leben</strong> sagen können<br />
Hier setzt die Initiative<br />
„HAEllo zum <strong>Leben</strong>“ an:<br />
Über Informationen zur<br />
Erkrankung und ihrem<br />
Management, wie etwa<br />
den Behandlungsempfehlungen<br />
der aktuellen<br />
Leitlinie, Aktionswochen<br />
und digitalen Expertensprechstunden<br />
sollen<br />
Menschen <strong>mit</strong> HAE zum<br />
einen ermutigt werden,<br />
sich bei ihrem Arzt nach<br />
einem wirksamen HAE-<br />
Management zu erkundigen.<br />
Zum anderen sollen<br />
sie darin bestärkt werden,<br />
dass ein selbstbestimmtes,<br />
gutes <strong>Leben</strong> auch <strong>mit</strong><br />
dieser Erkrankung möglich<br />
ist.<br />
Servicematerialien und Tipps gibt es etwa zu<br />
diesen Themen:<br />
• Trigger, die Attacken auslösen können<br />
• Selbstbewusst im Arztgespräch<br />
• Reiseplanung inklusive Checkliste<br />
• Selbstachtsamkeit<br />
• Entspannungstechniken<br />
• Tipps für mehr Selbstbewusstsein<br />
• Anlaufstellen<br />
Da es für Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>seltenen</strong> chronischen<br />
Erkrankung wie HAE beruhigend<br />
sein kann, zu wissen, dass sie nicht allein<br />
sind und auch andere die gleichen Fragen<br />
haben, soll ausdrücklich, gerade auf Social<br />
Media, der Austausch Betroffener untereinander<br />
gefördert werden – stets <strong>mit</strong> dem<br />
Ziel, wieder „HAEllo“ zum <strong>Leben</strong> sagen zu<br />
können. .<br />
HAELLO<br />
zum <strong>Leben</strong>!<br />
Allergie?<br />
Darmerkrankung?<br />
Insektenstich?<br />
Plötzliche Schwellungen im<br />
Gesicht, im Hals, an den Gliedmaßen<br />
und Bauchschmerzattacken<br />
können die seltene<br />
Erkrankung Hereditäres<br />
Angioödem (HAE) sein.<br />
Du weiß nicht, ob du HAE<br />
hast? Du hast schon eine<br />
Diagnose und fragst dich,<br />
wie es jetzt weitergeht?<br />
Informiere dich bei<br />
der Patienteninitiative<br />
„HAEllo zum <strong>Leben</strong>“!<br />
Dort findest du<br />
• hilfreiche Tipps für ein<br />
gutes <strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> HAE<br />
• Patienten-Insights<br />
• Anlaufstellen<br />
• und vieles mehr<br />
HAEllo zum <strong>Leben</strong> – eine Initiative der<br />
BioCryst Pharma Deutschland GmbH<br />
Sag<br />
wieder<br />
„HAEllo“<br />
zum <strong>Leben</strong>!<br />
Weitere Informationen unter<br />
www.haellozumleben.de sowie auf<br />
Facebook und Instagram @haellozumleben<br />
Approval-Nr. DE.HAE.00089<br />
DE.HAE.00096,<br />
Stand 02/2023Stand 03/2023
24<br />
Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong><br />
Hier finden<br />
Betroffene Hilfe<br />
M<br />
anche <strong>Erkrankungen</strong> sind<br />
so selten, dass sie bislang<br />
nicht einmal beschrieben<br />
sind. Andere sind zwar<br />
beschrieben, bekannt<br />
aber sind sie nicht – schon<br />
gar nicht jedem Arzt. Menschen, die eine seltene<br />
Erkrankung haben oder haben könnten,<br />
fühlen sich daher oft alleingelassen und hilflos.<br />
Um diese Situation zu verbessern, wurden in<br />
Europa seit 2010 nationale Aktionspläne entwickelt.<br />
Der deutsche Nationale Aktionsplan<br />
für Menschen <strong>mit</strong> Seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />
(NAMSE) benannte als zentrale Maßnahme<br />
die Einrichtung von Zentren für Seltene<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. 36 solcher „A-Zentren“, zumeist<br />
an Universitätskliniken angesiedelt, sind seitdem<br />
in Deutschland entstanden.<br />
Die Zentren erfüllen zwei wichtige<br />
Aufgaben:<br />
1<br />
Für Menschen, die bislang keine<br />
gesicherte Diagnose erhalten<br />
haben, werden Fallkonferenzen<br />
unter Einbindung verschiedener<br />
Fachrichtungen organisiert, die<br />
über weitere Schritte in der Diagnostik<br />
entscheiden. Sollten hierfür genetische<br />
Untersuchungen oder andere, nicht in der<br />
Routine verfügbare Methoden nötig sein, kann<br />
dies vom Zentrum eingeleitet werden.<br />
2<br />
Wurde eine Diagnose gestellt, die<br />
einer besonderen Expertise für<br />
weitere Diagnostik und Therapie<br />
bedarf, gibt es unter dem Dach<br />
eines jeden Zentrums mindestens<br />
fünf „NAMSE Zentren Typ B“: Diese<br />
verfügen über spezielles Fachwissen zu einzelnen<br />
<strong>seltenen</strong> Krankheitsbildern.<br />
Die Zentren sind über die ganze Bundesrepublik<br />
verteilt, sodass eine gute Erreichbarkeit<br />
gegeben ist. Die standortübergreifende Zusammenarbeit<br />
in einem Netzwerk stellt sicher,<br />
dass die notwendige Expertise allen Patienten<br />
Was Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> leisten<br />
können, wenn es keine sichere Diagnose gibt<br />
oder Experten gebraucht werden<br />
ortsunabhängig zugänglich ist. Auch international<br />
ermöglicht dies die Einbindung in<br />
Europäische Referenznetzwerke für Seltene<br />
<strong>Erkrankungen</strong> (ERN). Sollte eine persönliche<br />
Vorstellung notwendig sein, werden den Patienten<br />
konkrete Ansprechpartner empfohlen.<br />
Die belastenden, oft einer Odyssee gleichenden<br />
Reisen zu verschiedenen Einrichtungen<br />
fallen weg.<br />
In jedem Zentrum arbeitet ein „Lotse“ oder<br />
eine „Lotsin“. Diese legen nach der Kontaktaufnahme<br />
durch die Patienten selbst oder deren<br />
behandelnde Ärzte auf Basis der bereits vorliegenden<br />
Befunde und im Austausch <strong>mit</strong> verschiedenen<br />
Fachleuten zeitnah die nächsten<br />
wichtigen Schritte fest.<br />
Diese Arbeitsweise der Zentren wurde in einem<br />
Projekt – TRANSLATE NAMSE, gefördert<br />
durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen<br />
Bundesausschusses – von 2017 bis 2020<br />
erprobt und positiv bewertet: Denn bei etwa<br />
einem Drittel der Patienten, die zuvor mehrere<br />
Jahre ohne Diagnose geblieben waren, konnte<br />
<strong>mit</strong> interdisziplinärer Zusammenarbeit, dem<br />
Einsatz von Lotsinnen und Lotsen sowie moderner<br />
Diagnostik eine gesicherte Diagnose<br />
gestellt werden. Zudem wurden neue, bis<br />
dahin unbekannte <strong>Erkrankungen</strong> erkannt.<br />
Da<strong>mit</strong> für Patienten und Akteure des Gesundheitswesens<br />
erkennbar ist, dass ein Zentrum<br />
diese Leistungen verlässlich erbringt, wurde<br />
eine Begutachtung entwickelt. Acht Zentren<br />
haben diesen Prozess bislang erfolgreich<br />
durchlaufen.<br />
Um Betroffene zudem untereinander zu vernetzen,<br />
arbeiten die Zentren eng <strong>mit</strong> Selbsthilfeorganisationen<br />
zusammen. Diese haben<br />
sich in Deutschland unter dem Dach der<br />
Allianz Chronischer Seltener <strong>Erkrankungen</strong><br />
(ACHSE) e. V. zusammengeschlossen. Da<br />
es jedoch insbesondere bei ultra<strong>seltenen</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> nicht immer Selbsthilfegruppen<br />
gibt, wird derzeit auf Initiative der Eva Luise<br />
und Horst Köhler Stiftung ein Nationales<br />
Register für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> (NARSE)<br />
etabliert. Es wird einen Überblick über die<br />
Gruppen der Patienten in Deutschland geben<br />
und ihnen ermöglichen, <strong>mit</strong>einander in Kontakt<br />
zu treten.<br />
Leider zeigt sich immer wieder, dass die Zentren<br />
für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> und ihre Angebote<br />
bei vielen niedergelassenen Ärzten<br />
nicht ausreichend bekannt sind. Sprechen Sie<br />
gerne <strong>mit</strong> Ihrem behandelnden Arzt darüber!<br />
Denn falls Sie, Ihr Kind, Angehörige oder<br />
Bekannte eine bislang nicht erkannte seltene<br />
Erkrankung haben oder Expertise für eine<br />
solche suchen, so sind die Zentren für Seltene<br />
<strong>Erkrankungen</strong> die richtige Adresse..<br />
Redaktion<br />
Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich,<br />
Vorstandsvorsitzende der Eva Luise und<br />
Horst Köhler Stiftung für Menschen <strong>mit</strong><br />
Seltenen <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
se-atlas<br />
Die webbasierte Informationsplattform<br />
se-atlas bietet einen Überblick über die 36<br />
Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> sowie<br />
Selbsthilfeorganisationen in Deutschland.<br />
Das Informationsangebot richtet sich an<br />
Betroffene, Angehörige, Ärzte, nicht medizinisches<br />
Personal sowie alle Interessierten.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.se-atlas.de
25<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 25<br />
Forschung, Expertise<br />
und Vernetzung<br />
Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> werden optimalerweise durch spezialisierte Zentren betreut,<br />
an denen auch die Fort- und Weiterbildung sowie Forschung zum jeweiligen Krankheitsbild<br />
stattfindet. Lesen Sie hier, welche Wege das UniversitätsCentrum für Seltene <strong>Erkrankungen</strong><br />
(USE) in Dresden geht, um Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> bestmöglich zu versorgen.<br />
Herr Prof. Berner, noch immer dauert es häufig<br />
lange, bis Patienten <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
eine Diagnose sowie eine adäquate Behandlung<br />
erhalten. Welche Rolle spielen in diesem<br />
Kontext die Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong>?<br />
Zentren für Seltene <strong>Erkrankungen</strong> sind Ansprechpartner<br />
für Ärzte und Patienten <strong>mit</strong> unklaren<br />
<strong>Erkrankungen</strong>, bei denen der begründete<br />
Verdacht auf eine seltene Erkrankung besteht.<br />
Diese Zentren versuchen, für diese Patienten den<br />
Weg zu Experten bzw. den entsprechenden Fachzentren<br />
zu ebnen oder aber, wenn es gänzlich<br />
unklar ist, in interdisziplinären Fallkonferenzen<br />
<strong>mit</strong> Experten aus vielen verschiedenen Fachgebieten<br />
nach dem bestmöglichen Weg zur Diagnosefindung<br />
zu suchen.<br />
Was macht die Zentren aus und welche Hilfe<br />
können sie Betroffenen geben?<br />
Das Ziel der Versorgung von Patienten <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> ist es, ihnen trotz und <strong>mit</strong><br />
ihrer Erkrankung ein möglichst beschwerdefreies<br />
<strong>Leben</strong> zu ermöglichen. Deshalb bedürfen sie einer<br />
besonders zeitintensiven ärztlichen Zuwendung<br />
und oft einer aufwendigen Spezialdiagnostik.<br />
Denn seltene <strong>Erkrankungen</strong> weisen einige<br />
Besonderheiten auf: Dazu zählen vordringlich<br />
die geringe Anzahl an Betroffenen <strong>mit</strong> einer bestimmten<br />
<strong>seltenen</strong> Erkrankung und die weit über<br />
das ganze Land gestreute Verteilung der Betroffenen,<br />
was nicht nur die ärztliche Versorgung, sondern<br />
auch wissenschaftliche Untersuchungen<br />
– etwa in Form von Studien – erschwert. Darüber<br />
hinaus gibt es meist nur eine geringe Anzahl von<br />
Experten, die Menschen <strong>mit</strong> der jeweiligen <strong>seltenen</strong><br />
Erkrankung versorgen und die Erkrankung<br />
weiter erforschen können. Auch sind die Wege<br />
zu guten Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten<br />
nicht immer auf Anhieb ersichtlich.<br />
Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen sich<br />
<strong>mit</strong> ihrer Erkrankung alleingelassen fühlen und<br />
die Diagnose erst deutlich verzögert gestellt wird.<br />
Zentren leisten hier wichtige Unterstützung. Sie<br />
bündeln Expertise und vernetzen Betroffene <strong>mit</strong><br />
behandelnden Ärzten.<br />
Vernetzung ist ein gutes Stichwort. Warum ist<br />
das wichtig?<br />
Um Menschen flächendeckend und unabhängig<br />
vom Krankheitsbild zu versorgen, wurden<br />
vor allem an den deutschen Uniklinika in den<br />
vergangenen Jahren entsprechende Zentrumsstrukturen<br />
aufgebaut und bundesweite Netz-<br />
Prof. Dr. med. Reinhard Berner<br />
Direktor der Klinik und Poliklinik<br />
für Kinder- und Jugendmedizin<br />
an der Uniklinik und Sprecher<br />
des USE Dresden<br />
Dr. Nina-Christine Knopf<br />
Fachärztin für Kinderrheumatologie<br />
und Clinician Scientist<br />
am USE Dresden<br />
werke geschaffen. Das Dresdner Uniklinikum<br />
hat im November 2014 das USE gegründet. Als<br />
sogenanntes A-Zentrum nach den Empfehlungen<br />
des Nationalen Aktionsplans für Menschen<br />
<strong>mit</strong> Seltenen <strong>Erkrankungen</strong> (NAMSE) erfüllt das<br />
USE koordinierende und krankheitsübergreifende<br />
Aufgaben. Entscheidend für den Erfolg ist das<br />
Zusammenwirken vieler Experten in interdisziplinären<br />
Fallkonferenzen, wie es nur in einer solchen<br />
Struktur vorgehalten werden kann. Dabei<br />
hat jedes Zentrum, neben seiner zuvor beschriebenen<br />
koordinierenden Funktion, auch inhaltliche<br />
Schwerpunkte. Am USE in Dresden sind<br />
dies insbesondere <strong>Erkrankungen</strong> des Immunsystems<br />
und des Blutes, neurologische und<br />
neuropsychiatrische <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
Seltene <strong>Erkrankungen</strong> betreffen in acht von<br />
zehn Fällen Kinder und Jugendliche. Ihre Teilhabe<br />
am medizinischen Fortschritt hängt<br />
daher ganz entscheidend von engagierten<br />
Kinderärzten ab, die sich dem Spagat zwischen<br />
Krankenbett und Labor stellen. Frau Dr.<br />
Knopf, Sie arbeiten als Clinician Scientist und<br />
haben den Fokus seltene <strong>Erkrankungen</strong>. Wie<br />
kam es dazu?<br />
Als Kinderrheumatologin lag mein Schwerpunkt<br />
auf den autoinflammatorischen <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
So kam ich rasch in Berührung <strong>mit</strong> den<br />
<strong>Erkrankungen</strong> der Immundysregulation und der<br />
Immundefizienz, welche mein Interesse an der<br />
Immunologie geweckt haben. Störungen des<br />
Immunsystems können sich dabei ganz unterschiedlich<br />
manifestieren. Jeder einzelne Immundefekt<br />
ist dabei sehr selten. In der Immunologie<br />
arbeite ich daher nun <strong>mit</strong> den verschiedenen<br />
Fachdisziplinen zusammen. Dabei besteht eine<br />
enge Verbindung zwischen der klinischen Arbeit<br />
und der Forschung.<br />
Woran arbeiten Sie momentan und was möchten<br />
Sie erreichen?<br />
Mein Forschungsschwerpunkt liegt bei den autoinflammatorischen<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Aktuell leite<br />
ich eine Studie zum besseren Verständnis von<br />
Fieberschüben unklarer Genese des Kleinkindesalters<br />
– auch als SURF (Syndrom des undifferenzierten<br />
rekurrierenden Fiebers) bezeichnet.<br />
Aus Einzelzell-Genexpressionsdaten – zum<br />
Zeitpunkt des Krankheitsschubes bzw. im freien<br />
Intervall – möchten wir amplifizierte Signalwege<br />
erkennen und perspektivisch Biomarker identifizieren.<br />
Ich hoffe sehr, dass wir <strong>mit</strong> diesem<br />
Projekt zur Aufklärung dieser <strong>seltenen</strong> Endotypen<br />
beitragen und perspektivisch den Kindern<br />
schneller eine zielgerichtete Therapie anbieten<br />
können.<br />
Warum ist die Forschung bei <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
entscheidend?<br />
Als Kliniker beschäftigen wir uns kontinuierlich<br />
<strong>mit</strong> neuen Krankheitsentitäten des Immunsystems.<br />
Jährlich werden sowohl neue krankheitsverursachende<br />
Genvarianten entdeckt als auch<br />
neue klinische Phänotypen beschrieben. Ein<br />
besseres pathophysiologisches Verständnis ist<br />
Voraussetzung für die optimale Versorgung und<br />
bestmögliche Therapie unserer Patienten..<br />
Redaktion Leonie Zell
26<br />
F<br />
ür Menschen <strong>mit</strong> <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> ist ihr Leiden eine<br />
große Belastung. Eine Standardtherapie, die zur Krankheit<br />
passt, existiert oft nicht. Etablierte Medikamente, wie das Antibiotikum<br />
bei bakteriellen Infekten, gibt es nicht. Für Betroffene<br />
wird die Erkrankung da<strong>mit</strong> vielleicht als persönliches Schicksal<br />
empfunden. Nach meiner Überzeugung braucht es genau<br />
deshalb personalisierte Ansätze schon in der Erforschung von Krankheiten.<br />
Der personalisierten Medizin kommt hier eine Schlüsselrolle zu.<br />
Der Freistaat Sachsen ist seit 2017 Partner in einer Europäischen Förderpartnerschaft<br />
für personalisierte Medizin. Diese Zusammenarbeit ist gerade<br />
bei der weiteren Erforschung seltener Krankheiten wichtig. In diesen<br />
Netzwerken wird der Austausch und da<strong>mit</strong> der Wissenstransfer verbessert.<br />
Länderübergreifende Forschungsprojekte, die sich <strong>mit</strong> neuen Therapien,<br />
Medikamenten oder Anwendungen beschäftigen, generieren weitere<br />
Erkenntnisse über seltene Krankheiten, die Betroffenen Hilfestellung geben<br />
und da<strong>mit</strong> deren <strong>Leben</strong>squalität verbessern. Derzeit bereitet das Sächsische<br />
Wissenschaftsministerium <strong>mit</strong> seinen europäischen und internationalen<br />
Förderpartnern einen EU-Antrag für eine Folgepartnerschaft im Bereich<br />
personalisierte Medizin vor, um den Rahmen der Forschungszusammenarbeit<br />
für die nächsten zehn Jahre strategisch weiterzuentwickeln. Die EU<br />
Forschung<br />
Sebastian Gemkow<br />
„Forschung zu personalisierter Medizin<br />
hilft Betroffenen seltener <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
Netzwerke bringen Erkenntnisse<br />
zusammen, aus denen neue Ansätze für<br />
Behandlungen entstehen.“<br />
Gastbeitrag des sächsischen Wissenschaftsministers Sebastian Gemkow<br />
sowie Partnerstaaten und -regionen investieren bis 2030 fast 300 Millionen<br />
Euro in die weitere Entwicklung der personalisierten Medizin, wovon auch<br />
die Forschung im Bereich der <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong> profitieren wird.<br />
Dieser wichtige Teil der <strong>Leben</strong>swissenschaften ist auch Bestandteil der Weiterentwicklung<br />
des Wissenschaftslandes Sachsen insgesamt, die das Sächsische<br />
Wissenschaftsministerium unter dem Titel SPIN2030 unterstützen<br />
und vorantreiben will. Ziel ist auch hier, die exzellente Forschung noch mehr<br />
in neues Wissen und Anwendungen zu überführen und da<strong>mit</strong> auch den<br />
medizinischen Fortschritt zur Behandlung seltener <strong>Erkrankungen</strong> zu unterstützen.<br />
Schon jetzt gibt es gute Beispiele dafür: Gemeinsam <strong>mit</strong> Forschungspartnern<br />
aus Polen, Brasilien und der Schweiz entwickeln etwa die TU<br />
Dresden und das Fraunhofer IKTS Dresden eine Membran zur kontrollierten<br />
Knochen- und Geweberegeneration. Diese kann auch zur Heilung<br />
seltener knöcherner Defekte eingesetzt werden. Dieses Projekt steht exemplarisch<br />
für die Herangehensweise, die Sachsen in der Forschung verfolgt<br />
und die gerade auch <strong>mit</strong> Blick auf Forschung zu <strong>seltenen</strong> <strong>Erkrankungen</strong><br />
vielversprechend ist. .
27<br />
Mehr auf www.leben<strong>mit</strong>.de | 27<br />
youtube.com/@spin-2030<br />
instagram.com/spin_2030<br />
facebook.com/spin2030agenda<br />
linkedin.com/company/spin-2030<br />
Alle Details sowie Videos und<br />
Bilder der Auftaktveranstaltung zu<br />
SPIN2030 finden Sie auf<br />
SPIN2030.com<br />
I<br />
n den kommenden Jahren wird die sächsische Wissenschaftslandschaft<br />
die nächsten großen Entwicklungsschritte machen.<br />
Mit der Agenda SPIN2030 unterstützt das Sächsische<br />
Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus<br />
(SMWK) die Hochschulen und Forschungseinrichtungen<br />
auf diesem Weg. Wir stellen jetzt die Weichen für die strategische<br />
Weiterentwicklung im Freistaat Sachsen in Forschung und<br />
Lehre bis 2030.<br />
Sachsen ist seit jeher Schrittmacher und Impulsgeber für wissenschaftliche<br />
Innovationen. Mit Blick auf das Jahr 2030 und darüber<br />
hinaus stehen wir heute vor immensen Herausforderungen. Uns<br />
beschäftigen Themen wie künstliche Intelligenz, Robotik, Krebsforschung<br />
und Mikroelektronik genauso wie Nachhaltigkeit.<br />
Was ist SPIN2030?<br />
Das sind Sachsens Hochschulen und Forschungseinrichtungen <strong>mit</strong><br />
klugen Köpfen, die <strong>mit</strong> Dynamik und Kreativität unterwegs sind zu<br />
neuen wissenschaftlichen Durchbrüchen, die unsere Welt verändern<br />
werden. Es sind zudem unsere Studenten, die nächste Generation<br />
an Wissenschaftlern und auch künftige Fachkräfte für die Unternehmen.<br />
Sachsen stellt jetzt die entscheidenden Weichen und investiert in den<br />
nächsten Jahren gezielt:<br />
• 2,3 Milliarden Euro für die Hochschulen<br />
• 788 Millionen Euro für die Forschungseinrichtungen<br />
• 573 Millionen Euro für die Universitätskliniken<br />
• 632 Millionen Euro für Modernisierung und Bau<br />
Insgesamt werden bis 2025 mehr als vier Milliarden Euro bereitgestellt. Bis<br />
zum Jahr 2030 werden mindestens 17 Milliarden Euro in die sächsische<br />
Wissenschaftslandschaft investiert. Da<strong>mit</strong> kann Sachsens Spitzenposition<br />
in der Forschung langfristig gesichert und ausgebaut werden. Gleichzeitig<br />
werden klare Schwerpunkte gesetzt unter anderem in den Feldern:<br />
• Robotik und Mensch-Maschinen-Interaktion<br />
• Biotechnologie und Genetik<br />
• Pharmazie und Gesundheitsforschung<br />
• Energie-, Wasserstoff- und Kreislaufforschung<br />
• Künstliche Intelligenz und Quantencomputing<br />
• Mikroelektronik und Halbleitertechnologien<br />
• Materialforschung und Leichtbau<br />
Begleitet werden die Forschungsfelder von strategischen Kooperationen<br />
und Transfer in Wirtschaft und Gesellschaft..
28<br />
PTC1804KK098<br />
Hinter einer Entwicklungsverzögerung<br />
bei Jungen kann mehr stecken.<br />
Könnte es Duchenne Muskeldystrophie sein?<br />
Mehr erfahren: www.hinterherstattvolldabei.de